Annie Ernaux «Der Platz», Bibliothek Suhrkamp

Annie Ernaux bezeichnet sich selbst als «Ethnologin ihrer selbst». Weit gefehlt, wer glaubt, die Schriftstellerin betreibe damit Nabelschau. «Der Platz» ist eine Liebeserklärung an den toten Vater, eine Liebeserklärung an die Entschlossenheit eines Lebens.

Mehr als ein Vierteljahrhundert nach seinem Erscheinen und seiner Erstübersetzung auf Deutsch unter dem Titel «Das bessere Leben» erschien «la place» in einer sorgfältig neu übersetzten Ausgabe im vergangenen Jahr in der legendären Bibliothek Suhrkamp, in der «Bibliothek der Klassiker der Moderne». Annie Ernaux’s Erzählkosmos ist sie selbst, ihre Geschichte, ihre Herkunft, ihre Familie. Und kaum einer Autorin oder einem Autor sonst gelingt diese Art der Erkundung auf eine so schlichte, bescheidene, sachliche und fast dokumentarische Art wie Annie Ernaux. Kein Wunder spaltet die Autorin. Die einen werfen ihr vor, man lese nur immer und immer wieder das gleiche, Banales. Andere bezeichnen ihr Schreiben als geniale Mischung von Autobio- und Historiographie.

Annie Ernaux nimmt den Tod ihres Vaters als Anlass über ihn und sein Leben zu erzählen, ein Leben von Beginn des 20. Jahrhunderts, an zwei Kriegen vorbei, von bitterster Armut, dem Kampf ums Überleben, der permanenten Ernüchterung und der Angst vor Verlust. Ihr Vater konnte kaum lesen, kaum schreiben. Zeitlebens waren ihm Bücher, Bildung, Intellekt suspekt. Er war Bauer, Arbeiter, schaffte es irgendwann selbst Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens mit Ausschank zu werden, wurde aber nie der, der sich in seinem Stand sicher fühlte. Sein Leben bestand aus Arbeit, Kampf und der Einsicht, dass einem nichts geschenkt wird. Selbstverständlichkeiten aus heutiger Sicht, wie Ferien oder minimaler Luxus waren ihm fremd. Durch nimmermüden Einsatz gewonnener Überfluss verpflichtete zu Hilfe und Unterstützung jener, denen das Glück sich verweigerte. Leben bestand aus Arbeit. Man lebte, um zu arbeiten. Auch wenn sich heute solche Sätze umkehren, liest sich die Lebensgeschichte dieses Mannes als wäre sie prähistorisch. Dabei braucht man nur in den Fotoalben unserer Gross- und Urgrosseltern zu stöbern und man trifft sie wieder, die Ehepaare, die schwarz gekleidet vor einer drapierten Kulisse mit todernstem Gesicht dem Fotografen in die Linse starren.

Auch wenn sich der Text nüchtern, fast sachlich gibt, drückt der Schmerz hindurch, die Trauer darüber, nie jene Nähe zum Vater gewonnen zu haben, die das letzte Verstehen ermöglicht hätte, das beiderseitige Verstehen: «Vielleicht hätte er lieber eine andere Tochter gehabt.»

«Vielleicht sein grösster Stolz, sogar sein Lebenszweck: dass ich eines Tages der Welt angehöre, die auf ihn herabgeblickt hatte.»

Annie Ernaux will verstehen. Sie öffnet sich selbst das Fenster zur Vergangenheit und blickt auf das Leben ihres Vaters, dem sie nur schreibend nahe kommen kann. Annie Ernaux schenkt mir als Leser einen Blick mitten in dieses Leben, eine Vergangenheit, die sich leicht verklärt, sei es durch Filme oder die Literatur selbst. Annie Ernaux beschönigt nichts. Wer ihre Bücher liest, spürt dem haftenden Gerüchen von Armut und Demut nach. Ihr Erzählen ist nüchtern, ohne Metaphern, chronologisch, ohne Abschweifungen. Einzige kurze Reflexionen über das Schreiben selbst durchziehen den Text, machen klar, mit wie viel Ringen das Schreiben verbunden ist.

«Der Platz» ist eine Annäherung an den Vater. «Eine Frau» jene an ihre Mutter. Ein perfekter Einstieg in das Leseabenteuer Annie Ernaux!

© Catherine Hélie / Editions Gallimard

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Bücher sind von Kritik und Publikum gleichermassen gefeiert worden.

Sonja Finck, geboren 1978 in Moers, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf. Inzwischen lebt sie als literarische Übersetzerin in Berlin und Gatineau (Kanada). 2019 erhielt sie den Eugen Helmlé-Übersetzerpreis.

Annie Ernaux über ihr Schreiben und ihr Buch «Der Platz»

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Dietmar Krug «Von der Buntheit der Krähen», Otto Müller Verlag

Vielleicht ist es eine der schwersten Aufgaben eines Lebens, sich der Wahrheit, den Wahrheiten zu stellen. Thomas und Karl, beide einst in der gleichen kleinen Schule im Dorf stellen sich ihren Wahrheiten in vollkommen gegensätzlicher Weise. Und dabei wird ein Dorf zu einem Schauplatz, der die Wahrheiten provoziert. Thomas, der fast ein ganzes Leben vor ihr floh. Karl, dessen Leben zu einem einzigen Kampf darum wird.

Thomas entfloh einst dem Dorf, hielt es nicht mehr aus, schälte sich aus dem scheinbaren Würgegriff und machte sich aus dem Staub. Weg vom Alp in seiner Familie, weg von den Ketten im Dorf, weg aus einem Geflecht von Erwartungen. Er tauchte ab in die Stadt, etablierte sich als gefragter Musikkritiker, bis ihn die alten Muster, gepaart mit Tablettensucht und Alkohol wieder von seinem Platz wegtrieben, zurück ins Dorf, das er einst hinter sich gelassen hatte. Thomas will Zeit, Klarheit und einen Weg weiter. Er weiss, dass es für ihn und seine Art des Schreibens bei den Tageszeitungen keinen Platz mehr gibt, dass er sich nicht nur beruflich neu orientieren muss, um zu überleben. Er richtet sich im Dorf, in dem er aufwuchs in einem kleinen Häuschen am Rand ein, einem Haus, das einst von Hippies bewohnt seit Jahrzehnten allein in einem wilden Garten sich selbst überlassen war.

Im gleichen Dorf lebt Karl. Scheinbar einer von der Sorte Mensch, denen der Looser in den Genen steckt. Karl wuchs beim Grossvater auf einem kleinen Hof auf, einem Hof, den er noch immer mehr schlecht als recht bewirtschaftet. Bei einem Grossvater, der ihm schon in Kindertagen die Härte des Lebens beibringen wollte. In einem Leben, in dem er höchstens von den Tieren im Stall den ungetrübten Blick, die unvoreingenommene Zuwendung geniessen konnte. In einem Dorf, das ihn gnadenlos zum Aussenseiter machte, obwohl seine Erscheinung, je älter er wurde, desto respekteinflössender war. In einem Körper gefangen, den er nie zu seinem eigenen werden lassen konnte. Provoziert von seiner Umwelt gerät er in die Mühlen der Justiz, ins Gefängnis, zurück an den mittlerweile verwaisten Hof, entschlossen in sich die Frau zu befreien, die im falschen Körper steckt. Ein Unterfangen, das in einem Dorf wie dem seinigen zum Spiessrutenlauf wird.

Dietmar Krug, selbst lange Zeit Mitarbeiter in Zeitungsredaktionen und Kolumnist, Meister der filigranen Beschreibungen, beschreibt die nach innen und aussen gerichteten Auseinandersetzungen der beiden Männer. Thomas stellt sich seinen Wahrheiten nicht, er, dem die Herzen der meisten Dorfbewohner offen stehen. Er schafft es auch nicht, das Grab seiner Mutter zu besuchen, das Haus, in dem er aufgewachsen ist. Aber er beginnt in dem kleinen Haus, im Garten, den er mit den beiden Kaninchen eines Mädchens aus der Nachbarschaft, die er in Pflege nimmt, teilt, zu schreiben, zaghaft zuerst, dann immer tiefer, weil er weiss, dass im Schreiben der einzige Weg für ihn offen steht.

Karl hingegen, vom Dorf wegen seines kriminellen Vaters und seiner unglücklichen Kindheit und Jugend stigmatisiert, nimmt den Kampf auf, stellt sich nicht nur den Geistern, sondern knackt das Gefängnis, in dem sein Körper steckt. Nach unsäglich vielen verschämten Versuchen, eingetaucht in Heimlichkeiten und den Dunst von Alkohol, zelebriert er ungeniert seine Transsexualität.

Dietmar Krug bettet die Geschichten in ein Dorf, in ein feines Geflecht, von Menschen, die sich ganz unterschiedlichen Dämonen zu stellen haben, in ein Dorf, das wie viele andere von den Verschiebungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zerrissen wird. Ein junges Mädchen erklärt Thomas in die „Die Buntheit der Krähen“, dass die schwarzen Vögel eigentlich zu den Singvögeln gehören und ihr Federkleid nur für den oberflächlichen Betrachter schwarz ist. Wer genau schaut, sieht, dass das Federkleid in allen Farben schimmert – und selten etwas ist, wie es scheint.

Der neue Roman Dietmar Krugs entwickelt einen ungemein leisen Sog. Eine der vielen Überraschungen des Lesens sind die Beschreibungen von Tieren und Klängen. Etwas, was ich in dieser Intensität nur ganz selten antreffe. Beschreibungen, die dem Buch das schenken, was die Qualität der Protagonisten ausmacht; eine Wahrnehmung, die der Wahrheit unweigerlich an die Oberfläche hilft. Ein ganz besonderer Lesegenuss.

© Pilo Pichler

Interview mit Dietmar Krug:

Ich kann nicht weitermachen wie bisher“, sagen beide, Thomas und Karl, jeder auf seine Weise. Warum muss ganz offensichtlich das Leiden stets existenziell werden, bis man sich an einen Richtungswechsel macht? Sowohl der ganz persönliche wie der globale! Erst wenn es offensichtlich um Kopf und Kragen geht, beginnt das Galoppieren auf den Abgrund zögerlich zu werden?
Der Klimawandel ist ein gutes globales Beispiel: Er ist jetzt plötzlich keine graue Theorie mehr, seitdem man an der eigenen Haut fühlen kann, dass es wärmer wird. Dann greifen auf einmal die eingebildeten Motive und Scheinrationalitäten nicht mehr. Der Mensch muss die Dinge offenbar regelrecht an Kopf und Kragen, das heisst körperlich, spüren, bis er sie im wörtlichen Sinn „begreifen“ kann. Dann erst geht’s ans „Eingemachte“.
Wenn es für Thomas und Karl existenziell wird, offenbart sich womöglich, worauf ihre Existenz eigentlich beruht.
Es reizt mich, Figuren in solchen Grenzsituationen zu schildern. Das bietet die Chance, sich dem anzunähern, was den Menschen im Innersten ausmacht, seinen Abgründen und Ängsten, aber auch seinen tiefsten Sehnsüchten. 

Die Borniertheit in ihren vielfältigsten Schattierungen scheint in ihrem Roman ein fast ausschliesslich männliches Problem zu sein. Es sind die Frauen, Mädchen, die aufbrechen und provozieren, selbst bei Karl, der im Laufe des Romans zu einer Frau wird, zu „Sissi“, sich einen Namen gibt, der sinnbildlich erscheint für den Ausbruch aus einem Korsett. Schält sich die Gesellschaft aus einer männlichen Umklammerung? Oder zerfällt das eine Klischee einfach zu einem neuen?
Borniertheit ist gewiss kein exklusiv männliches Phänomen. Aber wenn ein Ausnahmezustand auftritt, ein Bedrohungsszenario, gleich, ob echt oder eingebildet, dann sind stets die Männer an vorderster Front zur Stelle. Und dann liegt allzu rasch Gewalt in der Luft. Die Kasernen und Hochsicherheitstrakte der Welt sind nicht ohne Grund vor allem von Männern besetzt. In meinem Roman sind es in erster Linie die männlichen Dorfbewohner, die dem Wahn verfallen sind, ihr Dorf gegen die vermeintliche Bedrohung durch alles Fremde und Fremdländische verteidigen zu müssen. Das dafür nötige Ausblenden von sozialen und zivilisierten Regungen ist meinen weiblichen Figuren allein schon deshalb unmöglich, weil ihr mitfühlender Sinn durch ihr Lebensschicksal ungewöhnlich stark ist. Die eine (Agnes) hat ein schwer krankes Kind, die andere (Karin) ist für einen psychisch kranken Bruder verantwortlich. Aber es gibt ja auch noch Thomas› Tante Klara, die das, was sie für Mutterliebe hält, durchaus mit dem Soldatentum ihres Sohnes in Einklang bringen kann.

