Thommie Bayer veröffentlichte seit den 80ern mehr als 20 Romane, nachdem er damals als Musiker und Texter schon eine beachtliche Karriere hingelegt hatte. Das bezeugten im Literaturhaus Thurgau die fast komplette Bayer-Bibliothek mit Langspielplattensammlung.
Max Torberg ist reich, lebt mit seinen siebzig Jahren zurückgezogen und macht sich Gedanken, was dereinst mit seinem Vermögen geschehen soll. Eigentlich ist alles ein- und angerichtet. Und doch kann Torberg jenen einen Tag vor 30 Jahren nicht vergessen, als eine Handvoll junger Leute ein Gewaltverbrechen verhinderte, das seinem Leben mit Sicherheit schlagartig eine andere Richtung aufgezwungen hätte, wäre damals jener eine Stein nicht geflogen. Jan, einer der fünf zufällig Anwesenden, einst Handballer und treffsicher, traf einen der Angreifer am Kopf. Der eine stürzte getroffen in den Abgrund, der andere nahm Reissaus. Jene fünf, die damals Torbergs Leben retteten, blieben. Auch wenn sich ihre Wege trennten und man sich nie wider sah, blieb die Verbindung und Torberg setzte im Hintergrund alles daran, jener Gruppe über die Jahrzehnte seine Dankbarkeit angedeihen zu lassen.
Thommie Bayer im Gespräch mit Moderatorin Cornelia Mechler
30 Jahre später lädt Torberg jene fünf ein in eine schicke Villa über dem Meer an der Côte d’Azur. Er möchte wissen, was aus den Menschen geworden ist, möchte ihre Seelen erkunden, ihren Herzen auf die Spur kommen. Er verspricht, in jenen sieben Tagen im Sommer irgendwann aufzutauchen, lässt sich vertreten durch seine junge Freundin Anja, der er die Rolle der Gastgeberin gibt, die aber die eigentliche Spionin spielen soll.
Thommie Bayers Roman «Sieben Tage Sommer» ist die behutsam nachgespürte Geschichte jener fünf Menschen, die damals sein Leben retteten. Fünf Menschen, die sich nach 30 Jahren nichts mehr zu sagen haben, die einzig Neugier, Hoffnung und eine Ahnung in jene Villa über dem Meer führt. «Sieben Tage Sommer» ist aber viel mehr der Brief- oder Mailwechsel zwischen zwei gänzlich unterschiedlichen Stimmen, nicht nur in ihrer Rolle, auch in ihrer Tonalität. LeserInnen erfahren nur soviel, wie sich die beiden erzählen. Es ist ein gegenseitiges Berichten, das um das Geschehen in diesem Haus mäandert, ein Ab- und Herantasten an Geheimnisse, die nie entblössen.
Das Veranstaltungsformat «Literatur am Tisch» gibt neben der klassischen Lesung die Möglichkeit, ganz unmittelbar im kleineren Kreis mit dem jeweiligen Autor ins Gespräch zu kommen. Ein Gespräch, das weit über das Inhaltliche hinausgehen kann. Ein Gespräch, von dem auch Autorinnen und Autoren schwärmen, weil ihnen offenbart wird, was ihre Bücher bei aufmerksam Lesenden auslösen und bewirken. Der Abend im Literaturhaus Thurgau zusammen mir Thommie Bayer verschränkte Schreiben und Lesen in ganz besonderer Weise!
«Es kommt selten vor, dass ich in der Schweiz lesen darf, umso mehr habe ich mich gefreut auf diesen Abend, und umso größer war die Freude, als ich so gastfreundlich, herzlich und fröhlich empfangen, gehätschelt und präsentiert wurde. Danke Gallus, Danke Cornelia und Danke Besucher für das Highlight in meinem Autorenleben.» Thommie Bayer
Nach dreissig Jahren führt Max Torberg jene fünf Menschen zusammen, denen er sein Leben verdankt. In einem Haus über dem Meer begegnen sich Menschen, die sich scheinbar nichts mehr zu sagen haben, angelockt vom grossen Gönner. Eine literarische Versuchsanordnung!
Max Torberg, reicher Erbe einer Bankenfamilie, besitzt in den Hügeln der Côte d’Azur ein grosses Ferienhaus, wohin er eingeladen hat. Fünf Gäste, zwei Frauen und drei Männer, deren Wege sich rein zufällig dreissig Jahre zuvor mit dem seinigen bei einer Wanderung in der südfranzösischen Tarnschlucht kreuzten. Eine Begegnung, die ihm damals das Leben gerettet hatte, das zufällige Auftauchen jener fünf Menschen, die ihn vor einer versuchten Entführung retteten. Obwohl man sich nach jener Begegnung, bei der einer der beiden Angreifer in die Tiefe stürzte und kaum überlebt haben konnte, nie mehr wiedersah, begann Torberg als Schattengestalt die Leben der fünf Retter über die Jahrzehnte zu begleiten, leise und still in das Leben dieser Handvoll Menschen einzuwirken, weil er wusste, dass er sein Leben jenen Leben zu verdanken hatte. Torberg konnte nicht sicher sein, ob seine Hilfe unbemerkt geblieben war, denn stets zu Weihnachten, wenn man sich mit Briefen alles Gute wünschte, war allen klar, dass Torbergs Grosszügigkeit im Hintergrund die eine oder andere Wirkung haben musste.
Damals war jene Wanderung in das Naturschutzgebiet Torbergs erster Versuch, nach dem verstörenden Tod seiner Frau Judith, im Leben wieder Fuss zu fassen. Dreissig Jahre später ist Torberg noch immer im Bann jener Geschehnisse, sei es der schreckliche Autounfall seiner Frau oder die schicksalshafte Begegnung mit jener Gruppe Menschen; Jan, der damals den tödlichen Stein geworfen hatte, seine damalige Freundin und Studentin Danielle, Julia, die Krankenschwester, ihr Freund Hans, der Schauspieler war und der Musiker André.
Thommie Bayer «Sieben Tage Sommer», Piper, 160 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-07044-7
Nun, dreissig Jahre später, hatte Torberg eingeladen und seine Freundin Anja als eine Art stellvertretende Gastgeberin in seinem Ferienhaus angewiesen, die fünf etwas auszuhorchen, herauszufinden, was man über ihn zu sagen hatte, wie sehr sie ahnen würden, dass Torberg in ihren Leben mitmischte. „Sieben Tage Sommer“ ist der Mailwechsel zwischen Torberg und Anja, das Protokoll eines Versuchs, der eigenen Wirkung nachzuspüren. Während Torberg seine Gäste durch die Freundlichkeiten seiner stellvertretenden Gastgeberin Anja alle Annehmlichkeiten eines luxuriösen Ferienaufenthalts geniessen lässt, entwickelt sich zwischen den fünf Gästen, die sich in den drei Jahrzehnten untereinander aus den Augen verloren und ganz unterschiedlich entwickelt hatten, eine „Versuchsanordnung“ die es in sich hat, gemeinsame Tage, die nur auf den einen Moment warten: das versprochene Auftauchen von Max Torberg himself.
