Sorj Chalandon «Am Tag davor», dtv

Seit Jahrhunderten wird Bergbau betrieben. Und immer stiegen Menschen hinab, um den Profit jener zu bedienen, die mit dem Abgebauten das grosse Geschäft machten. Ein schmutziges Geschäft, das Tausende von Toten forderte. Und wer seine Grubenarbeit überlebte, war doch vom Tod gezeichnet, nicht nur von der Angst, sondern durch den feinen Staub, der sich in jeder Zelle festsetzt.

Am 27. Dezember 1974 sterben über 40 Bergleute in der Grube Saint-Amé in der nordfranzösischen Bergbaustadt Liévin, einer Stadt die vom Kohleabbau lebte, in der noch heute, 40 Jahre nach der Stilllegung der letzten Gruben, vieles an jene Zeit erinnert. «Am Tag davor» ist aber weit mehr als die Geschichte, das Protokoll einer Grubenkatastrophe und deren Auswirkungen. Der neue Roman von Sorj Chalandon leuchtet in die Seele eines Verwundeten, beschreibt das ganz persönliche Drama eines Mannes, der unter den Felsbrocken seiner eigenen Geschichte verschüttet liegt, der gefangen von seiner Sicht der Dinge, seinem Wahn, seiner Erklärung der Welt die Dinge in die Hand nehmen will, um sich am Leben, der Ungerechtigkeit zu rächen.

Sorj Chalondons Roman erzählt die Geschehnisse jener Tage kurz vor und kurz nach dem Grubenunglück. Im zweiten Teil des Romans ist es eine ganz andere Katastrophe. Die von Michel, der 1974 sechzehn ist und seinen älteren Bruder und Bergmann in jener Katastrophengrube im Spital sterben sieht, der sich von seinem Vater, der immer gegen die  gefährliche Arbeit untertags war, losgeschickt sieht, sich für den Tod seines Bruders und seiner Kumpel zu rächen. Einen Tod, den er dem reinen Profit zuschreibt, gezielter Liederlichkeit. Michel heiratet, bekommt eine Stelle als Lastwagenfahrer, weil er der Bruder eines Opfers ist, muss seinen verbitterten Vater vom Strick im Stall losbinden und begraben, sieht seine verbitterte Mutter sterben, findet eine Frau, die den Alp mitheiratet, die an Krebs erkrankt, die er im Sterben begleitet. Michel zieht sich immer mehr in sich zurück. Sein Plan, sich für sein eigenes und das Unglück seiner Familie zu rächen, wird zum Wahn. Bis er sich durch akribische Vorbereitung jenem Mann gegenüber sieht, den er seit Jahrzehnten für den Tod der 42 Bergleute, für den Tod seines grossen Bruders verantwortlich macht. Aus dem Verbrechen damals wird Verbrechen heute. Michel lässt sich festnehmen, nackt, mit Kohlenstaub eingeschmiert, wird eingesperrt und angeklagt.

Aber im Gefängnis, im Gerichtssaal, in Gesprächen mit seiner Verteidigerin, denen er sich immer wieder durch Schweigen entzieht, wo eigentlich der zweite Teil seines Rachefeldzuges gegen die Obrigkeit, gegen den Profit, gegen die Willkür stattfinden soll, wird Michel mit einer ganz anderen Wahrheit konfrontiert. Nicht nur Michel in seinem nie versiegenden Schmerz, sondern auch ich als Leser, der sich im ersten Teil des Romans ganz und gar auf die Seite Michels geschlagen hat, der ich darauf wartete, bis sich die Faust des Opfers gegen Ungerechtigkeit erhebt.

„Am Tag davor“ ist die Geschichte eines Wahn-sinnigen, eines Mannes, der all meine Sympathien gewinnt, der sein Leben nach einem Fehler, einem Unglück in eine Richtung drückt, die alles künftige Unglück in ein anderes Licht rückt. Der sein Tun rechtfertigt, seinem Plan, sich für all das Unglück an einem Mann und der Öffentlichkeit zu rächen, rechtfertigt. „Am Tag davor“ ist ein Roman darüber, dass nicht nur Michel in seinem Schmerz, sondern jeder seine Gegenwart, den Plan seiner Zukunft auf eine Vergangenheit baut, die er nur durch seine Augen sehen kann. Augen, die sich trüben, die verschieben, ausblenden, verwischen – lügen.

„Am Tag davor“ ist deshalb ein Meisterwerk, weil der Roman vielschichtig, nicht vorhersehbar, überraschend und entlarvend ist. Weil Sorj Chalandon viel mehr als eine Katastrophe schildert. Weil ich als Leser ertappt werde, mir als Leser genau das passiert, worin sich Michel in seinem Leben nach 1974 manövrierte; eine Gegenwart, die auf Sand baut, die wegrutscht, wenn man sich den Fakten stellt. Der Roman bietet derart viele Spielarten der Interpretation, dass man das Buch nach der letzten Seite noch lange aufgeschlagen liegen lassen will.

Vielleicht geht es Sorj Chalandon ja auch nur auf den ersten Blick um die Geschichte des Grubenunglück und das Schicksal Michels. Vielleicht ist «Der Tag davor» ein Roman darüber, was Geschichte ist. Wo die Wahrheit liegt in einer Gesellschaft, die sich Informationsgesellschaft nennt, wo scheinbar alle Fakten auf dem Tisch liegen. Grosse Literatur!

© D. Rouvre

Sorj Chalandon, geboren 1952 in Tunis, war viele Jahre lang Journalist. Seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen Klaus Barbie wurden mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Auch sein schriftstellerisches Schaffen wurde mit nahezu allen grossen französischen Literaturpreisen gewürdigt. «La légende de nos pères» (2009) erschien 2012 als erstes Buch in deutscher Übersetzung u.d.T. «Die Legende unserer Väter». «Mein fremder Vater» wurde mit dem Prix du Style ausgezeichnet.

Rezension von «Mein fremder Vater» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau