Es gibt Romane, die einem beim Lesen magisch ins Geschehen ziehen. Es gibt Romane, die verunsichern, alleine lassen. Und es gibt Romane, die einem beim Lesen immer wieder durchbrechen lassen: Man folgt der Handlung, um mit einem Mal in eine Schicht tiefer ein- und durchzubrechen. Man reibt sich die Augen, immer wieder, bis zur letzten Seite.
Hätte mich jemand während der Lektüre von Mareike Fallwickls neuem Roman „Das Licht hier ist viel heller“ gefragt, worum es den geht in dem Buch, hätte ich bei den fast 400 Seiten wahrscheinlich alle 50 Seiten eine völlig andere Antwort gegeben. Das ist Absicht, geniale Konstruktion! Mareike Fallwickl stösst mich in Tiefen, die mich zur Selbstreflexion zwingen. Mareike Fallwickl blendet schonungslos in die Kampfzonen der Gesellschaft, seien es Rollenbilder, Familienstrukturen, Genderisierung und all das, was mit der MeToo-Debatte aus einem modrig-fauligen Untergrund hervorgebrochen ist.
Maximilian Wenger ist Schriftsteller. Allerdings aus der Mode gefallen, von den LeserInnen verschmäht, vom Agenten bedrängt, von der Familie abgehängt. Er siecht in einer kleinen Wohnung vor sich hin, trauert einem Leben nach, das ihn verlassen hat, leckt seine Wunden. Wenger ist aber nicht nur in seiner Existenz als Schriftsteller mehr als nur in Frage gestellt. Seine Frau Patrizia hat ihn vor die Tür gesetzt und durch einen wesentlich Jüngeren, Knackigeren ersetzt. Seine beiden fast erwachsenen Kinder Zoey und Spin langweilen sich seither alle zwei Wochen ein Wochenende lang in seiner kleinen Wohnung, bewegen sich Lichtjahre von seiner eigenen Welt entfernt. Nicht einmal das faltig gewordene Stück Haut zwischen seinen Beinen ist noch aufrichtig genug.
Bis Briefe in seinem Briefkasten landen, die zwar richtig adressiert sind, aber an den Vermieter gerichtet. Wenger öffnet sie, liest sie. Es sind Briefe einer Frau, die sich in San Remo Luft macht. Zornige, wütende Briefe an einen Mann, der sie
verraten hat, der ihr nicht zur Seite stand, als andere Männer ihre Existenz vernichteten, so radikal, dass es nur die Flucht gab.
Mit einem Mal weiss Wenger, worüber er schreiben will. Seine wieder aufbrechende Motivation ist derart radikal, dass Wenger in einen Rausch gerät und in eben diesem Rausch nicht merkt, dass die Themen, über die er schreibt, wie eine Tsunamiwelle über ihn schwappen. Aber Wenger schreibt in einem Bunker. Obwohl seine Tochter sich nicht nur äusserlich mit einem Mal vollkommen verändert, ihre Signale weder von der socialmediageilen Mutter noch vom egozentrischen Vater wahrgenommen werden, obwohl sein Sohn in der elterlichen Villa beinahe stirbt, weil Bücher brennen, die sich nicht von selbst entzünden, schreibt er sich weg in einen Rausch. Erst recht, als ihm bewusst wird, dass es genau jener Ton der Frau, deren Briefe er zu Unrecht liest, ist, den es braucht, um zurück ins Schaufenster der Öffentlichkeit zu gelangen.
Spin und seine ältere Schwester Zoey werden Schicksalsgemeinschaft, weil weder der schreibende Vater noch die umtriebige Mutter je die Zeit und Zuwendung hatten, die vonnöten gewesen wäre. „Wir steuern dieses Flugzeug, das nur noch trudelt, aus dem Rauch quillt…, gleich werden wir springen müssen.“ Sie beide werden in Notsituationen gedrängt, aus denen sie sich nur selbst herauswinden können, versehrt, verwundet, verändert und missverstanden.
„Das Licht ist hier viel heller“ ist vieles; ein Familiendrama, ein Roman über die Launen des Literaturbetriebs, ein Roman über Emanzipation und die Befreiung aus festgefahrenen Rollen, aber vor allem ein Roman über die tiefen Gräben in der Gesellschaft, über den Sturm, der über allem fetzt, die Jungen zweifeln lässt, ob es neben Sex Liebe gibt und die Alten, ob der Untergrund fest genug ist, auf dem man sich bewegt.
Mich bewegt der Blick der jungen Autorin, die Klarsicht, das Gespür für die Feinheiten und Details. Mich begeistert die Sprache, der Ton, der sich den verschiedenen Perspektiven perfekt anpasst, die Nähe, die sie zu erzeugen versteht, die in gewissen Situationen körperlich spürbar wird. „Das Licht ist hier heller!“, scheinen alle auszurufen, weil alle nach einem Weg suchen, der sie aus der Schwärze von Schuld und Verletzungen heraushieft.
Unbedingt lesen!
Ein Interview mit Mareike Fallwickl:
Wenn es einen Ort gibt, an dem offene Rechnungen präsentiert werden, an dem sich der Gestank von Verborgenem, Weggeschlossenem und Verdrängtem nicht verbergen lässt, dann ist es „Familie“, jenes zarte, empfindsame Gebilde, jener Sehnsuchtsort, jene Projektionsfläche, die im Brennpunkt ihres Romans steht. Gibt es den Ort, der viel heller ist?
Das stimmt, und das macht die Familie für mich so interessant. Ich versuche, in meinen Romanen zu ergründen, was Eltern und Kinder einander antun, wo Schuld wurzelt und welche Konsequenzen sie hat. Aber: Bei allem Egoismus, aller Vernachlässigung und Lieblosigkeit gibt es auch immer etwas Gutes. In „Das Licht ist hier viel heller“ ist das die Beziehung zwischen Zoey und ihrem Bruder. Sie ist getragen von Zuneigung und Zusammenhalt. Das ist mir wichtig, weil ich zeigen möchte: Selbst wenn du ankaputtet bist, kannst du lieben. Selbst wenn alles andere dunkel ist, kann es irgendwo hell sein.
Die Abstände zwischen den Generationen scheinen immer grösser zu werden, auch wenn die Alten Sneakers tragen und sich zunehmend Junge den «Errungenschaften der Zivilisation“ verweigern. Jede und jeder rennt mit Scheuklappen im Gesicht seinem ganz persönlichen Glück hinterher. Jeder sein eigener Kampfstern?
Ich sehe das nicht so, dass die Abstände zwischen den Generationen größer werden — die sind seit jeher in etwa gleich gross. Eher im Gegenteil: So viel Kommunikation wie heute gab es zwischen den Generationen nie zuvor. Früher wurde den Jungen von den Alten einfach befohlen, was sie zu tun, zu sagen und zu werden hatten. Die Kommunikation ging nur in eine Richtung. Dass die Menschen Egoisten sind: ja, natürlich. Aber auch das ist kein Merkmal unserer Zeit, so waren sie schon immer. Nie in der Geschichte der Menschheit haben wir aufeinander geachtet, sondern stets auf uns selbst. Deshalb sind wir ja auch da, wo wir sind: ziemlich am Ende.
In gewissen Passagen beschreiben sie das Glück des Schreibens und das des Lesens, den magischen Ort einer Buchhandlung und jenen, wenn einem die Muse an der Hand nimmt. Wo sind die Oasen in ihrer Welt und wodurch sehen sie sie bedroht?
Das Lesen ist mit Sicherheit eine Oase, es ist Sucht und Flucht gleichermassen. Wer LeserIn ist, weiss um eine geheime, verborgene Welt in der realen. Wir sind anders, wir leben viele Leben. Bedroht sehe ich diese Oase in keiner Weise. Wer lesen will, wird lesen. Die Sehnsucht nach Geschichten, nach Bildung, nach der Erweiterung des Horizonts ist unabhängig von Zeit und Ort. Ich halte nichts vom Abgesang auf das Buch und von der ewigen Schwarzmalerei. Vieles wird sich verändern, ja. Aber Veränderung ist nichts Negatives.
Die Tatsache, dass ein Vater über genau das einen Roman schreibt, an dem sich seine Tochter verwundet hat, die Tatsache, dass sich der Vater schuldig macht an einem Geschehnis, das sich nur marginal von dem Alp seiner Tochter unterscheidet, macht ihren Roman zu einem Kreiseln, das sich mir als Leser in der Magengrube einlagert. Manifestierte sich der „Kampf“ zwischen den Familienmitgliedern auch während des Schreibens?
Die Perspektive von Zoey ist erzähltechnisch ein Spiegel zur Perspektive von Wenger, und die Briefe vernähen diese beiden Handlungsstränge, die für die unterschiedlichen Sichten auf das Familiengefüge stehen, gleichzeitig aber auch im grösseren Ganzen für die alte und die junge Generation, für das Abdanken und den Aufbruch. Es gibt nur wenige Szenen, in denen Zoey und Wenger tatsächlich miteinander interagieren, deshalb ist es weniger ein „Kampf“ zwischen ihnen, vielmehr kämpfen sie beide an unterschiedlichen Fronten. Und das Tragische ist: Sie kämpfen, obwohl sie Vater und Tochter sind, eben nicht Seite an Seite.
Zoey fotografiert. Ein Projekt, mit dem sie sich für ein Stipendium in der Nähe von Prag erfolgreich bewarb, heisst #distorted. Gilt es nicht endlich zu lernen, zu akzeptieren, dass alle Wahrnehmung distorted, verzerrt ist, auch wenn darin viele Gefahren lauern?
Es gilt vor allem endlich zu lernen, zu akzeptieren, dass es nichts Normatives und keine Standards gibt. Wir Menschen messen, wiegen und vergleichen, weil wir denken, wir müssten bestimmten Kriterien entsprechen, um geliebt zu werden. Wir schliessen einander aus, wir kategorisieren einander anhand von Unterschieden statt Gemeinsamkeiten. Das ist die Botschaft hinter #distorted: Sämtliche oberflächliche Wahrnehmung ist ein Bild, eine Vorstellung, gefiltert durch unsere Sinne, unsere Sozialisierung. Sie sollte nicht die Grundlage für unseren Umgang miteinander sein. Wir sind alle Menschen, wir haben denselben Ursprung, dieselben Ängste, dieselbe Sehnsucht. In Wahrheit gibt es keine Unterschiede.

Mareike Fallwickl, 1983 in Hallein bei Salzburg geboren, arbeitet als freie Texterin, schreibt für eine Salzburger Zeitung eine wöchentliche Kolumne und betreibt seit 2009 einen Literaturblog. Sie lebt im Salzburger Land. 2018 erschien ihr literarisches Debüt «Dunkelgrün fast schwarz» in der Frankfurter Verlagsanstalt, das von Lesern gefeiert und unter anderem für den Österreichischen Buchpreis sowie das «Lieblingsbuch der Unabhängigen» nominiert wurde.
Beitragsbild © Sandra Kottonau

digitalen Glücksbringer markttauglich zu machen. Linus als Entwickler, Niu als Programmiererin, Adam als Geschäftsmann und Kaspar als Investor der ersten Stunde. Eine Idee schweisst die vier zusammen, lässt vergessen, was im Leben zuvor getrennt hätte. Ein Verrat zwischen Linus und Adam, eiserne Familientraditionen bei Kaspar und tiefe Einsamkeit bei Niu. So ist der aus vier Perspektiven erzählte Roman gar nicht so sehr die Geschichte einer Geschäftsidee, auf die die Welt nur zu warten scheint, sondern ein Roman darüber, was die Mechanismen einer Zweckgemeinschaft anrichten können, erst recht dann, wenn man sich freiwillig seiner Entscheidungsfreiheit berauben lässt und alles dem einen untergeordnet werden muss, wenn Erfolg bedingungslos wird, wenn sich alles einer Idee, einer Ideologie unterwirft.
sechs verbliebenen seiner Frau hin, die interpretiert, dass man etwas sagen will, wenn man sechs statt sieben weisse Tulpen schenkt. Und weil er diese Nachbarin dann auch noch mitten auf der Strasse umarmt und diese weint, versteht Lydia gar nichts mehr, schon gar nicht, weil Karl ihr zu verstehen gibt, es zu erklären sei zu kompliziert. Aber zu dem Zeitpunkt ist Karl nicht mehr bloss gefangen, sondern verloren. Verloren in den Konsequenzen seines Tuns, verloren in einem immer intensiver werdenden Austausch übers Smartphone mit einer Frau, die er gar nicht kennt. Einer Frau, der er all jene Fragen zu stellen traut, in denen er sonst eingeschlossen bliebe. Einer Frau, die in so sehr in Bann zieht, dass sich das, was zwischen ihm und seiner Frau geblieben ist, immer mehr relativiert. Verloren, weil Karl es versäumt, es nicht bloss geschehen zu lassen.
Kuno Roth würzt seine hintersinnigen, wohl dosierten Gedichte mit einer Prise Heiterkeit, einem Schuss Nachdenklichkeit und einem Körnchen Gesellschaftsskepsis. In seinen prägnanten Versen über Natur und Technik, Liebe und Verlust, Politik und Wirtschaft erweist er sich als versierter Stilist. Dieser Lyriker beherrscht die von ihm bevorzugte Form der Kurzgedichte. Mit Lakonie, Humor und Pointiertheit gelingt es ihm, selbst komplexe Lebensphänomene poetisch auf den Punkt zu bringen.»Klima Vista» heisst der neue Gedichtband von Kuno Roth, der im September 2020 beim Verlag
Gesetzt wie ein langes Gedicht stutzt man bei der Lektüre ob der Brüche, die durch den ein oder anderen „kroatischen“ Spracheinschluss verunsichern. Wortspielereien, die immer wieder zu Kippsätzen werden, die ganz überraschende Mehrdeutigkeiten erzeugen. Eine ganz eigene Textfärbung, die dem Buch nicht bloss Authentizität, sondern Eigenwilligkeit schenken. Dragica Rajčić Holzner vermeidet so, dass der Text sich auf eine emotionale Lesart einprägt. Natürlich geht es um eine junge Frau, die sich in ihrem Leben zu emanzipieren versucht.
Dragica Rajčić Holzner, Geboren 1959 in Split, lebt als Autorin und Dozierende für literarisches Schreiben in Zürich und Innsbruck. Rajčić Holzner schreibt Gedichte, Kurzprosa und Theaterstücke und hat zahlreiche Bücher publiziert, zuletzt «Warten auf Brauch» und «Buch von Glück». Sie wurde unter anderem mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis und dem Lyrikpreis Meran ausgezeichnet.
Seit ein paar Jahren, schon lange pensioniert, seine Frau war gestorben, hatte er sich in seinem klein gewordenen Leben eingerichtet. Die Beziehung zu seiner einzigen Tochter hatte lange schon Risse bekommen, mit denen er sich abgefunden hatte, nicht längst nicht mehr zu kitten waren. Einziger Grund, warum er den mehr oder minder höflichen Kontakt aufrecht hielt, war die Enkelin, mit der Grova ab und an einen Tag verbringen durfte. Und wie alle Kinder spürt das Mädchen, was Erwachsene aus lauter Zurückhaltung nie benennen würden. Es wird ein Kater einquartiert, fremdbestimmt und ohne Zurück, denn Grova würde vor dem einzigen Menschen das Gesicht verlieren, für den sich eine übermenschliche Anstrengung noch zu lohnen scheint.
Menschen sitzen fest. Ausgerechnet in der Weite der Natur wird einem die eigene Endlichkeit unmittelbar vor Augen geführt. Menschen sitzen fest. Es gibt kein Vor und kein Zurück, keine Entscheidung, nur das Warten und die Hoffnung. Was es zum Überleben braucht, reicht für vier, fünf Tage. Man teilt auf, nicht nur das, was zum Essen bleibt, sondern auch den Schlaf. Um nicht einfach hinüber- und abzugleiten. Man stapft durch den Schnee vor dem Container, jene wenigen Meter hin und her, die einem für eine gewisse Zeit die Wärme in die Glieder zurückgeben.

seinem Vater, der immer gegen die
Berührung in ein anderes Dasein zog, eine Wohnung, ein Bett, in Beziehungen, Freundschaften. Die Tage um Weihnachten bis Neujahr ziehen den jungen Mann in einen Strudel von Geschehnissen, die so intensiv sind wie sie abrupt enden. Erst drei Jahrzehnte später, wieder an Weihnachten, will Peter, mittlerweile gestandener Künstler, wissen, was aus dem geworden ist, was mit einem Mal wieder aufblitzt. Er lässt sich in eine Künstlerresidenz einladen, von der er weiss, dass sie von Marcias reichem Vater initiiert wurde, verbringt Tage im Schnee in Vermont, eingeschlossen von einem Blizzard, zusammen mit einem Bildband, in dem er Fotos von sich und Marcia findet und einem Text ganz am Schluss des Buches mit dem einen Satz «Ein Kind ward uns geboren». Peter wartet auf die Begegnung, auf Klärung, wird krank und sieht im Fieber seine Träume Fiktion und Realität ineinander verlaufen.