Aber Torberg lässt sich entschuldigen, zögert sein Auftauchen immer wieder hinaus. Und während sich mir als Leser das Muster dieser fünf Gäste immer deutlicher zeigt, sich das Wesen der einzelnen offenbart, sich neue Allianzen finden, es auf der einen Seite zu knistern auf der andern zu kriseln beginnt, offenbart sich zwischen Anja und Torberg eine seltsame Beziehung zwischen Freundschaft und Ergebenheit. Torberg weiss um seine Wirkung durch seinen Reichtum, ist sich gewohnt, dass sein Strippenziehen Wirkung zeigt. Und die fünf Gäste beweisen, wie schnell man sich unbeobachtet fühlt, wie leicht sich Tugenden verflüchtigen, dass das, was man als Fassade mit sich führt bei weitem nicht dem entsprechen muss, was das eigene Menschsein ausmacht.
„Sieben Tage Sommer“ erzählt scheinbar flockig, leicht von der Kraft der Verführung. Von der Versuchung, durch Reichtum und Macht im Hintergrund „Gott“ zu spielen. Von der Distanz, die Reichtum erzeugt und wie sehr Freundlichkeiten käuflich werden können. Thommie Bayers neuer Roman tut wie lockere Strandlektüre, erzählt aber von der unterschwelligen Macht des Geldes, von den Versuchungen der Masslosigkeit und dem irrigen Glauben, Glück wäre käuflich. Torbergs Versuch, die Macht seiner finanziellen Potenz in Dankbarkeit umzuwandeln, scheitert. „Sieben Tage Sommer“ ist das Protokoll des Scheiterns, vielleicht sogar mit einem Augenzwinkern an den göttlichen Versuch, in sieben Tagen ein Paradies zu erschaffen.
Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück» und zuletzt «Das Glück meiner Mutter».
Julia Weber und Heinz Helle verkörpern alles, was ein „Schreibendes Paar“ ausmachen kann: Ein erfolgreiches SchriftstellerInnen-Paar, eine Familie, in der Kinder nicht bloss Beigemüse sind, ein Paar, das sich respektiert und zwei Stimmen, die sich unabhängig voneinander in den Kulturbetrieb mit einbringen, ihn auch aufmischen.
Julia Weber, Jahrgang 1983, Mutter von zwei Kindern, zwei Romanen, zwei Theatern und unzähliger Beiträge zu Literatur, Gesellschaftsfragen oder Kultur, vielfach preisgekrönt. Heinz Helle, Jahrgang 1978, Vater der gleichen Kinder, von vier Romanen, bis in Chinesische übersetzt und ebenso vielfach preisgekrönt.
zusammen mit Co-Moderatorin Cornelia Mechler
Beide sind kurz vor der gemeinsamen Lesung in Gottlieben zurückgekommen von einem mehrmonatigen Aufenthalt zusammen mit ihren Kindern in der Villa Massimo in Rom. Monate an einem Ort, der nicht zum Ferien machen gedacht ist, sondern Zeit und Raum geben sollte fürs Schreiben. Das, wofür man zuhause im Strudel der familiären Pflichten zuweilen kämpfen muss. Das, was in ihren beiden Romanen zum Stoff wurde. Das, was literarisch im gleichen Sonnensystem um einen Stern kreist, verschieden in Atmosphäre und Färbung, als wären es Doppelstern – Sie kreisen umeinander, zeigen sich wechselseitig; „Die Vermengung“ von Julia Weber erschien im Frühling dieses Jahres bei Limmat und „Wellen“ von Heinz Helle, diesen Herbst bei Suhrkamp erschienen.
Auf die Frage, ob es eine Strategie dahinter gegeben habe, oder einfach nur wirkungsvoller Zufall sei, erzählten die beiden, sie hätten nach der Geburt des zweiten Kindes schnell gemerkt, dass es im Austausch über ihr Schreiben Parallelen gegeben habe. Aber die Anfänge der beiden Bücher seien unabhängig voneinander entstanden, bei beiden aus einer Notwendigkeit heraus.
Julia Weber und Heinz Helle lernten sich schreibend in Biel am Schweizerischen Literaturinstitut kennen. Julia Weber und Heinz Helle gibt es nicht ohne die Literatur. Beide Bücher „Die Vermengung“ und „Wellen“, ein Doppelhelix und doch völlig verschieden, kreisen um das Thema Schreiben, Familie, Mutter- und Vatersein, Rollenverständnis, Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt. Heinz Helles Buch liest sich wie ein Tagebuch, wie eine Liebeserklärung an das Schreiben, seine Frau, seine Kinder, eine philosophisch-gesellschaftliche Auseinandersetzung. In Julia Webers Roman vermischen sich eigentlich zwei Romane; den, den ich lese und den, den sie während des Schreibens schreibt. Zwei Romane, die sich gegenseitig spiegeln. Aber Julia Webers Roman hat noch andere Ebenen; Briefe, Generationenstimmen, die vielfache Auseinandersetzung mit Muttersein. „Wellen“ ist ein Solostück, „Die Vermengung“ ein Orchesterstück.
«Liebe Cornelia, lieber Gallus, vielen Dank für den schönen Abend mit Euch im Bodmanhaus! Wir habe uns sehr wohl gefühlt und nicht nur das gemeinsame Essen und den Spaziergang am Rheinsee genossen, sondern auch das anregende, einfühlsame Gespräch auf der Bühne. Wir kommen sehr gerne wieder einmal. Vielen Dank und herzliche Grüsse» Julia und Heinz
Anja Schmitters Romandebüt «Leoparda» erzählt den Alp einer jungen Frau. «Leoparda» ist Verwandlungsgeschichte, Beziehungsroman, Klima- und Gesellschaftskritik und Ausbruchsversuch. Eine Spiegelung über die Abgründe, aus denen man sich nur mit Übermenschlichem befreien kann.
Die Liebe – Die Hitze – Die Reise – Die Hoffnung
Die eigentliche Buchtaufe zu Anja Schmitters Debüt „Leoparda“ findet am 12. Oktober in der Buchhandlung Sphères in Zürich statt. Dass Anja Schmitter dem Literaturhaus Thurgau eine Vorpremière schenkt, verdankt das Haus nicht zuletzt der Tatsache, dass die Autorin nicht weit von Gottlieben in Landschlacht aufgewachsen ist (für Nichtthurgauer zwei eigenartige Ortsnamen, im Zusammenhang mit dem Buch der Autorin aber irgendwie passend!).
Anja Schmitter: «Die erste Lesung zum ersten Roman vergisst man wohl nie. Umso schöner ist es, dass meine Erinnerungen daran ein wunderbares Bild ergeben, gestaltet durch die herzliche Gastfreundschaft des Literaturhauses Thurgau, durch die Zimmer aus altem Holz, Holz, das tausend Geschichten erzählt, durch die spannenden Gespräche mit Gallus, durch den Spaziergang am graublauen Rhein, die Seeluft, durch mein allererstes, so freundliches Publikum, den Apéro mit Wein, Zopf, Lachen und Gesprächen. Und durch die Zugfahrt von meinem Heimatort nach Gottlieben, eine Zugfahrt, die nur 18 Minuten dauerte. Tausend Dank für diese schönen Erinnerungen!»
Was für Aussenstehende fast wie eine Inszenierung anmutetet; Anja Schmitter feiert in diesem Jahr einen runden Geburtstag, präsentiert sich mit ihrem ersten Roman, hat mitgemischt als Dramaturgin bei „Lysistrata“ beim diesjährigen Seeburgtheaterspektakel am Bodensee in Kreuzlingen – war beeindruckend. Zumal der Roman in vielen seiner Themen absolut in die Zeit passt und mit Sicherheit nicht fremd bleibt: Drohten sie auch schon einmal, aus der Haut zu fahren? «Moderner» könnte man das auch „austicken“ nennen. Mit Kleo, der Protagonistin in Anja Schmitters Debüt, passiert das einer jungen Frau wörtlich, ganz langsam, als schleichender Prozess. Es löst sich die alte Haut in Fetzen, keine harmonische Metamorphose – aus der jungen Frau wird ein Mischwesen, halb Mensch, halb Leopard.
Kleo trennt sich von ihrem langjährigen Freund, sie hängt ihren Beruf als Lehrerin an den Nagel, sie muss feststellen, dass sie von der Welt ihrer Eltern mehr als nur abgenabelt ist und dass sie selbst den Draht zu ihrer besten Freundin Feli verliert. Eine Szenerie wie ein Abgrund. Und um sie herum flimmert eine unbarmherzige Hitze über einer nach Verwesung stinkenden Stadt.
Über und in Kleo, die eigentlich Kleopatra Frei heisst, eine elterliche Laune wegen einer Ägyptenreise, bricht die Welt zusammen. Kleo ist Lehrerin. Ihre Begeisterung, ihr Enthusiasmus und ihre Euphorie in ihrem Beruf sind arg abgekühlt. Wenn sie nicht während des Unterrichts ganz bildlich gesprochen an einer Wand steht, plagen sie Schreckensszenarien in ihren Träumen. Kleo propagiert in einer schwierigen Phase mit ihrem Freund Ernst die Vorzüge einer «offenen Beziehung», weil sie sich selbst aus der Enge befreien will. Als sie dann aber feststellen muss, dass sie Ernst völlig unerwartet im Bett mit einer andern finden muss, bleibt von der Proklamation „Offene Beziehung“ nicht mehr viel übrig. Kleo taucht ab, schliesst und igelt sich ein.
Anja Schmitters Roman ist zweigeteilt, auch wenn man erst im Laufe der Lektüre merkt, dass man im zweiten Teil des Romans angekommen ist. Kleo geht mit Feli, ihrer Freundin und Therapeutin, an die Limmat, oder zumindest dem, was in der Hitze des Sommers von ihr übrig geblieben ist, schwimmen, im brackigen Wasser, neben toten Fischen. Kleo holt sich einen Sonnenbrand. Vielleicht ist dieses „holt“ ganz wörtlich zu verstehen. Mit dem Sonnenbrand beginnt eine Transformation.
Im zweiten Teil ist Kleo nicht mehr jene, die sie einmal war. Sie gibt vor, irgendwo in den Ferien zu sein, weit weg. Dabei schläft sie in ihrem zur Höhle gewordenen Zuhause, wie eine Katze zusammengerollt auf dem Boden und streift nachts mit Leopardenfrisur und -haut durch die Stadt, faucht Menschen an, verliert sich immer mehr in einem Dazwischen. Es ist, als wäre «Leoparda» ein Album der Alpträume.
Ganz besondere Bilder spielen in ihrem Roman tragende Rollen, sei es eine Amaryllis, die nicht mehr zu wachsen aufhört und sich irgendwann zu sehr aus dem Fenster lehnt, Möwen und Raubvögel, die alte Nachbarin am Rollator, das Lochergut, der Zoo kurz vor dem Kollaps, Eltern, Meister der Fassade. Kleos Mutter will nicht einmal das Burnout des Vater verraten, um die ins Wanken geratene Tochter zu «schützen» – und Männer: Ernst, der Verflossene, der tut, was Kleo nicht kann, Amir, ein Afghane, der sich durch einen Übergriff Kleos Nähe verwirkt und Adriano, ein angeblicher Bildkünstler, der ihr arg an die Haut will – und nicht zuletzt ein gebrochener Vater, der nur noch seine Sonnenblumen malt.
Es ist heiss. Flüsse trocknen aus, der Gestank von Verwesung hängt über der Stadt. Es ist überall heiss; in den Köpfen, in den Herzen, in Beziehungen, bei der Arbeit oder ganz privat. In Anja Schmitters Debüt kocht es über und eine junge Frau wird zum Tier.
Kleo Frei ist junge Lehrerin. Aber schon nach kurzer Zeit hat sich Begeisterung, Enthusiasmus und Euphorie in ihrem Beruf abgekühlt. Wenn sie nicht während des Unterrichts an einer Wand steht, plagen sie Schreckensszenarien in ihren Träumen. Kleo steckt auch mit Ernst, ihrem Lebenspartner in einer Sackgasse. Und als sie ihn um mehr Raum bittet, die Vorzüge einer offenen Beziehung anpreist und wenigstens Türen schaffen will, „erwischt“ sie Ernst bei ihm zuhause im Bett mit einer anderen. Ausgerechnet ihn, von dem sie das Gefühl hatte, es gäbe für ihn nur sie. Auch in der Beziehung mit ihren Eltern, beide im Schuldienst, weiss sie sich seit ihrer Trennung von Ernst nicht mehr zu helfen. Da sind Erwartungen, die sie nicht abschütteln kann. Da spielt ein Schmierentheater, das nichts mit der Wirklichkeit gemein hat. Da wabern Beteuerungen, denen sie nicht mehr glauben kann. Und irgendwann ist das Mass voll.
Mit Sicherheit kennen sie solche Situationen. Solche, in denen ihnen alles über den Kopf wächst, in denen alle Fluchtwege abgeschnitten sind, es keine Alternativen mehr zu geben scheint. Man will aus der Haut fahren. Man spürt das Tier in sich. Man würde am liebsten in die Nacht hinausschreien, oder fauchen wie ein zorniges Raubtier.
Kleo heisst eigentlich Kleopatra. Eine Laune ihrer Eltern. Das Resultat einer Reise ins Land der Pharaonin. Aber Kleo ist keine Prinzessin mehr. Ernst hat sie entthront, vom Sockel gestossen. Den Kindern im Klassenzimmer fehlt es nicht nur am Respekt. Und die Eltern verkriechen sich hinter einer Fassade, die nichts von dem erzählt, was wirklich geschieht. Einziger Halt ist Feli, Kleos Therapeutin, die längst zur Freundin geworden ist, sich aber in einer ganz anderen Welt befindet wie sie selbst; gebraucht in Beruf und Beziehung, offensichtlich verankert.
Bis in Kleo etwas zu wachsen beginnt. Bis sich nach einem Sonnenbrand die alte Haut in Fetzen zu lösen beginnt. Bis die Amaryllis, die ihr Ernst wie jedes Jahr zu jedem Geburtstag schenkt, die jedes Jahr jämmerlich verreckt, wie Unkraut in die Höhe schiesst. Bis sie den Beruf mit Getöse an den Nagel hängt. Bis über der Haut ein Flaum wächst. Bis sie beim Friseur auch noch in ihre Haare ein Leopardenmuster legt. Bis es in ihrer Wohnung zu müffeln beginnt und aus der jungen Frau der Zorn, die Verzweiflung, Archaisches hervorbricht und Kleo die Reste einer heilen Welt mit ihren Krallen, ihrem Fauchen und ihrer Jagd zu demontieren beginnt.
„Leoparda“ ist eine Verwandlungsgeschichte, eine Metamorphose, die Geschichte eines Ausbruchs. Was im ersten Teil ihres Romans ganz eng an die Realität und mit Sicherheit auch aus der Welt der jungen Autorin geschrieben ist, nimmt im zweiten Teil immer surrealere Formen an. Als würde Anja Schmitter mit den Augen jenes Mischwesens, halb Frau, halb Leopardin sehen. Eine Wahrnehmung, die sich verschoben hat, nicht nur optisch. „Leoparda“ beschreibt nicht zuletzt die Perspektivlosigkeit einer Generation, die man mit einer ganzen Breitseite unlösbar scheinender Probleme konfrontiert, vom globalen bis ins ganz private Klima. „Leoparda“ liest sich im ersten Teil wie eine Dystopie, im zweiten Teil wie ein Alptraum, von der Verletzlichkeit einer ganzen Generation. Anja Schmitter, geboren 1992 in Münsterlingen. Nach einem Studium der Germanistik und Komparatistik in Zürich, Bordeaux und Wien studierte sie im Master Literarisches Schreiben an der Hochschule der Künste Bern. Anja Schmitter war als Autorin bei einem Gefängnistheater in Zürich tätig und als Dramaturgin beim See-Burgtheater in Kreuzlingen. Sie lebt in Zürich und schreibt Fiktion und literarische Reportagen, u.a. für das Magazin Reportagen. «Leoparda» ist ihr erster Roman.
Dass Norbert Scheuer Gast im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben war, freute mich ganz besonders. Nicht nur weil ich ein grosser Bewunderer seines Schaffens bin, sondern weil ich der Überzeugung bin, dass Norbert Scheuers Kunst mit dem physikalischen Begriff der Singularität perfekt beschrieben ist.
Norbert Scheuer, 1951 geboren, lernte zuerst Elektriker, dann Physiker, später Philosoph mit einer Magisterarbeit über Kant, um sich mit dem Wechsel ins neue Jahrtausend mehr und mehr als ernst zu nehmende literarische Stimme über die Landesgrenzen hinaus zu etablieren. Das zeigen nicht nur Preise und Nominierungen, sondern auch die Konsequenz, mit der Norbert Scheuer schreibt. Sei dies nun in seiner Themenwahl, der Verortung seiner Geschichten, der Einbettung in die Zeit und im Umstand, dass Norbert Scheuer bis zu seiner Pensionierung als Systemprogrammierer bei der Deutschen Telekom arbeitete.
Angekündigt im ursprünglich gedruckten Programm war Norbert Scheuer mit seinem 2019 erschienen Roman „Winterbienen“, der nicht nur hochdekoriert ist, sondern in meinem Freundes- und Bekanntenkreis ein Lektüremuss wurde. Umso überraschter war ich, dass „Winterbienen“ nun von „Mutabor“ überholt wurde und Norbert Scheuer neben Gedichten und Erzählungen bereits seinen neunten Roman präsentiert.
„Mutabor“ ist die Geschichte um Nina, eine junge Frau. Sie will weg, ist aber noch nicht volljährig. Weg, weil man sie alleine lässt, alleine mit dem Geheimnis um einen nicht bekannten Vater, allein mit dem Geheimnis einer verschwundenen Mutter, weg von einem Ort, an dem sie wie mit einem Bann belegt scheint, einem Makel, dem Mahl der Ewigversehrten. Ich liebe Norbert Scheuers Personal, nicht erst in ihrem neusten Roman. Nina, eine junge Frau, der ich schon im Roman „Am Grund des Universums“ begegnete, Paul, der die Hauptfigur im Roman „Die Sprache der Vögel» war, Ninas Grossvater, der sie in seinem hellblauen Opel Kapitän herumchauffiert, Evros, der griechische Wirt, der in einer Schublade eine kleine Flöte aus Schilfrohr und Bierdeckel einschliesst, die er mit kryptischen Texten beschriftet oder die alte Dame, die Nina ihre Tante nennt, die Nina mit Büchern das Tor zur Welt aufmacht. Und alle haben sie ihre Geheimnisse. Kall, das Dorf, ist Welttheater. Kall ist Epizentrum. Kall ist Ausgangslage und Brennpunkt.
Norbert Scheuer kam in der Westeifel zur Welt, lebt und schreibt in der Eifel, ausser er weilt für ein Stipendiat zum Beispiel am Bosporus. Norbert Scheuer lässt alle seine Bücher auf jener Bühne spielen, dem Landstrich zwischen Köln und der Grenze zu Belgien. Ich kenne kaum jemanden im Literaturbetrieb, der eine ganz bestimmte Gegend so sehr zu seiner Bühne macht. Norbert Scheuer erzählte, er wäre erst mit seinem neusten Roman zum ersten Mal an seinem Heimatort zu einer (Benefiz-)Lesung eingeladen worden und sei ganz glücklich darüber gewesen, dass ihn ein gewisser Respekt angesichts seines Erfolgs vor gereizten Reaktionen schützte, denn nichts an Scheuers Roman idealisiert.
«Mutabor» ist das Zauberwort aus Wilhelm Hauffs Märchen vom Kalif Storch. Mutabor ist lateinisch und heisst „Ich werde verwandelt werden“. Nina will in jene verwandelt werden, die sie eigentlich ist. Sie «sucht» das Zauberwort zu einer ihr verschlossenen Welt? Norbert Scheuer hat sein Zauberwort in seiner Sprache gefunden. Seine Romane sind unglaublich facettenreich. Als ich ihn zum ersten Mal gelesen hatte, verstand ich vieles nicht, manches bleibt mir bis jetzt verborgen. Das mag Absicht sein, denn Scheuers Romane wollen nicht ausleuchten, nichts erklären, nichts offenbaren. Das Geheimnis ist Teil des Menschseins, sein Schreiben das Sichtbarmachen der Welt.
«Das schöne Gottlieben und eure liebe Gesellschaft geht mir nicht aus dem Kopf – überall schwärme ich davon.» Norbert Scheuer
Mit Michael Stavarič öffnet sich ein Kosmos. Nicht nur weil man angesichts der Fülle seiner Werke lange in den Büchern dieses Autors lesen kann, sondern weil er einem mit jedem neuen Buch eine weitere Tür öffnet, weil sich Michael Stavarič mit jedem Buch neu zu definieren, zu erfinden scheint, weil es somit nicht den typischen Stavarič gibt und ich mit jedem Buch riskieren muss, dass nicht das drinsteckt, was ich erwarte.
«Einen Abend mit Gallus Frei-Tomic und Cornelia Mechler im Kunstmuseum Thurgau verbringen zu dürfen, stellt wahrlich ein Privileg dar. Die Kartause Ittingen ist einer der bezauberndsten Orte, den man sich nur vorstellen kann, und mit Gallus und Cornelia trifft man dort auf Literaturliebhaber*innen, die ihresgleichen suchen, denn: es kann gar keine besser vorbereiteten Gesprächspartner geben. Es war tatsächlich so angenehm für mich über Literatur und Werk zu plaudern, dass ich beinahe aufs Lesen vergass. Selten genug hat man die Gelegenheit, sich intensivst mit Gleichgesinnten über die Literatur austauschen zu dürfen. Danke, lieber Gallus, dass Du der Literatur (und ihren Autor*innen) diesen Stellenwert einzuräumen vermagst, und du immer und überall für die Literatur einstehst. Auf ein Wiedersehen, sehr herzlich, Michael Stavaric»
Michael Stavarič, Anfang dieses Jahr ein halbes Jahrhundert alt geworden, dessen Familie einst aus der Tschechoslowakei fliehen musste, ist ein Tausendsassa. Vielleicht gerade wegen einer nicht ganz klaren Verortung einer Heimat, einer Herkunft. Als Lyriker ganz jung begonnen, ist Michael Stavarič Romancier, Übersetzer, Kolumnist, Kritiker, Essayist, Kinderbuchautor und mit Sicherheit auch ein Kulturvermittler, ein Agent des Wortes und nicht zuletzt ein Fürsprecher für Autorinnen und Autoren, die noch nicht im Licht des Ruhms stehen.