Geschechtsdysphorie (Geschlechtsidentitätsstörung) ist keine Krankheit, auch wenn der Begriff wie eine tönt. Karl leidet darunter, selbst als sie, als Sissi. Leidet die Gesellschaft darunter, dass sich das Menschsein nicht immer bloss einteilen lässt in das eine oder das andere; Frau oder Mann, richtig oder falsch, rechts oder links, Wahrheit oder Lüge? Wärs nicht an der Zeit, dass man schon den Kindern die Buntheit der Krähen erklärt?
Da berühren Sie einen wunden Punkt, der im Grunde die derzeitige medizinische Praxis in Erklärungsnot bringt. Denn auf der einen Seite gibt man sich dort inzwischen überaus aufgeklärt und betrachtet das Phänomen der Transsexualität nicht mehr als Krankheit, ja nicht einmal mehr als Störung. Andererseits bietet man den Betroffenen hoch wirksame Medikamente und radikale chirurgische Eingriffe an, die sonst nur bei schwer kranken Menschen zum Einsatz kommen. Und noch ein Paradox: Auf der einen Seite weist man immer öfter darauf hin, dass die Geschlechtergrenzen fliessend sind. Andererseits stellt man die Eindeutigkeit der Polaritäten am Ende ja gerade dadurch wieder her, dass man mit hormonellen und chirurgischen Mitteln aus einem Mann eine Frau macht – oder umgekehrt. Meine Utopie wäre eine Welt, in der Menschen mit fliessendem Geschlechtsempfinden sein können, was sie sind, und die Medizin gar nicht mehr nötig hätten.

Thomas Mutter war keine aus dem Dorf. Eine Fremde, eine aus dem Balkan, eine, die verstummte. Eine, die es nicht schaffte, sich von einem Alp zu befreien, die sich nie herauswinden konnte aus dem Korsett, das ihr den Atem stahl. Irgendwann kann Schweigen zu einer Mauer werden, die sich nicht mehr einreissen lässt. Fehlte ihr die Sprache?
Ja, sie hat ihre Sprache eingebüsst, ihr Sprachverlust ist im Grunde ein Vertrauensverlust. Ihr Bruder war der einzige Mensch, an den sie sich in ihrer kindlichen Not wenden konnte. Als er sich grob von ihr abwandte, gab es niemanden mehr, den ihre Worte erreicht hätten. Selbst die spätere Liebe und Fürsorge ihres Mannes hat die Mauer des Schweigens nicht mehr überwinden können. Und doch hat sie mit ihrem Sohn eine eigene, ganz und gar andere Sprache entwickelt – im Reich der Musik und in der Welt der Klänge. Hier haben die beiden eine tiefe Verbindung zueinander und können sich Dinge mitteilen, für die es sonst keine Worte gäbe. 

Thomas sitzt in dem kleinen Haus oder im Garten und schreibt. Er tippt in seinen Laptop. Und immer wieder erscheint auf dem Bildschirm «speichern, verwerfen, abbrechen». So wie beim Schreiben ist es doch wie im Leben, mit allem, jedem Bild, jedem Erlebnis. Oder bilden wir uns nur ein, wir könnten selbst entscheiden?
Als Thomas versucht, einige Erinnerungen und prägende Erlebnisse aufzuschreiben, scheitert er jedes Mal buchstäblich daran, das Notierte auf dem Computer zu speichern, dem „Dokument“ einen Namen zu geben. Diesem Zwang, sich entscheiden zu müssen, ist er nicht gewachsen. Das ist sicher symptomatisch für seine innere Flüchtigkeit und Getriebenheit. (Vielleicht hätte Thomas sich ja leichter getan, wenn er beim Speichern dem Dokument anstelle eines Namens einen Klang hätte geben können.) Andererseits: Gibt es etwas Schwierigeres, als einem eindringlichen Erlebnis einen passenden Namen zu geben, es mit einem Wort zu erfassen, das seinen wahren emotionalen Gehalt trifft? Hier hat mich nicht zuletzt das Phänomen gereizt, meinen Protagonisten seine intimsten Erinnerungen aufschreiben zu lassen, nur um sie dann wieder zu löschen. Und doch stehen sie da, zumindest in meinem Buch.

Dietmar Krug, geboren 1963 im Rheinland, studierte in Aachen und Wien Germanistik, Philosophie und Geschichte. Er promovierte 1996 über Thomas Mann. Seit 1988 lebt Krug in Wien, war dort zunächst freier Verlagslektor, bevor er 2004 in den Journalismus wechselte. Als Autor, Kolumnist und Redakteur hat er für diverse Medien gearbeitet, u. a. «Die Zeit», «Die Presse», «Der Standard». Zuletzt erschienen bei Otto Müller die Romane «Rissspuren» (2015) und «Die Verwechslung» (2018).

Webseite des Autors

Beitragsbild (Ausschnitt) © Sandra Kottonau

Delphine de Vigan «Dankbarkeiten», Dumont

Michka nimmt Wörter ernst. Dort, wo sie jetzt lebt, wohnen nicht Senioren, sondern Alte. «Man sagt ja auch «die Jungen», nicht «die Junioren.» Aber ausgerechnet ihr entfallen die Wörter. Ihr, die ein Leben lang fürs Wort lebte, Korrektorin eines grossen Magazins war. Sie sucht nach ihnen, leidet unter beginnender Aphasie.

Nach einer Lesung verriet Delphine de Vigan, dass sie die Absicht mit sich herumtrage, eine Trilogie zu schreiben. Nach «Loyalitäten» 2018 nun «Dankbarkeiten». Wie schon bei Loyalitäten kein Zufall, dass die Autorin den Begriff, den Titel im Plural verwendet. Es geht nicht um das Allgemeine, sondern um das Vielschichtige, darum, dass es bei «Dankbarkeiten» um ein Lebensgefühl geht, um das Bewusstsein, dass ein Leben immer von anderen abhängig ist und sein wird. Dass es Versäumnisse geben kann, die unkorrigierbar bleiben. Dass Dankbarkeit auch eine Sache der Lebensordnung sein kann, dass sich Situationen dorthin drehen, wo sie hingehören und nicht von einer fauligen Schicht aus Schuld und schlechtem Gewissen zugedeckt werden.

editions JC Lattès

So wie im Leben der alt gewordenen Michka, die als Kind einst von einer Familie aufgenommen wurde, die in den Wirren des tobenden Krieges von ihrer flüchtenden Mutter verlassen werden musste und als Jüdin nie mehr zurückkehrte. Michka lebte dort ein paar Jahre, wie vom Zufall dorthin gespült, bis sie von einer Schwester ihrer Mutter geholt wurde und den Kontakt zu dem Ehepaar verlor, das sie vor der Verschleppung bewahrte.

So wie im Leben der beiden BesucherInnen, die Michka geblieben sind; Marie, die schon in der Wohnung für sie sorgte und Jérôme, der Michka als Logopäde zweimal pro Woche besucht. Michka war für Marie wie eine Mutter, weil ihre eigene Mutter kaum da war, weil ihr das Nest fehlte, die Sicherheit, ein Zuhause. Und von Jérôme erfährt Michka in ihrer direkten, unverblümten Art, dass dieser seinen Kontakt zu seinem Vater längst resigniert und tief verletzt abgebrochen hat.

Die Stärken des Romans liegen in der Offenheit des Dreigespanns. Delphine de Vigan erzählt aus der Sicht der alten Frau Michka, die nicht nur vom Vergessen geplagt wird, sondern von zunehmender Angst, realer Angst, alles immer mehr im Vergessen zu verlieren und der Angst, die sich in Träumen, Alpträumen wie Gewitterstürme über ihr zusammenziehen. Und sie erzählt von den Besuchen von Marie und Jérôme, wie sehr die beiden vom langsamen Untergehen der alten Frau betroffen werden. Weil Michka nicht einfach verstummt, sondern sich bis zu ihrem letzten klaren Gedanken, auch wenn dieser immer schwerer zu formulieren ist, um das Leben anderer bemüht. Der Roman überzeugt, weil vieles nur angedeutet ist und meiner Lesart überlassen wird. Delphine de Vigan erzeugt ein Gefühl, zugegeben hart an den Grenzen zur Sentimentalität, ein Gefühl, es nicht versäumen zu wollen. Die Momente, die einem durch Krankheit, das Sterben und den Tod genommen werden können. Momente der Aus- und Versöhnung. Versäumnisse, die den inneren Frieden unmöglich machen.

Und die Kraft der Sprache. Was einem genommen wird, wenn man sie Wort für Wort verliert. Michka vergisst nicht einfach. Die Wörter verschwinden, während sich der Schmerz über dieses Verschwinden wie ein schweres, nasses Tuch über das Leben der alt gewordenen Frau gelegt hat. Auch wenn Michka Sätze spricht, die unfreiwilligen Witz entfalten, hängt über jedem dieser Sätze die Verzweiflung.

„Dankbarkeiten“ ist ein einfühlsames Buch über das Altwerden, jenen letzten Teil des Lebens, über dem sich die Endgültigkeit über alles ausbreitet. Ein Roman getragen von Empathie und dem Bewusstsein, dass es letztlich für nichts zu spät ist, schon gar nicht für die Hoffnung.

© Delphine Jouandeau

Delphine de Vigan, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman «No & ich» (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman «Nach einer wahren Geschichte» (2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Bei DuMont erschien ausserdem 2017 ihr Debütroman «Tage ohne Hunger» und 2018 der Roman «Loyalitäten». Die Autorin lebt mit ihren Kindern in Paris.

Rezension «Loyalitäten» auf literaturblatt.ch

Rezension «Nach einer wahren Geschichte» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Tim Krohn «Und was erzählt Ihr Parfüm?», eine Versuchsanordnung

Die Versuchsanordnung: Tim Krohn trägt ein Parfüm auf den Duftträger auf und riecht ihn viermal: sofort, nach einer Stunde, nach drei und acht Stunden (durchgeführt an den Solothurner Literaturtagen 2019). Jedesmal notiert er ganz ungefiltert, welche Bilder der Duft bei ihm auslösen. Daraus komponiert er anschliessend die “Geschichte des Parfüms”. (Stand 2. Juni 2019)

Die Düfte der DuftBar

© Julia Schöni

Azur
(Andreas Wilhelm)

Morgens um acht aus dem Haus auf die Veranda zu treten und barfuss durch den Garten zu gehen, der mehr Wiese als Garten war, entzückte Monica Settembrini jedesmal von neuem. Sie fühlte das noch taufeuchte Gras, stützte sie sich kurz auf den von Wind und Wetter ausgewaschenen Gartenzaun und genoss den melancholischen Anblick der Weisswäsche. Ihr Nachbar, ein pensionierter höherer Beamter namens Hämmerli, hatte sie tags zuvor wieder einmal auf der Leine vergessen, so dass der Nachtwind sie in komplizierten Mustern zusammengepappt, gefaltet, in sich verklebt hatte. Ihr Bonbon lutschend – seit sie das Rauchen aufgegeben hatte, begann sie den Tag stets mit einem Bonbon –, schlenderte sie weiter in die Garage, nur um sich kurz in die roten Polster eines fahruntauglichen Lamborghini Cabrio zu setzen, den sie zusammen mit dem Haus übernommen hatte. Wenn das Bonbon sich in Wohlgefallen aufgelöst hatte, lutschte sie an ihrer Perlenkette.
Ihre nächste Etappe war das kleine tropische Gewächshaus, das sie nur betrat, um die Tonanlage einzustellen, die Affengeschrei hören liess und die Pflanzen zu Wachstum animieren sollte.
Manchmal begegnete sie auf dem Weg zurück ins Haus dem alten Gärtner, der ihr die Bäume schnitt, und fast immer hatte er beide Arme voll, entweder mit Werkzeug oder mit Zweigen. Jedenfalls konnte sie sich nicht erinnern, ihm jemals die Hand geschüttelt zu haben, sondern immer nur das Handgelenk, und jedesmal überraschte sie, wie kühl es war und wie zart seine Haut: Sie erinnerte an Birkenrinde, und einmal konnte Monica nicht widerstehen, sich kurz an ihn zu lehnen, wie man sich an einen Baumstamm lehnt, ganz voller Vertrauen in seine Stärke. Der Gärtner stolperte und fiel hin, mit all seinen Werkzeugen im Arm, und blieb benommen liegen. Monica hatte schon ihren chinesischen Fächer gezückt, um ihm Sauerstoff zuzufächeln – wie unsinnig, draussen in der klaren Morgenluft! –, als er zu lachen begann und etwas zu ihr sagte, das durchaus bedeutungsvoll klang. In der Aufregung hatte nicht zugehört, trotzdem, irgendwie mechanisch, lächelnd genickt, und deshalb getraute sie sich danach nicht nachzufragen. Das Bedauern darüber beschattete seither ihre Begegnungen.

Blask

© Matthias Holm

(Christophe Laudamiel)

Ben hatte zu schnell „nein“ gesagt (er war sechzehn, ein wandelndes Bündel Unsicherheiten und sagte vorsichtshalber immer erst mal „nein“). Nun bereute er es bitter, denn alle fünf Frauen und Mädchen der Gutsfamilie waren mit geschürzten Röcken oder hochgekrempelten Jeans – die mollige Doris sogar nur im Slip – damit beschäftigt, in einem grossen Zuber Trauben zu stampfen, und er war nicht dabei.
Ben Peter Harris (in anderem Zusammenhängen Benjamin P. Harris Junior) kam aus den vereinigten Staaten, aus Macon, Arkansas, um genau zu sein, einem Städtchen in den Südstaaten also, dass von der nahen Luftwaffenbasis Little Rock lebte. Er hatte die Reise nach Europa an einem Schulwettbewerb gewonnen, für vier Monate durfte er als Austauschschüler ins burgundische Mâcon reisen. „Was für ein Kaff“, hatte er gedacht, als er feststellte, dass in Mâcon noch weniger Menschen lebten als in seinem erzlangweiligen Städtchen. Zu allem Überdruss sollte er auf einen Bauernhof ziehen – er, der in einem viktorianischen Holzhaus mit Säulen und einem englischem Rasen gross geworden war, der fast so kurz geschnitten war wie Bens Haar (denn Benjamin P. Harris Senior war Kommandant des Stützpunkts und legte Wert darauf, die Haarlänge seiner Söhne wöchentlich mit einem dafür entwickelten Massstab zu kontrollieren). Doch die Auszeichnung war eine Ehre und musste angenommen werden. Nun war er seit vier Tagen da und mit der französischen Lebensart, wie er sich eingestehen musste, gänzlich überfordert.
„Ben, komm runter“, hatte Silvie an diesem erstaunlich schwülen Septembermorgen vom Vorplatz her gerufen, „heute ist Erntefest!“
Er hatte an Thanksgiving gedacht, an seine Mutter, die den ganzen Tag in der Schürze zwischen Küche und Esszimmer hin und her rannte, an den zähen Truthahn, die Dekoration aus Kürbis, Strohgebinden und buntem Laub aus Plastik, an die geladenen Gäste in Uniform und Zweireiher und die unvermeidliche Rede seines Vaters, die jedes Jahr, seit die Demokraten an der Macht waren, gehässiger wurde. „Nein, danke“, rief er, „da lerne ich lieber.“ Denn er hatte feststellen müssen, dass er in jedem Fach hinterherhinkte.
Silvie hatte leider nicht insistiert, denn eben kamen ihre beiden Tanten an. Charlotte war eher unscheinbar, doch auch nicht übel, grosse Brüste, Anfang zwanzig. Die andere aber, Marie, eine Französischlehrerin, wie er später erfuhr, war in Worten nicht mehr zu beschreiben, lang, schlank, dunkelhaarig, klar, entschieden, keinerlei Getue, wie er es von den amerikanischen Frauen kannte, auch kein Gequäke. Im Gegenteil, sie hatte eine tiefe, warme Stimme, die alles in ihm aufrüttelte, einen – wie er später feststellen sollte – wunderbar lakonischen Humor (den er leider oft nicht begriff) und über all dem eine Wesensart, die jede ihrer Bewegungen zu einem Ereignis machte.

© Lea Frei

Ben beobachtete vom Fenster seines kleinen Mansardenzimmer aus, wie die Frauen sich begrüssten, scherzten und darauf warteten, dass die Männer die ersten Trauben in den Bottich leerten. Der stand in der Scheune, die Scheune wiederum war ans Wohnhaus angebaut. Also schlich Ben sich, sobald sie hineingegangen waren, auf den Estrich – es war ein schlimmes Gefühl, in Socken (denn trotz der Hitze weigerte er sich, barfuss zu gehen) über das unbehandelte Holz zu gehen, das tausend kleine Splisse und Risse hatte, an denen er mit jedem Schritt wie kleben blieb. Den Estrich hatte Silvie ihm am ersten Tag gezeigt, er roch nach jahrhundertealtem Staub und war praktisch leergeräumt, neben einigen hölzernen Gerätschaften, deren Zweck er nicht kannte, sah er nur eine Bananenschachtel mit Fotoalben, ein Goldfischglas mit einem aufgerissenen Tütchen Enzianbonbons darin und ein besticktes Geschirrtuch, auf dem stand: Beurre et pain font joli teint. Durch die Lücken im Riemenboden beobachtete er die Frauen und wunderte sich über so viel Unbefangenheit.
Erst zum Abendessen – und nachdem er sich zweimal von Silvie hatte rufen lassen) – wagte er sich unter die Menschen und murmelte etwas von „schrecklich viel zu büffeln.“ Doch Marie (er hatte nur Augen für Marie) sah keinen Augenblick lang aus, als kaufe sie ihm das ab. Stattdessen lag, wann immer sie ihn ansah (und das tat sie öfters, während sie jemand anderem lauschte), etwas Amüsiertes in ihrem Blick, das Ben unmöglich deuten konnte. Auf seiner Stirn wiederum stand den ganzen Abend über nur der eine Satz geschrieben: „Bitte berühren Sie mich!“ (Denn tatsächlich siezte er Marie, was sie zusätzlich amüsierte.)
Auch wenn Ben nicht begriff, wie er sich in dieser Runde zu benehmen hatte, fühlte er sich – wie er irgendwann erkannte, in einer der Phasen, in denen sich alles um Themen drehte, für die ihm das Vokabular fehlte, und niemand sich mehr die Mühe nahm, ihm zu übersetzen – hier doch weniger einsam als in seinem Elternhaus, in dem vor lauter Prinzipientreue (oder Prinzipienreiterei – wo, fragte er sich, war da die Grenze?) das Flüchtige, Flapsige, Freche und Freie des Menschen verloren ging. So dachte er tatsächlich, denn er war in jenem Alter, in dem man grosse Gedanken liebt. Und er ging noch weiter: Er beschloss, seine Erkenntnis zum Ausgangspunkt des Berichts zu machen, den zu verfassen und bei seiner Heimkehr der Schulleitung vorzulegen er sich verpflichtet hatte.
Gern hätte er Marie von seinen Gedanken erzählt, doch sie sprach ihn lange Zeit nicht an, und als sie es ganz überraschend tat, hatte er sich gerade an einen Film im Internet erinnert, in dem auch eine Französischlehrerin vorkam, dargestellt von einer gewissen Trudy Bitch, die für eine Wohltätigkeitsorganisation von Haus zu Haus ging und Tombolalose verkaufte; zog jemand das richtige Los, durfte er sie auf der Stelle vögeln (und es gab erstaunlich viele solcher Lose). So konnte er nur stottern und hatte Marie so gar nichts Substantielles zu entgegnen.
„Sixteen, what a shitty age, istn’t it?“, sagte sie darauf (vermutlich wollte sie ihn trösten, doch ihm war, als habe sie ihm die Brust durchbohrt), und bald darauf stand sie schon auf. In ihrem kleinen Renault fuhr sie durch die sternenklare Nacht heim in ein Dörfchen namens Digoin, in dem sie, wie er hörte, mit Mann und Kindern lebte. Zum Abschied gab sie allen Küsschen, nur Ben drückte sie kameradschaftlich die Hand (vermutlich hatte sie auch hier nur Rücksicht zeigen wollen).
Der Polstersessel aus abgewetztem Cordsamt, in dem sie vor dem Abendbrot gessessen und ihren Kir getrunken hatte, roch aber noch einige Tage nach ihr, und Ben sass oft darin, wenn ihm – in Socken und mit langen Jeans – zu heiss war, um sich zu seiner Gastfamilie nach draussen zu setzen.

© Eva Meister

Eau radieuse
(Christophe Laudamiel)

Sein erstes erotisches Erlebnis hatte Samuel Ox – den seine Kameraden „Muh“ nannten – mit dreizehn Jahren im Garten seiner Tante Gudrun. Sie hatte sich auf dem letzten Glatteis des Winters den Fuss gebrochen und lag seither im Krankenhaus, denn der Bruch war komplizierter. Damit das Grundstück „im Schuss blieb“, zahlte sie für gewisse Dienste fünf Mark die Stunde. Der Frühling war in diesem Jahr schnell und heftig ausgebrochen, schon Anfang April stand das Gras knöchelhoch. Das sollte Samuel schneiden.
Am Ostermontagmorgen fuhr er mit dem Bähnchen hin, das die Dörfer des Tals verband, und lief vom Bahnhof den Kanal hoch bis zu Tante Gudruns Haus. Dort war schon ein Mädchen an der Arbeit, das er nicht kannte. Es hiess Helga oder Hella, er hatte nicht genau verstanden, denn das Mädchen sprach schneller als die Leute im Tal, und er getraute sich nicht nachzufragen. Jedenfalls war Hella oder Helga – er entschied sich irgendwann für „Helga“, hütete sich aber den ganzen Tag über, sie mit Namen anzusprechen – zu Besuch bei Verwandten, die wiederum Tante Gundruns Nachbarn waren und im Haus nach dem Rechten sahen, und so war sie beauftragt worden, den Gartenzaun zu streichen. Helga war blond, sie hatte einen verstrubbelten Pagenkopf, der aussah, als hätte sie die Haare selbst geschnitten, trug Latzhosen und schob sich alle paar Minuten einen neuen Kaugummi in den Mund, Wrigleys Spearmint, ohne die alten auszuspucken – das machte das Verständnis nicht leichter. Sie war dreizehn wie er. So hatte sie das Gespräch am Gartenzaun eröffnet: „Ich bin dreizehn“, sagte sie, noch ehe sie sich vorstellte, „und du?“ Und wie die meisten gleichaltrigen Mädchen schüchterte sie Samuel ein.
Tante Gudrun hatte noch einen dieser altmodischen Rasenmäher, die mit Muskelkraft betrieben wurden, das Messer war durch eine Übersetzung mit den Rädern verbunden, und am besten liess sich damit mähen, wenn man mit Schwung über den Rasen rannte. Samuel machte gehörigen Krach, das geschnittene Gras flog hoch. „Kleb mir bitte das Gras nicht in die Farbe“, rief Helga, als er beim Wenden kurz den Griff losliess und sich den Schweiss abwischte. Er murmelte etwas Unbestimmtes, das ebenso als Entschuldigung wie als Verteidigung herhalten konnte, dann pulte er ein paar Grasschnipsel von einer frisch gestrichenen Latte und fragte: „Was ist denn das für eine Farbe?“
„Ölfarbe“, antwortete Helga.
Samuel schüttelte den Kopf. „Ich meine, das ist doch kein Weiss. Oder Grün, oder Braun. Das ist doch keine Farbe für einen Zaun.“
„Das ist Milchblau“, sagte Helga. „Gefällt es dir nicht?“
Samuel zuckte mit den Achseln, obwohl ihm die Farbe sogar sehr gefiel. „Milch ist doch nicht blau“, sagte er. „Milch ist weiss.“
„Dünne Milch schon“, antwortete sie. „Jedenfalls heisst diese Farbe hier Milchblau.“
„Du hast dich beschmiert“, stellte er fest, als ihm keine Antwort einfiel.
„Und wenn schon“, sagte sie leichthin, „das ist normal, wenn man einen Zaun streicht.“ Zum Beweis drückte sie den Arm gegen die Latten und zeigte ihm den Abdruck auf der nackten Haut, dann beugte sie sich vor und pinselte die Stelle am Holz wieder über, denn wo sie es berührt hatte, war es matt geworden. „Du hast noch eine ganze Menge zu mähen“, bemerkte sie.
„Wetten, ich bin eher fertig als du?“, rief er, doch Helga hob nur die Schultern und meinte: „Ist mir wurscht, Samuel. Ich will dreissig Mark verdienen, also male ich bis vier Uhr. Bis viertel nach, eine Viertelstunde lang mache ich Pause.“
Samuel schämte sich etwas, dass er nicht so vernünftig gedacht hatte. Nachdem er sich wieder an die Arbeit gemacht hatte, schob er den Rasenmäher etwas gemächlicher, so flogen auch die Grasschnipsel weniger weit. Aber der feuchte Abschnitt verklebte die Sohlen seiner Turnschuhe, und als er eine Bahn gerecht hatte und den vollen Korb zum Kompost tragen wollte, glitt er auf den Stufen zum Gemüsegarten aus und schlug hin. Er fluchte und verbiss sich knapp die Tränen.
„Weh getan?“, rief Helga vom Zaun her.
„I wo, aber es blutet“, sagte er. „Das Knie.“
„Kleb ein Sauerampferblatt mit Spucke drauf, das hilft“, riet sie ihm.
Samuel wusste nicht, wie Sauerampfer aussah und ob im Garten welcher wuchs, und Helga dachte nicht daran, ihm zu helfen. Also humpelte er in die Küche, tupfte die Wunde mit Küchenkrepp ab (er hatte nur die Haut leicht aufgeschürft), in Tante Gudruns Bad durchsuchte er die Schränke, bis er ein Pflaster fand, dann sammelte er notdürftig den Grasmatsch, den er eingeschleppt hatte, von den Teppichen.
Inzwischen war auch Helga ins Haus gekommen. „Ich mache mir ein Rundstück“, rief sie aus der Küche, „isst du mit?“ Was sie „Rundstück“ nannte, war eine Käsestulle, die assen sie mit Joghurt, sie sass auf dem Küchentisch und liess die Beine baumeln. Er lehnte an der Anrichte und untersuchte mehrmals sein Pflaster, um zu sehen, ob es durchblutete. Sie sprachen nicht viel, denn Samuel war noch nie mit einem Mädchen seines Alters allein gewesen und konnte nur immer denken, dass er sie jetzt eigentlich küssen müsste – ganz besonders, nachdem er zugesehen hatte, wie sie den Joghurtlöffel ableckte. Sie ihrerseits beachtete ihn nicht gross, lieber studierte sie den Abdruck ihrer Zähne in der Stulle und im Joghurt die Aprikosenfasern, und manchmal fuhr sie sich durchs Haar, das so wirr war – oder so verklebt von Farbe, oder beides –, dass sie kaum mit den Fingern durchkam und immer wieder richtig reissen musste. „Aua“, sagte sie dann jeweils, kniff die Augen und rümpfte die Nase, aber sie lachte dazu. Sie war bestimmt überhaupt tapferer als er.
Nach einer Viertelstunde sah sie auf die Uhr, schrieb auf einen Zettel, den sie ihr „Logbuch“ nannte, von wann bis wann sie Pause gemacht hatte, beschwerte den Zettel mit einem Aschbecher und machte sich wieder an die Arbeit. Samuel musste erst noch aufessen, er beroch den Zettel und küsste ihn (danach klebte etwas Joghurt daran), dann ging auch er zurück in den Garten, er humpelte kaum noch.

© Mirta Lepori

Die Sonne berührte die Spitzen der Haselhecke entlang dem Kanal, als er rings ums Haus gemäht hatte, alles Gras gerecht und die Geräte versorgt. Helga entdeckte er schliesslich hinter dem Haus auf dem Treppchen, das zur Küchenlaube führte. Dort wärmte die Sonne noch. Sie roch an einer Orange, dann klebte sie den Kaugummi hinters Ohr, biss die Schale auf und schälte sie. „Der Samuel“, sagte sie, als sie ihn sah, in sonderbar verträumtem Tonfall, „auch schon fertig?“ Er schob die Hände in die hinteren Hosentaschen und stellte sich vor sie, um sich irgendwie zu verabschieden oder sie doch noch zu küssen oder – idealerweise – sich von ihr sagen zu lassen, wie toll er sei und wie sie ihr Leben lang auf ihn gewartet habe und wie unbedingt sie ihn heiraten wolle, so wie er sich das den ganzen Nachmittag über ausgemalt hatte. Stattdessen bot sie ihm von ihrer Orange an, aus lauter Verlegenheit lehnte er ab und bereute es, als er sah, wie sie herzhaft in eine der Hälften biss und der Saft ihr über Kinn und Hände rann. „Im April so saftige Apfelsinen“, sagte sie. „das gibt’s nur in Sizilien. Ich kenne sogar den Baum, auf dem sie gewachsen ist, jedenfalls gibt es Fotos von mir und dem Baum. Mein Papa arbeitet mit einem Sizilianer, und wir waren mal dort. Magst du echt nicht?“
Samuel schüttelte den Kopf, obwohl er natürlich wollte, und plötzlich dachte er, dass er womöglich unhöflich war, daher kramte er ein paar Ostereier hervor, die er am Morgen in die Hosentasche gesteckt hatte. Sie waren inzwischen nicht mehr wirklich Eier. „Willst du?“, fragte er trotzdem.
„Danke, ich mag Schokolade nicht besonders“, sagte sie und schob den Kaugummi wieder in den Mund. Samuel war noch damit beschäftigt, die Alufolie aufzupulen und mit den Zähnen die Pampe abzuschaben, als Helga aufstand, die Hände am Hosenlatz abwischte und ihm die rechte hinhielt. Hastig leckte er die Finger ab und rieb sie am Hemdsaum trocken, dann schlug er möglichst männlich ein.
„Es war nett, dich kennenzulernen“, sagte sie und klang plötzlich sehr erwachsen. „Und grüss deine Tante, wenn sie aus dem Krankenhaus kommt. Ich bin dann schon wieder in Hamburg.“ Er hatte die Schokolade noch nicht von den Zähnen gelutscht, um den Mund aufzumachen, da war sie schon über den Zaun gestiegen – es gelang ihr tatsächlich, ohne ihn zu berühren – und hinter dem leuchtend gelben, wild wuchernden Forsythiendickicht verschwunden, das das Nachbarshaus verdeckte.
Samuel Ox träumte über ein Jahr lang jede Nacht von ihr, im Schlafen und im Wachen. Er wagte nie, nach ihr zu fragen, doch selbst als Erwachsener wurde er noch rot, wenn er den Namen Hella oder Helga hörte.

© Julia Trachsel

«Wenn Düfte erzählen: Geschichten gehen durch die Nase» (When Fragrances Tell: Olfactory Storytelling) is part of the project «Smelling more, smelling differently: Scent as Cultural Practice» conducted by Bern University of Applied Sciences and funded by the Swiss National Science Foundatio

Dazu gibt es auch ein Filmchen: https://www.youtube.com/watch?v=xCfrInadAW4

© Susanne Schleyer

Tim Krohn ist 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich, in einer sehr liebenswerten Genossenschaft. Inzwischen lebt er der Schriftstellerin Micha Friemel und seinen Kindern in Santa Maria Val Müstair. Er ist freier Schriftsteller. Er schrieb unter anderem die Romane „Quatemberkinder“ (1998), „Irinas Buch der leichtfertigen Liebe“ (2000), „Vrenelis Gärtli“ (2007) und „Ans Meer“ (2009), die Erzählbände „Aus dem Leben einer Matratze bester Machart“ (2014) und „Nachts in Vals“ (2015) sowie zahlreiche Theaterstücke, so auch die Vorlage zum „Einsiedler Welttheater 2013“. Zuletzt erschienen die Alpensage „Der See der Seelen“ und der Krimi „Endstation Engadin“ (beide im Kampa Verlag). Er gewann unter anderem das Berliner Open Mike, den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung und den Kulturpreis des Kantons Glarus.

Maj Doerig, Lea Frei, Matthias Holm, Mirta Lepori, Eva Meister, Julia Schoeni und Julia Trachsel sind StudentInnen Illustration Fiction an der Hochschule Luzern.

Beitragsbild © Maj Doerig und Lea Frei

Andreas Neeser «Wie wir gehen», Haymon

Monas Vater hat Krebs. Die Nähe zu ihrem Vater, die ihr ein Leben lang verwehrt blieb, gelingt ihr auch jetzt nicht herzustellen. Die Nähe zu all jenen, die ihr nahe stehen sollten; zu ihrer bald erwachsenen Tochter Noëlle, ihrem verloren gegangener Mann, ihrer Aufgabe in ihrem Beruf. Was zwischen Mona und ihrem Vater steht, sind all die Geschichten davor, das Gift in den Generationen und die Unfähigkeit, Worte dafür zu finden.

Es gibt Momente, die alles in Frage stellen, die einem aus der gewohnten Sicherheit kippen. Monas Vater droht zu sterben. Und mit ihm all die Geschichten, von denen sie weiss oder ahnt oder auch keine Ahnung hat. Die Geschichten, die aus ihrem Vater jenen Johannes machten, den sie als Vater zu lieben versucht. Und zwar nicht einfach, weil er ihr Vater ist. Sie möchte ihn lieben wie damals als Kind, uneingeschränkt. Mit dem Tod eines nahen Menschen sterben Geschichten, das Verstehen, all die Leben dahinter, die mit jeder Generation zurück im Nebel des Vergessens entschwinden.

Mona drückt ihrem Vater ein Diktiergerät in die Hand und fordert ihn auf zu erzählen. All das, was über die Jahrzehnte ins Schweigen fiel, was vielleicht verständlich gemacht hätte. So wie jedem Konjunktiv ein scheinbares Versäumnis vorangeht.

Andreas Neeser erzählt die Geschichte von Johannes, erzählt das, was viele mitnehmen, wenn sie gehen, sei es eine Scheidung oder der Tod. Erzählt von einem Leben als ungeliebter Sohn, verdingt an den reichen Onkel, der auf der anderen Talseite den grossen Hof bewirtschaftet. Von der Armut, die wie eine unheilbare Krankheit an der Familie klebt, sie nicht aus dem Würgegriff lässt. Wie Johannes, obwohl man ihn als Arbeitskraft schätzt, überzählig bleibt, keinen Platz findet, schon gar keine Liebe, auch dort nicht, wo sein Zuhause sein müsste.

Trotz Tuberkulose findet Johannes den Tritt, davon überzeugt, dass das Leben ein steter Kampf, niemandem zu trauen ist. Er findet Arbeit in der Fremde, bei den Bauarbeiten zum Grand-Dixance-Staudamm, wird Schweisser. Aber erneut von der Tuberkulose zurückgeworfen, schrammt er nur ganz knapp am Tod vorbei. Was Johannes in seiner Familie nie erfährt, vermag er auch in seiner Familie den Kindern nicht zu schenken, Mona, seiner Tochter nicht und schon  gar nicht Martin, seinem tot zur Welt gekommenen Sohn, der für die Eltern zum Trauma wird, das alles überschattet.

Andreas Neeser erzählt von Noëlle, Monas Tochter, die miterleben muss, wie die Ehe ihrer Eltern zerbricht, wie Noëlles Vater nach einem Raubüberfall in sein Goldschmiedeatelier den Boden unter den Füssen verliert, nicht nur wirtschaftlich. Wie Mona zur Projektionsfläche wird, es niemandem Recht zu machen versteht, nicht ihrem Vater, der ihr zu entgleiten droht, nicht ihrer Tochter, die nicht verstehen will und kann, nicht den Menschen, die sie beruflich zu betreuen hat, die einer Heimat entflohen, viel weiter als Mona, die die ihre in Sichtweite zu verlieren fürchtet.

Wie nahe kommt man den Nächsten? Wie zu einem Vater, zu einer Mutter? Braucht es Krankheit und Tod, um jene Nähe zurückzugewinnen, die man ein Leben lang Stück für Stück verliert? Wie gross muss der Schmerz sein, bis die Wunde aufreisst? Wie viel Leben versäumt man, wenn man den tiefen Schmerz in seinem Leben unausgesprochen mit sich herumschleppt? Väter und Mütter sind nie weg, nicht wenn sie sich für immer verabschieden, nicht wenn sie verschwinden, nicht wenn sie sterben. Mona verliert ihren Vater, genauso wie Noëlle den ihren. Aber Väter bleiben. Fragt sich nur wie.

