Lika Nüssli „Vergiss dich nicht“ Graphic Novel, Vexer

Ein deutlicheres Statement für die Graphic Novel, für das bei einem Kunstbuchverlag erschienene Buch, für die Arbeit von Lika Nüssli hätte es nicht geben können. Als offizieller Schlusspunkt des 10. Wortlaut Literaturfestivals wurde in den Räumen des Kunstmuseums St. Gallen die Buchtaufe von „Vergiss dich nicht“, dem ersten Graphic Novel der Künstlerin gefeiert.

Der Vorführraum im Kunstmuseum St. Gallen war übervoll. Während einzelne Bildseiten des neuen Buches an die Wand projieziert wurden, unterhielten sich die Künstlerin Lika Nüssli und die Kuratorin des Cartoonmuseums in Basel Anette Gehrig über die Motivationen, den Entstehungsprozess, die Absichten und die Freuden der Buchentstehung. Davon, dass der Comic, die Graphic Novel für viele noch immer eine Nischensparte ist, war der Andrang der Kulturinteressierten im Untergeschoss des Museums an diesem Sonntag trotz wärmender Frühlingssonne nichts zu spüren.

Schon früh schien „Vergiss dich nicht“ unter einem guten Stern zu stehen und gewann 2016 als Projektidee das grosse Comicstipendium der Deutschweizer Städte; Bern, Luzern, St. Gallen, Winterthur und Zürich. Die Grenzgängerin Lika Nüssli, die von Bildender Kunst, Performance, Bilderbüchern für Kinder und einem grossen gesellschaftspolitischen Engagement vieles beackert, besuchte während einer langen Zeit die dement gewordene Mutter in einem Heim.

Besuche, die anfangs lange nur aus gegenseitigem Schweigen bestanden, wurden in jenem Moment, als Stift und Papier zum Raum der Begegnungen wurden zu ganz anderen Besuchen. Mit dem Zeichnen und Skizzieren wurden Mutter und Tochter zu einem Teil eines in sich geschlossenen Kosmos. Lika Nüssli begann zeichnend zu sammeln, begleitet von ihrer Mutter. So wie die Begegnungen mit der Mutter an Greifbarkeit verloren, gewann diese durch Erinnerungen, vermengt mit der gefühlten Absurdität und Surrealität einer Demenzstation.

Eindrücklich an Lika Nüsslis Auseinandersetzen mit dem langsamen Verschwinden ihrer Mutter ist die zärtliche Liebe und der Respekt, der aus dem Geschehen im Buch, den gezeichneten Welten spricht. Da ist nichts von Anklage, keine Bitterkeit, höchstens ein Anflug von Trauer. Lika Nüssli schafft eine Welt in ihrer ganz eigenen Zeichensprache, beschreibt eine Parallelwelt, Menschen, die ihre einstigen Umlaufbahnen verloren haben, entwurzelte Individuen, die wie Topfpflanzen ohne Zuwendung, Pflege und Hilfe zugrunde gehen.

Intime Szenen einer Begegnung, Geschichten von verlorener Heimat, Verdingkindern, Verlust und der Macht der Erinnerung an einem Ort der Auflösung, in einem Haus, in dem nicht nur auf Seiten der Insassen Welten, Nationen und Geschichten aneinanderstossen.

Eine Liebeserklärung an ihre Mutter, die mit jenem Satz endet, den Likas Mutter als letzten ganz über die Lippen brachte: „I nähm nomol eis, wenn‘s nomol eis gäb.“

Lika Nüssli, 1973 in Gossau SG geboren, im Restaurant Schäfli aufge­wachsen. Nach dem Vorkurs in Romanshorn, einem England­auf­enthalt und einer Ausbildung zur Textil­de­si­gnerin in Herisau studierte sie Illus­tration an der Hochschule für Design + Kunst in Luzern. Seit 2003 arbeitet sie als freischaffende Künstlerin in St.Gallen. Lika Nüssli unterrichtet im Propä­deutikum der Schule für Gestal­tung und an der Talent­schule in St.Gallen Illus­tra­tion und Zeichnen. Seit 2014 organisiert sie die Comic-Lesungen im Rahmen von WORTLAUT an den St.Galler Litera­turtagen. Im Kunstraum NEXTEX kuratiert sie eine Comicaus­stellung und eine Performans-Reihe.

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