Victor Jestin «Hitze», Kein & Aber

Sirrende Hitze über einem Campingplatz am Meer. Lautsprecherdurchsagen, Musik einer Coverband, Zelte und Wohnwagen dichtgedrängt, Menschen überall, am Strand in den Dünen, im Meer, im Dazwischen – und mittendrin gefangen von sich und der Unausweichlichkeit des Moments der 17jährige Léonard.

Eigentlich will er nicht sein, wo er ist. Eigentlich stösst ihn all die Nähe ab. Die Nähe der Gleichaltrigen, das Triebgesteuerte seiner Campingfreunde, der Schweiss, das dauernde Fragen seiner Eltern, der Wirbel in ihm selbst, über den er längst die Kontrolle verloren hat.

Alles spitzt sich ins Unerträgliche zu, als er fast am Schluss seines Urlaubs in der zweitletzten Nacht auf einem Spielplatz Zeuge wird, wie sich Oscar stranguliert. Léonard greift nicht ein, sieht ihn sterben, ihn, der noch vor wenigen Stunden Luce geküsst hatte, jenes Mädchen, das ihm den Kopf verdreht. Léonard schleift in seiner Verzweiflung darüber, dass er ihn hat sterben lassen, den Leichnam in die Dünen und vergräbt ihn in einem Loch, buddelt es noch einmal auf, weil Oscars Handy klingelt. Er glättet den Sand über Oscar, aber nichts von dem Sturm, der in seinem Innern tobt, der alles in Frage stellt, das Innerste nach aussen zu stülpen droht.

Léonard torkelt durch die letzten Stunden seiner Ferien, durch Parties, Karaokesingen, Spielplätze, die heile Welt seiner Familie, vorbei an sonnenrotem Fleisch, inszenierter Fröhlichkeit zwischen Sonnenschirmen und Beachballfeldern.

„Geniesst es, dass sind eure besten Jahre!“, schreit man ihm nach. „Nächstes Jahr kommen wir wieder!“, klinkt wie eine Drohung, die den Alptraum ins Unendliche zieht. Léonard fühlt, wie ihm das Leben zerrinnt, dieses flüchtige Etwas, das er in Oscars Gesicht enden sah, das sich in diesem Ort am Meer, diesem Ort theatralischer Zufriedenheit wie Gift auszubreiten droht, erst recht, wenn der Moment kommen wird, wo die Polizei auftauchen wird. 

Und da ist auch noch Luce, das Mädchen, das in ihm Gefühle auslöst, mit denen er nicht zurecht kommt, ein Ziehen zwischen Anziehung und Abstossung, Hoffnung vermischt mit der Angst weggestossen zu werden.

Victor Justin «Hitze», Kein & Aber, 2020, 160 Seiten, 26.00 CHF, ISBN: 978-3-0369-5828-6

Ein Campingplatz ist eine Welt mit ganz eigenen Gesetzen. Mit der Ankunft wir man geboren, mit der Abreise stirbt alles, was in den zwei Wochen durch eine Überdosis Nähe gewachsen ist. Man schliesst Freundschaften für ein paar Tage. Herzen entflammen sich und erkalten wieder. Dramen auf engstem Raum. Victor Jestin schildert diesen Kosmos als wäre er ein Gezeichneter, ein Versehrter. Alles schreit nach Unterhaltung, Vergnügen, Körperlichkeit. Für einen Heranwachsenden wird der Campingplatz zu einem permanenten Laufsteg, auf dem man sich zu behaupten hat, will man seinen Marktwert nicht ganz verlieren. Die Gefühle zwischen Euphorie und Depression schlagen aus, wie die Zeiger eines Geigerzählers.

Victor Jestin schlüpft in das vibrierende Innere eines Jugendlichen in totaler Verunsicherung. Ein heilsamer Einblick für all die Erwachsenen, die mit zunehmendem Alter vergessen, welche Katastrophen in jener Zeit stattfinden. Nichts von Süsse, keine Romantik, keine Schmetterlinge, nur die Angst vor einem langsam rollenden Tsunami. Victor Jestins Sprache ist unmittelbar. Die Hitze des Sommers, die Glut in der Seele des jungen Mannes brennen während der Lektüre. Die Einsamkeit mitten im Gewusel eines Campingplatzes, überzogen mit dem klebrigen Schweiss eines infernalen Sommers.

Victor Jestin, 1994 geboren, verbrachte seine Kindheit in Nantes und studierte anschließend am Conservatoire européen d’écriture audiovisuelle in Paris, wo er heute auch lebt. «Hitze» ist sein Romandebüt.

Sina de Malafosse, geboren 1984, lebt als Lektorin und Literaturübersetzerin in Toulouse. Sie übersetzt u. a. Adeline Dieudonné, Mathias Menegoz, Antoine Laurain und Jean-Paul Didierlaurent.

Interview

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Andreas Neeser «Alpefisch», Zytglogge

Eine junge Frau, Jus-Studentin, ein junger Mann, Heilpädagoge. Sie lieben sich. Sie brauchen sich. Aber weil Liebe Nähe ist, bricht in dieser Nähe bei beiden das auf, wovor sie sich lieber verschliessen würden, beginnt aus Liebe Kampf zu werden, an dem beide zu zerbrechen drohen. Andreas Neeser leuchtet aus, was sonst nur Schatten wirft.

Brunner sitzt in seiner kleinen Wohnung in der Küche an einem Holztisch, den er einst aus einer Brockenstube mitgenommen hatte. Ein Tisch voller Spuren im Holz, tiefer Kerben und Ritzen. Das Geschirr in der kleinen Küche türmt sich, er trinkt Tunesier, der im längst sauer aufstösst, sitzt da und schaut aus dem Küchenfenster. Er zweifelt und verzweifelt am Hin und Her zu einer Frau, die er liebt, aber nicht lieben kann, vielleicht nicht einmal darf. Eine Liebe, die an einer inneren Hitze zu verglühen droht, je mehr man Nähe zulässt, je mehr man sich ihr hingibt. Es ist der Schmerz, der ihn einschliesst. Ein Schmerz, der ihn nicht einmal loslässt, wenn er durch den Schnee über den Nebel stapft und in die Weite schaut und dem Alpenfisch nachhängt, der vom Blau des Himmels ins Weisse des Nebels taucht, immer wieder hinein ins Undurchsichtige, um nur ganz kurz aufzutauchen, einen Moment, einen Augenblick.

Brunner weiss, dass Kathrin eine Geschichte mit sich herumschleppt. Eine Geschichte, aus der sie sich noch immer nicht herausgewunden hat, die noch nicht einmal Vergangenheit ist. Geschichten, die ihr die Fähigkeit nahmen, Nähe zuzulassen, die tausend Anfänge zu Nichte, Brunners Liebe unmöglich, zu blossem Drängen machen. Je mehr Brunner fordert, je mehr er sich hineingibt, desto stärker wird Kathrins Widerstand.

Andreas Neeser «Alpefisch», Zytglogge, 2020, 109 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-7296-5035-0

Brunner wartet. Er wartet auf einen Anruf, eine SMS, Stunden auf ihr Erscheinen, ein Zeichen, einen Anfang, ein Ende. Kathrin ist ein Fisch, der sich nicht halten lässt. Sie wohnt noch immer zuhause bei ihrem Vater, einem schwerreichen Bauunternehmer, seit dem Tod ihrer Mutter die einzige Frau im grossen Haus. Aber wenn Brunner Kathrin ausführt, wenn sie alleine sind, dann ist da immer das Gespenst, das Kathrin schon zehn Jahre mit sich herumschleppt. Dieser Mann im Haus ihres Vaters, dieser Mann, der Tochter und Vater in die Ferien begleitet. Dieser Mann, der Kathrin auch in ihren Träumen nicht in Ruhe lässt. Dieser Mann, der der jungen Frau längst den Boden unter den Füssen weggerissen hat, der sie im unendlichen Dazwischen hängen lässt, wo auch Brunner nichts auszurichten hat.

Beide schleppen den Tod mit sich, Brunner jenen seines Bruders, der vor seinen Augen von einem Lastwagen weggerissen wurde, Kathrin den partiellen Tod ihrer selbst, das Wegsterben ihrer Leichtigkeit, ihrer Hoffnung, den Würgegriff eines nicht enden wollenden Alps. Brunner kämpft gegen seine Machtlosigkeit genauso wie Kathrin. Andreas Neeser beschreibt diesen Kampf in bestechender Unmittelbarkeit. Den Kampf gegen das Schweigen, den Kampf gegen das Verlieren, den Kampf gegen die Ohnmacht.

Dass dabei die Mundart die Unmittelbarkeit noch verstärkt, liegt in der Musik Neesers Sprache, in den Worten, die mir, der ich mich sonst nur selten von Mundartliteratur verführen lasse, Resonanzen erzeugen, die sonst nur selten mitschwingen, in seiner Wärme, selbst dann, wenn sie vor Heftigkeit strotzen. Resonanzen, die durch die melodiöse Nähe der Sprache ganz unerwartet in Schwingungen geraten, die mich mehr als nur berühren. «Alpefisch» ist ein Ereignis. Auch wenn einem das Ungewohnte der Sprache zu einem anderen, viel, viel langsameren Lesen zwingt. Kein Problem bei 107 Seiten feinster Prosa!

Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. Seit 2012 lebt er als Schriftsteller in Suhr. Für sein formal und inhaltlich vielfältiges Werk wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen bedacht.
Mitglied von Autor/innen der Schweiz (AdS), Deutschschweizerisches PEN-Zentrum und VAA. Mitglied der Jury für den Franz-Tumler-Preis. Neben seiner bei Zytglogge erscheinenden Mundartliteratur glänzt Andreas Neeser bei Haymon mit seinem neusten Roman «Wie wir gehen».

Rezension von «Wie wir gehen» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autor

Beitragsbild © Lea Frei

Dietmar Krug «Der Atem des Vogels», Plattform Gegenzauber

Die Sonne stand bereits tief und hatte dennoch kaum etwas von ihrer wärmenden Kraft eingebüßt, als Michael sich mit der Gießkanne dem Rosenstock in seinem Garten näherte. Er musste sich die ausgestreckte Hand schützend über die Augen halten, um sehen zu können, ob die Blattläuse auf die Rosenblätter zurückgekehrt waren. Mit einem zufriedenen Brummen senkte er den Ausgusshals der Kanne nahe beim Stamm des Stocks zu Boden und wollte gerade zu gießen beginnen, als er eine Bewegung bemerkte. Eine Feldmaus am Rand des Beets hatte ihn bemerkt und versuchte, das Weite zu suchen. Es gelang ihr aber nicht, weil die Hinterbeine ihr offenbar den Dienst versagten. Nur das rechte bewegte sich ein wenig nach außen, das andere hing schlaff an der Seite. Ihre Vorderbeinchen vollführten dabei schwach rudernde Bewegungen, die nicht ausreichten, um ihren Körper aus seinem Sichtfeld zu robben. Er stellte die Gießkanne auf den Boden und ging neben der Maus in die Hocke. Seine Kniegelenke knackten laut, er biss kurz auf die Zähne, beugte sich über das Tier, das auf seine Annäherung reagierte, indem es noch panischer versuchte, von der Stelle zu kommen. Das bewegliche Hinterbeinchen fuhr vor und zurück, aber da es keine Unterstützung von der anderen Seite bekam, vollführte das Tier nur eine kleine Kreisbewegung, das kranke, schlaffe Bein über den Boden schleifend wie einen fremden Gegenstand, der zwar am Rumpf befestigt war, aber keine Funktion mehr hatte.

Er beugte sich so weit hinab, wie es sein bereits schmerzender Rücken zuließ, und inspizierte die Maus genauer. Ihre weit geöffneten schwarzen Knopfaugen glänzten in der Sonne. Auf dem hinteren Teil ihres Rückens war eine schmale Vertiefung erkennbar, eine kleine Kerbe im Fell, das aber nirgends blutgetränkt war. Er blickte in den wolkenlosen blauen Himmel. Vielleicht war die Maus einem von Krähen attackierten Raubvogel aus dem Schnabel gefallen und hatte sich beim Sturz in seinen Garten das Rückgrat gebrochen. Wie auch immer, das Tier war verloren, es war nur eine Frage der Zeit, bis es zur wehrlosen Beute einer Katze oder einer Krähe werden würde. Er stand auf, einen plötzlichen Schwindel niederkämpfend. Dann holte er eine kleine Gartenschaufel aus dem Geräteschuppen und ging zurück zum Rosenstock. Die Maus lag immer noch am gleichen Fleck. Als er sich ihr mit der Schaufel näherte, versuchte sie wieder vergeblich, ihr Gewicht von der Stelle zu robben, doch die Bewegungen ihres Beinchens wurden bereits schwächer, nicht einmal mehr einen halben Kreis brachte sie zustande.

Mit einem Stock schob er das Tier vorsichtig auf die Schaufel und legte es dann in den Schatten des Rosenstocks, um ihm bei seinem Kampf gegen Schwäche und Schmerz wenigstens die Hitze zu ersparen. Noch einmal regten sich die Fluchtinstinkte in der Maus, sie zuckte bei der Berührung mit dem Stock zusammen und wand sich. Der Sonne entkommen, legte sie schließlich den Kopf auf den Boden und blieb flach atmend liegen.

Immer noch konnte er den Blick nicht von dem angeschlagenen Tier abwenden, das sich jetzt wieder zu bewegen begann. Langsam zog es das noch bewegliche Hinterbeinchen an und schob es wieder zurück, wie bei einer Schwimmbewegung, wobei sich der Körper abwechselnd leicht durchstreckte und wieder zusammenzog. Der Atem ging flach und stoßweise. Er deutete das als krampfhaftes Aufbäumen, womöglich gegen starke Schmerzen. Plötzlich empfand er den drängenden Wunsch, das Tier von seiner Pein zu erlösen. Es war ohnehin aussichtslos. Er sah sich auf dem Boden um und erblickte einen faustgroßen Stein am Rand des Rosenbeets. Zögernd hob er ihn auf und wog ihn in der Hand. Ein kurzer, gezielter Schlag könnte dem allem ein Ende bereiten.

Langsam hob er den Stein in die Höhe und verharrte damit über der Maus, deren Bewegungen allmählich schwächer wurden. Das Beinchen streckte sich nur noch wenige Millimeter weit, die Körperdehnung, mit der das Tier offenbar mit letzter Kraft nach Atem rang, wurde mit jedem Zug kürzer. Schließlich streckte die Maus ihr Beinchen noch einmal langsam zu voller Länge aus, es wirkte, als würde sich ein Krampf lösen. Ein letzter, matter Atemzug, und der Glanz wich aus den Knopfaugen.

Ein eigentümliches Gefühl beschlich ihn, eine Mischung aus Ernst, Traurigkeit und Erleichterung. Er war Zeuge eines Sterbens geworden, und selbst hier, bei dieser winzigen, unbedeutenden Kreatur hatte es etwas Ergreifendes, dieses verzweifelte Aufbäumen gegen das Unvermeidliche, dieser unbedingte Lebenswille bis zum letzten Atemzug. Etwas war verschwunden aus dieser leblosen Fellhülle, etwas Fühlendes, Pulsierendes, Unfassbares.

Er stand da, den Stein immer noch in der Hand, und vor seinem inneren Auge entstand ein Bild aus längst vergangenen Zeiten: ein Junge, der, wie er selbst jetzt, einen Stein in der Hand hielt, und auch dieser Stein war dazu bestimmt gewesen, einem Tier ein vorzeitiges Ende zu bereiten.

Er war elf, vielleicht zwölf Jahre alt, und er hatte am Vortag eine Einladung zu einem ganz besonderen Ereignis bekommen. Charly, ein Junge aus seinem Heimatdorf, hatte ihn zum Grillen von selbst gefangenen Jungtauben eingeladen. Eine Köstlichkeit, meinte Charly, das Fleisch sei unglaublich zart. Charly war zwei Jahre älter als er und genoss allgemeine Bewunderung im Dorf. Er hatte ein Luftgewehr mit Zielfernrohr und ein Moped, das er ohne Nummernschild und ohne den erforderlichen Führerschein fuhr. Es gab keinen Baum, den er nicht bis in die äußerste Krone erklommen hatte, keine Mutprobe, die ihm zu heikel gewesen wäre. Wenn Charly einen zu etwas einlud, dann ging man hin, es war eine Auszeichnung.

Als Michael sich auf den Weg machte, traf er unterwegs auf Norbert, einen großen, dicklichen Jungen aus der Nachbarschaft, den alle Lutschi nannten, weil er einmal beim heimlichen Daumenlutschen ertappt worden war. Es stellte sich heraus, dass er ebenfalls zum Taubengrillen eingeladen war, was Michael eine leise Enttäuschung bereitete, weil es den Prestigegewinn der Ladung schmälerte. Als sie bei dem Haus ankamen, in dem Charly allein mit seinem Vater, einem wortkargen und meist missgelaunten Mann, wohnte, stellten sie fest, dass sie die einzigen geladenen Jungen waren. Das verschaffte Michael zwar ein Gefühl von Exklusivität, die allerdings von dem Umstand beeinträchtigt wurde, dass er sie ausgerechnet mit Lutschi teilen musste.

Als Charly ihnen die Tür öffnete, trug er Gummistiefel und einen blauen Arbeitsanzug, der ihm einige Nummern zu groß war und wahrscheinlich seinem Vater gehörte. Eine Kappe mit breitem Schirm beschattete seine Augen und verlieh seinem Blick etwas Düsteres. Er hatte den Grill und die Kohle schon auf der Terrasse vorbereitet, jetzt fehlte nur noch das Fleisch. Ohne viel Worte zu verlieren, ging er mit den beiden Jungen in den Garten hinter dem Haus und schob die Zweige eines im dichten Laub stehenden Fliederstrauchs auseinander. Ein Nest kam zum Vorschein, darin befanden sich vier kleine, weiße Tauben, die den Kopf reckten, als das überraschende Licht auf sie fiel. Geschickt nahm Charly eine Taube aus dem Nest und hielt sie Lutschi hin. Der wich einen Schritt zurück und legte die Hände auf den Bauch.
„Die beißt nicht!“, sagte Charly und hielt ihm die Taube erneut entgegen.
Lutschi streckte zaghaft die Arme aus und ließ sich den Vogel in die geöffneten Hände setzen. Er verzog vor Unbehagen den Mund, als er das Tier umfasste und sanft gegen seinen Bauch drückte. Charly nahm eine weitere Taube aus dem Nest und hielt sie Michael entgegen. Der ließ sich seinen inneren Widerstand nicht anmerken und nahm, ohne zu zögern, den Vogel in beide Hände, als wäre ihm diese Handhabung völlig vertraut. Dabei hatte er noch nie Gefieder in seinen Händen gespürt. Das Tier fühlte sich warm und weich an und rührte sich nicht. In den Handinnenflächen fühlte er ganz leicht den Atem und den schnellen Herzschlag des Vogels. Schließlich nahm Charly selbst eine Taube heraus, die vierte bleib regungslos im Nest zurück.

Einen Moment standen sich die drei Jungen gegenüber, jeder einen identisch aussehenden Vogel in Händen.
„Und jetzt?“, fragte Lutschi.
„Jetzt müssen wir sie nur noch killen“, sagte Charly und blickte mit provokanter Ruhe aus dem Mützenschatten von einem zum anderen.
„Was, wie denn?“ Lutschis Stimme war in eine hohe Lage gerutscht.
„Indem du ihnen den Kopf abreißt, einfach so:“

Charly löste eine Hand von der Taube und klemmte das Köpfchen am Halsansatz zwischen die Innenseiten des gekrümmten Zeige- und Mittelfingers. Dann riss er ruckartig die Hand von dem Tier weg. Lutschi schnappte hörbar nach Luft und kniff die Augen zusammen. Doch Charly hatte rechtzeitig die Finger von dem Kopf des Vogels gelöst, er war unversehrt.
„Nichts dabei“, sagte er, die Hand immer noch in der Luft. „Ist wie Kirschenpflücken.“

Eine angespannte Ruhe breitete sich unter den Jungen aus. Lutschi starrte auf die Taube, die ruhig in seinen Händen saß. Michael versuchte, etwas in Charlys Blick zu erkennen, der erwartungsvoll in seine Richtung schaute. Aber er konnte seine Augen nicht sehen, sie lagen im Schatten des Mützenschirms. Er betrachtete die Taube in seinen Händen und spürte die Wärme ihres Körpers. Ihr Kopf war winzig, der Hals kaum sichtbar, er würde wenig Widerstand leisten. Ein kurzer Moment, kaum Kraft, nicht einmal ein echter Ruck wären nötig, um Charlys volle Anerkennung zu gewinnen. Doch während er eine Hand vom Flügel des Tieres löste, um sie dem Kopf zu nähern, spürte er einen starken inneren Widerstand. Die Stille wurde vom Gackern eines Huhns im Stall neben dem Garten durchbrochen, ein hohes, durchdringendes Geräusch, das in diesem sich dehnenden Moment eine Erinnerung auslöste. Als Michael vor einigen Tagen vom Spielen nach Hause gekommen war, trat gerade sein Vater aus dem Geräteschuppen und ging in Richtung des Hühnerstalls. Er trug eine mit rotbraunen Flecken gesprenkelte Schürze über seiner Arbeitskleidung und hielt ein Beil in der Hand. Seine aufgekrempelten Ärmel legten sehnige Unterarme frei, auf denen die Adern bläulich hervortraten. In der freien Hand hielt er eine brennende Zigarette.

„Was machst du?“, fragte Michael.
„Wonach sieht’s denn aus?“
„Und, wen nimmst du? Die Emma?“
„Die ist noch nicht fett genug. Fritz ist dran.“
„Der Hahn? Dann kriegen wir keine Küken mehr.“
„Mama will die Hühner abschaffen. Sie sagt, die kriegen wir billig und sauber verpackt im Supermarkt.“

Der Vater öffnete eine mit Maschendraht bespannte Tür und verschwand im Hühnerstall. Lautes Gegacker ertönte, gefolgt von Geflatter und Flügelschlag. Nach einer Minute kam der Vater zurück und hielt den Hahn umklammert, mit der einen Hand presste er den rotbraun gefiederten Körper fest gegen seinen Bauch, die andere hatte er an den unteren Halsansatz des Tieres gelegt. Das Beil steckte mit dem Griff nach unten im hinteren Hosenbund. Der Vogel zuckte mit dem Kopf hin und her und versetzte seinen roten Kehllappen in eine pendelnde Bewegung. Der Vater ging zu einem Holzblock am Rand des Hofes, dessen Oberfläche von getrocknetem Blut gefärbt war. Michael sah ihm dabei zu, wie er den Hahn auf den Block legte und am Halsansatz auf das Holz drückte. Mit der anderen Hand tastete er zum Beil im Hosenbund. Er hatte ein Auge zugekniffen, um es vor dem Rauch der Zigarette in seinem Mundwinkel zu schützen.

„Tut es weh?“, fragte Michael.
„Was?“
„Wenn man ihn abhackt.“
Der Vater sah kurz von dem Hahn auf und sagte:
„Ah.“
Es war ein kurzer, kehliger Laut der Verneinung, ein Minimalton, für den man so gut wie keinen Atem benötigte. Michael hätte seinen Vater gern mehr gefragt, etwa ob die Geschichten stimmten, dass Hühner manchmal noch einige Meter ohne Kopf weiterlaufen können. Aber das „Ah“ des Vaters ließ ihn verstummen.