Andreas Neeser erzählt in seiner gewohnt gekonnten Art, webt ein dichtes Netz, öffnet Türen, die er manchmal nur einen Spalt offen lässt, lotet nicht aus, tut genau das, was das Leben auch macht. Er erklärt nicht, öffnet sacht, manchmal nur unvollständig, bewusst lückenhaft. Andreas Neeser erzählt von Familie, diesem zarten Gefüge, das lebenslangen Schmerz und tiefsitzende Verletzung bedeuten kann.

Fast zeitgleich erscheint Andreas Neeser erster Mundartroman «Alpefisch». Nach mehreren Sammlungen mit Kurzprosa, die unter den Titeln «No alles gleich wie morn» (2009), «S wird nüme, wies nie gsii isch» (2014) und «Nüüt und anders Züüg» (2017) sein erster buchfüllender Mundartroman wieder bei Zytglogge.

© Ayse Yavas

Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. Seit 2012 lebt er als Schriftsteller in Suhr. Für sein formal und inhaltlich vielfältiges Werk wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen bedacht.
Mitglied von Autor/innen der Schweiz (AdS), Deutschschweizerisches PEN-Zentrum und VAA. Mitglied der Jury für den Franz-Tumler-Preis.

Kurzgeschichte «Mücken» von Andreas Neeser auf der Plattform Gegenzauber

Rezension von «Nüüt und anders Züüg» auf literaturblatt.ch

Andreas Neeser liest am Literaturfestival Wortlaut St. Gallen sowohl aus seinem Roman «Wie wir gehen» wie auch aus seinem Mundartroman «Alpefisch».

Webseite des Autors

Beitragsbild © Lea Frei

Lea Le «Emma und ihre Tochter», Plattform Gegenzauber

Nele liebt ihre Mutter. Emma liebt ihre Tochter. Manchmal wie eine Mutter, manchmal ganz anders.
Emma findet ihre Tochter anziehend. Schon als sie kaum grösser war als eine Mandel. Obwohl sie sie nie gesehen hatte. Und wenn, dann hätte sie nur in ein unvollständig entwickeltes Gesicht blicken können. Sie war schwanger und alleine. Alleine mit ihrem Kind. Umgab es körperlich wie auch im Gedanken fest und warm. Hätte Emma ihr Befinden zu dieser Zeit schon zu formulieren versucht, wäre es ihr nicht möglich gewesen. Sie empfand in Zuständen, mit allen Sinnen. Deuten konnte sie das damals nicht. Es waren kleine, kurze Höhepunkte, wie die Empfindung großen Glücks, das einen aufschrecken lässt.
Sie genoss, dass etwas in ihr wuchs. Es fühlte sich wie ihr eigenes an. Ein Kind, flüsterte sie im Gedanken und dachte dabei nicht nur an eine neue Freude in ihrem Leben. Sie dachte dabei an einen neuen Sinn. Eine Unterhaltung, eine Aufgabe, an Befriedigung und an Glück. Sie bebilderte die Gedanken in ihrem Kopf. Spielen würde sie mit ihr. Sie morgens und abends mit Öl einreiben. Überall. Emma runzelte die Stirn. Wieso schwoll ihre Vulva warm an? Sie eilte in die Küche, machte sich einen Tee. Verunsichert schob sie die Gedanken von sich. Kann nicht sein, dass mich diese Vorstellung eben erregt hat, oder? 
In solche gedanklichen Sackgassen geriet sie öfter. Emma beunruhigte das.

Nele war fünf Monate alt. Emma legte sie jeden Morgen auf den Wickeltisch. Sie ölte ihr nacktes Baby ein, strich ihr über die Glieder, streckte ihren Rücken. Sie wagte es nicht mehr, ihrem Kind zwischen die Beine zu sehen. Die Zehen. Zu abnormal schienen ihr ihre Gedanken. Die Fingerchen. Emma hatte Angst. Sie hoffte, diese Lust würde verschwinden. Die Öhrchen. Woher kamen nur diese unnatürlichen Bedürfnisse! Die Kraft wich aus ihr. Ihre Knie beugten sich, trafen aufeinander. Sitzen. Toilette. Auszeit. 
Fast jeden Morgen musste Emma Pausen einlegen. Tränen unterdrücken. All das, was sie ihrem Kind schon angetan hatte! Es darf nie wieder geschehen. Sie bereute es zutiefst. Es ist mein Kind! Ein Kind! Ein Kind.

Nele war zwei Jahre alt. Sie spielte im Garten. An diesem Tag waren es Tierfigürchen aus Holz. Ein gelbes Sommerkleid. Emma beobachtete sie verliebt. Ihre Gedanken schweiften ab, hinterließen ein schlechtes Gewissen. Schuld. Dreck. Schmerz.
Ihr sehnlichster Wunsch war es, dass sie am nächsten Morgen ohne solche Gedanken aufwachen würde. Ihr Kind beschützen vor dem, was sie ihr in der Vergangenheit angetan hatte. Sie würde sich gerne bestrafen für diese schlimmen Dinge. Sie wollte damit aufhören müssen. Deswegen wurde sie stetig unvorsichtiger. Sie wollte gesehen werden. Erwischt werden. Demütigung erfahren. Es sollte ihr ausgetrieben werden, diese Gelüste und Taten.

Nele war drei Jahre alt. Sie sprach manchmal schon ganze Sätze. Zählen auf sieben. Aufs Töpfchen zeigen, Bescheid sagen, wenn sie etwas möchte. 
Eine Panik bedrängte Emma mehr und mehr. Ihr Kind formte sich zu einem Individuum, das selbst entscheiden konnte. Ein eigenständiger Mensch mit eigenen Bedürfnissen. Eigenen Interessen. Ein eigenes Universum. Emma kämpfte. Hielt immer länger stand. Die Übergriffe waren schnell und verkrampft. Voller Zwang. Voller Angst. Voller Ekel.

Nele war dreieinhalb Jahre alt. Sie erzählte ihrer Mutter, dass sie vor ein paar Tagen im Wald einen Igel aus einer Kastanie und zwei schwarzen Beeren gebastelt habe, als sie zu zweit spazieren gingen. Da wurde es Emma klar: Ihre Tochter war nun in der Lage, sich zu erinnern. Der Gedanke, sie könnte sich an die letzten Übergriffe erinnern … Emma ging auf die Toilette. Sie übergab sich. Sie übergab sich erneut. Dermaßen angewidert.
Diese Erkenntnis brachte Änderung.

Nele ist heute zwölf Jahre alt. Sie und ihre Mutter Emma liegen nebeneinander auf einem Strandtuch. Schulter an Schulter lesen sie getrennte Bücher. Jede in ihrem eigenen Universum. Emma schielt hin und wieder hinüber, wenn ihre Tochter die Seite umblättert. Den erhaschten Textfragmenten nach muss es sich um eine Liebestragödie handeln. Irgendwie berührt sie das außergewöhnlich stark. Sie senkt ihre Arme. Dort wo das Buch nun ihren Bauch berührt, genau dort schmerz es sie. Sie schließt die Augen, bewegt ihre Pupillen nach unten. Rot ist es. Unterdrückte Tränen.
Mein eigenes Kind. Ein Kind. Ein Kind. 
Nele legt ihr Buch zur Seite. Mama? Wieder ins kalte Nass? lacht sie. Mhm schluckt Emma. Nele schlüpft in den Schwimmreifen, blickt ihre Mutter fordernd an, wie es Kinder eben tun, dann laufen sie zusammen ins Meer. Das Wasser ist wärmer als sonst. Nach wenigen Metern springt Nele auf, klammert sich an die Arme ihrer Mutter. Eine Qualle! An Land! Schnell! 
Emma wird von ihrem Kind ans Ufer zurückgezerrt. Nele läuft lachend zum Strandtuch und beginnt weiterzulesen. Wie groß sie schon ist, denkt Emma noch immer im Wasser stehend. Tatsächlich, es schweben ungewöhnlich viele Dinge in den seichten Wellen, stellt sie fest. Quallen kann sie keine sehen. Sie schmunzelt. Der sonst so gut aufgeräumte und überwachte Strandteil ist heute wilder als üblich. Emma klammert sich an den Reifen, watet erneut ins Wasser. Sie weint. Vor Freude. Ihre Tochter interessiert sich für Liebe. Ihre Tochter will mit ihr auf demselben Strandtuch liegen. Und das Beste, es sind die Quallen, wovor sie Angst hat. Nicht vor ihr. Nicht vor der eigenen Mutter.

Emma läuft weiter. Bald hat sie keinen Boden mehr unter den Füssen. Der Blick zum Strand zurück fühlt sich fremd an. Er fühlt sich so unecht an wie der Blick durch eine Kamera. 
Ein hässlich großes Gebäude ragt weiß aus der Düne. Emma paddelt mit den Füssen. Trotz den heißen Temperaturen wirkt der weiße Beton kalt. Sie paddelt schneller. Sie hasst diese Glaskuppel auf dem Dach. Eine suggerierte Freiheit. Emma schlägt im Wasser um sich.
Dann, zwischen Schirmen und Sand erkennt sie einen weißen Kittel. Emma beginnt zum Ufer zurück zu schwimmen. Nele! Sie holen sie jetzt schon? Sie gräbt ihre Füße heftig in den nassen Boden, um voran zu kommen. Die weiße Person erreicht das Strandtuch. Das dumpfe Geräusch des aufgeschäumten Wassers, wenn ihre Oberschenkel die Wasseroberfläche brechen. Nele steht auf. Die Tasche gepackt. Emma umklammert den Ring mit dem rechten, hebt den linken Arm zum Gruß. Sie tropft. Bis, bis nächste Woche dann? 
Ihre Tochter umarmt sie. Ein ruhiger, zustimmender Blick. Dann die weiße Stimme. Ihre Medikamente, Frau Obers. Es ist 18 Uhr.

Lea Le (24) ist dabei, ihr Bachelorstudium an der Hochschule Luzern in Illustration abzuschliessen. Sie arbeitet leidenschaftlich an Comics, in denen sie sich mit Themen wie Beziehungen, deren Konsequenzen und zwischenmenschliche Kommunikation auseinandersetzt.

«Literatur am Tisch» mit Andreas Neeser und seinem neuen Roman «Wie wir gehen»

Am Mittwoch 4. März besucht Andreas Neeser mit seinem neuen Roman «Wie wir gehen» den Literaturport Amriswil. Wer das Buch bereits gelesen hat und mit dem Autor am Tisch über sein Schreiben, die Literatur und den Roman diskutieren möchte, ist herzlich an den Tisch eingeladen. Für Essen und Trinken ist gesorgt. Der Mindesteintritt ist 30 CHF. Eine Anmeldung unter info@literaturblatt.ch ist unbedingt erforderlich!

4. März, 20 Uhr, Maihaldenstrasse 11, «Literatur am Tisch»
mit Andreas Neeser

Mona steht mitten im Leben. Von Pierre hat sie sich getrennt, ihre Tochter Noëlle geht zunehmend eigene Wege. Ganz am Anfang hingegen ist die Beziehung zu ihrem Vater Johannes. Die beiden sind sich schon viel zu lange fremd – dabei geht sein Leben langsam dem Ende zu. Solange Zeit ist, will Mona mit ihrem Vater ins Gespräch kommen. Doch wie soll sie Zugang zu diesem spröden, gebrochenen Mann finden?
Sie bittet ihn, seine Geschichte auf ein Diktiergerät zu sprechen. Erzählerisch brillant spannt Neeser den weiten Bogen von Johannes’ Kindheit, in der
er als Verdingbub auf dem Bauernhof seines Onkels schuftet, bis in die Gegen- wart, in der sich ihm seine Tochter behutsam annähert: Welche Seele denkt und fühlt in diesem Menschen? Was für ein Leben hat ihn so werden lassen? Und wie wäre es möglich, einander doch noch lieben zu lernen? Andreas Neeser entwickelt einen feinsinnigen Familien- und Generationenroman: leise und voll poetischer Kraft.

«Literatur am Tisch» hat Tradition und ist ein Ereignis von besonderer Gute:

«Es war ein wunderbarer Abend mit wunderbaren Menschen und wunderbaren Gastgebern, und der Duende, dieser Geist, der dem Mark des Lebens die Bühne bereitet, legte sich auf die Runde und befeuerte die Energie des Erzählens, der Geschichten und des Redens über Geschichten, die den Menschen die Seele reinigen.
So war es, in Amriswil, am 29. Mai 2019, bei Irmgard und Gallus Frei-Tomic, deren Herzenskraft der Literatur den Rücken stärkt.» Patrick Tschan

«Ein Wunder, das sich Dank Gallus und Irmgard ereignet. Schön, mit Gallus einen Bruder im Geiste zu wissen, einen Verbündeten, der wie ich nicht leben kann und will ohne Bücher, ohne Geschichten, einen, der wie ich brennt für die Literatur. Danke, durfte ich Platz nehmen an besagter Tafel und meine Novelle zur Diskussion stellen.» Hansjörg Schertenleib

«Schön gibt es die Hauslesungen und «Literatur am Tisch» bei Irmgard und Gallus Frei-Tomic, wo man die Begegnung zwischen Leser/in und Autor bei bester Verköstigung üben und «likes» oder «unlikes» ausgiebig diskutieren darf. Ein grosses Dankeschön nach Amriswil. Weiter so!» Jens Steiner

«So eine Literatur am Tisch sollte es überall geben. Meiner Meinung nach schreiben viele Autor/innen genau für sie: Menschen, die sich vertieft und intensiv, mit viel Liebe und Neugier, mit Literatur auseinandersetzen.» Bettina Spoerri

Anmeldestand: 9 Anmeldungen, 3 Stühle frei

Damiano Femfert «Rivenports Freund», Schöffling & Co.

Eine Kleinstadt im Norden Argentiniens. Perón regiert in Buenos Aires, die Welt erholt sich von den Schrecken des letzten Weltkriegs. Rodrigo Rivenport, Direktor des städtischen Krankenhauses schätzt die Gleichförmigkeit der Tage, dass in seinem etwas zu gross geratenen Krankenhauses nur nach Festen alle Betten belegt sind und ihn nach dem Tod seiner Frau Rosa seine Haushälterin in seinem Kellerrefugium mit seinen Schmetterlingen in Ruhe lässt.

Seit dem Tod seiner Frau liebt Rivenport seine stille Beschäftigung mit seiner Schmetterlingssammlung. Erst recht, seit ihr ein angemessener Platz im städtischen Museum versprochen ist und er seine Sammlung neu ordnen muss. Ordnung ist alles. Nicht nur in der Lepidopterologie, sondern im Leben überhaupt. Und die Tatsache, dass sich Marie, seine Haushälterin, die ihn seit seiner Kindheit begleitet, traut, an die Kellertüre zu klopfen, verspricht nichts Gutes. Ein Notfall. Man hat einen Verletzten in sein Krankenhaus gebracht, gar schwer verletzt, blutverkrustet, mit nichts als seinen Kleidern am Leib, apathisch. Kein Einheimischer, denn der Mann ist gross, blond und hat, nachdem er seine Augen öffnet, erkennbar blaue Augen. Nach erster Wundversorgung und Klarheit, dass die Verletzungen nicht lebensbedrohlich sind, wird offensichtlich, dass der Mann nicht spricht und an einer Amnesie leidet.

Rivenport findet in den kümmerlichen Habseligkeiten des Mannes bloss eine Nummer und muss feststellen, dass sich der Fall auch nicht mit Hilfe der örtlichen Polizei so schnell lösen lässt und er in den Rhythmus seines Alltags zurückkehren sollte. Erst als der Patient in seinem Stammeln seinen Namen preisgibt, man ihn zur Aktivierung seines Erinnerns mit in die Stadt nimmt, in einen Gottesdienst in der Stadtkirche und er mit einem Mal auf der Orgel zu spielen beginnt, gekonnt und virtuos, wird klar, dass „Kurt“ ein ganz spezieller Fall ist. Mit einem Mal interessiert sich nicht bloss das Krankenhauspersonal und die Polizei für den Fremden, sondern eine ganze Stadt und die örtliche Geistlichkeit. Auch die Nonnen aus dem Kloster der Allerheiligsten Jungfrau Maria von Guadalupe. Und während sich die Nonne bereit erklären, den gross gewachsenen Fremden bei sich im Gärtnerhäuschen des Klosters aufzunehmen, schiessen die Spekulationen über den Blondschopf ins Uferlose: Ein Engel ohne Flügel, ein geflohener Berufsmusiker oder gar einer, der aus Europa über Chile bis in den Norden Argentiniens gespült wurde? 

Was erst zu Rivenports Freude aussieht, als könnte er in seine gewohnte, geliebte Ordnung zurückkehren, lässt den Arzt ohne grosse Leidenschaft nicht mehr los. Wie kann ein Mann, der nur noch ein Schatten seiner selbst ist, mit seiner Musik aber auch mit seiner Art, den Dingen und Menschen zu begegnen, derart faszinieren. „Kurt“ lernt zwar, sogar die Sprache, aber nicht den Zugang zu seiner verlorenen Vergangenheit. Und als klar wird, dass Kurt auch im Kloster nicht in seiner Direktheit zu kontrollieren ist, quartiert man ihn, ganz zur Freude seiner Haushälterin Maria, in Rivenports Haus ein. Rivenport nimmt ihn mit auf seine Schmetterlingsexkursionen, muss aber feststellen, dass sein Schützling nichts davon hält, dass man Schmetterlinge hinter Glas auf Nadeln aufspiesst.

Damiano Femferts leidenschaftlicher Roman erinnert an südamerikanische Erzählweise genauso wie an die Geschichten von Kaspar Hauser oder Schlafes Bruder. Leidenschaft in der südamerikanischen Provinz, ein Mann, der ganz langsam wie ein Kind die Welt neu zu entdecken beginnt, ein Genie, das mit seinem Orgelspiel eine ganze Stadt zu verzaubern vermag. Damiano Femfert öffnet mit jedem Kapitel eine philosophische Frage mehr; Darf die Wissenschaft zerstören? Was macht einem zu einem guten Menschen? Wann beginnt die Lüge? Rivenport wird durch den Fremden gezwungen, sein enges Korsett, seine Scheuklappen abzulegen. So sehr er zum Lehrer seines Schützlings wird, so sehr lehrt in dieser, was das Leben sein könnte.

Und hinter dem ganzen Romankonstrukt schwebt die Frage, wer der Mann ist, warum er schwer verletzt an einem Strassenrand gefunden wurde, warum ihn niemand zu vermissen scheint. „Rivenports Freund“ ist mit grosser Geste gemalt, in satten Farben, als hätte der noch junge Autor den Sound der Grossen verinnerlicht. Damiano Femfert legt mit seinem Debüt einen Roman vor, der viel, sehr viel für die Zukunft verspricht!

© Alexander Paul Englert

Damiano Femfert, geboren 1985, in Deutschland und Italien aufgewachsen, hat Theaterstücke, Drehbücher zu Kurzfilmen, Spielfilmen, einem Dokumentarfilm und mehrere Reise-Artikel geschrieben, die u. a. in der Frankfurter Rundschau und Neuen Zürcher Zeitungerschienen sind. Neben seiner Schreibtätigkeit ist er in der Kunstszene als Kurator aktiv und als Dozent in Rom, wo er auch lebt. «Rivenports Freund» ist sein erster Roman.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Kurt Oesterle «Die Stunde, in der Europa erwachte», klöpfer narr

Es ist ein Jahrhundert her, dass das lange Töten und Morden endete. In einem Krieg, der auf allen Kontinenten wütete und 17 Millionen Menschen ihr Leben verloren. Ein Krieg, der tiefe Gräben und Krater in die Landschaft schoss, Wunden, die im Weltkrieg darauf wieder aufrissen und an denen die Welt bis heute leidet. Gräben und Krater, die zugeschüttet sind, Gräben und Krater, die einst den Sieg versprachen, die zu Massengräbern wurden.

In den Kinos lief 1917, ein Kriegsfilm von Sam Mendes, der in 110 Minuten Echtzeit die Mission zweier Soldaten zeigt, zweier Helden, die verhindern sollen, dass eine andere Einheit in den Hinterhalt des Feindes gerät. Das übliche Muster; Helden kämpfen für das Gute. Das Gute hier, das Böse dort und alles „zum Gedenken an die Opfer einer verlorenen Generation“. Der Mensch denkt in Kategorien.

Kurt Oesterle tut das nicht. In einem apokalyptischen Szenario finden sich in einem vom Krieg verwüsteten Landstrich in Frankreich, wo kein Stein mehr auf dem andern steht, das Land von Bomben umgepflügt ist und unter jedem Stein eine Mine droht, in der der Geruch des Todes über die offenen Wunden wabert und es eine Unendlichkeit dauern muss, bis die Gegend an das erinnert, was sie einmal war. Menschen, einst Feinde, auf der Suche nach einer Zukunft. Nur eine Hütte steht noch, ein kleines Haus, dahinter ein mobiler Backofen, ein „Gasthaus“ mit Namen À l’héroine des ruins – Zur Heldin der Ruinen.

Geführt wird es vom 16jährigen Minot, der eigentlich von seiner vom Krieg geflüchteten Familie geschickt wurde, um nachzusehen, was vom Hof geblieben ist, auf dem die Familie einst lebte. Minot bleibt am Haus hängen, weil die einstige Wirtin verschwand und irgendjemand den streunenden Seelen an diesem Ort die Oase sein muss.

Der erste Teil des Romans gibt sich wie ein Erzählband mit Kapiteln, die nichts miteinander zu tut zu haben scheinen. Kurt Oesterle erzählt vom jungen Minot, der einst in dieser Gegend auf einem Einödhof geboren wurde. Vom Ehepaar Max und Magda Krüger, deren Sohn Felix kein Feigling sein sollte, der sich dann mehr oder weniger freiwillig in Kriegsdienst gemeldet hatte, wie alle um ihn, die an einen schnellen und glorreichen Sieg glaubten. Von der Engländerin Elsie Norton, die einen traumatisierten Mann aus dem Krieg zurückbekommt, sich selbst und den Mann zu hassen beginnt, weil sie nicht verstehen kann, was geschah und geschieht. Von Franz, dem Kriegsgefangenen Nummer 2341, der den Krieg als Freiwilliger einst als Labor für den Fortschritt sah, denn was zerstört wird, kann „über kurz oder lang nachwachsen wie Haare und Fingernägel“. Und von Gorm, dem Hund, der von seinen kinderlosen Besitzern als ihr Beitrag im Dienste des Vaterlands als Sanität- und Meldehund in einer Kaserne abgeliefert wird.

Im zweiten Teil des Romans treffen sich all diese Gestalten, nachdem ihr Weg bis zur Heldin der Ruinen erzählt wurde. Minot wird zu einem Helden der Herzlichkeit, Max und Magda Krüger wollen die sterblichen Überreste ihres Sohnes zurück nach Hause holen, Elsie sucht das verlorene Leben ihres stumm gewordenen Ehemannes, Franz fristet das Dasein eines Kriegsgefangenen im nahen Lager und der Hund Gorm stomert einsam, vergessen und verwahrlost in der schrundigen Endzeitlandschaft herum.

Sie suchen alle, ernüchtert, desillusioniert. Genauso die Männer, die in der Heldin vom Metall ernten in den Schlachtfeldern ausruhen, die Meter für Meter absuchen, nach dem, was der Krieg liegen lässt, denen der Geruch frischgebackenen Brotes etwas von dem zurückgibt, was ihnen die vier Jahre Krieg genommen hat.
Der Krieg ist nicht vorbei, wie kein Krieg je vorbei ist mit dem Schweigen der Waffen. Der Ursprung allen Schmerzes ist aber nicht der ehemalige Feind, sondern der Verlust, der Verlust von Leben, Liebe und Vertrauen.

Die Idee Europa entspringt der Angst. Und der November 1918, das Ende des Krieges und die darauffolgenden Jahre der Ernüchterung, das kollektive Trauma, das auch einen weiteren weltweiten Krieg nicht verhindern konnte und die Angst von Generation zu Generation weiterfüttert, weckte Europa kurz, um gleich danach in den Versailler Verträgen den Grundstein zum nächsten grossen Schlachten zu legen.

Kurt Oesterle schrieb ein gewichtiges Buch, das sich ins Bewusstsein einfrisst. Keine actiongeladene Herogeschichte, sondern einen Roman mit epischer Tiefe über das, was übrig bleibt, wenn die Waffen schweigen. Grossartig geschrieben und inszeniert, Papier gewordenes Welttheater!