„Romane, wie sie Michael Stavarič schreibt, schreibt gegenwärtig sonst niemand.“ Frankfurter Rundschau
Zusammen mit Cornelia Mechler, Mitorganisatorin im Kunstmuseum der Kartause Ittingen, versuchten wir an diesem Abend einen Einblick in das überaus vielfältige Schaffen eines Autors zu bieten, der durchaus das Zeug hat, der Beginn einer langen Beziehung zu werden, einer langen Lesereise mit einem Autor, dessen Bücher das Leben erhellen.
Begonnen hatte sein Schreiben mit Lyrik. Einem Schaffen, in das er noch immer abtaucht, gerne mit einer gehörigen Portion morbidem Charme und groteskem Humor. In seinem 2017 erschienen Gedichtband «in an schwoazzn kittl gwicklt» kreist der Dichter in der Welt eines Haderers. In einer Art «Wiener Dialekt», den er aber wie sein grosses Vorbild H. C. Artmann seiner eigenen Zunge anpasste, stromert er durch die Welt eines Zweifelnden, eines Zweiflers, stets gut verständlich «übersetzt» ins Hochdeutsche.
waun d wöd amoi unta get mechat i genau wissen wo i laund
gustirn wor i nailich am zendralfridhof hob gschaut wos no a guats platzl gibt und in wöche ekn i liaba net mog do gabats anige
(aus «in an schwoazzn kittl gwicklt», Czernin)
Weil seine Familie in seinen Kindertagen aus der kommunistischen Tschechoslowakei nach Österreich flüchtete, wuchsen zwei Muttersprachen, ein Umstand, der sich ganz direkt in sein Schreiben auswirkte. In «Der Autor als Sprachwanderer» schreibt Michael Stavarič von einem Umstand, ohne den er wohl nie zu schreiben begonnen hätte.
So wie das Licht, das Feuer, das Meer Elemente seines Schreiben sind, scheint ein Element dafür, wie Geschichten entstehen, Texte entstehen, das Schreiben ein Motor, eine Motivation wird, der Schmerz zu sein. Erst mit Hilfe des Schmerzes komme er zur Erinnerung.
Mit jedem seiner Bücher begibt er sich auf eine Reise ins Ungewisse. Er proklamiert das Unterwegssein, das Nomadische als Notwendigkeit seines Schreibens. Ein anderer Eckpfeiler seines Schreibens ist das Bemühen, nicht einfach in einem Klappentext nacherzählbares Unterhaltungsfutter schreiben zu wollen. Man müsse es sich Schicht um Schicht erarbeiten. «Lesen ist nicht einfach nur Unterhaltung. Literatur wird verändern, sie kann Heimat sein, sie vermag Erkenntnisse zu eröffnen, die auf keinem noch so paradiesischen Baum gefunden werden kann.»
Neben „Erwachsenenliteratur“ schreibt Michael Stavarič auch für Kinder und nennst diese Gattung die eigentliche Königsdisziplin, die „Königsklasse der Literatur“, auch wenn es dafür keinen Literatur-Nobelpreis geben wird, auch wenn man in gewissen Kreisen für diese Literatur nur ein müdes Lächeln übrig hat. Michael Stavarič schreibe für jenes Kind, das er einst selbst gewesen sei, für all die Kinder, die dereinst zu Leserinnen und Lesern werden – vielleicht auch zu Leserinnen und Lesern seiner Bücher.
aus «Die Menschenscheuche» Stella Dreis & Michael Stavarič, Kunstanstifter Verlag 2019
In seinem neuesten 2020 bei Luchterhand erschienen Roman «Fremdes Licht» erzählt Michael Stavarič von zwei Frauen, einer in der Vergangenheit, einer in ferner Zukunft. Die eine erwacht als Letzte auf einem kalten Exoplaneten, allein mit ihren Erinnerungen, die andere, eine Inuit vor 100 Jahren als Erste im kalten Licht einer aufbrechenden Welt. Michael Stavarič hat die Kälte verinnerlicht und erzählt davon, dass weder Hitze noch Feuer, nicht einmal Wärme und Kraft das Leben in eisiger Kälte ermöglichen. Nur Leidenschaft und Hingabe. Grosse Erzählkunst!
Michael Sztavarič «Gretchen» auf der Plattform Gegenzauber
Vielleicht hat Julia Weber mit ihrem zweiten Roman „Die Vermengung“ etwas erschaffen, was einmalig ist. Der Titel ihres Romans ist nicht nur Überschrift, sondern Programm. „Die Vermengung“ vermengt biografisches mit fiktionalem Schreiben, die Sicht nach Innen mit jener nach Aussen, ist Roman über Frausein, Menschsein, Muttersein und Schriftstellerinnensein.
Julia Webers Roman ist keine Nabelschau. Solche mag ich nicht. Und doch schreibt Julia Weber über eine Julia, verheiratet mit H (Heinz Helle). Beide sind Schriftsteller und Eltern von B, einem Mädchen, das bereits in die Schule geht. Julia schreibt, H schreibt. Julia ist Mutter, H ist Vater. Sie wohnen zusammen in einer nicht übergrossen Wohnung mitten in Zürich. Sie schreibt in „freien“ Zeiten zuhause, er in seiner kleinen Kammer, die er irgendwo in der Nähe gemietet haben. Sie haben sich eingerichtet, das Leben als Paar, Eltern und Schreibende. Bis klar ist, dass Julia ein zweites Kind mit sich trägt. Bis klar ist, dass nach der Geburt alles anders ist und es mehr braucht als bloss eine Umgewöhnungsphase. Wird sie weiter schreiben können? Wird sie das eine zugunsten des andern „abbrechen“ müssen, so wie es in der Geschichte des Frauseins über Jahrhunderte passierte? Reicht es, einen fürsorglichen und einfühlsamen Mann an ihrer Seite zu wissen, um all dem gerecht zu werden, was sich mit bei kleinen Kindern intensivieren wird? Julia fühlt sich bedrängt, in die Enge getrieben. Eine Mischung aus Verzweiflung, Mutlosigkeit und Ängsten zieht sie in tiefe Trauer, in einen Kampf, der ihre Existenz gleich mehrfach bedroht.