Plötzlich hörten sie die Stimme seiner Mutter aus der Richtung des Hauses.
„Mickey, komm ins Haus!“
Ihre Stimme hatte einen schrillen Unterton, die seinen Vater in seinem Tun innehalten ließ.
„Gleich, Mama!“
„Sofort!“
„Geh schon“, sagte sein Vater, „sonst flippt sie wieder aus. Wenn sie auf Kur ist, bring ich dir bei, wie man’s macht.“

Unwillig riss sich Michael von der Szene los, drehte seinem Vater den Rücken zu und folgte dem Ruf seiner Mutter. Während er auf das Haus zuging, lauschte er, aber es blieb völlig ruhig hinter ihm, bis er den Eingang erreicht hatte. Seine Mutter stand in der Tür, sie hatte eine steile Falte zwischen den Augen und schob ihn an der Schulter ins Haus. Als sie im Flur standen, war die Falte verschwunden und ihr Blick hatte etwas Flehentliches bekommen.

„Warum abreißen?“, fragte Michael, seine Hand hatte fast den Kopf der Taube erreicht.
„Was?“, fragte Charly und zog sich die Mütze tiefer in die Stirn.
„Wieso muss man den Kopf abreißen?“
„Willst du ihn lieber abbeißen?“
„Hast du kein Beil?“
„Wie wär’s hiermit?“, fragte Lutschi und stieß mit der Fußspitze gegen einen großen flachen Stein. Er hielt seine Taube mit leicht ausgestreckten Armen ein Stück weit von seinem Körper entfernt.
„Na, dann mach mal!“, sagte Charly. Michael sah, dass sein Mund sich zu einem spöttischen Grinsen verzog.

Lutschi stand eine Weile unschlüssig da und blickte von einem zum anderen. Dann kniete er nieder, setzte den immer noch reglosen Vogel ins Gras und drückte ihn am Rückengefieder zu Boden. Mit der anderen Hand nahm er den Stein auf, hielt ihn in die Sonne und betrachtete ihn von allen Seiten, als wollte er ihn auf seine Waffentauglichkeit prüfen.

Michael schreckte aus seinen Gedanken auf und blickte auf die tote Maus im Schatten der Hecke. Der Stein lag immer noch in seiner Hand, er wog ihn wippend, bevor er ihn zu Boden fallen ließ. Er versuchte sich zu entsinnen, wie die Geschichte mit den jungen Wildtauben ausgegangen war. Aber es gelang ihm nicht. Er hatte keine Erinnerung mehr daran, ob Lutschi wirklich ernst gemacht hatte mit seinem Stein. So sehr er sich auch konzentrierte, ihm fiel weder ein, was aus der Taube in seiner Hand geworden, noch ob es je zu dem Grillen gekommen war. Da war nur ein zäher undurchdringlicher Nebel in seinem Kopf, der seine Gedanken lähmte.

Mit mechanischen, eingelernten Bewegungen goss er den Rosenstock und stellte danach die Kanne zurück in den Geräteschuppen. Er ging über die Terrasse in die Küche und machte sich einen Tee. Mit tiefen Atemzügen genoss er die ungewohnte Ruhe im Haus, das er ein Wochenende lang für sich allein hatte. Dann duschte und rasierte er sich, zog ein frisches Hemd an und stieg ins Auto, um seine Eltern im Nachbardorf zu besuchen.

Als er den Wagen in der Einfahrt parkte, blieb er noch einen Moment am Steuer sitzen und blickte am Haus vorbei über den Hof in den Garten. Nachdem sein Vater einen zweiten Herzinfarkt gehabt hatte, ließ seine Mutter auf der gesamte Anbaufläche Gras sähen und Obstbäume anpflanzen, deren Laub sich bereits zu verfärben begann. Der Hühnerstall war längst abgerissen worden, jetzt war da nur noch eine betonierte Fläche, die gelegentlich als Grillplatz diente.
Michael öffnete das Handschuhfach und holte eine Schachtel Tabletten heraus. Lange starrte er auf die Beschriftung der Verpackung. Dann steckte er die Schachtel in seine Sakkotasche und stieg aus dem Wagen.
Seine Mutter stand bereits auf der Eingangstreppe. Ihre gebeugte Gestalt war etwas schief gegen das Geländer gelehnt, sie hatte für seinen Besuch ein gutes Kleid angezogen, ihr weißes Haar war frisch frisiert.

Sie hielt ihm zur Begrüßung die Wange hin und fragte:
„Wo sind Ruth und Kerstin?“
Wie so oft versetzte es ihm einen Stich, dass sie nur nach seinen Kinder fragte und nicht nach seiner Frau. Flüchtig küsste er die Wange seiner Mutter.
„Katharina ist mit den beiden zu ihrer Mutter gefahren. Das hab ich dir doch am Telefon gesagt.“
„Ach Gott, ich werd langsam vergesslich“, sagte sie und hakte sich bei ihm ein, um leichter die Treppe hinaufzukommen. Als sie in der Küche waren, fragte er:
„Und? Wie geht’s ihm?“

Eine Kerbe bildete sich zwischen ihren Augen. Er wusste, die Falte würde sich gleich wieder entspannen, aber nicht mehr gänzlich verschwinden, zu oft schon hatte sie Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Ihr Blick bekam wie immer etwas Flehentliches, was in letzter Zeit aufgrund der schlaffen, geröteten Lider einen immer stärkeren Zug ins Weinerliche bekommen hatte.

„Er hatte eine harte Nacht.“
„Probleme mit der Luft?“
Sie nickte.
„Vor allem im Liegen ist es arg.“
Er wollte etwas sagen, aber ihm fiel nichts ein.
„Mickey.“
Er zwang sich, sie mit festem Blick anzusehen.
„Letzte Nacht wache ich auf, und er ist nicht im Bett. Ich gehe ins Wohnzimmer und er steht da, mit beiden Händen an eine Stuhllehne gekrampft. Er keucht vor Luftnot und die Augen treten ihm aus dem Kopf. Ich weiß nicht mehr weiter.“

Michael spürte, wie sein Mund trocken wurde.
„Warum nimmt er denn nicht das wassertreibende Medikament?“
„Er geht sparsam damit um, weil es allmählich seine Wirkung verliert. Darum setzt sich immer mehr Wasser in der Lunge ab.“

Nach einer kurzen Weile, in der die Falte zwischen ihren Augen sich wieder vertiefte, fügte sie hinzu:
„Weiß du, was er gesagt hat?“
„Was?“
„Warum schläfern sie mich nicht ein?“
„Mama, ich –“
„Mickey, einschläfern hat er gesagt. Das tut man doch nur mit einem Tier.“

Als er sah, dass ihre Augen sich mit Tränen zu füllen begannen, wandte er sich von ihr ab und sagte lauter als gewollt:
„Ich geh zu ihm.“
Er verließ die Küche und betrat das Wohnzimmer, wo er seinen Vater nicht antraf. Er ging zurück in den Flur und lauschte an der Toilettentür. Zuerst hörte er ein leises Schnaufen, dann einen Wasserstrahl, gleichmäßig und anhaltend. Länger als eine Minute hörte er zu, wie das Wasser, das die Pillen aus den Lungen und Blutgefäßen des Vaters gesaugt hatten, in die Schüssel plätscherte. Die Spülung erklang, und Michael trat rasch von der Tür zurück.

Als sein Vater sich ihm gegenüber ächzend aufs Sofa sinken ließ, wirkte seine Gestalt eingefallen und abgemagert. Dunkle Ränder hatten sich unter seinen Augen gebildet. Sie plauderten einige belanglose Worte über die Kinder und das Wetter. Und Michael bemerkte, dass sein Vater zwischen seinen spärlichen Worten immer wieder nach Luft schnappte, ein kurzes, beinahe erschrockenes Japsen, einem geräuschlosen Schluckauf ähnlich. Michael sah sich im Raum um, in einer Ecke neben dem Fernseher stand eine Sauerstoffflasche in einem metallenen Fahrgestell. Er deutete darauf und sagte:
„Soll ich dir das Ding bringen?“
„Ah.“

Ein Schweigen entstand, das sich lange zog. Die lastende Stille erinnerte Michael an ein Gespräch, das sie eine Woche zuvor geführt hatten. Sein Vater war wie immer den Fragen nach seinem Befinden ausgewichen, hatte einsilbig oder nur mit einer abwinkenden Handbewegung geantwortet. Doch am Ende blickte er aus dem Fenster, ein Schleier hatte sich über seine Augen gelegt und er sagte leise, wie zu sich selbst:
„Ich werd sicher keine Siebzig.“

Michael überlegte, was er darauf antworten sollte. Doch seine Gedanken wurden träge und schwer, nicht einmal mehr den Blick vermochte er zu heben. Minutenlang saßen sie sich schweigend gegenüber. Beim Abschied hatte sein Vater ihn noch einmal geradeheraus angesehen und gesagt:
„Ich verlass mich auf dich. Ich will nicht ersticken wie ein gefangener Fisch.“

Ein Schnappen nach Luft riss Michael aus der Erinnerung. Er stand auf, rollte die Sauerstoffflasche zum Sofa, drehte den Hahn auf und reichte dem Vater den durchsichtigen Schlauch. Der Vater nahm ihn nach einem Zögern widerwillig entgegen und steckte sich das gebogene Plastikende in die Nase.
Die frische Luftzufuhr verschaffte ihm sichtlich Erleichterung, seine Atmung begann sich etwas zu entspannen. Dann verengten sich seine Augen, die buschigen weißen Brauen schoben sich zusammen, und er sagte:
„Hast du es dabei?“
„Was?“
Der Vater zog verächtlich einen Mundwinkel nach unten. Michaels Hand griff unwillkürlich nach der Tablettenpackung in der Sakkotasche, der Blick des Vaters folgte seiner tastenden Bewegung. Mit einem Räuspern stand Michael auf und ging ziellos einige Schritte durch den Raum. Auf einer Kommode stand ein Hochzeitsfoto der Eltern. Seine Mutter trug darauf einen weißen Schleier auf dem kunstvoll frisierten blonden Haar. Sie stand etwas seitlich und sah mit weit geöffneten Augen zu ihrem Mann auf, der einen Kopf größer war als sie und das markant geschnittene Kinn der Kamera entgegenreckte.
Als er sich von dem Foto losriss, sah sein Vater ihn immer noch unverwandt an, als erwartete er eine Antwort.
„Nein!“, sagte Michael, schüttelte bekräftigend den Kopf und versuchte seiner Stimme Festigkeit zu verleihen.
Sein Vater blickte auf Michaels Sakkotasche, die von der Medikamentenpackung ausgebeult war. Dann nahm er den Schlauch aus der Nase, schnaufte verächtlich und sagte, den Mund zu einem leichten Grinsen verzogen:
„Hätt ich dir auch nicht zugetraut.“

Dietmar Krug, geboren 1963 im Rheinland, studierte in Aachen und Wien Germanistik, Philosophie und Geschichte. Er promovierte 1996 über Thomas Mann. Seit 1988 lebt Krug in Wien, war dort zunächst freier Verlagslektor, bevor er 2004 in den Journalismus wechselte. Als Autor, Kolumnist und Redakteur hat er für diverse Medien gearbeitet, u. a. «Die Zeit», «Die Presse», «Der Standard». Zuletzt erschienen bei Otto Müller die Romane «Rissspuren» (2015) und «Die Verwechslung» (2018).

Rezension von «Von der Buntheit der Krähen» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Pilo Pichler

Margrit Schriber «Die Vielgeliebte meines Mannes», Nagel & Kimche

Margrit Schriber ist nicht müde. Ihre Lust am Schreiben, am Erfinden, am Fabulieren, ihre Freude am vollen Leben umarmt einem bei der Lektüre ihres neuen Romans förmlich. «Die Vielgeliebte meines Mannes» ist ein Roman, der sich erfrischend wenig darum kümmert, was zu den Insignien der Literatur gezählt wird. Einfach gut erzählt!

Es ist als sässe man auf einer grossen Tribüne mitten in einem See, vielleicht dem Vierwaldstättersee, und sähe auf ein Dorf. Ein kleines Dorf im Dunst der anbrechenden Siebzigerjahre. Eine Kirche etwas erhöht über den Häusern, eine Schiffanlegestelle, die aber nicht von allen vorbeifahrenden Schiffen angesteuert wird, das Restaurant Romantica, eine Bäckerei, Häuser verstreut darum herum und etwas abseits eine grosse Villa, direkt am See, durch einen schmiedeisernen Zaun vom Dorf abgetrennt.

Dort hin sind Rosy und Charly gezogen, ein junges Ehepaar, weil er die Stelle des Organisten in der Kirche antreten konnte und ihm seine junge Frau mit ihrer Arbeit in der nahen Parfümfabrik den Rücken freihält, um an seinem grossen Meisterwerk zu arbeiten, um sich auf seinen siegreichen Feldzug durch die Welt der Musik vorzubereiten. Dort wohnt Kitty, noch Mädchen, dreizehnjährig, aber mit der Leidenschaft einer jungen, wilden Frau. Kitty singt mit sieben anderen Grazien mehrmals in der Woche auf der Empore der Kirche zu Charlys Orgelklängen. Sie ist eine der acht schmachtenden Teenager, die angespornt durch das Lob des jungen Musikers von einer glorreichen Karriere als Sängerin träumen, dereinst an der Seite des Hasy Osterwald Quartetts oder noch viel höher und weiter. Dort wohnt eine reiche, stille, vom Dorf abgewandte Frau in ihrer Villa mit Gewölbefenstern und buchsgesäumtem Kiesweg, einem rosaroten Amischlitten und eigenem Bootssteg. Nachts sind die Fenster hell erleuchtet und man sieht und hört Madame am Flügel die Luft bezaubern. Vor allem Charly, der auch tagsüber im Restaurant Romantica mit Sicht auf die Villa seinen musikalischen Fantasien nachhängt.

Margrit Schriber «Die Vielgeliebte meines Mannes», Nagel & Kimche, 2020, 176 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-312-01161-2

Es ist Rosy, die erzählt. Und von der ersten Seite weg ist klar, dass die Geschichte, die sie erzählt, mit einer Katastrophe endet, mit einer Waffe und einem Schuss, der abgegeben wurde. Während die acht Stimmen auf der Empore der Kirche immer klarer und heller singen, beginnt es in den Magmakammern unter dem Dorf zu rumoren. Nicht nur weil sich die ausser Rand und Band geratenen Mädchenseelen in einen Zickenkrieg begeben, die Stimmung rund um den jungen Organisten und Dirigenten zu kochen beginnt, sondern weil alle im Dorf mitbekommen, dass Unkontrollierbares einheizt. Aber weil die Familien ebenfalls in einer Mischung aus Stolz und Hoffnung den hörbaren Höhenflug ihrer Töchter verfolgen, nimmt man den Preis dafür in Kauf.

Aber «Die Vielgeliebte meines Mannes» ist auch die Befreiungsgeschichte einer jungen Frau, die mit Enthusiasmus ins Abenteuer einer jungen Ehe startete, um festzustellen, dass sie wie alles im Haushalt nur Instrument bleibt. Ihr Mann sonnt sich in der Bewunderung der jungen Täubchen und schmachtet in seiner Verehrung für die geheimnisvolle, unnahbare Schöne, die die großen Fenster ihrer Villa zum grossen Fenster in eine grosse Welt macht.
Margrit Schribers Roman ist in ein eigenartig farbiges Licht getaucht. Auf der kleinen Bühne eines Dorfes am See spielen sich die grossen Dramen menschlicher Leidenschaft ab, kochen die Menschen im giftigen Dunst von Gerüchten, Wut und blankem Hass. Die Autorin sprüht vor Erzähllust, sei es in der Boshaftigkeit ihrer ProtagonistInnen oder im Witz des Moments. Ein ganzes Dorf verstrickt sich in naiver Leidenschaft, fährt mit voller Kraft hinein in die Katastrophe.

Ein köstliches Lesevergnügen!

«Aussicht gerahmt», «Ausser Saison», «Kartenhaus», «Vogel flieg», «Luftwurzeln», «Muschelgarten», «Tresorschatten», «Augenweiden», «Rauchrichter», «Schneefessel», «Von Zeit zu Zeit klingt ein Fisch»… Das sind nur einige ihrer Bücher aus einem langen Schriftstellerinnenleben. Buchtitel, die selbst eine Geschichte erzählen. Von einer Frau, die sich nicht einfach in eine Schublade einordnen lässt, die in einem halben Jahrhundert Schriftstellerei einen ganz eigenen Schreiber-Kosmos schuf, der von starken Frauen erzählt. Einer starken Frau wie sie selbst, die sich durch nichts entmutigen lässt, selbst wenn ihr Stammverlag durch Umstrukturierungen mehr als einmal den Anschein machte, ihr die Treue zu kündigen. Selbst wenn ihr die grossen Literaturpreise vorenthalten blieben, obwohl einige ihrer frühen Romane, allen voran «Schneefessel» zu den Perlen der Schweizer Literatur gehören.

Margrit Schriber ist eine klassische Erzählerin, kann einfach gute Geschichten erzählen. «Meine Figur ist mein Geschöpf und dreht sich in der Spieluhr meines geschaffenen Turms zum Stundenschlag im Kreis», schreibt Margrit Schriber. Ihre Figuren sind ihr ganz nah, nie verkopft, ihr Blick nie auf sich selbst gerichtet, auch wenn an der Grand-Dame eine gewisse Eitelkeit unübersehbar ist.

Interview mit Margrit Schriber:

Im Begleitbrief zu deinem Roman steht: „Wie Rosy musste ich einen Spottspalier durchschreiten und mich bespucken lassen.“ Rosy beginnt zu schreiben. Du begannst zu schreiben. „Es folgte Buch um Buch. Mit jedem einzelnen schrieb ich ein Stück meiner verlorenen Ehre zurück.“ Das klingt erstaunlich ehrlich, dir erstaunlich nah. Ist Schreiben nicht immer Befreiung?
Es gibt unzählige Gründe für mein Schreiben. Neugier, Abenteuerlust, Aufregung, Entdeckerfreude, Lust an der Verwandlung, an der Herausforderung und am Verwirrspiel, Freude am Konstruieren einer anderen Welt usw. Ich könnte Seiten damit füllen. Das Wichtigste aber ist es, mir ein Ziel zu setzen und alles zu geben, um dieses zu erreichen. Ich schrieb einmal, ein Mensch sollte sich in die Sterne schreiben. Es ist mein Credo! Und es stimmt für mich. Das Leben ist viel zu kurz, viel zu einmalig, um es zu verschwenden. Handelt nicht jedes meiner Bücher von der Suche nach einem Sinn? Will nicht jede meiner Figuren ihrem Leben ein Ziel geben?
Jedes Buch ist auch eine Forschungsreise ins eigene Innere. Und beim Scheiben meines letzten Romans bin ich in den tiefsten und verborgensten Winkel gedrungen, so dass mir klar wurde, wie tief Verletzungen gehen können und wie nachhaltig sie prägen. Ich wollte aus meinem dramatischen Stoff etwas Leichtes und Farbenfrohes schaffen. Der See nimmt meiner Figur Rosy alles Kummervolle ab. Zurück bleibt eine blanke Oberfläche für Neues.
Das Buch widergibt den Zeitgeist der 60er Jahre. Da hat sich eine junge Frau noch sehr auf den Partner gestützt, an dessen Karriere geglaubt, ihre Fähigkeiten womöglich zu dessen Gunsten eingesetzt und die Sehnsucht nach Anerkennung unterdrückt.
Ich selbst hatte das Glück, dass ich meinen Traum vom Schreiben realisieren konnte. Doch zuerst musste ich an mich selber glauben können. Ich. An mich. So einfach ist das aber nicht. Das ist es nie! Es war ein langer einsamer Weg. Ich würde ihn immer wieder gehen, denn ich schulde ihm mein Glück. Im Grunde ist wohl mein ganzes Werk ein Versuch, mich in die Sterne zu schreiben. 

Ein Dorf am See, eine Kirche, eine Villa, in der Nähe eine Fabrik. Ein junges Ehepaar, eine reiche abgewandte Dame, ein Pfarrer und acht nach dem Leben, der Liebe schmachtende hormongesteuerte Mädchen und Töchter, die der Kontrolle von Eltern und Institutionen zu entgleiten drohen. Liebst du das Pulverfass? Die heissen Magmakammern unter der Normalität?

Ja, ich liebe die heissen Magmakammern unter der Normalität. Ich langweile mich leicht. Ich kann nicht Monate mit einem Text verbringen, der mich nicht immer neu an die Decke springen lässt. Ich schreibe ja zu meiner eigenen Unterhaltung. Deshalb bewege ich mich auch auf überschaubarem Raum und wähle bewusst nur wenige Figuren. Ich möchte diese von nah beobachten. Ich sprenge sie in diese und jene Richtung. Wenn nicht hinter jeder Ecke etwas Unerwartetes lauert, drücke ich auf die «delate» Taste.

„Ich war ein schwarzes Loch. Wir waren ein jedes dem andern ein schwarzes Loch“, steht im Roman. Spricht daraus die Ernüchterung darüber, dass selbst Liebe und Freundschaft nie darüber hinwegtäuschen können, dass jene Sehnsucht, die so sehr nach Nähe ruft, gar nie gestillt werden kann?
Schön ist der Glaube an die Liebe. Bewegend ist die Sehnsucht und die Trauer. Glücklich wer diese Empfindungen kennt. Liebende sind einander ein Rätsel. Manchmal ist jedes dem andern ein schwarzes Loch. Liebe ist ein Geschenk. Meine Figur Rosy erhellte sich damit eine Weile ihren Traum von der Zukunft. Doch die Liebe erlischt wie eine Kerze. Das Mädchen Kitty kann nicht glauben, dass Gefühle ändern. Sie will ihre Zukunft mit der Waffe erzwingen. Rosy spürt, dass sich nichts erzwingen lässt. Sie sucht nun allein den Ort, wo ein Mensch anständig bleiben kann.

Margrit Schriber wurde 1939 als Tochter eines Wunderheilers in Luzern geboren. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Ulla Lenze «Der Empfänger», Klett-Cotta

Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden in den USA über 10 000 Deutsche oder deutschstämmige AmerikanerInnen als «Enemy Aliens» klassifiziert und zeitweise interniert. Ulla Lenze liess sich vom Schicksal ihres Grossonkels Josef Klein inspirieren und schrieb einen mitreissenden Roman über einen deutschen Auswanderer, der in seiner Naivität in die Netze von Geheimdiensten gerät.

«Der Empfänger» ist weder Thriller noch Geschichtsdrama. Keine aufgeblasene Handlung, keine coolen HeldInnen, keine versteckten Fallgruben und heimtückischen Labyrinthe.
Josef Klein will 1925, während Deutschland in eine Wirtschaftskrise hineinschlittert, zusammen mit seinem Bruder Carl in die USA ausreisen, ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, dort endlich eine Existenz beginnen, die frei von Not und Bedrängnis ist. Aber weil Carl bei einem Arbeitsunfall ein Auge verliert, macht sich Josef alleine auf in das Land auf der anderen Seite des Ozeans. Ein Land, in dem er am liebsten verschwinden möchte, wirklich neu beginnen. Ein Land, das ihm den Einstieg aber alles andere als einfach macht. Josef vermag sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser halten, findet aber kaum Anschluss im Nabel der Welt, in New York. Einziges Vergnügen des jungen Mannes ist sein selbst gebautes Funkgerät in seiner kleinen Wohnung in Harlem, sein Tor zur Welt, einer Welt, in der Rang und Name keine Rollen spielen. Sein Empfänger bringt ihm Stimmen in seine Nähe, die ihm in der Grossstadt verwehrt bleiben.

Aber Josef Kleins technische Fähigkeiten bleiben anderen nicht verborgen. Und weil ihn Geldsorgen empfänglich für scheinbar leicht verdientes Geld machen, sitzen mit einem Mal zwielichtige Gestalten regelmässig in seiner kleinen Wohnung, von der er verschlüsselte Mitteilungen senden muss, deren Inhalte für ihn verborgen bleiben. Mitteilungen aus den Reihen eines deutsch-, nazifreundlichen Abwehrnetzes, das sich in ihrem patriotischen Kampf für ihren Führer im aufstrebenden Deutschland bereit macht für die Weltherrschaft.

Ulla Lenze «Der Empfänger», Klett-Cotta, 2020, 302 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-608-96463-9

Durch Naivität, latente Vereinsamung, ewigen Geldmangel und sein Bedürfnis, sein Können als Funker unter Beweis zu stellen, verstrickt sich Josef Klein immer tiefer in ein Geflecht, das ihm die Ruhe nimmt. Selbst als er durch den Äther eine junge Frau kennenlernt, die wie er Amateurfunkerin ist, sie zu treffen und zu lieben beginnt. Lauren aber, die wie er die Bande zur Vergangenheit kappen will, bleibt nicht verborgen, dass sich Josef immer tiefer im Sumpf verheddert. In den Kinos werden Nachrichten von Landesverrätern in den USA gezeigt, die auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet werden. Josef Kleins Traum von einem ungebundenen, freien Leben scheint sich zwischen den Fronten zu zerreissen.

Ulla Lenze erzählt die Geschichte aus verschiedenen Zeitebenen. 1939 in New York, während das Misstrauen jedem Deutschsprechenden gegenüber immer grösser wird, 1949 in Neuss, als er nach Jahren in amerikanischen Internierungslagern in die Heimat abgeschoben wird, in die eng gewordene Wohnung seines Bruders Carl, wo er seine illegale Rückreise nach Amerika plant und 1953 in Costa Rica, müde geworden nach einer langen Reise, die ihn nie dorthin brachte, wo die Hoffnung ihn hinzog.
Ulla Lenze erzählt die Geschichte eines kleinen Mannes im Strudel der Geschichte. Darüber wie sich die giftigen Fäden der Geheimdienste von Kontinent zu Kontinent ausbreiten, wie Grossmachtträume von Herrenmenschen selbst den Niedergang des Deutschen Reiches nur als Zwischenstation hin zur Weltherrschaft deuten und Exnazis in Argentinien unter Perón sich nach dem Krieg neu zu formieren versuchen.
Ulla Lenze bleibt immer bei Josef Klein, der auf seiner stillen Reise auf der Suche nach seinem Glück alleine bleibt.

Interview mit Ulla Lenze 

Wir haben sie alle, die Grossonkel und Grosstanten, die Urgrossmütter und Urgrossväter, die langsam aus dem Familienbewusstsein verschwinden. Bei Ihrem Grossonkel ist es nicht so. Sie haben ihn vor dem Verschwinden gerettet, obwohl er es, so ist es zumindest im Roman erzählt, nichts lieber wollte, als zu verschwinden. Was hat Sie dazu gedrängt, diesen Roman zu schreiben?
Der familiäre Bezug als solcher spielte tatsächlich gar keine Rolle, ich bin in dieser Hinsicht recht unemotional. Aber über die Familie verdankte sich natürlich das direkte Fenster in eine ferne Welt, nämlich aufgrund der Briefe, Fotos und der Erzählungen meiner Mutter. Was mich an dem Stoff sofort fesselte, waren die aktuellen Bezüge. Themen wie Migration, Heimat, Nationalismus, Populismus waren damals bereits etabliert, wenn auch mit ganz anderen Protagonisten (etwa: Deutsche, die aufgrund wirtschaftlicher Not nach Amerika auswanderten). Jede historische Situation ist jedoch singulär. Und gerade durch die leichten Verschiebungen, etwa Nazis vor Wolkenkratzern, ergibt sich ein neuer Blick wie durch den Brechtschen Verfremdungseffekt. Ausserdem wurde dieses Thema bei uns bislang nicht behandelt, in der Wissenschaft besteht sogar ein Forschungsdefizit. Es reizte mich sehr, diese Lücke zu füllen.

Foto aus dem Archiv der Autorin

Man nannte sie in den USA „Enemy Aliens“. Feind allein hätte schon genügt. Sie wurden kollektiv verurteilt, interniert und abgeschoben. Im Einwanderungsland schlechthin (zumindest damals) ein Schicksal, das die Deutschen und Deutschstämmigen mit den Japanern nach Pearl Harbor teilen mussten. Feindbilder haben stets Konjunktur, sei es gestern oder heute, seien es die USA, Deutschland oder die Schweiz. Sind es bloss Ängste, die dahinterstecken?
Manche Ängste sind ja begründet. Das Schüren von Ängsten stört uns meist dann, wenn wir die politischen Ziele nicht teilen. Angst vor kultureller Überfremdung oder vor dem Verlust nationaler Identität scheint mir zum Beispiel substanzlos, die Angst vor den aufsteigenden Rechtspopulisten wiederum berechtigt. Zugleich stört mich heute der inflationäre Gebrauch des Wortes «Nazi», denn das verharmlost die Nazis von damals. Überhaupt: Beschimpfungen und Polemik helfen meist nicht, vernünftige Argumentation vielleicht manchmal doch.

Josef Klein las nicht viel, aber von Henry David Thoreau „Walden“. Josef wäre am liebsten einfach ein Mensch gewesen, der atmet, isst, schläft, arbeitet, manchmal mit Frauen flirtet. Einfach sein. Aber er merkt, dass das schwierig ist, umso mehr im Schmelztiegel New York. Warum ist Josef Klein nicht in die Wälder Nordamerikas gezogen?
Der Roman-Josef, ähnlich wie der echte Josef Klein (die natürlich nicht identisch sind), bewegt sich in New York zwischen Entwurzelung und Freiheit. Er flieht als junger Mann 1925 vor der Armut und dem Chaos der Weimarer Republik nach New York. Er lebt einfach, auch bindungslos, und kann sich dadurch gut durchschlagen. Er versucht, seinen deutschen Akzent zu verbergen, denn er will nicht der Deutsche sein, sondern einfach ein Mensch. Er scheint auf seinem Recht zu beharren, unpolitisch sein zu dürfen, was in politischen Zeiten aber nicht möglich ist. Man kann vielleicht sagen, das hindert ihn, die verhängnisvolle Situation rechtzeitig zu erkennen.
In den Wäldern wäre er diesen Verstrickungen sicherlich entgangen, aber er hätte es insgesamt schwerer gehabt. Auch Thoreau ist ja nach zwei Jahren wieder zurückgekehrt. Und ausserdem ist die Weltstadt New York ja auch eine Art Wildnis.

Josef Klein sitzt irgendwann in einem FBI-Gebäude. Ihm wird bewusst, wie naiv er war, wem er aufgesessen war, wie sehr er sich benützen liess. Und doch mobilisiert Josef Klein die Kraft, an einen Ausweg zu glauben, auch wenn es Jahrzehnte dauert. Ist ihr Grossonkel mit dem Schreiben ein anderer geworden?
Ich habe im Laufe des Schreibens immer besser verstanden, warum mich gerade Josef Klein als Figur so interessiert. Anfangs war ich einfach von dem abenteuerlichen Leben des Grossonkels fasziniert, den drei Identitäten; Josef, Joe und dann Don José, auch von den exotischen Orten. Nachdem ich mich durch die Recherche immer tiefer in das Thema eingearbeitet hatte, wich meine anfängliche Nachsicht dann doch einer kritischen Distanz, auch Unverständnis. Warum liess gerade er, der in Amerika dank der Presse alles über das verbrecherische Hitlerregime wissen konnte, sich in den Dienst für Hitlerdeutschland einspannen?
Aber Menschen wie er, gerade wegen ihrer Durchschnittlichkeit, sind für die Erkenntnis eigentlich noch interessanter. Josef ist eben kein brutaler Nazi, kein abstossender Rassist, der einem die Möglichkeit gibt, sich überlegen zu fühlen und die schöne Gewissheit zu haben, man selbst hätte damals bestimmt auf der richtigen Seite gestanden. Verstrickung und Schuld fangen viel früher an, und das gilt sicher auch in unserer komplexen globalen Welt heute. Man muss sich nicht gross anstrengen, um schuldig zu sein. 

Vergangenheit lässt sich nicht abschütteln, auch nicht auf einem anderen Kontinent. Die erste Szene in ihrem Roman beschreibt, wie Josef Klein 1953 in Costa Rica einen Brief seines Bruders Carl erhält, der begeistert von einer  STERN-Reportage über die Aktivitäten des deutschen Geheimdienstes in Amerika berichtet. Er ist kein Held. Auch kein Opfer, aber nie irgendwo angekommen. Ein Verlorener?
Das möchte ich tatsächlich nicht beantworten. Die Frage, wer er ist, und wie schuldig er ist, diese Frage umkreist der Roman permanent und auf indirekte Weise durch die wechselnden Schauplätze und auch mittels des übrigen Romanpersonals. Es gibt nahestehende Menschen, die ihn konfrontieren, prüfen, korrigieren, und auch verraten. Mir war dabei wichtig, Josef aus der Zeit selber heraus zu schildern, möglichst ohne das Mehrwissen von heute, ohne unsere Verurteilungsreflexe, aber auch ohne Verteidigung. Der Rest ist dem Leser überlassen. Literatur ist ja immer eine Einladung, selber zu entdecken und zu einem Urteil zu finden. 

Ulla Lenze, 1973 in Mönchengladbach geboren, studierte Musik und Philosophie in Köln und veröffentlichte insgesamt vier Romane, zuletzt «Der kleine Rest des Todes» (2012) und «Die endlose Stadt» (2015). Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Jürgen-Ponto-Preis für das beste Debüt 2003, dem Rolf-Dieter-Brinkmann-Förderpreis und dem Ernst-Willner-Preis beim Bachmann-Wettbewerb. 2016 erhielt Ulla Lenze für ihr Gesamtwerk den Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Für ihren neuen Roman «Der Empfänger» hat sie die Lebensgeschichte ihres Grossonkels fiktional verarbeitet. Ulla Lenze lebt in Berlin.

Webseite der Autorin

Fotos © Julien Menand

Leona Stahlmann «Der Defekt», Kein & Aber

Ich lese, weil ich die Welt nicht aus den Augen verlieren will. Ich lese, weil sich die Welt der Gegenwart sonst in rasendem Tempo von mir entfernt. Und manchmal lese ich ein Buch, das mich daran erinnert, auch einmal jung gewesen zu sein. Kein Buch über die Unbeschwertheit, schon gar nicht die Leichtigkeit des Seins. Aber ein Buch wie das von Leona Stahlmann, das zeigt, dass es nicht erst die Welt der Erwachsenen braucht, um gefangen zu sein.

Sie lernen sich in der Schule kennen, im letzten Jahr, Mina und Vetko. Mina sieht sich nicht so wie die anderen Mädchen in der Klasse. Aber Mina sieht in Vetko, dem Aussenseiter, der alleine vorne in der ersten Reihe sitzt und um einiges älter ist alles alle andern, einen Verbündeten. Auch einen, der nicht ist wie alle andern im Dorf. Sie kommen sich näher. So nahe, dass die Spuren der Nähe auf Minas Haut unübersehbar werden. Mina sieht in der Art und Weise, wie Vetko ihr begegnet nur die immerwährend schwelende Bestätigung, dass an ihr etwas nicht stimmt. Etwas stimmt nicht, weil Vetko die Welt in unumstösslichen Sätzen zu erklären weiss, eine Welt,, die sie nicht versteht. Etwas stimmt nicht, weil sie genau spürt, dass die Bindung zu Vetko anders ist als das, was man als Liebe bezeichnet, wovon die andern Mädchen in der Klasse schwärmen. Etwas stimmt nicht, weil sich alles ineinanderfügt und sich niemand, schon gar nicht ihre Mutter oder jemand ander dem Strudel entgegenstellt, der Mina hinabzieht. Etwas stimmt nicht, weil Vetko sie permanent zu bestrafen scheint für eine Welt, die aus den Fugen geraten ist.

Leona Stahlmann «Der Defekt», Kein & Aber, 2020, 272 Seiten, 28.00 CHF, ISBN 978-3-0369-5821-7

Die Treffen zwischen den beiden finden in aller Heimlichkeit statt, verborgen vor allen. Treffen, an denen sich Vetko mit seinem sonderbaren Paarungsverhalten immer verletzender an Mina vergeht, Mina untertan macht, sie erniedrigt, knechtet, ihr Prüfungen auferlegt, die beweisen sollen, dass nur er der ist, der versteht. Aus Minas Faszination für den schlaksigen Einzelgänger wird tief eingegrabene Abhängigkeit. Vetkos Strenge scheint die Fortsetzung der mütterlichen Strenge zu sein. Vetkos gebieterische Art die einzige Möglichkeit, ihren Defekt zu kompensieren.

Mina rutscht immer tiefer in die Abhängigkeit, tut alles, um Vetko zu genügen, fügt sich seinen Verboten und Geboten. Und obwohl sie immer wieder einmal den Versuch unternimmt, Distanz zwischen sich und Vetko zu bringen, siegt immer wieder die Angst, sie würde die letzte Orientierung, den letzten Halt verlieren.

Leona Stahlmann schildert hart. Nicht nur das, was an verletzenden Körperlichkeiten zwischen den beiden geschieht. Was ihren Roman zum Leseerlebnis macht, ist nicht die Drastik der Geschehnisse, die sie beschreibt, sondern der diametrale Kontrast ihrer Sprache zum Geschehen. Sie schreibt nicht in Grautönen, scharf gezeichnet. Sie mäandert mit der Sprache. Was sie beschreibt, sind nicht bloss die Spuren auf Minas Haut, die blauen Flecken, das Leben, das wie Säure in den Rachen rinnt. Leona beschreibt, was innen bleibt, tut das in einem Sound, der flirrend luftig rockt, der sich aufbauscht, Kapriolen schlägt. Ein Ton, der einem berauscht und betört. So sehr die Geschichte nach unten zieht, bis zum letzten Satz, so sehr erhebt sich die Sprache in ungewohnte, fast schwindelnde Höhen.

Leona Stahlmann beschreibt, wie weit weg der eigene Planet abdriften kann, wie sehr man sich auf der Suche nach Echtheit, nach seiner eigenen Kontur, nach Liebe verlieren kann. Literatur für mutige LeserInnen. Literatur, die mich nicht so leicht wieder entlässt. Ein Roman, der ein Versprechen für die Zukunft ist!

© Benjamin Gutheil

Ein Interview mit Leona Stahlmann

Was will ich mehr, als mit Literatur in Welten eintauchen. Auch in fremde Welten. Mit ihrem Roman geschieht genau das, auch wenn die Dorf-, Schul- und Landschaftskulisse vertraut ist. Umso mehr überrascht, dass Sie eine Welt ausleuchten, von der ich wenig Ahnung habe, eine Welt, die sich hinter all den Idealbildern verbirgt, die uns glauben machen, die Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein sei nur ein Übergang. Ist das Aufklärung?
Aufklärung ist ein Lichtphänomen: eine eintretende Helligkeit an einer Stelle, die vorher nicht nur dunkel, sondern vielleicht sogar unsichtbar gewesen ist. Ich belichte mit diesem Buch gewohnte Bilder neu, zeige das Fremde in ihnen und darauf dem Leser, der Leserin, was dieses gefundene Fremde mit ihnen zu tun hat, wieviel von Ihnen, den Lesenden, mir, jedem Menschen im vermeintlich Abstossenden, in der Ausleuchtung der dunklen Ecke steckt.

Die Geschichte kontrastiert mit der Sprache und macht damit die Geschichte noch viel stärker. Ihr Buch erzählt nicht nur einfach vom Leiden einer jungen Frau, den Abhängigkeiten, der Suche nach dem Echten und Wirklichen. Sie erzählen in einer Sprache, die üppig und verspielt sein kann, grosse Musikalität beweist. War das die Absicht vom Beginn des Schreibens weg?
Ja, absolut. Ein Buch ist ein flexibler Container, der immer die Form seines Inhalts annehmen muss.  Das Grausame und Harte und Zerrissene kann man, muss man schön, üppig, manchmal gar schmeichelnd erzählen, damit es auf die Seele wirkt, nicht nur auf den Verstand. 

Mina ist ein Mädchen, eine junge Frau, die sucht, verzweifelt sucht. Die einen werfen sich in Ideologien oder Religionen. Mina in die Arme eines dunklen Propheten, der sie immer wieder zwingt, ihre Loyalität zu beweisen. Und doch schimmert in keiner Zeile ihres Romans eine Verurteilung durch, schlussendlich nicht einmal Hoffnung. Sind das die Auswirkungen all dessen, was durch die globalen Bedrohungen verloren geht; die romantische Hoffnung einer besseren Zukunft?
Dunkler Prophet, das gefällt mir sehr, auch wenn es ein falscher Ausdruck ist. Ich empfinde die Figur Vetko gar nicht als dunkel; er verdunkelt höchstens absichtlich einen Teil der überkomplexen Wahrheiten unserer verstrickten Zeit, um es sich einfach zu machen, sperrt einen Ausschnitt der Welt ab, der ihm passt, um ihn überschaubar zu halten. Ob das das Ende einer romantischen Hoffnung bedeutet oder ihren Anfang, habe ich bewusst offen gehalten; das mag ein anderer entscheiden, am Besten jeder Leser, jede Leserin für sich (und mir gern davon erzählen).

Vetko weiss es. Nur alle anderen wissen es nicht. Und Vetko weiss intuitiv, wieviel Angst er bei Mina mobilisieren muss, dass sie in seiner Abhängigkeit hängen bleibt. Eine Metapher für viel grössere Zusammenhänge?
Natürlich – dieses Buch funktioniert in Deutungsspiralen, die sehr gross gezogen werden können, bis zur globalen Spannweite, wenn man es möchte. Aber man muss es nicht.

Wir leiden alle unter Defekten. Die eine zerstörerischer als die andern. Ist Schreiben eine Form des Kampfes dagegen? Gegen den Defekt? Schreiben, ein fertiges Buch als ein ganz kleines Stück Paradies, das man zurückgewonnen hat?
Ein fertiges Buch ist wohl eher eine kleine Hölle, die man losgeworden ist auf ein paar hundert Seiten, sicher verstaut hinter zwei Pappdeckeln. Am Besten gehört übrigens ein Schuber drumherum, dann sind die Ungetüme darin garantiert ausbruchssicher. Beim nächsten Buch vielleicht 😉

© Pablo Heimplatz

Leona Stahlmann, geboren 1988, lebt in Hamburg und arbeitet als Autorin, Journalistin und Veranstalterin. 2017 gewann sie den Hamburger Förderpreis für Literatur, 2018 war sie Stipendiatin der Romanwerkstatt des Literaturforums im Brecht-Haus in Berlin und gewann den ersten Wortmeldungen-Förderpreis. «Der Defekt» ist ihr Debütroman.

Beitragsbild © Simone Hawlisch

Dave Eggers «Die Parade», Kiwi

Irgendwann, irgendwo in nicht ferner Zukunft. Zwei Männer asphaltieren die Strasse zur Hauptstadt, voll maschinell, in wenigen Tagen. Dann soll eine Parade stattfinden. Zu Ehren der Strasse? Der neuen Regierung? Als Beginn des zu erwartenden Fortschritts? Als Startschuss nach Jahren, die das Land zerstörte? Dave Eggers schildert, was im Windschatten grosser Veränderungen stattfindet. Ein düsteres Bild ganz nah an der Wirklichkeit.

Ein langer Krieg, ein Bürgerkrieg hat das Land verwüstet, die Infrastruktur zerstört. Korruption grassiert, eine neue, unrechtmässige Regierung ist an der Macht, deckt alles zu, was an Rebellion noch immer kocht. In einem Land, das irgendwo sein könnte, einem Land, das sich an der Wirklichkeit spiegelt. Eine hochtechnisierte Firma wird beauftragt zweihundertdreissig Kilometer einer zweispurigen Strasse, die den Süden mit der Hauptstadt verbindet, zu asphaltieren und markieren. Die Zeit für die riesige Maschine, die von zwei Männern in Betrieb genommen wird, ist knapp bemessen, dass Soll exakt definiert, Verzögerungen zur Not mit Gewalt zu minimieren.

Und weil die Firma in der Vergangenheit immer wieder einmal mit Störungen und Erpressungen konfrontiert wurde, ist die riesige Asphaltiermaschine RS-80 mit allem ausgerüstet, was Eventualitäten aus dem Weg räumen könnte. Auch die beiden Arbeiter, zwei Männer, nennen sich aus Sicherheitsgründen «Vier» und «Neun», erzählen sich nichts von sich selbst.

Dave Eggers «Die Parade», Kiepenheuer & Witsch, 2020, 192 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-462-05357-9

Aber es wird schnell klar, dass die Mission unter einem noch schwierigeren Stern steht, als die Umstände es fordern. Während «Vier», der Mann im Cockpit von RS-80, ein erfahrener Mann ist, der sich strickt an die Vorgaben seiner Firma zu halten versucht, ist «Neun», der die riesige Maschine mit einem Quad begleiten soll, um die zu asphaltierende Trasse von allen Störungen zu befreien, ein unerfahrener junger Wildfang, dem die Vorschriften der Firma wenig Eindruck machen.

Während das schwarze Band mit der weissen Doppellinie in der Mitte jeden Tag fast dreissig Kilometer länger wird, die Maschine, die einen sauberen, heissen Belag hinter sich in der Landschaft liegen lässt, während links und rechts überall die Narben von Krieg und Zerstörung noch lange liegen bleiben werden, im Schritttempo von Asphaltcontainer zu Asphaltcontainer kriecht, entfacht ein Nervenkrieg. Nicht so sehr zwischen den beiden Männern, als viel mehr im Kopf von „Vier“. Er ist allein. Allein mit sich und seinen Interpretationen des Geschehens. Mehrfach tauchen Figuren auf, die nichts Gutes erwarten lassen, die dann aber doch mehr helfen als stören. „Vier“ ist im Kriegszustand mit sich selbst, seinen schlimmen Befürchtungen und Vorahnungen, die durch seine Erfahrungen befeuert werden.

Dave Eggers Roman ist die Nahaufnahme eines Mannes, der mit sich selbst zu kämpfen hat. „Vier“ hat sich ganz der Erfüllung eines Auftrags, einer Aufgabe verschrieben. Er kümmert sich nicht um deren Zusammenhang, deren Auswirkung. Er hat einen Job. Einen Job, der im Notfall ausserordentliche Massnahmen fordert. Einen Job, der im Kleinen dem Grossen seinen Platz verschafft. Ihm muss egal sein, was um ihn herum geschieht, ein soldatisches Verhalten, dass sich oft unter dem Mantel der Loyalität verbirgt.
Auf der anderen Seite die „Neun“, die Jugend, die sich einlässt, aber auch gerne auslässt, die nicht verstehen kann, dass man sich mit vorauseilendem Gehorsam den Freuden des Lebens verweigern kann.

„Die Parade“ ist aber auch eine Parabel darüber, wie sich menschliche Unordnung und Zerstörungskraft gebärdet, wie eine Strasse zum Symbol für Zukunftshoffnung, Aufbruch und Fortschritt wird. Eine Welt, die vom männlichen Prinzip der Eroberung geprägt ist, in Kriegs- und Krisenzeiten, in denen Frauen abgedrängt und zu Opfern gemacht werden. „Die Parade“ spielt im Kleinen, als spiele es fast dauernd um die riesige RS-80, an der ein kaputtes Land im Schritttempo vorbeizieht. Aber die „Parade“ macht auch ratlos, denn vieles bleibt im Schatten, im Unklaren, nur wage, nur Vermutung, so wie das dauernd wechselnde Szenario im Kopf von „Vier“. Ein verstörender Roman, dem man sich auszusetzen bereit sein muss. Und ein Tor in den Kosmos Dave Eggers!

© Brecht van Maele

Dave Eggers, geboren 1970, ist einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren. Sein Werk wurde mit zahlreichen literarischen Preisen ausgezeichnet. Sein Roman «Der Circle» war weltweit ein Bestseller. Der Roman «Ein Hologramm für den König» war nominiert für den National Book Award, für «Zeitoun» wurde ihm u.a. der American Book Award und der Albatros-Preis der Günter-Grass-Stiftung verliehen. Eggers ist Gründer und Herausgeber von McSweeney’s, einem unabhängigen Verlag mit Sitz in San Francisco. Eggers stammt aus Chicago und lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Nordkalifornien.

Klaus Timmermann und Ulrike Wasel entdeckten noch während des Studiums die Freude am gemeinsamen Übersetzen und beschlossen nach dem Examen, den Sprung in das Leben als Literaturübersetzer zu wagen. 2012 wurden sie gemeinsam mit dem Autor Dave Eggers für ihre Übersetzung seines Roman «Zeitoun» mit dem internationalen Albatros-Literaturpreis der Günther-Grass-Stiftung Bremen ausgezeichnet.

http://www.mcsweeneys.net

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Norbert Hummelt «Sonnengesang», Luchterhand

Schluss mit Kultur? – das soll nicht sein. Wenn die veranstaltete Kultur ausfällt, bleibt (wieder) Zeit zum Lesen, Hören, Schauen. Kulturstillstand? Muss nicht sein! Kaufen Sie Bücher und Musik bei den HändlerInnen Ihres Vertrauens (bloss nicht bei Amazon!). Beteiligen Sie sich bei all den Benefizaktionen in den Sozialen Netzwerken! Bringen Sie Kultur zuhause zum Leuchten!

Warum nicht eine Lesung zuhause? Lesen Sie Ihren Kindern ein Buch oder eine Geschichte vor. Oder wenn nach all dem Homeoffice, der Kinderbetreuung zuhause, der Küchenarbeit und dem Telefonat mit der Mutter oder dem Grossvater noch Energie übrig bleibt, wenn auch nur ein Fingerhut voll, dann lesen Sie ein Gedicht. Ganz für sich selbst oder der/dem anderen, die/der sich im gleichen Bett ins Kissen kuschelt. Zum Beispiel Gedichte aus dem neuesten Gedichtband «Sonnengesang» von Norbert Hummelt:

amour fou
du handelst anders als du sagtest du redest
anders als du fühlst u. deine überall
verstreuten ausziehsachen u. dein strahlen
über jedes mass .. wer bist du u. wer
bin ich sitze ich da u. warte auf nichts
warst du denn nicht eben erst hier
die zimmerluft ist noch ganz feucht von dir

die verzauberung
sonntag gehen wir beim grossen stern die leicht
geschwungenen regenfeuchten wege u. ich gehe sie
mit dir so gern. vorüber am teehaus im englischen
garten, die späte sonne leuchtet dich kurz an, du ziehst
mich leise fort an deiner hand u. fragst, was ist das,
hinter diesem weiher, was für dinge hängen da im baum?
sieht aus wie weisse fahnen oder plastikzeug; doch es
sind reiher, u. uns zu rühren trauen wir uns kaum.
sie sollen doch jetzt wegen uns nicht fliegen. sie tun
es auch nicht; alle halten still. ich sah noch nie so
viele dieser vögel in fast schon kahlen winterlichen
ästen, flüstere ich in dein heisses ohr, doch kenne ich
mich auch so gut nicht aus. das alles kommt von
unseren küssen, u. keine stille ist noch je so tief
gewesen. ich möchte mit dir bis nach schweden
gehen. du ziehst mich leise fort an deiner hand.

waldeinsamkeit
im walde ging ich in dem jungen grün sah
überall den jungen bärlauch stehen
u. will mich nach dem jungen bärlauch
bücken aber kann es nicht denn
nein es geht nicht weil ich sehe
dich ich sehe deinen rücken wie du
dich beugst gebeugt hast du
vor einem jahr ich sehe dich den
jungen bärlauch pflücken immer mehr
du bist am pflücken u. du schaust
nicht her nur ich ich stehe da
u. sehe deinen rücken u. deshalb
kann ich heute mich nicht bücken
ich kann nicht mehr den jungen
bärlauch pflücken aber möchte es so sehr

Norbert Hummelt: „Sonnengesang“, Luchterhand, 2020; 96 Seiten, 29.90 CHF., ISBN: 978-3-630-87630-6.

Norbert Hummelt bezaubert ohne zu verklären. Seine Gedichte umgarnen mich in ihrer klugen Mischung aus Beobachtung, Witz und der Prise Ironie, die alles Wülstige wegwischt. Seine Gedichte sind Augenblicke, manchmal geschrieben wie kleine Geschichten, die sich mir nie durch Geheimnistuerei verschliessen. Da ist nichts gestelzt, nichts verklärt. Norbert Hummelt nimmt mich an der Hand. Manchmal bremst er mich, zeigt mir, was ich übersehen würde, um mir gleich danach zuzuzwinkern.

Als ich meiner Frau vor dem Lichterlöschen noch ein Gedicht oder auch zwei vorlas, leise in die Nacht hinein, sachte blätternd und sie nicht wusste, ob der Gesang schon enden würde, flüsterte sie: «Noch eins, bitte.»

Norbert Hummelt wurde 1962 in Neuss geboren und lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein lyrisches Gesamtwerk wurde er 2018 mit dem Hölty-Preis für Lyrik geehrt. Zuvor hatte er u.a. den Rolf-Dieter-Brinkmann-Preis, den Mondseer Lyrikpreis sowie den Niederrheinischen Literaturpreis erhalten. Er übertrug T.S. Eliots Gedichtzyklen «Das öde Land» und «Vier Quartette» neu ins Deutsche und ist Herausgeber der Gedichte von W.B. Yeats. Bei Luchterhand erschienen zuletzt seine Gedichtbände «Pans Stunde» und «Fegefeuer».

(Alle Gedichte von Norbert Hummelt mit freundlicher Genehmigung des Luchterhand Verlags auf literaturblatt.ch veröffentlicht.)

Beitragsbild © Laura Baginski

Helwig Brunner «Gummibärchenkampagne», Droschl

Sie lieben die Kurzgeschichten von Franz Hohler, den skurrilen Witz von Monty Python und die sprachliche Raffinesse derer, die Dinge durch das Wort lebendig werden lassen, von denen man sonst gar nichts weiss? Was bei Droschl als schmuckes Buch von Helwig Brunner so unscheinbar daherkommt, ist grosse Kunst!

«An manchen Tagen begleitet mich die fehlende Poesie wie ein Hund, der keinen Schwanz zum Wedeln hat.»

Was unter dem Titel „Gummibärchenkampagne“ und „Minutennovellen“ fast niedlich daherkommt, hats in sich. Wer die Titel der 109 Miniaturen durchliest, weiss schnell, dass es um die wirklich wichtigen Dinge des Lebens und darüber hinaus geht: Romantik, Laufbahn, Gelassenheit, Anfang, Gerechtigkeit, Erinnerung, Gottesbeweis, Teufelskreis, Apokalypse… Aber schon die Titel der anderen Gegenseite: Socke, Vogerl, Puppengehirn, Spiel, Gewicht… zeigen, dass es dem Autor doch nicht darum geht, die Welt zu erklären. Aber vielleicht die Dinge dazwischen, darüber und darunter. Das, was sonst im Schatten verborgen bleibt, was ausgeblendet wird, was unserem sinngebenden Blick entgeht. 

Idee
Den ganzen Tag schon begleitete Helmut das Hochgefühl, über eine Idee zu verfügen, die sein weiteres Leben zum ungleich Besseren wenden würde. Yes, I can!, rief etwas in ihm in grösster Zuversicht. Zwar konnte er nicht genau sagen, worum es bei der Idee ging, denn sie lag nicht offen vor ihm, sondern noch irgendwo im Verborgenen; nur der Zipfel eines Schattens von ihr, oder war es der Schatten eines Zipfels, fiel in sein Gesichtsfeld. So viel nur meinte Helmut zu wissen, dass sie etwas mit Erfolg zu tun hatte, mit Geld und schliesslich unfehlbar mit Glück. Er würde sich ihr, wenn sie sich erst ganz zeigte, nur zuzuwenden und nach ihr zu greifen brauchen, um ihrer für immer habhaft zu werden. So sicher war er sich seiner Sache, dass er sich Zeit liess und gelassener als sonst seinem Tagesgeschäft nachging, auf das er künftig ohnedies nicht mehr angewiesen sein würde. Helmut hätte nicht sagen können, woher sein Hochgefühl gekommen war; auch wohin es gegen Abend unbemerkt verschwand, wusste er nicht. Die Gelassenheit aber blieb ihm, ganz so, als hätte die Idee ihr Werk bereits getan.
 

Helwig Brunner „Gummibärchenkampagne“, Droschl, 2020; 144 Seiten, 27.90 CHF., ISBN: 978-3-99059-049-2

Helwig Brunner interessiert sich nicht für das Glatte, Glänzende, Auffällige, für Oberflächen. Nicht einmal für das Originelle, Einmalige, sondern für das absolut Normale, das Normalbetrachtern durch die Lappen geht, das nicht auffällt und hängen bleibt, selbst wenn ich es sehe und höre. Er rahmt und grenzt mit seiner Sprache ein, manchmal ein Bild, manchmal einen Moment, manchmal ein Gefühl, einen Gedanken. Bilder, die an Quint Buchholz oder René Magritte, an das Schräge in Roman Signers bildender Kunst, das absolut Normale übersteigert. Texte, leicht verschoben, kindlich verspielt, unsäglich witzig und klug. Scharf beobachtend, als sähe Helwig Brunner das Einerlei des Lebens durch ein Okular, ein Brennglas, bis selbst das Nebensächliche zu funkeln und manchmal zu brennen beginnt.

Trotz
Die Haltbarkeitsdauer der Marillenmarmelade würde, so stand es auf dem Deckel, am zehnten September des kommenden Jahres um sechzehn Uhr zwei enden. Charlotte vermutete spontan einen Fall von Scheingenauigkeit. Bestimmt legte irgendeine von weltfremden Bürokraten ausgeheckte europäische Norm fest, dass die Angabe des Verfallsdatums auf Marmeladegläsern minutengenau zu erfolgen hatte. Was aber, wenn zum Wohle des Konsumenten umfangreiche mikrobiologische Testreihen durchgeführt worden waren, die eine derart genaue Prognose tatsächlich zuliessen? Charlotte wollte niemandem Unrecht tun, auch nicht den Institutionen der Europäischen Union. Sie beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen und das Glas bis zum angegebenen Termin ungeöffnet aufzubewahren. Möglicherweise würde am zehnten September um sechzehn Uhr zwei ein explosionsartiges Schimmelpilzwachstum einsetzen und die Marmelade binnen Sekunden grün überziehen. Anderenfalls würde Charlotte, Europa zum Trotz, um sechzehn Uhr drei eine Biskuitroulade damit füllen.

Geschichten, die zuweilen verunsichern, weil ich als Leser glaube, die Pointe versäumt zu haben, die mich zwingen, ein zweites Mal mit Lesen anzusetzen, weil ich den Witz in der falschen Ecke vermute. Geschichten, die mich nicht aufs Glatteis führen, nicht mit mir spielen, die sich aber durchaus einen Spass mit mir erlauben. Geschichten von der menschlichen Spezies, der Krone der Schöpfung, die ihre Eigenarten allen anderen Lebewesen gegenüber in die Sonne stellt, aber offenbaren, wie linkisch, kompliziert und widersprüchlich sie ist.

Zufriedenheit
Seine Frau, so Leopold grimmig nickend, wolle sich von ihm scheiden lassen; sie begründe dies damit, dass sie unzufrieden sei mit seiner ständigen Unzufriedenheit. Er hingegen halte ihre unausrottbare Zufriedenheit, die sie immer dann an den Tag lege, wenn sie nicht gerade mit seiner Unzufriedenheit unzufrieden sei, für den einzigen in Betracht kommenden Scheidungsgrund; Zufriedenheit nämlich sei letztlich nichts anderes als die Resignation vor dem Erträglichen und als solche unverzeihlich.

Helwig Brunners Minutennovellen, angelegt an seinen Erfinder, den ungarischen Schriftsteller Istvan Örkeny, der zwischen 1944 und 1968 fast vierhundert solcher Minutentexte schrieb. Texte, die wohl schnell gelesen sind, aber zäh hängen bleiben, die man immer wieder lesen will, die einem wie ein Ohrwurm verfolgen, die man vorlesen und teilen will. Für eine Minute geschrieben, aber nie und nimmer in einer Minute geschrieben; kunstvoll komponiert, mehrschichtig, mit Fallgruben, scharfen Kanten und Spiegeln überall.

© Anett Keszthelyi Brunner

Helwig Brunner, geboren 1967 in Istanbul, lebt in Graz. Nach seinem Studium der Musik und Biologie arbeitet er in einem ökologischen Planungsbüro und ist zudem für die Literaturzeit- schrift Lichtungen sowie für eine Lyrikreihe editorisch tätig. Bisher liegen zwölf Gedichtbände sowie mehrere Prosatitel vor, ausserdem regelmäßige Beiträge in Anthologien, Zeitschriften und im Rundfunk.
Bei Droschl erschienen bisher sein mit Stefan Schmitzer geführter poetologischer Disput «gemacht | gedicht | gefunden» (2011) und das «Journal der Bilder und Einbildungen» (2017).

(literaturblatt.ch dankt Autor und Verlag für die ausdrückliche Genehmigung, die drei Texte ‹Idee›, ‹Trotz› und ‹Zufriedenheit› in den Bericht einfügen zu dürfen!)

Webseite des Autors

Beitragsbild © Anett Keszthelyi Brunner

Wolfgang Hermann «Walter oder die ganze Welt», Limbus

Was tun, wenn man mit einem Mal merkt, dass die Welt, von der man glaubte, sie sei es, man kenne sie, kenne sich in ihr aus, nicht die ist, an die man mit Standfestigkeit glaubte? Was tun, wenn sich hinter der Einsicht ein Abgrund öffnet, wenn man die Türe, die man öffnete, nicht mehr zu schliessen ist. In der schmalen Erzählung von Wolfgang Hermann spiegelt sich die geballte Wucht einer Ernüchterung.

Walter ist Polizist in einer Kleinstadt auf der österreichischen Seite des Rheintals. Wenn er nicht auf seinem Posten sitzt und den Blick über das pulsierende Leben seiner Stadt schweifen lassen kann, steht er am liebsten seinen Mann in der Trommel, auf der wichtigsten Kreuzung der Stadt auf einer rot-weiss karierten Trommel, den Verkehr weisend, regulierend, den Strom von Nord nach Süd und umgekehrt, das grosse Brausen dirigierend. Er hat es gar zu einer gewissen Berühmtheit gebracht, denn die halbe Stadt scheint ihn auf seinem Podest zu grüssen. Dort lenkt er den Fluss, gibt der Anarchie eine Richtung. Auch zuhause geht alles seine geregelten Bahnen; seine Frau erblüht an seiner Seite und weiss, wo ihr Platz ist. Die Tochter und der Sohn sind nicht infiziert von den langmähnigen, bunt gekleideten Hippies, die sich auf einer nahen Alp, der Lichtheimat, dem Geistigen und Kosmischen zuwenden, wenn auch mit allerhand Kraut.

Die Stadt ist ruhig. Und doch spürt Walter, dass der Frieden an den Rändern wegzubrechen droht. Zum einen ist es Herr Hummel, der Mann, der ihm wie die Sonne morgens und abends Sicherheit gab, dass die Normalität, das Stetige die Konstante in seinem Leben sein wird. Eines Morgens erscheint Herr Hummel nicht mehr, spaziert nicht mehr in seiner absoluten Regelmässigkeit an der Polizeiwache vorbei, bleibt nicht nur für einen oder zwei Tage aus, sondern verschwindet von der Strasse. Zum andern führt ihn Pflichtbewusstsein und die Sorge um Herrn Hummels Sohn per Dienstweg bis hinauf zum Lichtheimat. Dorthin, wo die Strassen längst aufhören, in ein Haus, dass sich mit seinen BewohnerInnen allen Regeln der Normalität zu entziehen versucht. Ausgerechnet an jenem Tag dampft und raucht das Haus aus allen Poren. Walter, der Polizist trinkt einen Tee, isst einen Keks. Und bricht weg.

Wolfgang Hermann „Walter oder die ganze Welt“, Limbus, 2020, 96 Seiten, 21.90 CHF, ISBN: 978-3-99039-167-9

«Walter oder die ganze Welt» ist die Geschichte einer Vertreibung aus dem Paradies. Auch wenn Walter keinen Apfel vom Baum der Erkenntnis isst, sondern nur einen Keks. Obwohl Walter weiss, dass sein Sündenfall wie jener der Urmutter Eva nicht vorsätzlich war, für einen Polizisten nicht unwichtig, er nie und nimmer zurück in jenen Rausch des absoluten Kontrollverlusts will, ist nichts mehr, wie es einmal war. Aber auch er selbst. Das merkt auch seine Frau, merkt seine Umgebung, sogar die Menschen in den Autos, die auf der Kreuzung an der Trommel, auf der Walter den Verkehr mit leer gewordenem Gesicht zu lenken vorgibt, die an ihm plötzlich ungegrüsst vorbeifahren. Mit einem Mal ist klar, dass die kleine Ordnung, von der Walter glaubte, er sei der Wächter, von einer grossen Unordnung bedroht wird, dass das Fundament seines Lebens, seiner Existenz bloss vor Kulissen gebaut war. Kulissen, dünnwandig, hohl, seine Illusion.

Wolfgang Hermann schreibt sich nicht in die Personen hinein, schlüpft nicht in seine Protagonisten, leuchtet nicht aus. Wolfgang Hermann schreibt aus den Protagonisten hinaus. Obwohl nicht in der Ich-Form geschrieben schafft es der Autor, mich als Leser durch die Augen am Untergang einer Welt teilzuhaben. Einer grossen Ernüchterung, der im Kleinen oder Grossen alle Erdbewohner ausgesetzt sind. Der grossen Feststellung, dass alles doch anders ist, als man es sich im Laufe eines Lebens zusammengeschustert hat. Dass die kleine Stadt im Rheintal eben doch nicht der Nabel der Welt ist, nachdem man irgendwann feststellt, das sich die Erde nicht um einen selbst dreht. Dass Ruhe und Gleichförmigkeit mehr als trügerisch sind. Dass alte Strukturen selbst nach einem Neuanfang nach dem 2. Weltkrieg nicht einfach zu wirken aufhören. Dass die eigene Wahrheit nicht allgemeingültig ist.

Wolfgang Hermanns schmales Buch ist alles andere als schmalbrüstig. Zwar leicht und witzig erzählt, aber um die grossen Themen und Fragen des Lebens kreisend. Ein literarisches Kleinod, wunderbar gestaltet und herausgegeben vom kleinen Limbus Verlag, bei dem es sich lohnt, auf der Webseite zu stöbern!

Interview mit Wolfgang Hermann

Die Selbstzweifel Ihres sympathischen Protagonisten gipfeln in der Frage, ob er den eigentlich überhaupt zum Polizisten tauge. Ganz offensichtlich werden nicht alle Menschen von Selbstzweifeln bedrängt. Ist das der Unterschied zwischen Politik und Kunst? PolitikerInnen, je mächtiger, desto freier von Selbstzweifeln? KünsterInnen, je schöpferischer desto näher am permanenten Selbstzweifel?
Zum Politiker taugt, wer keine Selbstzweifel kennt. Feinnervige, zurückhaltende Menschen haben in der Politik nichts verloren, sie werden dort aufgerieben. Man werfe einen Blick auf die neuen Bulldozer-Politiker, die unsere Zeit bestimmen: da ist keine Selbstreflexion zu erwarten. Und viel Gutes auch nicht.
Ein schöpferischer Mensch hingegen weiss, dass er mit seiner Arbeit auf einem Drahtseil tanzt. Und wenn er genau hinsieht, fehlt sogar das Seil, er arbeitet in der Luft.

Wer durch irgend eine Tür der Erkenntnis geht, weiss, dass es kein Zurück gibt. Ist das beschönigende, verklärende Erinnern die Sehnsucht nach dem Paradies?
Ich habe in meinem Buch keine Idylle geschaffen. Der harmlos zärtliche Tonfall trügt: Die jungen Menschen in der Vorarlberger Kleinstadt der Siebzigerjahre sehen sich einer kalten, abweisenden Welt gegenüber, die ihnen keine Chance lässt, als sich anzupassen. Es gibt keinen Raum für sie ausser den der Resignation. Und einige von ihnen gehen daran zugrunde.
Polizist Walter ist liebevoll tollpatschig gezeichnet, aber die Realität der Kleinstadt und des kleinen Landes ist trüb und steckt noch fest im alten überkommenen Denken aus der NS-Zeit.

Walter, der mehr als ein halbes Leben lang glaubte, er sei es, der dirigiere, mit Sicherheit auf der rot-weiss gestreiften Trommel in der Kreuzung in seiner Polizistenuniform, muss einsehen, dass er eigentlich nur reagiert. Und das nicht einmal in der Gegenwart, sondern fast nur auf die Auswirkungen der Vergangenheit, einer modrigen Vergangenheit. Die Stadt, die Sie beschreiben, ist «Ihre» Stadt. Ist Schreiben, Dichten, ein Teil Ihrer Sehnsucht, wenigstens ein ganz kleines Stück zu «dirigieren»?
Mit dieser Geschichte habe ich mich auch selbst „behandelt“, denn ich war ja einer dieser verlorenen jungen Menschen damals in der kalten Stadt. Wahrscheinlich ist Schreiben meistens Selbstbe- und -verhandlung. Es ist die Chance, die Vergangenheit neu zu gestalten, ein wenig menschlicher und weicher.

Walter wird von der Zeit, vom Leben überrollt. Hätte er auch Lehrer, Pfarrer oder Goldschmied sein können? Was reizte Sie am Polizisten, der als literarisches Personal sonst nur für den Krimi geeignet scheint.
Polizist Walter war eine Legende im Dornbirn der Siebzigerjahre. Er dirigierte das Orchester der Autofahrer auf unverwechselbare Art, redete mit jedem einzelnen Autofahrer, vor allem aber mit sich selbst. Er ist ein fester Bestandteil meiner Kindheit. Ich wollte schon lange über ihn schreiben. Natürlich ist alles erfunden, aber den Polizisten Walter gab es wirklich.

Ist das «Fremdhässig-sein», das auf der Welt wie ein Virus zu wüten scheint, in einer funktionierenden Gesellschaft unüberwindbar?
Die Zuwanderer trugen fremdes «Häss», das bedeutet im Dornbirner Dialekt Kleidung, hat also nichts mit Hass zu tun. Der steigt freilich in unserer Gegenwart in bedenklichem Masse. Ich fürchte, ich habe dagegen kein Rezept. Die Literatur führt ohnedies ein Dasein in der Nische.

Wolfgang Hermann, geboren 1961 in Bregenz, studierte Philosophie und Germanistik in Wien. Lebte längere Zeit in Berlin, Paris und in der Provence sowie von 1996 bis 1998 als Universitätslektor in Tokyo. Zahlreiche Preise, u. a. Anton-Wildgans-Preis 2006, Förderpreis zum Österreichischen Staatspreis 2007; zahlreiche Buchveröffentlichungen, unter anderem «Abschied ohne Ende» (2012), «Die Kunst des unterirdischen Fliegens» (2015) und «Herr Faustini bleibt zu Hause» (2016). Bei Limbus: «Paris Berlin New York» (Neuauflage als Limbus Preziose 2015), «Konstruktion einer Stadt» (2009), «Schatten auf dem Weg durch den Bernsteinwald» (2013), «Die letzten Gesänge» (2015) und «Das japanische Fährtenbuch» (2017).