Ein Interview mit Kurt Oesterle:

Sie geben ihrem Roman einen durchaus positiven Titel. Erwacht Europa 1919 wirklich? Oder ist das, was sich heute Europäische Union nennt (Ich weiss, das ist nicht Europa!), nicht einfach das Konglomerat von Wirtschaftsinteressen, Angst und Verzweiflung darüber, das Nationalismus und Eigenbrötelei den Anfang eines weiteren Endes bescheren?

Ja, Europa ist nach dem Ersten Weltkrieg erwacht … durchaus! Aber es hat sich nur kurz die Augen gerieben, um gleich wieder einzuschlafen – so tief, als wäre es tot. Niemand ahnte damals, dass die nicht genutzte Chance sich zu einer Katastrophe übelster Art auswachsen würde. Doch wichtiger scheint mir: Der Augenblick des Erwachens steht uns immer noch und immer wieder bevor – darum ist mein Roman auch kein historischer Roman, sondern ein ganz und gar gegenwärtiger. Auch und gerade heute sucht er eine Antwort auf die Frage, wie wir, die Europäer, WIR sagen könnten, oder anders: was uns eigentlich verbindet. Bisher ist es doch überwiegend der Wohlstand, der den Kontinent zusammenhält, doch wehe, dieser Wohlstand schwindet …

Herr und Frau Krüger wollen ihren toten Sohn in die Heimat zurückführen, weg von dem Ort, an dem die „Demokratenart“ keine Unterschiede macht, an dem „alle rücksichtslos miteinander gekreuzt, vermischt oder zusammengeworfen“ werden. Hundert Jahre später ist die Argumentation längst nicht gestorben auch wenn es meiner Meinung die einzige Art ist, dem Menschen das Überleben auf diesem Planeten zu sichern. Wie soll es der Mensch schaffen, Grenzen niederzureissen? Erst in Zeiten apokalyptischer Not?

Die Grenzen in Europa sind inzwischen zum Glück nahezu bedeutungslos geworden – dass ich ohne Passkontrolle nach Frankreich fahren, ja, mich dort sogar wie ein Inländer niederlassen kann, ist ein unerhörter Fortschritt, der noch in meiner Jugend undenkbar war. Ich vergesse nie, dass sowohl mein Vater als auch mein Grossvater gegen Frankreich Krieg geführt haben! Was jedoch auch ohne Grenzziehung weiterlebt, das ist der Egoismus der einzelnen Nationen und Personen. Darum erprobe ich in meinem Roman ja in zarten Ansätzen so etwas wie eine Wir-Erzählung, die es in Europa nach wie vor nicht gibt. Sie sollte basieren auf dem gefühlsgesättigten Wissen, dass wir als Menschen in grösseren Einheiten existieren als bloss in Familie, engerer Heimat oder Nation. Dafür habe ich mit meinem Buch einen ersten Entwurf geliefert – andere müssen fortfahren mit dieser Wir-Erzählung, solange bis man ihre Stimme hört.

Einer der Gäste in der Heldin nennt den Nationalstaat die Ursache allen Kriegs. Wo liegen die Ursachen für den ungebrochenen Glauben vieler Menschen, dass eine Gesellschaft in Frieden, ohne Krieg möglich wäre. Solange wir meterhohe Thujen um unsere Grundstücke ziehen, solange Reichtum geizig macht, die Angst vor dem Fremden um sich greift und man sich mit Vorliebe nicht für die eigenen Probleme interessiert, bleibt Krieg doch ideale Ersatzhandlung. Oder nicht?

Die „apokalyptische Not“, von der Sie sprechen, war der Krieg, der 1918 endete. Dringlicher als je zuvor konnte man damals sehen, dass eine europäische Lebensform nötig ist, wenn der Kontinent überleben will. Ich möchte ja gerade zeigen, dass das heutige Europa, die EU, eine Kriegs- und Notgeburt ist. Was selbst in Deutschland inzwischen wieder in Vergessenheit gerät, mitsamt der Rolle, die mein Land in beiden Weltkriegen gespielt hat. Ich halte es mit Paul Valéry, der schon nach dem Ersten, nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg die Einsicht besass: „Wir Kulturvölker wissen jetzt, dass wir sterblich sind. Wir fühlen, dass eine Kultur genau so hinfällig ist wie ein einzelnes Leben.“ Als Symbol steht dafür in meinem Buch insbesondere die geschändete und verstümmelte Natur, die Valéry zu seiner Zeit noch nicht auf der Rechnung hatte …

Wo lag der Ursprung ihres Romans?

Der Ursprung meines Romans lag in mir, in meiner Seele, wie ich gern sage. Und wie in einer europäischen Familienaufstellung hat sich die Konstellation ergeben, die ich dann in diesem verwüsteten französischen Landstrich zwischen Reims und Laon angesiedelt habe. Mein Roman ist keine Gedankenkonstruktion, sondern eine Schau, ein Traum, ein Film im Kopf, der unaufhaltsam ablief (und sich hoffentlich in Leserin und Leser wiederholt). Ich habe mich beim Schreiben oft gewundert, dass zuvor noch kein Autor auf die Idee gekommen ist, einen Nachkriegsroman mit gesamteuropäischem Personal zu verfassen – fast alle Bücher, die ich dazu gelesen habe, handeln nur aus der nationalen Innenperspektive, die anderen bleiben eher Schatten.

Sie nennen den 16jährigen Minot ein aus der Zeit gefallener Philantrop, der sich vorgenommen hatte, in diesen Zeiten um jeden Preis gut zu sein und die Welt mit seiner Güte anzustecken. Meist versteht man Philantropie aber in Verbindung mit unermesslichem Reichtum. Aber Minot zeigt das Gegenteil. Ein Jugendlicher an der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein. Ist ihr Roman „Die Stunde, in der Europa erwachte“ nicht auch eine Aufforderung, die Jugend ernst zu nehmen? Heute erst recht?

Philantropie bedeutet schlicht: Menschenliebe, sie ist keine Sache des Geldes! In meiner Stadt Tübingen wird der „philantropische Verein“ von griechischen Gastarbeitern getragen! Die Figur des Minot in meinem Roman wäre sozusagen mein Alter ego, auch ich konnte mit 16 oder 17 Jahren nach zwei Weltkriegen als nachgeborener Deutscher keine andere Rolle für mich entdecken, als die, gut zu sein und den Neubeginn in der eigenen Güte, in Bescheidenheit und Weltoffenheit zu suchen. Dabei war es mir nicht wichtig, ernst genommen zu werden, sondern mein Leben aus innerer Überzeugung zu führen. In der Hoffnung, dass diese Überzeugung wirkt, dass sie auf andere ausstrahlt … Und genau so ist es doch auch mit der Literatur: Sie folgt nicht einem politischen Programm, sondern generiert Energien, die in anderen weiterwirken … das ist die Eigenart des Ästhetischen. Übrigens, bei Lesungen muss ich meinen Minot stets verteidigen, eben weil er versucht, gut zu sein. Im Literaturbetrieb ist es offenkundig nach wie vor so, dass man fünf Schurken weitaus weniger verteidigen muss als einen einzigen Guten. Woher mag diese Vorliebe für die Bösen wohl kommen? Das Gute beunruhigt uns anscheinend viel mehr als das Böse …

© De Maddalena

Kurt Oesterle, 1955 in Oberrot/Nordwürttemberg geboren, studierte Literatur, Geschichte und Philosophie, Dr. phil., freier Autor und Journalist, insbesondere für die Süddeutsche Zeitung und das Schwäbische Tagblatt; auch für die »Frankfurter Anthologie« der FAZ. Monographien über Wolfgang Koeppen und Peter Weiss. Essays u. a. zu Schiller, Heine, Hebel, Hauff und Uhland («Ich hatt’ einen Kameraden»), wofür er 1997 den Theodor-Wolff-Preis erhielt. 2002 erschien bei Klöpfer & Meyer sein hoch gelobtes Romandebüt «Der Fernsehgast oder Wie ich lernte die Welt zu sehen». Ausgezeichnet mit dem Berthold-Auerbach-Preis und von der Darmstädter Jury zum Buch des Monats gewählt.

Webseite des Autors

Evelina Jecker Lambreva «Entscheidung», Braumüller

Bulgarien fehlt im Fokus Europas. Selbst drei Jahrzehnte nach der Wende, nach Glasnost und Perestroika zählt Bulgarien zu den „fehlerhaftesten“ Demokratien, obwohl das Land seit 2007 Mitglied der EU ist. Evelina Jecker Lambrevas neuer Roman „Entscheidung“ erzählt von den Jahren des Umbruchs in diesem Land, dem letzten unter kommunistischer Führung, den leisen Hoffnungen einer Öffnung und dem bösen Erwachen im Kampf machtgieriger und verzweifelter Parteieliten.

Anja ist eine junge Ärztin, die direkt nach dem Studium in einen kleinen Ort in der bulgarischen Provinz geschickt wird. Mit Bestnoten aus ihrem Studium und voller Pläne reist sie an und taucht in eine Welt, die in maximaler Entfernung dessen vor sich hinvegetiert, was in den Plänen ihrer Zukunft Gestalt annehmen möchte; ein Häuschen, durch das der Wind pfeift, eine Medizinische Dienststelle, in der das Notwendigste fehlt, ein schäbiger Notfallkoffer, abgelaufene Medikamente und ein Krankenwagen, der allerhöchstens transportiert.
Neben ihren Aufgaben als Landärztin ist sie auch für das örtliche Heim mit Dorfschule zuständig, einen schlimmen Ort, wo Erziehung allein durch Strafen vollzogen wird und wo aus Kindern ohne Vergangenheit Menschen ohne Zukunft geprügelt werden.
Auch die Honoratoren des Dorfes, Genosse Nakov, Mitglied der Staatssicherheit oder der Bürgermeister begegnen der jungen Ärztin mit einer Mischung aus Misstrauen, politischem Kalkül und der Selbstverständlichkeit alteingesessener Machtstrukturen. In einem Land, in dem Korruption, Denunziation und kollektive Angst zum Instrumentarium eines Systems gehören, spürt auch die junge Ärztin Anja, dass ihr Tun und Lassen unweigerlich zu der einen, drohenden Entscheidung führen wird.

Einzige Lichtblicke im Leben der jungen Frau ist die Freundschaft zu Dora, einer jungen, mutigen Lehrerin aus dem Dorf, zu Maria, einem verstörten Mädchen aus dem Heim, das jeden Tag auf ihre Mutter wartet, eine junge Katze, die Maria mit ins Haus der Ärztin bringt und ihre Liebe zu Michail, den sie während des Studiums kennen und lieben lernte. Sie schreibt Michail Briefe, weil ihre Arbeit sie beide fest im Griff hat, weil sie Trost und Rat braucht bei einer Arbeit, die ihr wohl gefällt, in der sie Erfüllung erfährt, die sie aber oft an die Grenzen ihrer Belastbarkeit führt. Sei es, dass sie medizinische Entscheidungen trifft, die sie mit niemandem besprechen kann, sei es weil sie immer wieder mit ganz intimen Katastrophen konfrontiert wird, sei es weil sie Genosse Nakov mit Versprechungen in den Dienst der Staatssicherheit locken will.

Eines Tages sitzen sich Nakov und Anja in seinem Haus gegenüber. Nakov verspricht ihr eine glanzvolle Zukunft mit den Privilegien der Elite, wenn Anja sich zur aktiven Spionage im In- und Ausland verpflichten lässt. Und weil Anja spürt, dass sie mit einem solchen Deal mehr als nur die Selbstachtung verliert, entscheidet sich die junge Frau gegen das Angebot, gegen den Staat, gegen die Obrigkeit, gegen eine Zukunft als Frauenärztin in der Stadt, gegen die Aussicht, sich dereinst im Ausland weiterbilden zu können. Statt dessen wird sie zur potenziellen Verräterin. Und als Dora ihre Freundin sich ins Ausland absetzt und man ihr Mithilfe zu ihrer Flucht unterstellt, als die Liebe zu Michail in die Brüche geht und man die Katze erschiesst, scheint sich die Dunkelheit in Anjas jungem Leben endgültig wie in einem Sack eingeschlossen einzunisten. Wäre da nicht der Welten Lauf, jener politische Virus, der sich aus dem maroden Sowjetsystem über den ganzen Ostblock ausbreitet.