Julia Weber «Die Vermengung», Limmat, 2022, 352 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-03926-041-6
Julia Weber bleibt aber nicht eindimensional. Sie verknüpft ihre Auseinandersetzung mit ihrem Schreiben, der Geschichte, mit der sie sich während und nach der Schwangerschaft auseinandersetzt, mit den Figuren dieser fiktiven Geschichte, Ruth, Linda und Karl machen in ihrer Fiktion Ähnliches durch; Schwangerschaft, Zukunftsängste, Stürme in ihren Beziehungen. Aber die reale Julia kommuniziert mit ihren Romanfiguren. Sie schreiben sich, beschwören einander, mischen sich ein. Die reale Familienkonstellation spiegelt sich in der fiktiven und umgekehrt. Dabei ist Julia Webers Schreiben über das Schreiben weit mehr als das Protokollieren einer „Buchwerdung“. Die Geschichte, an der die Autorin schreibt, ist das Spielfeld eine Wahrscheinlichkeit. Die Personen in ihrer Geschichte treten aus der Fiktion heraus und mischen im Realen mit.
«In jener Nacht verstand ich, dass sich alles vermengt, dass ich die Kunst bin, die ich mache, und die Kunst ist ich. Ich bin die Mutter dieses Kindes, und das Kind hat mich als Mutter. Wir werden ineinander und auseinander herauswachsen, und die Kunst wird neben uns her wachsen und auch in uns hinein.»
In einer weiter Ebene mischen sich auch noch weitere Beziehungen in „Die Vermengung“ ein; eine Freundin, die ihre Eizellen einfrieren lässt, weil ihr Wunsch, Mutter zu werden, den Vater noch nicht gefunden hat. Oder die Mutter, die ihr mitteilt, man habe einen Krebs in ihrer Brust gefunden. Julia Weber vermengt all die „Bedrohungen“ einer Frau in einem Roman, der mich bei der Lektüre schwindlig macht. Keineswegs, weil er unübersichtlich geschrieben oder nur schwer lesbar wäre. Julia Webers Roman ist in einer Sprache geschrieben, die sich mühelos ebenso klar wie verspielt zeigt. „Die Vermengung“ ist ein Roman, den man mit Bleistift hinter dem Ohr liest, der mit tiefer Sehnsucht geschrieben wurde, nicht nur den Moment, sondern die Welt zu verstehen, Ordnung in Gefühle zu bringen, die einem in ihrer Heftigkeit bedrohen können. Julia Webers fiktionale Figuren in ihrem Roman eskalieren stellvertretend. Die Briefe zwischen Ihr und ihrem Mann zeugen von jener Ernsthaftigkeit, die ich einer Gegenwart, die sich verliert, nur wünsche.
Julia Webers Experiment der Vermengung hätte leicht scheitern können. Aber weil die Autorin die Vielstimmigkeit ihres Stimmenorchesters so virtuos dirigiert, gelingt ihr ein grosses symphonisches Werk, das getragen wird von Grossherzigkeit, Mut und der Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit.
Julia Weber wird 1983 in Moshi (Tansania) geboren und zieht 1985 mit ihrer Familie nach Zürich. Nach der Schule macht sie eine Lehre als Fotofachangestellte und absolviert die gestalterische Berufsmaturität. Von 2009 bis 2012 studiert Julia Weber literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel/Bienne. Im Jahr 2012 gründet sie den Literaturdienst (www.literaturdienst.ch ) und ist 2015 Mitbegründerin der Kunstaktionsgruppe „Literatur für das, was passiert“ zur Unterstützung von Menschen auf der Flucht. Im Frühjahr 2017 erscheint ihr erster Roman «Immer ist alles schön» beim Limmat Verlag in Zürich. «Immer ist alles schön» wird mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem internationalen Franz-Tumler-Literaturpreis, der Alfred Döblin Medaille der Universität Mainz, 2017 steht der Roman auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises.
Sie wacht auf aus dem Kälteschlaf auf einem fremden, erdähnlichen Planeten. Sie ist die einzige. Alle andern, die auf dem Flugschiff auf einen Neustart auf einem weit entfernten Planeten hofften, kamen bei der Bruchlandung im Eis ums Leben. Michael Stavarič begleitet zwei Frauen, in die Vergangenheit und in die Zukunft. Eine Vergangenheit, in der die Zukunft beginnt, eine Zukunft, in die man sich zurückgeworfen fühlt.
Die Geschichte der Menschheit ist verwoben mit dem Entdeckergeist von (männlichen) Pionieren: Roald Amundsen, der als erster den Südpol erreichte, Magellan, dessen Schiff als erstes die Welt umsegelte oder Fridjof Nansen, der Grönland zu Fuss durchquerte, mit den Inuits lebte und gar den Friedensnobelpreis erhielt.
Eliane Duval lebt im 24. Jahrhundert. Und nachdem man der Erde mit Lichtkriegen beinahe den Garaus gemacht hatte, besiegelte ein riesiger Komet das Schicksal des Planeten restlos, liess ihn zerbersten und alles auslöschen, was sich nicht auf das einzige Flug- und Fluchtschiff retten konnte. Mit dabei Eliane Duval, die, Wissenschaftlerin geworden, die Stammzellen vieler Tiere mit in den Orbit transportiert, um auf einem erdähnlichen Exoplaneten neu beginnen zu können. Es sollte eine zweite Chance werden, nachdem man die erste zunichte gemacht hatte. Kommandant des Schiffes ist Dallas, mit dem sie mehr als eine Freundschaft verbindet. Doch in dem Moment, in dem das Flugschiff seine lange Reise weit über die bisherigen Grenzen beginnt, die Reste der Erde verglühen, wird klar, dass die Mission des Rettungsschiffes unter keinem guten Stern steht. Es sind viel zu viele Menschen auf dem Schiff und viel zu wenige Kälteschlafboxen. Viele der Geretteten werden die lange Reise nicht überstehen. Das Floss der Medusa droht nach gegenseitiger Zerfleischung unterzugehen. Die lange Kette von Katastrophen nimmt kein Ende.
nunaulluq (ᓄᓇ ᐅᓪᓗᖅ), Land des Tages
Lange Zeit später wacht Eliane auf in den Trümmern des Flugschiffes. Im Eis eines fremden Planeten, dem sie den Namen Winterthur gibt, weil sie einst in den kalten Laboratorien eines Grosskonzerns im schweizerischen Winterthur arbeitete. Sie scheint die einzige Überlebende zu sein. Und weil sie als Kind viel bei ihrem Grossvater auf Grönland lebte und weiss, wie man in der Eiswüste überlebt, dass die Kälte nicht nur ein lebensbedrohender Feind sein muss, nimmt sie als Letzte den Kampf auf.
Michael Stavarič «Fremdes Licht», Luchterhand, 2020, 512 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-630-87551-4
«Fremdes Licht» ist eine virtuose Mischung aus Dystopie, Science Fiction und Abenteuerroman, den Michael Stavarič nicht einfach linear erzählt, den Überlebenskampf einer starken Frau, sondern in Rückblenden von Geschichte(n), der Geschichte der Inuit, der Geschichte ihrer Familie, der Geschichte eines untergegangenen Planeten. Im zweiten Teil des Romans erzählt Michael Stavarič das Zusammentreffen einer jungen Inuit mit dem norwegischen Entdecker Fridtjof Nansen, der mit seinem Schiff Fram nicht bloss den geographischen Nordpol erkunden will, sondern die Lebensart eines ganzen Volkes, das in einer scheinbaren Wüste aus Eis und Schnee nicht nur zu überleben weiss, sondern eine eigene, friedfertige Kultur entwickelte. Uki, die Nansen an seine Frau Eliane erinnert, neugierig und vom Kapitän des mit lauter Sonderbarkeiten beladenen Schiffes fasziniert, geht mit Mannschaft und Schiff mit auf die Reise nach Süden. Zuerst in den Hafen New Yorks, später mit einem Begleiter an die Weltausstellung von 1893 in Chicago, bei der alle Errungenschaften der Elektrizität den Besuchern als Tor zu einer neuen Epoche präsentiert werden. Uki wird zur Entdeckerin, nur von einer andern Seite, aus anderer Perspektive. Beinahe geschluckt von einer Welt, die sich im Rausch des Fortschritts im Spiegel sonnt, die sich mit Lichtgeschwindigkeit von der Welt entfernt, in der die junge Uki aufgewachsen ist.
atsanik (ᐊᑦᓴᓂᒃ), Nordlicht
Beide Geschichten, jene der Wissenschaftlerin Eliane Duval im 24. Jahrhundert und jene von Uki im 19. Jahrhundert, die Nansen an seine Frau Eliane erinnert, verbinden sich am Ende des Romans. Eines Romans, der mich als Leser in einen rauschhaften Zustand zog. Eine Geschichte, die Fiktion und Reales so gekonnt vermischt, dass man Lust bekommt, nachzulesen, über das Buch hinaus zu „forschen“. Sei es, wenn Michael Stavarič von der Sprache der Inuit erzählt, dem Leben auf der Fram, dem Schiff, mit dem man durch natürliche Eisdrift den Nordpol erreichen wollte, der Weltausstellung in Chicago, an der sich Tesla und Edison in ihrer Potenz duellierten oder vom Plan der Menschen irdisches Leben auf einer Art Arche auf einen anderen Planeten zu transportieren.
Wer „Fremdes Licht“ liest, fröstelt manchmal, sei es in Grönland an der Küste oder auf dem Exoplaneten Winterthur. Michael Stavarič hat die Kälte verinnerlicht und erzählt davon, dass weder Hitze noch Feuer, nicht einmal Wärme und Kraft das Leben in eisiger Kälte ermöglichen. Nur Leidenschaft und Hingabe. Grosse Erzählkunst!
Interview mit Michael Stavarič:
Zwei Frauen, zwischen denen ein halbes Jahrtausend liegt, beide in Schnee und Eis aufgewachsen. Sie beschreiben diese Leben, die Kälte, das Überleben auf das Wichtigste reduziert, als wären sie von einer langen Reise durch Grönland zurückgekehrt. Sie erzählen, als wären sie dem Volk der Inuit ganz nahe gekommen. Wie nahe? Die Auseinandersetzung mit alten Kulturen interessiert mich seit je her, ich verorte im archaischen Wissen und Leben diverser Naturvölker so etwas wie „Wahrhaftigkeit“. Meine Auseinandersetzung mit dem Inuktitut (der Sprache der Inuit) und folglich auch mit dem kulturellen und sprachlichen Selbstverständnis dieser Völker erfolgte allerdings erst im Zuge der Romanrecherchen. Am Anfang stand die Faszination für die für mich futuristisch anmutenden Schriftzeichen, die Art und Weise der Metaphorik (Stichwort: das Wasser, das sich im Meer wie ein Fluss bewegt) – und diverse alte Reiseberichte.
itqujaq (ᐃᑦᖁᔭᖅ), lose im Meer umher irrende Schneeflocken, Quallen
Während man 1893 an der Weltausstellung in Chicago mit der „Weissen Stadt“ den endgültigen Sieg der Technik über das natürliche Leben feierte, die Elektrizität das Tor zu unbegrenztem Fortschritt sein sollte, schrammt ein halbes Jahrtausend später das, was von der Zivilisation übrig geblieben ist über das Eis eines fremden Planeten und zerschellt. Ist das eine Ikarus-Geschichte? Man könnte das durchaus so interpretieren – zunächst schliesst sich ganz banal ein Kreislauf, wobei augenscheinlich ein neuer Zyklus beginnt (das vorangestellte Songzitat von Hooverphonic nimmt es vorweg: the end is always the start of a new episode). Der Fortschritt und die Zukunft bilden dabei stets den Widerpart zum archaischen, naturbelassenen Leben und der Vergangenheit. Was sich da genau aus dem Eis (nicht Asche) erhebt, darüber liesse sich jetzt wunderbar spekulieren. Es hat vor allem auch mit meinem allerersten Roman „stillborn“ zu tun, wo es eine Protagonistin namens Elisa gibt, die sich dem Element Feuer verschrieb und am Ende des Buches in einem Schneesturm verschwindet; jetzt muss man nur noch 1+1 zusammenzählen!
Sinnaliuqpuq (ᓯᓐᓇᓕᐅᖅᐳᖅ), versuch zu schlafen, ganz egal, was der Frost auch im Schilde führt
Elaine Duvals Kampf ist ein Kampf gegen die absolute Einsamkeit. Ein Zustand, dem man höchstens dem Schwerkriminellen in Einzelhaft zutraut. „Fremdes Licht“, zumindest der erste Teil des Romans, ist eine Robinsonade ohne Hoffnung. Wie weit können Sie sich der Einsamkeit aussetzen? Das erinnert mich an ein altes Filmzitat, das da lautet: Hoffnung ist etwas Gutes, und das Gute stirbt nicht! Die Einsamkeit setzt uns Menschen eklatant zu, vor allem deshalb, weil wir uns selbst nur durch andere Individuen als menschliche Wesen betrachten können. Fehlt dieser Kontext, verlieren wir auch unsere Menschlichkeit, gewiss auch im philosophischeren Sinne.
kiinarlutuq (ᑮᓇᕐᓗᑐᖅ), eine Frau, die ihr Trauergesicht wie ein Mahnmal vor sich herträgt
Uki, die junge Inuitfrau, begegnet dem Forscher Fridtjof Nansen. Er nennt sie im Geheimen Elaine, nach seiner Frau, sie ihn Vogelmann, weil er ihrem Volk einen aufziehbaren Vogel präsentiert und der jungen Frau ein dickes Buch über die Welt der Vögel schenkt. Es verbindet sie eine scheue Liebe. Nansen ist Geschichte, Uki Fiktion. Ist ihr Roman die Liebesgeschichte von Geschichte und Fiktion? Tatsächlich habe ich mich dafür entschieden, der historischen Figur von Fridtjof Nansen eine meiner Kreationen (Uki) vor die Nase zu setzen. Wobei mir auch sehr daran lag, mich ganz bewusst von der echten Historie zu lösen, man darf also bei weitem nicht alles für bare Münze nehmen, was ich Nansen hier als Wesenheit andichte. Wenn einander Genres innerhalb eines Werkes begegnen, so mag dies vielleicht manche überfordern – mich beflügelt dies. Da bin ich ganz bei den alten Universalgelehrten: Alles ist in allem, omnia in omnibus. Daher wohl auch das Enzyklopädische – pars pro toto – in diesem Buch.
An guta (ᐊᖑᑕᖅ), die Totensammlerin
Sie beschreiben eindrücklich, wie Uki langsam, in die von Zeit getaktete Welt der „Zivilisierten“ vordringt, bis an die Weltausstellung in Chicago, dem Tempel des Fortschritts. Uki als Entdeckerin, als Erobererin, die fast mit dem Leben bezahlt. „Fremdes Licht“ ist ein Roman über die Zeit, über die Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, über Perspektivenwechsel. Wäre es nicht die Aufgabe eines jeden, wenigstens den Versuch zu starten, die begrenzte Sicht von einem Innen ins Aussen aufzubrechen? Für Uki ist die Weltausstellung mit ihren Errungenschaften ein fremder Planet, der zugleich, bei aller Faszination, das Leben ihres Volkes bedroht. Ihre Nachfahrin Elaine wird im Grunde ihres ganzen Fortschritts entledigt und knüpft dort an, wo Uki einst in Grönland stand. Beide Figuren sind zweifelsohne Entdeckerinnen, Bewahrerinnen, Reisende, Suchende und – ja doch – Lichtträgerinnen. Wenn wir zum Himmel schauen und die Sterne bewundern, blicken wir in die ferne Vergangenheit und betrachten Dinge, die vermutlich gar nicht mehr existieren. Das Licht ist, wenn man so will, die sichtbare Zeit! Ich behaupte jetzt mal, es ist unsere Pflicht, über Grenzen hinweg zu denken, den Blick über den Tellerrand zu wagen und uns auf eine Reise zu begeben. Wenn man diese Schritte wagt, steht einem vieles (auch im eigenen Kopf) offen, nicht zuletzt auch die Abkehr von diversen Ängsten. Ich hoffe, meine beiden Protagonistinnen beweisen dies …
Michael Stavarič wurde 1972 in Brno (Tschechoslowakei) geboren. Er lebt als freier Schriftsteller, Übersetzer und Dozent in Wien. Studierte an der Universität Wien Bohemistik und Publizistik/Kommunikationswissenschaften. Über 10 Jahre lang tätig an der Sportuniversität Wien – als Lehrbeauftragter fürs Inline-Skating. Zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, zuletzt: Adelbert-Chamisso-Preis, Österreichischer Staatspreis für Kinder- und Jugendliteratur. Lehraufträge zuletzt: Stefan Zweig Poetikdozentur an der Universität Salzburg, Literaturseminar an der Universität Bamberg.
In „Wellen“ will der Erzähler glücklich sein, nie gelangweilt und immerzu anwesend. Ein Mann, der eben zum zweiten Mal Vater geworden ist und sich zwischen Momenten des Glücks und Überforderungen zurecht finden will, als Vater, Ehemann, Schriftsteller und Beobachter einer Welt, die ihn prüft.
Dass man es als Vater zweier kleiner Kinder, nimmt man denn seine Rolle als Vater in einer Gegenwart, die die Abwesenheit eines solchen nicht mehr so einfach akzeptiert, schwer haben kann, einen Roman zu schreiben, versteht sich leicht. Umso erstaunlicher, dass es Heinz Helle als Vater zweier kleiner Kinder geschafft hat, sich nicht in Fiktionen aus dem Alltäglichen wegtragen zu lassen, sondern mit „Wellen“ ein Buch präsentiert, das sich in absoluter Unmittelbarkeit mit seiner eigenen Welt auseinandersetzt. „Wellen“ ist ein Buch übers Vater-, Mann- und Schriftstellersein. Nicht wirklich ein Roman, auch wenn das Buch als solcher angeschrieben ist. Viel mehr ein Tagebuch, ein Simultankommentar zu einem Leben mitten in der Familie, zwischen Windeln, Spielzeug, Volvo, Wäscheleinen und Milchfläschchen.
Am Abend fragst du mich, warum ich dich liebe, und ich sage: „Weil du so riechst, wie du riechst.“
Auch wenn man „Wellen“ als Nabelschau bezeichnen kann, eine Gattung Buch, die mich mit wenigen Ausnahmen nicht fasziniert, ist Heinz Helles neustes Buch weit mehr. Mit Sicherheit eine Liebeserklärung. Eine Liebeserklärung an seine Frau, seine beiden Kinder, seine Familie, seine Aufgaben, sein Leben, jenen Lauf der Zeit, der mit zwei kleinen Kindern so sehr von Alltäglichkeiten dominiert wird, dass sich mein verklärter Blick in die Vergangenheit und Heinz Helles Blick in seine Gegenwart mitunter heftigst streiten. „Wellen“ schildert das Leben eines Mannes in der Brandung seiner Pflichten. Kein weinerliches Reflektieren eines Mühlsteinträgers, kein Suhlen in den Niederungen menschlicher Abgründe. Der Erzähler liebt seine Welt, auch wenn sie ihn zuweilen einengt, nicht loslässt. Der Erzähler liebt seine Kinder, auch wenn sie ihn nachts vom Schlafen abhalten und die Kleine erst in den Armen der Mutter zu schreien aufhört. Der Erzähler liebt seine Frau, die ihren Kopf noch immer an seine Brust legt, die ihn an der Hand nimmt. Und der Erzähler liebt sein Schreiben, sein schreibendes Nachdenken, auch wenn er in seinem kleinen Arbeitszimmer abseits seiner Wohnung manchmal einfach zuerst zur Ruhe kommen muss.
„Und dann merke ich, dass ich darum so gerne darüber schreibe, wie ich lebe, weil ich Frieden finde in der Anordnung der Zeichen, mit denen ich versuche, nachzubilden.“
Heinz Helles Buch sind Aufzeichnungen eines Nachdenkens. Der Erzähler denkt vom Kleinen ins Grosse, vom Grossen ins Kleine. Er weiss genau, dass das, was er als Vater tut, wenn er nachts die verstopfte Nase seines neugeborenen Kindes tröpfchenweise zu befreien versucht, keine Nichtigkeiten sind, sondern die kleinen Schritte zum Grossen. Jenes Grosse, das man im Sog der Alltäglichkeiten leicht aus den Augen verliert. Jenes Grosse, das verloren gegangen ist, wenn man in den Medien von Eltern liest, die die Kontrolle verlieren. Der Erzähler ist einem Geheimnis auf der Spur. Dass der Erzähler oft und gerne philosophische Abschweifungen unternimmt und diese mit Alltäglichkeiten, Träumereien und Beobachtungen vermengt, macht das Buch auch für mich zu einem Quell vieler Überraschungen. Und dass die einzelnen Kleinkapitel fast immer mit „Und dann“, „Und als“ „Und dass“ beginnen, gibt dem Text eine Unmittelbarkeit, als würde der Erzähler sein Leben im O-Ton kommentieren.
Als ich 1985 zum ersten Mal und zehn Jahre später zum letzten Mal Vater wurde, waren viele Selbstverständlichkeiten mit denen von heute identisch. Und doch unterscheidet sich die Rolle eines Vaters, eines Mannes, eines Ehemannes in vielem diametral von der damals, auch wenn nur 40 Jahre dazwischenliegen. Vielleicht war das meine grösste Herausforderung bei der Lektüre; die Erkenntnis, wie gedankenlos ich damals meine Rolle lebte, auch wenn die Zeichen der Zeit damals Grund genug gegeben hätten, gewisse Selbstverständlichkeiten mit Schamröte aufzugeben.
Heinz Helle, geboren 1978, studierte Philosophie in München und New York und arbeitete als Texter in Werbeagenturen, bevor er Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel studierte. Für seinen letzten Roman, «Die Überwindung der Schwerkraft», wurde er mit dem Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 2019 ausgezeichnet und stand 2018 auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises. Er lebt mit seiner Frau, der Schriftstellerin Julia Weber, und den beiden gemeinsamen Töchtern in Zürich.