«Anjas Haus in meiner Phantasie», © Evelina Jecker Lambreva

„Entscheidung“ ist ein geradlinig erzählter Roman von einer Schriftstellerin, die am eigenen Leib erfuhr, was in Bulgarien in den späten Neunzigern passierte. „Entscheidung“ gibt Einblick in einen Staat, in ein System, ein Dorf, das aus der Entfernung von drei Jahrzehnten unsäglich weit erscheint, zumindest aus mitteleuropäischer Sicht. Eine spannend und mit viel Empathie geschriebene Geschichte über den Kampf einer jungen Frau in den Wirren der Geschichte. Ein Roman, der mir bewusst macht, wie gross das Geschenk ist, in einem demokratischen Land geboren worden zu sein. Ein Plädoyer dafür, dass es nicht sein kann, dass man sich jenen Menschen verschliesst, die vor Verfolgung, politischer Willkür und Hoffnungslosigkeit ins vermeintliche Paradies fliehen wollen.

Ein Interview mit Evelina Jecker Lambreva:

Sie selbst sind 1963 in Bulgarien geboren und 1996 in die Schweiz gekommen. Dora, die Freundin Anjas, setzt sich ins Ausland ab und droht mit ihrer Flucht, andere mit sich in den Generalverdacht des Verrats hineinzuziehen. Ein Umstand, der vielen Flüchtenden das Gewissen plagt, sei es damals aus dem Ostblock oder Flüchtenden heute, die Familien und Freundschaften zurücklassen. Warum blieb und bleibt Bulgarien nie im Bewusstsein Mitteleuropas, weder politisch, noch kulturell, heute nicht einmal als Feriendestination?

Bulgarien war politisch schon immer für Mittel- und Westeuropa völlig uninteressant, da es nicht als Instrument zur Erreichung von diversen politischen Zwecken und Interessen eingesetzt werden konnte und kann. Es passiert und bewegt sich zu wenig in diesem Land, da die Bulgaren ein äusserst duldsames, gehorsames und überangepasstes Volk sind. Dies liegt in der Geschichte des Landes verwurzelt: Die 500 Jahre osmanische Herrschaft haben tiefe Spuren in der Mentalität und im kollektiven Verhalten der Bevölkerung hinterlassen. Kaum war Bulgarien 1878 durch Russland von der türkischen Herrschaft befreit worden und begann seinen Platz in Europa mit einem deutschen König zu suchen, kam nach nur 66 Jahren europäischer Orientierung die Sowjetische Herrschaft des Kremls für weitere 45 Jahre. Überhaupt begab sich das Land – seit dem Fall unter den Osmanen 1396 – immer wieder in Abhängigkeit von irgendeinem mächtigen Staat, verhielt sich passiv und passte sich den Umständen an, so wie es übrigens auch in einem bulgarischen Sprichwort heisst «Ein gebeugtes Köpfchen wird von keinem Schwert geköpft». Bulgarien verhielt sich über Jahrhunderte – so würde ich es aus meiner Sicht als Psychiaterin sagen – wie ein vergewaltigter Mensch: gefügig, still, eingeschüchtert, voller Scham-, Schuldgefühlen und Angst. Die Jahrhunderte andauernder Unterdrückung kultivierte brave, folgsame Individuen, die sich die Überangepasstheit als Überlebensstrategie aneigneten. Und von solchen Ländern schaut man im Mittel- und Westeuropa einfach weg.

Evelina Lambreva als Landärztin, © Evelina Jecker Lambreva

Kulturell hat Bulgarien einiges zu bieten, jedoch interessieren sich westeuropäische Medien kaum dafür. Dies ist meines Erachtens so, weil das Land einerseits politisch uninteressant ist und andererseits, da die Sehenswürdigkeiten in Bulgarien sehr schlecht vermarktet sind. Auch in der Schweiz hört man selten etwas über das Land. Nach wie vor wird Bulgarien mit Rumänien, und die Hauptstadt Sofia mit Rumäniens Hauptstadt Bukarest verwechselt. Sogar darüber, dass die Stadt Plovdiv für das Jahr 2019 immerhin zur Kulturhauptstadt Europas gewählt worden war, hat man hierzulande wenig gehört.

Als Feriendestination würde sich Bulgarien sehr gut eignen, wäre da im Tourismus an der Schwarzmeerküste und in den Bergen nicht die alte Einstellung aus kommunistischen Zeiten geblieben: «Wenn du einen Touristen siehst, schinde ihm die Haut! Ob er morgen wiederkommt, ist egal, Hauptsache, du kannst bei ihm heute abkassieren.» Obwohl die jetzige Regierung sehr viel für die Verbesserung der Infrastruktur im Lande tut, ist das noch immer nicht ausreichend, um aus Bulgarien eine beliebte Feriendestination zu machen. Aber es ist grosses Potential vorhanden, das in den nächsten Jahrzehnten sicher genützt wird. Zumindest ist das meine Hoffnung.

In den Jahren, in denen die Geschichte um Anja spielt, waren sie selbst ziemlich genau so alt wie die Protagonistin. Trotz aller Härte jener Zeit, der Armut und den archaisch anmutenden Verhältnissen schienen sich die Menschen, wenn die Angst vor dem Staat aussen vor blieb, nur zaghaft nahe zu kommen. Die Macht des Staates mischte bis in Liebesbeziehungen, Freundschaften und Familien. Heute ergeben wir uns freiwillig der Macht der Grossen, sei es Google oder Amazon, sei es Facebook oder sonst ein Globalplayer. Schöne heile Welt?

Heil war die Welt noch nie, und sie kann es auch nicht sein. Aber schön ist sie, die neue Zeit. Weil wir die Wahl haben, ob wir uns dafür entscheiden und wenn ja, welcher Macht wir uns ergeben wollen. Wir dürfen jetzt selbst darüber bestimmen und werden zu nichts gezwungen. Die individuelle Freiheit gibt uns jede Menge Möglichkeiten, ob und in welchem Ausmass wir uns freiwillig in welche Abhängigkeit begeben wollen.

Jeweils am 24. Mai feierte man im Dorf Kyrill und Method, die Begründer der kyrillischen Schrift. Ein Fest mit Reden, Tanz und einem Meer aus Blumen. Kyrill und Method waren aber zwei christliche Missionare aus dem 9. Jahrhundert. Typisch für die Manipulation von Geschichte, wenn es um politische Zwecke geht. Damals nicht anders wie heute. Wie weit ist Anjas Geschichte eine Geschichte um den Kampf gegen Manipulation?

Der Krankenwagen, © Evelina Jecker Lambreva

Dass Kyrill und Method zwei christliche Missionare aus dem 9. Jahrhundert waren, wurde im Kommunismus ganz bewusst verschwiegen. Diesem Aspekt wurde nie Aufmerksamkeit geschenkt. Denn Glaube und Religion waren verboten. Anders als in anderen osteuropäischen sozialistischen Ländern, führten Kirchenbesuche in Bulgarien zum Verlust der Arbeitsstelle oder des Studienplatzes und zu erheblichen politischen Schwierigkeiten. Einzig die Besichtigung von Klöstern war erlaubt, da diese als kulturelles Gut betrachtet wurden. Aber schon das Anzünden einer Kerze in der Klosterkirche galt als politisches Verbrechen, auf welches die Staatssicherheit stets ein waches Auge hielt, um dann das Vergehen sofort im Dossier des Betroffenen schriftlich festzuhalten. Diesem Aspekt habe ich in meinem Romandebüt «Vaters Land», (Braumüller Verlag, 2014) einen besonderen Platz eingeräumt.

Kyrill und Method wurden einzig als Erfinder der Kyrillischen Schrift sowohl vom Staat als auch von der Bevölkerung geliebt, gefeiert und verehrt. Der 24. Mai, der Tag der Kyrillischen Schrift, war und ist ein Fest der Buchstaben, der Bücher, der Literatur, der Kultur, Bildung und des Wissens geblieben. Bis heute ist und bleibt der Tag von Kyrill und Method mein Lieblingsfest in Bulgarien mit seiner Pracht aus Buchstaben, geschriebenem Wort und Frühlingsblüten. Deshalb kann ich den 24. Mai in keinster Weise in Verbindung mit Manipulation bringen.

Kaum zeichneten sich in Bulgarien durch Perestroika und Glasnost umfassende Veränderungen ab, begann ein „Krieg“ auf der Strasse. Bandenkriege und die Verzweiflung eines sterbenden Dinosauriers drohten das Land ins Chaos zu stürzen. Perestroika und Glasnost waren alles andere als eine sanfte Revolution. Hat sich ihr Blick auf diese Zeit in den Jahrzehnten danach verändert?

Das Kinderheim

Der sterbende Dinosaurier, wie Sie ihn nennen, hat nicht nur das Land durch die Bandenkriege und die schreckliche Angst vor deren Anführern, den sogenannten «Fratzen» (ehemaligen Geheimdienstlern, entlassenen Angestellten aus der Volkspolizei Milicija, Sportlern aus dem Ring- und Kampfsportbereich), ins Chaos gestürzt, sondern er hat dank diesem Chaos sogar bis heute überlebt. Heute sind diese Leute Oligarchen und regieren das Land durch die Macht ihres Geldes. Durch Bulgariens Pallastrevolution vom 10. November 1989 konnten sie ihre ideologisch-politische Macht ungestört in Wirtschaftsmacht umwandeln, und dies unter dem nachsichtigen Blick des Westens. Es gibt keine erfolgreichen sanften Revolutionen. Sanfte Revolutionen führen nur zu kosmetischen, nicht aber zu fundamentalen Veränderungen. Deshalb hat in Bulgarien keine echte Wende stattgefunden, sondern nur ein Prozess, der als «Alter Wein in neuen Schläuchen» bezeichnet werden muss. Noch immer sind 10’500 ehemalige Angehörige der bulgarischen Staatssicherheit (und das macht ca. 10% aus) in führenden staatlichen Positionen angestellt und besetzen öffentliche Ämter. Eine Durchleuchtung, die Lustration, die sich viele von uns erhofften, hat nie stattgefunden, die Vergangenheit wurde nicht aufgearbeitet und bleibt somit bis heute unverarbeitet. Zum Glück wurde Bulgarien im Jahr 2007 in die EU aufgenommen. Es hat diese einmalige Chance gepackt und kann nun zuversichtlich vorwärtsblicken, auch wenn die unverarbeitete Vergangenheit das Land in seiner Weiterentwicklung stark bremst. Für die kommenden Generationen wird aber Bulgarien dennoch zu einem Land, in dem man gerne leben wird. Vorausgesetzt, es gibt keinen neuen Krieg in Europa und insbesondere auf der Balkanischen Halbinsel.

Anja wird in die Isolation gezwungen. Ihre Freundin flieht, ihre Liebe scheitert, ihre Aufgabe droht ihr zu entgleiten. Selbst Maria, das Mädchen aus dem Heim ist nicht zu retten. Sie sind Psychotherapeutin. Isolation ist ein Phänomen, damals wie heute. Anja ist stark. Aber nicht alle Menschen finden die Kraft. Was kann die Literatur?

Ich denke, Literatur kann viel bewirken. Sie kann aufklären, zum Nachdenken anregen, sie kann helfen, das Leben und den Menschen in ihren Widersprüchlichkeiten besser zu verstehen, sie kann die Introspektionsfähigkeit des Einzelnen fördern. Literatur kann seelische Kräfte und Ressourcen mobilisieren, selbst grausamen Diktatoren wie Stalin war das bekannt. Vergessen wir nicht, dass Stalin während der Blockade von Leningrad der aushungernden Bevölkerung den Roman „Krieg und Frieden“ von Lew Tolstoi verteilen liess und sie aufforderte, den Roman zu lesen, um ihren Selbsterhaltungstrieb anzuregen, um die Widerstandskraft und die Moral der Bevölkerung zu stärken. Literatur kann ohne Zweifel in schwierigen Zeiten Kraft und Trost spenden. Durch Austausch von Gedanken und Meinungen über Bücher kann sie Freundschaften schaffen und somit helfen, Isolation und Einsamkeit zu überwinden. In der Welt der Bücher kann man sich kaum einsam fühlen. Denn durch die Flucht in diese Welt und ins Lesen kann man unerträgliche Realitäten erträglicher machen. Literatur verbindet, sie schafft Brücken zum uns Fremden und Unbegreiflichen. Sie besitzt sogar eine Art heilende Kraft, was sich aus der Arbeit mit Bibliotherapie deutlich zeigt.

© Evelina Jecker Lambreva

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. In deutscher Sprache liegen der Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie der Erzählband «Unerwartet» vor. Zuletzt bei Braumüller erschienen: «Vaters Land» (2014) und «Nicht mehr» (2016).

Rezension von «Nicht mehr» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau