Du hast unseren Frieden in den Vorhof gepflanzt. Abgesteckte Beete. Wie Kammern, aus denen unbekannte Namen flimmern.
Wir Auferstandenen steigen weiter und weiter auf.
An den Rändern schwarzer Löcher verglühen unsere Herzen. Nur Plasma. Energie für unsere Kinder, die nie mehr kommen. Die nie diese Wärme spüren. 150 Millionen Grad. Gemessen in der Zeit, die wir als Menschen verbrachten.
AUCH TOURISTEN VERSTRÖMTEN WÄRME
Im Sonnenbrand der Winteräpfel warfen die Meere Blasen, verbrühten die Gletscher und verdampften an der Himmelskruste.
Wir sassen in unseren Autos und bestaunten die Feuer.
»Was für ein Postkartenmotiv!«
Auf halbem Weg ging die Sendung verloren. Auch unsere Restsouvenirs gingen zu Bruch.
Tollpatschig fielen die Felswände um. Berge besuchten uns öfter im Tal. Die Gäste fuhren schon früher mit E-Bikes dem Sturz entgegen.
Im Winter legte sich Frost über das Magma. Ein roter Spiegel voller Risse, die blicken liessen auf die eingeschmolzenen Feldspaten abgewanderter Bauern.
WIR TRUGEN DÜNNERE HÄUTE
Seen schwitzten das Klima aus. Wälder nur qualmende Stummel.
»Wer verträgt schon diese Gluten?«
Sommerfrischler bestiegen ausgekühlte Halden. Ihr Schweiss schwemmte Fahrbahnen frei für Aschetransporter. »Feinstes Karbon!«
Die Staublungen der Erdhörnchen keuchten. Schwer scharrten sie alte Apparate aus. iPhones auf Stand-by. Ein Beistand für grausame Bilder.
Wir zählten die Baumringe unter den Augen, als die Schattenseite der Äpfel schon brannte.
Die Luft trug einen reizenden Feststoff aus und wir schlüpften in dünnere Häute.
MAN HÄNGTE UNS EINFACH SO AB
In unseren Stuben lagen die Leitungen blank.
Aus Dielen rieselten Schritte. Wege, die sich wie Frassgänge in unser Holz gekerbt hatten.
Erinnerung legte sich nur noch den Tieren in die Instinkte.
Dem Marder, der nach den Kabeln schürfte, um am versiegten Stromfluss zu lecken.
Vom Berghang rollten verlorene Echos, krochen durch Röhren unserer Fernseher, die niemand mehr reparierte.
Abgehängt hinterliessen auch wir nur die hellen Flecken auf der Tapete.
WIR WURDEN ZU STAUB, AUS DEM WIR UNS MACHTEN
Im Herbst kam den Feldern das Suppenkraut hoch.
Mit schiefem Kreuz humpelten Alte zur Kirche.
Der Mief holte sich noch einmal Luft von entlaufenen Kindern.
Wir aber waren schon abgefahren mit unseren Zweitaktern und holten die Auferstandenen unmöglich ein.
(Die wiedergegebenen Gedichte sind aus «Die Lost Places zucken noch», edition offenes feld. Dortmund 2023.)
Walter Fabian Schmid, geboren 1983 in Regen, ist Schweizer und Deutscher und lebt im Kanton Bern. Er studierte Diplom-Germanistik in Bamberg, arbeitete als Redaktor, Literaturvermittler und Texter. Er erhielt den Calwer-Hermann-Hesse-Preis 2010 als Mitredaktor der Literaturzeitschrift poet, war nominiert für den Leonce-und-Lena-Preis 2011 und 2015 sowie den open mike 2014 und den Dresdner Lyrikpreis 2020. Gemeinsam mit Tristan Marquardt gründete er die Lesereihe «meine drei lyrischen ichs».
1050 Seiten sattes Leben voller Verzweiflung und voller Hoffnungen: Karl Ove Knausgård schickt uns in ein sympathisch-chaotisches Universum und switcht dabei zwischen dem Südnorwegen der mittleren 1980er-Jahre und dem heutigen Russland – ein Stern am Himmel inklusive.
Er erwacht, als die Lautsprecherstimme den Landeanflug ankündigt. Ein wenig enttäuscht ist er von sich, dass er eingeschlafen ist, statt den Flug zu genießen, den Blick auf die russische Landschaft, auf langgestreckte Wälder und sich schlängelnde Flüsse, vielleicht zwischendurch eine kleine Stadt, die auftauchen und dann wieder verschwinden würde. Syvert heißt unser Held, mit Nachnamen Løyning; verheiratet, die Kinder sind groß und also aus dem Haus, sein Bestattungsunternehmen läuft gut, sehr gut sogar, und nun ist er unterwegs zu seiner Schwester, die er noch nie gesehen hat. Er hat sich in Moskau in einem Hotel einquartiert, dass sich nicht weit vom Bolschoi Theater und vom Roten Platz entfernt befindet, das also recht zentral liegt. Er meldet sich via Facetime bei seiner Frau, gut angekommen sei er, vielleicht sollten sie sich ein Segelboot kaufen, wäre das nicht eine gute Idee? Er isst noch im Flughafen einen Hamburger, dazu Pommes und eine Cola. Dann lässt er sich zum Hotel fahren, checkt ein, schreibt seiner Schwester eine Nachricht, er sei jetzt in der Stadt, er freue ich auf das morgige Treffen, ein Zeichen soll es sein, mehr ist es nicht. Er nennt sie „little sister“. Wir sind auf Seite 924 angekommen, wir sind gespannt, was nun passieren wird.
In Südnorwegen beginnt alles zuvor, im Jahr 1986, in einer kleinen, vordergründig gesichtslosen Stadt an der Küste kommen wir hinzu, wo Syvert aufgewachsen ist: einerseits ist das lange her, in einer irgendwie anderen Zeit. Und andererseits ist alles wieder da, kaum hat er seine Tasche abgestellt, ist alles so wie neulich, weil sich in solchen Nestern mit Tankstelle und Videothek und der Schnellstraße und dem Fußballverein (Karl Ove Knausgård ist Fußballfan), wo er sofort wieder seinen Platz zugewiesen bekommt, dann doch wenig ändert, so wie auch die Kumpels von damals sich sofort umhören, wo er einen Job finden könnte, übergangsweise, bis er eine Idee hat, wie es weitergehen könnte mit seinem Leben (er hat keine Idee, gar keine), na ja, und da bietet sich der Job beim hiesigen Bestatter an, der immer Hilfe gebrauchen kann; besser als nichts, und im örtlichen Werk, wo sonst alle unterkommen ist gerade nichts frei, und seiner Mutter will er nicht länger auf der Tasche liegen, wie man so sagt, auch weil auf seine Mutter etwas zurollt, das sie zu verschlingen droht und sie hat doch schon ihr ganzes Leben so hart geackert, da will er sie unterstützen.
Syvert ist 19 Jahre alt, hat gerade seinen Militärdienst absolviert, als Koch bei der Marine. Kochen also kann er, als er zurückkehrt in sein Elternhaus, dass genaugenommen sein Mutterhaus ist, denn sein Vater ist seit einigen Jahren tot, bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, nur noch schwach kann er sich an ihn erinnern, was sich ändern wird. Weil er nun nach und nach manches erfährt, dass er nicht wusste und was seinen Blick auf die Welt und besonders auf seine Eltern neu ausrichten wird, ob er das will oder nicht (er will es nicht, aber das Leben fragt ihn nicht, sondern es geht seinen Weg und nimmt ihn entsprechend an die Hand, falls er stolpert, und das tut er).
Er muss sich nur irgendwas halbwegs Überzeugendes ausdenken, was er Lisa sagt, was er jetzt arbeitet, übergangweise; Bestatter-Gehilfe klingt und wirkt da vielleicht nicht ganz so gut, wenn er mit ihr ausgehen will, dabei hat sie ihm klipp und klar gesagt, dass er absolut nicht ihr Typ ist und er sich keinerlei Hoffnung machen soll, aber so wie sie ist, wenn sie sich treffen, kann das eigentlich nicht sein.
Karl Ove Knausgård „Die Wölfe aus dem Wald der Ewigkeit“, aus dem Norwegischen von Paul Berf, Luchterhand, 2023, 1056 Seiten, CHF ca. 39.00, ISBN 978-3-630-87635-1
Ach ja: Karl Ove Knausgård, das ist der norwegische Romancier, dessen autofiktionales Werk „Min Kamp“, auf Deutsch zu übersetzen mit „Mein Kampf“, die Literaturgemeinde so tief spaltete: Sechs je kiloschwere Bände erschienen zwischen 2009 und 2011: „Sterben“, „Lieben“, Spielen“, „Leben“, „Träumen“ und dann „Kämpfen“, in denen er jeweils sein eigenes (Er)Leben zum Ausgangspunkt und noch mehr zum Fundus seiner Romane machte. Für die einen war das nicht mehr als manische und eitle Selbstbespiegelung von begrenztem Wert, für andere dagegen belebte er die Grundtechnik des Erzählens neu, gab er dem bis heute anhaltenden Siegeszug des autofiktionalen Erzählens den Grundimpuls. Nun hat sich Knausgård nach einer Art Zwischenschritt (einer Tetralogie von romanähnlichen Büchern, benannt nach den Jahreszeiten) dem rein fiktionalen Erzählen zugewandt und eine neue Reihe mit ebenfalls sechs Bänden angekündigt: der vorliegende ist nach „Der Morgenstern“ der zweite Band, so wie auch Syvert in Moskau einen Stern am Himmel sehen wird, der nicht weichen will und der die Millionenstadt in ein eigenes Licht tauchen wird.
Und dann ist damals noch etwas passiert, als wir Syvert als jungen Mann auf seinem Weg durch sein anfangs so zielloses Leben begleiten, in einem fernen, im mittleren Teil der Sowjetunion (mit dem Norwegen nordostwärts ein schmales Stück Grenze hat), in einem Krenkraftwerk in einem Ort bei Kiew mit Namen ‚Tschernobyl‘ und ist das nun beruhigend oder ist beunruhigend, was Syvert dazu im Radio hört, was die Experten sagen und was sind das zugleich für Briefe, die er beim Aufräumen in der Scheune bei den Sachen seines Vaters findet: Briefe auf Kyrillisch, Briefe offenbar von einer Frau, wer könnte die für ihn übersetzen und will er wirklich wissen, was dann da auf dem Papier vor ihm steht?
Und als wir wissen, was da zu lesen ist, so wie nun Syvert es weiß, eine Flasche Rotwein hat ihn dieses Wissen gekostet, verlassen wir ihn vorerst (keine Sorge: Wir treffen ihn wie schon erwähnt wieder, viele Jahre und eben einige Hundert Seiten später, die Sowjetunion gibt es entsprechend nicht mehr, und wir lernen Alevtina kennen, als desillusionierte Dozentin in der Post-Sowjetunion, doch Jahre vorher als aufgeweckte und vorwärtsstrebende Studentin, die zu Pilzen und ihren Verbindungen zu Bäumen forschte („Leben. Leben. Leben“, das sei der Sinn des Daseins, da ist sie sich sicher, als sie während einer Forschungs-Exkursion durch die einen nordkarelischen Wald taumelt und in Folge dieser Erkenntnis, wird sie sich bücken und einige der aus dem Boden ans Licht wachsenden Pilze essen), die nun gleichfalls in ihren Heimatort zurückkehren wird, um mit ihrem Vater dessen 80sten Geburtstag zu feiern, ein Geschenk hat sie nicht mit, dass muss sie noch besorgen (dringend!), am besten ein Buch (nur welches?), denn ihr Vater ist ein Büchermensch, ist es durch und durch, draußen liegt Schnee, es ist kalt, es ist richtig kalt, förmlich gefroren ist die Welt, und bei ihr ist es die Mutter, die schon lange tot ist, was nicht heißt, dass es auch zu ihr eine irgendwie magische Verbindung gibt, schwer zu erklären.
Ein ganz spezielles Verhältnis haben entsprechend Tochter und Vater, dieser ein einstiger Komponist, wie in diesem Roman alle auftretenden Personen zu ihren Mitmenschen ein spezielles Verhältnis haben, wie sie sich begegnen, wie sie miteinander leben, wie sie wieder auseinandergehen, zunächst oder vorübergehend oder endgültig.
Und das sind nur einige, wenige Handlungsfäden, die hier stellvertretend skizziert und ausgerollt werden sollen (man könnte auch andere nehmen, es sind genug da), denn kaum hat man angefangen zu lesen, die ersten 50, dann 100 Seiten, hat man einerseits die Übersicht über das sich vor einem ausbreitenden Geschehen verloren und es gleichzeitig absolut genau erfasst. Wie Knausgård so seinen Helden vertraut, wie er sie in die Welt schickt, wo sie sich verlieren, wo sie sich wiederfinden (und umgekehrt), suchen sie in beiden Fällen nach Orientierung – entlang der großen Fragen: Wer bestimmt mein Leben? Wovon hängen meine Entscheidungen ab? Weiß ich, was ich tue? Und wenn nicht, wer dann?
Und was ist mit dem Tod? Wie lässt er sich erklären – und wie lässt er sich überwinden? ‚Komismus‘ ist ein Stichwort, das zwei-, dreimal fällt, eine zunächst philosophische und damit gedankliche Richtung, entstanden und auf den Weg gebracht im Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die nichts Geringeres forderte (und fordert), als: Unsterblichkeit für alle! Dann in den praktischen Wissenschaften weitergeführt im sowjetischen Kommunismus, in der Biologie, der Physik, mal offiziell, mal im Verborgenen, je nach Stand der Kämpfe im innersowjetischen Machtgefüge. So dass dieser Roman in einer ganz eigenen Schwebe gehalten wird: Wir betreten die intime Alltagswelt unserer Helden, versuchen es uns dort wohnlich zu machen, was Seite für Seite immer besser gelingt – und zugleich wirkt und durchdringt all das ein so rätselhaftes wie magisches Denksystem, das verwirrt und angenehm verstört.
Wunderbar geschrieben (übrigens), dramaturgisch hervorragend komponiert (dito), von einer sprachlichen Wucht getragen, die seinesgleichen sucht – und so sollte man sich vom Umfang dieses Werkes (!) so gar nicht beeindrucken oder gar einschüchtern lassen: Wenn es auf das Ende zugeht, möchte man nicht, dass es endet, möchte man, dass es weitergeht, dass es immer weitergeht (dass auch die Geschichte(n) von Jewgenij und von Vasilisa weitererzählt werden und sich weitere Erzählfäden vernetzen) und welches Buch vermag das schon, einen in so einen nüchternen Rausch zu versetzen. Was ein Glück also, dass Karl Ove Knausgård weitere Bände angekündigt hat, die sicherlich je ganz andere Wege gehen, vielleicht begegnen wir den uns gerade liebgewonnen Helden wieder, vielleicht auch gerade nicht, wie auch immer, es wird ein Fest werden.
Karl Ove Knausgård wurde 1968 geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen, autobiographischen Projektes wurden weltweit zur Sensation. Sie sind in über 30 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. 2015 erhielt Karl Ove Knausgård den WELT-Literaturpreis, 2017 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur. Er lebt in London.
Paul Berf, geboren 1963 in Frechen bei Köln, lebt nach seinem Skandinavistikstudium als freier Übersetzer in Köln. Er übertrug u. a. Henning Mankell, Kjell Westö, Aris Fioretos und Selma Lagerlöf ins Deutsche. 2005 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Schwedischen Akademie ausgezeichnet.
Trafen sich ein Mann. Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihm Düren. Trafen sich in dieser hochbegabten Steppe aus kurz Geschorener Musik. Wie das klingt. Frag Ihmdoch. Ihm seine Augen, ich beginne immer mit den Augen, wirkten, aber waren braun und Zerstritten. Als hätte Ihm In einer verschärften Situation Die Brille zu lange auf – Behalten. (Siehst du.) Die enge Allee Durch den stahlblonden Heimat ist eine Verschorfte Situation. Da passen zwei März Ärzte Ohne Schwestern nebeneinander. Warum ausgerechnet Zwei. Das kann ich dir sofort sagen, weil du nur so, schon von Weitem mit Mitte rechnest. Heimat kannst du schon auswendig Lernen, sobald sie nur über Wörter verfügt, die Freiwillig bei dir bleiben. Draußen, aber nicht unbedingt, zerriss der Schnee. Ich wusste, dass du nur Gas lachst, die blasse Allee in einer Angenehmenen Stadt, von der links und Rechts Flammen ab – Gehen. Pass doch auf, wo du hin Trittst, Kleiner, das Schöne Feuer. Zuerst ist es ganz sacht und spielt mit dir Mutter, Vater, Mitte. Dann ist es ganz Mitte und spielt mit dir Mutter, Vater, Feuer. Ist die Asche schon fertig. Wie lange braucht Ihr denn noch. Einsblondundachtzig. Das müsste doch in Einem Land zu machen sein, auch wenn es Hier nicht ganz für die sieben Winden reicht, aber vier, Dürre, flache würden sich schon auf – Treiben lassen. Einer davon hat Strandgut geatmet, ein wenig Schaum, ein wenig Flaschen – Rost. Dieser wäre Ihm sicher der liebste. Ich habe das Land nicht im Reim erstickt. Dabei ersticke ich Es gar nicht so gern. Ihm hat es so gewollt. Trafen sich ein Mann. Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihm Düren. Trafen sich in dieser kurzbegabten Steppe aus hoch – Geschorener Musik.
II
Ihrisches Crescendo
Trafen sich eine Frau. Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihr Belwas. Trafen sich in dieser hochgesteppten Musik aus kurz – Geschorener Begabung. Ich habe das Land nicht Im Reim erstickt. Dabei ersticke ich es gar nicht so Gern. Ihm hat es so gewollt. Ihr hat es so Gewollt. Schaum, Elektrischer Süden rückt von den Rändern nach Innen, Lehn – Sucht bleibt unser Ledergewächs, das Lager Hinauf, frisch Gerissene Ängste ändern die Sätze Auf, was ist Schon eher zu Ende (sag an) als kaum zu Beginnen, Belwas. Ihr hatte ihr glänzendes Haar, ich beginne immer mit dem Haar, aus frischen Kastanien gezogen. Weiß lag noch Mehl Auf dem Nabel. Ihrs Monat war der Oktober, geflochten aus Segel – Bekleideten Stürmen und den Überresten der Stranddorn – Kolonnen. Ihrs Heirat war folgerichtig mit dem Tag zusammen – Gefallen, da sie sich entschlossen hatte, allein zu Lieben. Doch nun trug sie einmal den Ring. Und das War schon immer so. Ihr hatte darauf bestanden, Ihren Mann nicht weiter zu erwähnen. Ich hatte Ihrs Schmerzen längst begriffen und willigte ein, natürlich Auch, um ihr, als Figur weiter folgen zu dürfen, ihr, der von Vornherein nichts anderes übrigblieb, sie bis ins Feinste auszukosten, die Technik des Scheiterns, Belwas, wenn du das durch – Hältst, finde ich dich zum Kosten. Schmerz gegen Schmerz ergibt irgendwann weit hinten an der Küste Einen neutralen Aufprall. In Ihrs Fall war es anders, sie Konnte nicht schwimmen, und das machte sich Ihr zunutze. Nach drei Tagen wurde Ihr, an den Strand geworfen, gefunden. Weiß platzte Der Schaum auf dem Nabel. Trafen sich eine Frau. Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihr Belwas. Trafen sich in dieser hoch – Begabten Steppe aus kurz – Geschorener Musik. Frag Ihm doch. Frag Ihr doch.
III
Verwaschene Grafschaft
Traf sich eine Mann und ein Frau. Traf sich und hatte nur den Namen bei. Ihm Düren. Ihr Belwas. Der golfene Strom hatte seine flache Wärme ins Land Gespült und das Januarmittel aufgeheizt auf sieben Komma sieben Grad, so dass Sich selbst hier, in dieser Abgeraschelten, bröckeligen Gegend Palme Und Rhododendron als zarte Requisiten entfalten konnten, was sich als Äußerst günstig erwies, denn dieser subtropische Hauch hatte die Beiden Toten ein wenig grün betastet. Verwesung ist doch auch nichts Anderes als nachlassende Kondition. Ihm hatte ein aschfahles Gesicht. Ich Beginne immer mit Asche. Ihrs Körper hatte die ausgeschlafene Form fleisch – Farbenen Wassers. Ich beginne immer mit Wasser. Nur, dass sie nicht weinte, schien Ihren Körper noch zusammenzuhalten. Es ist natürlich einfach, zwei Verendete Körper leger in dieselbe Landschaft zu streuen. Ich hatte ziemlich Genau darauf geachtet, dass es sich dabei um eine Region Handelte, so wie die Grafschaft Galway, die ziemlich dünn besiedelt War, so dass ich einigermaßen sicher sein konnte, nicht in die Lage zu Geraten, ländliche Bauern und deren Hütten skizzieren zu müssen, sobald Es Ihm und Ihr darauf anlegten, auf etwas Lebendiges zuzuhalten. Obwohl Eine schon vor Jahren verlassene Lehmmauer doch auch etwas Hat. Dass sich Ihm und Ihr vorher noch nie gesehen hatten, blieb erstmal Ihre einzige Verwandtschaft. Doch was willst du mit zwei Menschen Anfangen, die frieren, Hunger haben, doch keine Hütte aus ungefähr gleich – Langem Holz. Hier ist ein Hochlandrind zum Umwickeln. Hier Sind die Beeren. Hier sind neun besonders eng stehende Bäume. Bevor ich die Beiden jedoch sich näherkommen Ließ in der geölten Mechanik der Küste, nahm ich von Schafen, nahm von den Schultern und Säften, das, was sich eignet zur Scham. Jetzt bist du dran, Düren. Darf ich Sie zu einem Fell Einladen. Darf ich Sie zu den Beeren einladen. Darf ich Sie zu den Neun besonders eng stehenden Bäumen einladen. Am Ende solcher Sätze, die auch immer in einen Dschungel von nicht – Gesagten Sätzen münden, die jedoch nie den gemeinsamen Kern preisgeben, am Ende solcher Sätze entzündete sich immer Beinahe das schmale Fest des Fleisches. Ein wenig zuckten Die Lenden auf, in ihrer deutlichen, ledernen Sprache. Jetzt bist du dran, Belwas. Ihr sagte zwar Nichts. Ihr berührte zart mit dem Ellenbogen Ihms Kinn.
IV
Tage ja Monatelahm
trug ständig das Meer die gleichen Klänge nach innen, vor Die Hütte aus ungefähr gleichlangem Holz. Die neun besonders eng stehenden Bäume hatten Ihm und Ihr mit Schlamm und Steinwerk höhergezogen, so dass keine Behaarten Sterne mehr dazwischenfahren konnten, nur die Geräusche Gestrandeter Seevögel hatten noch gute Aussichten eingelassen zu Werden. Düren hatte mit Feuer, das Feuer habe ich ihnen zukommen Lassen, falls es Fragen gibt, Düren hatte mit Feuer einen majestätischen Stamm Gehöhlt, den er in den frühen Stunden der kaum behinderten Sonne zum Fischen benutzte, bis das Netz, das Netz habe ich ihnen zukommen lassen, falls Es Fragen gibt, bis das Netz gefüllt war mit beweglichem Bronzebesteck. Belwas Hatte in Ihms Abwesenheit ihr glänzendes Haar zu weichen, fließenden Kastanien Geflochten, die langsam und feucht auf die Lenden zu – Strömten. Den ganzen Tag nur die braune See, der Regen roh und in Würfel Geschnitten. So hielt die Insel ihren genauen Unterricht ab. Düren, nach vorn, an die Tafel, an welche denn Sonst. Hat ein Wort wie Heimat, wenn es dich ständig in einer beengenden Situation betrifft, nicht auch außerhalb solcher Zustände seine Neutrale Geschlossenheit. Sind nicht die Worte selbst zu Einem Täuschungsobjekt einer nicht eingestandenen, einer Verhinderten Liebe geworden, runtergehandelt zu dem Preis, für etwas Anderes nur Schmiere zu stehen. Erst wenn die Scham zerrissen, Zuckend vor unseren Füßen liegt, krümmt sich die Sprache Zurück in ihren tierisch zarten Zustand, gehört so noch Enger an die Zähne. Die wesende Geburt des Herbstes, beige faulten Die Bäume ineinander über, hatte es längst bewiesen, selbst die Liebe war Nur eine Schlichtungsform der Neugier. Jetzt, nach überstandenen Monaten Der Ähnlichkeit, hielt ich es für angebracht, ihm und ihr eine gleich – Mäßige und bedächtige Zerstörung der Insel durch das Wasser vorzu – Schlagen. Ihms und Ihrs Reaktionen darauf waren diesem Traurigen Programm angemessen. Belwas löste ihre erstaunlichen Kastanien Zu einem allmählichen Wasser. Golf, Rhododendron und eine Schon vor Jahren verlassene Lehmmauer hatten sich in feinen Fasern verbunden. Auch wenn es hier nicht ganz Für die sieben Winde reicht. Aber vier dürre, flache Würden sich schon auftreiben lassen. Und es kam wie ein trockenes, hoch – Triftiges Gas, das in den feinen Fasern ein zittriges Sirren Erzeugte und beim Berühren das Wasser Verähnelte in eine starre, elektrische Weide. Tage ja monatelahm trug ständig das Meer die gleichen Klänge nach Hütte, vor die Holz aus ungefähr gleich – Langem Innen. Jetzt bist du dran, Ihm. Darf ich Sie zu den nass Gewordenen Beeren einladen. Darf ich sich zu den neun besonders eng Unter Wasser stehenden Bäumen einladen. Darf ich dich in das Fell Tun. Ein wenig zuckten die Lenden auf, in ihrer Deutlichen, ledernen Sprache. Sehgestöber, Sanddornperlen von der Schnur Gelassen, Schlamm und Steinwerk in weicher Veränderung, Geräusche aufgespülter Seevögel, nur, dass Sie nicht weinte, schien Ihrs Körper noch zusammenzu – Halten. Es gelang ihr nicht mehr, ihm zu zeigen, wie sehr Sich über ihnen die See schloss. Das gefiel ihm an Ihr. Und ihr machte es Spaß, Ihm nicht zeigen zu Müssen, wie sehr sich über ihnen die See schloss. (Dürwas)
(Veröffentlicht in «Die Verteilung des Lächelns bei Gegenwehr» (Gedichte und Texte 1986-1988, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig))
Thomas Kunst „Zandschower Klinken“, Suhrkamp, 254 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-518-42992-1
Thomas Kunst wurde am 09.06.1965 in Stralsund geboren. Nach dem Abitur studierte Thomas Kunst zunächst 3 Monate Pädagogik in Leipzig und ist seit 1987 als Bibliotheksassistent der Deutschen Nationalbibliothek tätig. Er schreibt Gedichte und Romane. Kunst debütierte 1991 bei Reclam Leipzig mit dem Buch »Besorg noch für das Segel die Chaussee. Gedichte und eine Erzählung«. Bislang sind 20 Einzeltiteln veröffentlicht worden. 2021 war er mit seinem Roman «Zandschofer Klinken» auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. 2023 überreichte man ihm den Kleist-Preis. 2024 wir bei Suhrkamp sein neuer Gedichtband «Wü» erscheinen.
Die Schauspieler Dagny Goulami und Klaus Henner Russius bringen ihn an dem Abend im Literaturhaus Thurgau zusammen mit dem Herausgeber und Übersetzer Florian Vetsch zum Leuchten.
Die Entstehungsgeschichte von The Garden, dem einzigen Theaterstück des US-amerikanischen Schriftstellers Paul Bowles (1910–1999), ist in der Tat bemerkenswert:
Im Herbst 1966 war Bowles in Bangkok angekommen, um ein Buch über Thailand zu schreiben. Da der gesundheitliche Zustand seiner Frau, der Autorin Jane Bowles (1917–1973), instabil war, hatten die beiden beschlossen, dass sie während Pauls Aufenthalt in Asien bei ihrer Mutter in Florida leben würde. Doch Jane bekam bald den Rappel und beschloss bereits im August, nach Tanger zurückzureisen, wo sie seit 1948, Paul seit 1947 lebte. Dort angekommen, bereute sie ihren Entschluss bitter; eine Welt brach über ihr zusammen, Ängste bedrängten sie, fixe Ideen, Mutlosigkeit, Schreibblockaden, Sehschwierigkeiten, Lähmungen – immer wieder aus dem Ruder laufender Alkoholkonsum und unkontrollierte Medikamentencocktails verschlimmerten ihre Lage nur. Mit ihrer verfrühten Rückreise hatte sich die kranke Schriftstellerin „in eben die Lage gebracht, die wir so dringend hatten vermeiden wollen“, schrieb Paul Bowles in seiner Autobiografie Without Stopping (1972). Er machte sich grosse Sorgen um Jane, mit deren Ärztin Dr. Roux er im Austausch war, und beschloss, seinen Thailandaufenthalt, der auf ein Jahr geplant gewesen war, frühzeitig abzubrechen und nach Tanger zurückzukehren. Dass Bowles die Reise nach Tanger per Schiff antreten und kein Flugzeug nehmen sollte, war für seine Art zu reisen bezeichnend.
In dieser Situation erreicht ihn in Chiang Mai Joseph McPhillips‘ Brief mit der Idee, die Short Story The Garden in Tanger auf die Bühne zu bringen. Obschon er anfangs die Idee verwirft, reizt ihn die Vorstellung, und er beginnt das Stück Szene für Szene zu schreiben und es McPhillips in Tranchen zu schicken.
Die Entstehung des Stücks widerspiegelt eine verloren gegangene interkontinentale Brief- und Telegrammkultur, eine andere prädigitale Zeitlichkeit, in der Bowles nichtsdestotrotz alle Szenen rechtzeitig liefert. Doch noch durch seine Aerogramme hindurch ist die Ansteckungskraft von McPhillips zu spüren: Dessen Begeisterungsfähigkeit war der Motor des Ganzen.
Joseph McPhillips (1936–2007) hatte seit 1964 die Aufführungen der Theatergesellschaft der Amerikanischen Schule von Tanger geleitet; bis zu seinem Tod realisierte er für deren Bühne zahlreiche Stücke von der Antike bis zur Postmoderne. Dabei kombinierte er die Professionalität der hinzugezogenen Spitzenleute mit der Hingabe und dem Enthusiasmus der Studenten zu einer einmaligen Symbiose. Dies entsprach der produktiven Auffassung des Princeton-Abgängers von einer elitären Theaterpädagogik, welche den intrinsischen Kräften der Jugend durch qualitativ hochstehende Bühnenbildner, Designer, Autoren, Komponisten etc. Flügel verleihen sollte.
Paul Bowles: «THE GARDEN» – Dokumentation über Entstehung und Uraufführung von Paul Bowles‘ einzigem Bühnenstück DER GARTEN, aus dem Amerikanischen übersetzt und herausgegeben von Florian Vetsch, gestaltet von Dario Benassa, Bilgerverlag, 2022, 184 Seiten, durchgehend farbig illustriert, CHF 56.00, ISBN 978-3-03762-094-6
Die Short Story The Garden spielt in einem kleinen Dorf am Rand einer Oase in der Sahara. Ein Mann arbeitet still und zufrieden in seinem der Wüste mittels Wassergräben abgerungenen Garten und bewundert oft bis nach Sonnenuntergang dessen Schönheit. Seine Frau vermutet, dass er einen Schatz in seinem Garten vergraben habe. Um ihn gesprächig zu machen, wendet sie sich an eine Hexe, die ihr ein schwarzmagisches Gift für ihren Gatten mitgibt. Die Frau verabreicht diesem aber eine Überdosis. Im Glauben, ihn getötet zu haben, verlässt die Frau das Dorf und flieht zu ihrer Familie. Doch das Gift hat den Mann lediglich in einen komatösen Zustand versetzt, aus dem er wieder erwacht; das Gift hat ihn aber das Gedächtnis gekostet. Als der Imam den wieder zu Kräften Gekommenen in seinem Garten besucht und ihn ermahnt, freitags in die Moschee zu kommen und Allah für seinen Garten zu danken, versteht der Mann nicht, worum es geht. Alsbald geht das Gerücht um, er habe seine Frau umgebracht, in Stücke zerlegt und in seinem Garten vergraben. Aus dieser Konstellation entwickelt sich für den ahnungslosen Mann eine tödliche Spirale…
Bowles‘ anfängliche Ablehnung von McPhillips’ Ansinnen zeigt sein vornehmes Understatement: Zwar nicht als Autor, aber auch nicht nur als Zuschauer im Publikum, sondern als Komponist von Bühnenmusik zu Stücken etwa von Tennessee Williams und Orson Welles, als jahrelanger Broadway-Kritiker sowie als Übersetzer von Bühnenstücken u.a. von Jean-Paul Sartre und Federico García Lorca war Bowles mit dem Theater in vielerlei Hinsicht mehr als vertraut. Diese Erfahrungen kamen ihm zugute, als er die Szenen für The Garden unterwegs, wie aus dem Ärmel geschüttelt, niederschrieb – anfangs noch ohne den Text der Short Story, die er 1963 geschrieben hatte, vor Augen zu haben.
1963 hatte Bowles den Sommer in einem schönen, von einem früheren Besitzer aus Bombay indisch eingerichteten Haus an der portugiesischen Ufermauer der Medina von Asilah verbracht – das rund 40 km südlich von Tanger gelegene Städtlein ist bis heute eine Perle am Atlantik. Das Haus liege, wie er am 17. April an William S. Burroughs schrieb, südlich von Raisulis Palast und sei, mit den Wellen, die sich unter den Fenstern auf dem Sand brächen, ein wundervoller Aufenthaltsort für den Sommer. Jane besuchte Paul 1963 in Asilah ab und an mit ihrer Begleiterin Cherifa. Damals sprühte sie noch vor Witz und brillierte mit einem blitzschnellen, messerscharfen Verstand. Doch als Paul Anfang März 1967 endlich in Tanger ankam, traf er seine Frau in einem verzweifelten, völlig zerrütteten Zustand an. Auf Dr. Roux‘ Anraten brachte er sie Mitte April nach Malaga, wo sie ins Sanatorium des Heiligen Herzens, eine psychiatrische Klinik für Frauen, eingewiesen wurde. Paul besuchte sie häufig; erst Ende Juli jedoch sollte es ihr wieder so gut gehen, dass sie nach Tanger zurückkehren konnte. So war Bowles während der letzten Proben und der Aufführung von The Garden allein im Inmueble Itesa, dem Apartmenthaus im Quartier Ain Hayani, wo die Bowleses seit 1960 auf zwei Stockwerken wohnten. Zweifellos war er froh um die Ablenkung, welche die Zusammenarbeit mit der tangerinen Künstlerclique und den Jugendlichen von der „Amschotan“ ihm in der Sorgenzeit bescherte!
Der Hauptprotagonist von The Garden ist, um einen Begriff von Helmut Salzinger einzubringen, kein „Gärtner im Dschungel“: Er lässt die Natur nicht einfach machen, sondern greift in deren Gang ein. Er trotzt der Wüste am Rand einer Oase Land ab, bewässert es durch das Ziehen von Gräben, macht es zu einem biodivers reichhaltigen, fruchtbaren Garten. Dabei betrachtet er diesen nicht primär als Nutzobjekt, sondern als Selbstzweck. Das ästhetische Erlebnis, das ihm der Garten jeden Abend bei Sonnenuntergang schenkt, wenn er die Schleusen öffnet und das Wasser durch die Seguias fliesst, die kontemplative Ruhe, die er tagsüber in ihm findet – dies alles ist ihm wichtiger als der Gewinn, den der Garten abwerfen könnte.
Da der Mann das Ästhetische über das Ökonomische stellt, mag die Parabel The Garden dem einen oder anderen Leser das Scheitern des Künstlers oder des ästhetischen Menschen überhaupt in der Gesellschaft vorführen. In einem weiteren Ansatz deckt die Geschichte die nihilistische Wirkung des islamistischen Fundamentalismus schonungslos auf.
Paul Bowles‘ Geschichte The Garden ist auf jeden Fall ein Denkkristall.
Längst behandeln wir von der schreibenden Zunft Franz Kafka, seine Familienkonflikte, seine Autoritätskämpfe, seine Hochzeitsvorbereitungen, seine Diäten und seine Sorgen wie eine Heiligengeschichte, an der es nichts mehr zu zweifeln und hinterfragen gibt und die, mit welchen Anpassungen auch immer, zum Vorbild für unsere eigene Schriftstellervita geworden ist. Kafka ist unser schillernder Gott in Menschengestalt und damit jemand, den er selber in einem seiner Romane, zum Beispiel im «Prozess», hätte erfinden können.
Matthias Nawrat stellte sich für ein Gruppenfoto neben mich. Bist du wirklich so gross?, fragte ich erstaunt. Alle lachten über meine Frage, was hätte er denn sagen sollen? Er entgegnete, dass ihm seine Grösse unangenehm sei. Ich konterte und sagte zu meiner eigenen Überraschung, dass er mich an einen Scheinriesen, an Herrn Tur Tur aus „Jim Knopf“ erinnere und mir dieser Riese immer sehr sympathisch gewesen sei. – Tags darauf grub ich das Kinderbuch im Keller wieder aus und las es noch einmal durch. Erst da fiel mir der Grund auf, warum mir, nach über sechzig Jahren, das Kinderbuch noch immer in Erinnerung geblieben ist. Wegen Jim Knopf, der damals einer der ganz wenigen farbigen Helden in Kinderlektüren war. Und deswegen muss er ja auch auf die Suche nach seiner Herkunft gehen.
Versailles: die noch immer faszinierende Pracht der Gartenanlagen, jetzt von einem barocken Disneylandsound unterlegt, kontrastierte schon damals auf groteske Weise mit der Figur des Sonnenkönigs, der sich kaum mehr ernähren konnte. Einen Bandwurm im Magen, riss ihm der Leibarzt sämtliche Zähne aus und den halben Kiefer weg, sodass er seine Nahrung nur noch als Brei zu sich nehmen konnte. Während der Adel liebessüchtig durch die Bosquets flanierte, furzte und kotzte der König ununterbrochen, weil er an Blähungen und Durchfall litt. Gesundheit ist immer ein Derivat der Macht, der Macht über sich selber. Die Defizienzen des Königs konterkarierten jedoch die pompösen Anlagen, die den Horizont mit dem Himmel vermählten. Was erzählt uns besser von der Hohlheit des Pompösen, als dieser von seinen Leibärzten zugrunde gerichtete Popanz: an ihm war nur seine Position wichtig. Die physischen Bedingungen dieser Position musste cachiert werden, so wie Jahrhunderte später Mitterand trotz seines starken Krebsleidens als Präsident nur regieren konnte, indem er sein Krebsleiden verbarg. Während die Gärtner wie Le Notre die Natur mittels oktogonalem Teich, Bosquets, sternförmig angelegten Wegen und Statuen zum schönen Erlebnis machten, frass die erste Natur sich durch den maroden Leib des Despoten und höhlte ihn aus. Er muss gestunken haben wie der Sumpf, der Versailles ursprünglich war, bevor es für den schönen Schein trockengelegt wurde.
Paris, Café de Flore: ein leerer Ort, wo man sich nicht mehr «trifft». So wie die Öffentlichkeit im Internet die reale «Öffentlichkeit» diffundiert hat, so gibt es auch immer weniger Orte, wo «man» sich trifft, wo also die verschiedenen Schichten, Charaktere und Segmente gesellschaftlichen Lebens zusammenkommen. Der Kellner, der, das Tablett mit zwei vollen Gläsern, einer Karaffe und einem Tellerchen in der freien Hand, den Tisch säubert, verrichtet seine Kunst heute vor amerikanischen Touristen und saudiarabischen Emporkömmlingen, die wenig von der Schwerkraft französischen Porzellans wissen.
Sizilien, Bagheria: Kaum ein anderer hat den Wahnsinn einer aus den Fugen geratenen Barock-Welt besser dargestellt als der Fürst von Pallagonia mit seinen irren Figuren. Zur Bestätigung meiner überwältigenden Eindrücke lese ich Goethes Italienisches Tagebuch. Goethe musste den Wahnsinn abwehren, in sich zähmen, er musste sich gegen das Kranke zur Wehr setzen, deshalb lästert er über den Stil des Fürsten von Bagheria.
Im Übrigen empfinde ich sein Reisebuch als Wohltat. Die Lektüre zwingt mich, langsamer werden. Goethe notiert nicht nur, was ihm begegnet, er will immer auch herausfinden, wie etwas zustande kommt und funktioniert und das macht seinen Reisebericht spannend.
In Bagheria bin ich plötzlich nicht mehr sicher, ob ich nicht schon einmal da gewesen bin. Könnte es sei, dass ich die Stellen im «Guaynaknoten» (1995) nur aus der Fantasie geschrieben habe? Oder war ich da und das Geschriebene hat sich an die Stelle des Erlebten gesetzt? Unabweisbar ist, dass es mir immer weniger gelingt, Geschriebenes und Erlebtes auseinander zu halten. Für meine Umgebung ist das ein Ärgernis, für mich ein Glück.
Was unterscheidet selber gemachte Fotos, zum Beispiel das Ablichten einer Sehenswürdigkeit, von den Fotos, die für Reiseführer oder für Postkarten gemacht wurden? Ich glaube, es ist die Versicherung, gegen jedes Vergessen einmal selber an diesem Ort gewesen zu sein, diesen Ort mit eigenen Augen gesehen zu haben. Auch wenn sich weder die «Schönheit» noch das damalige Verzaubertsein von diesem Ort in das Bild, das einem Jahre später wieder in die Hand fällt, retten liess, so wird vielleicht doch ein Spurenelement der Sehnsucht wieder wach, das einen damals überhaupt zum Schiessen der Foto veranlasst hat.
Das Grab von Chateaubriand befindet sich einige hundert Meter vor St. Malo auf der Ile de Grand Bré. Ein klobiges Kreuz, eingefasst von Quadersteinen. Zu lesen ist: «Un grand écrivain français a voulu reposer ici pour n’y entendre que le vent et la mer. Passant respecte sa dernière volonté». Darüber hinaus trägt das Grab keine Inschrift, auch keinen Namen.
Es ist eine bemerkenswerte Geste eines Schriftstellers, seinen Namen zu verschweigen, wo andere Stiftungen gründen und auch sonst keine Mühe scheuen, ihren lächerlichen Ruhm in die Ewigkeit zu transportieren, andere ihren Namen posthum durch Agenten oder Familienangehörige verbreitet sehen wollen. Keiner von ihnen nimmt den Tod so ernst wie Chateaubriand, der für mich dadurch eine besondere Würde gewinnt.
Zum Fest des runden Geburtstags hat die Schriftstellerkoryphäe seine Freunde ausgewechselt. Sein Ruhm, durch ein wachsendes Alter vermehrt, soll jetzt auf den Nachwuchs und die Betriebslieblinge strahlen, auf dass er sich bei ihnen am besten vermehre. Schliesslich ist er der letzte seiner Generation und seine Worte verwandeln diejenigen, die jetzt mit ihm am Tisch sitzen dürfen, automatisch in Jünger. Unter denen, die ihn feiern sollen, sitzen einige der Jüngsten auf der Bühne, die ihn kaum kennen und deren Namen auch er bisher nicht kannte. Nun feiern sie ihn, ohne seine Werke gelesen zu haben: sie feiern eine Filiation. Die Jungen stimmen Elogen auf ihn an und sonnen sich in seinem Glanz, derweil die alten Freunde, am Katzentisch versammelt, stumm das Glas an die Lippen führen.
Ich treffe einen zehn Jahre älteren Kollegen, der mir von einem Schriftstellertreffen in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts erzählt. Als er damals vor versammelter Runde von seinem Kritiker-Erfolg berichtete, sein neuestes Buch war gerade im «Spiegel» besprochen worden, habe ihn ein Kollege umgehend zum Boxkampf herausgefordert. Er aber habe abgelehnt. Da sei der Kollege, wohl aus Verdruss, wie wild um ihn herumgetänzelt und habe ihm, da er den Kampf nicht habe annehmen wollen, die Lippe blutig geschlagen. Bei einer anderen Gelegenheit, einem Suhrkamp Empfang, sei Max Frisch hereingeschneit. Er habe sich kurz zu ihm gesetzt, habe fünf Minuten Small Talk gemacht, danach sei er aufgestanden und habe, sich von allen verabschiedend, jedem ein Zündholzschächtelchen in die Hand gedrückt, auf dem der Name Max Frisch gestanden habe.
Die dritte Erzählung dreht sich um Dürrenmatt, dem er an einer Tagung gegenübergesessen sei. Dürrenmatt aber habe gar nicht mit ihm reden wollen, sondern sei einzig auf einige Frauen konzentriert gewesen, die ihn umsorgten. Am nächsten Morgen sei er mit Dürrenmatt am Frühstückstisch gesessen. Noch immer habe Dürrenmatt nichts von ihm wissen wollen und habe ihn die ganze Zeit mit «lieber Herr Laederach» angeredet. Zuhause habe er dann alle Bücher von Dürrenmatt aus dem Regal genommen und in die Abfalltonne geschmissen.
Wilhelm Genazino ist einer, der in seinen Aufzeichnungen («Der Traum des Beobachters») immer wieder über die Genese von Erfolg, den Staus von Ruhm und das Prekäre der Schriftstellerexistenz nachdenkt. Ist er mir darin nicht ein Vorbild? – Gerade dazu taugt Genazino nicht, nicht einmal posthum. Denn seine Sache war nie die Idolisierung, sondern die kluge Hinterfragung solcher Mechanismen, die letztlich alle literaturfeindlich sind. Literatur ist ein Infragestellen, ist Hinwendung und nicht Anbetung. So kann er mir kein «Vorbild» sein; aber darf ich mich denn getrauen, ihn einen «Gefährten» zu nennen?
Über einen Lyriker, mit dem ich seit der Schulzeit befreundet bin, würde ich Folgendes sagen: er ist konsequent ins Freie geschritten und unter Himmeln und in Wäldern verloren gegangen. Er hat alle Leiderfahrung in Sprache gegossen. (Dabei staune ich, dass man so auf der Kante leben kann.)
F., ein Student der Biologie, so wird in der Runde erzählt, brachte die Frauen, mit denen er schlief, jeweils mit einem einzigen Satz zum Orgasmus. Niemand kannte den Satz, nur die Frauen, aber die schwiegen. Als er den Satz auf einen Zettel schrieb und den Frauen mitgab, wollte keine Frau mehr mit ihm schlafen. Schliesslich wurde seine Schrift unleserlich und der Satz verlor seine Wirkung.
Der Selbstbehauptungskampf von Autoren und Autorinnen übertrifft oft das gewohnte Mass, weil er immer existenziell ist. In Laufe meines Lebens bin ich vielerlei Arten begegnet, mit der Verzweiflung fertig zu werden. Da war der Grosschriftsteller im Exil, dessen Familie mich umarmte, als ich mich bewundernd zeigte, aber darauf wartete, dass sich meine Bewunderung auch auszahlte. Da war der Alkoholiker in Berlin, der immer zynischer und bösartiger wurde, je mehr er trank- und seine Konkurrenten regelrecht rhetorisch kleinhackte. Da war einer, der hatte seinen Kragen hochgeschlagen und mimte den Unnahbaren; man musste sich zuerst mit seiner Entourage anfreunden, um mit ihm bekannt zu werden. Da war der Umgängliche, der sofort alles verstand, der Mistergesundermenschenverstand, der aber gegenüber den anderen Darstellungsgiganten als der grösste gelten wollte. Und da war zuletzt noch der eidgenössische Bescheidenheitsapostel, der zum Lobgesang auf seine Bescheidenheit einlud. Irgendwo in diesem Reigen bin auch ich verortet. –Warum aber mimen wir Schreibende sosehr die Politiker, die Mächtigen und Dummen dieser Welt? Weil wir uns nicht eingestehen können, zu den Machtlosen zu gehören?
Nachdem ich meinen Roman, nach vier Jahren Arbeit, beendet hatte, verweilte ich, wie eine vergessene Zimmerpflanze, noch immer in der kreativen Zone und formulierte weiter Phantomsätze. Eine Maschine, die weiterläuft, obwohl sie keinen Auftrag mehr hat. Mit Schrecken stellte ich fest, dass das Buch Wochen, Monate und Jahre meines Lebens verschlungen, meinen Alltag geknebelt und meine Neugier manipuliert hatte. Was zurückblieb, in Form eines Buches, war die harte Substanz gekelterten Lebens, haltbar bis auf Weiteres.
Ohne zu ahnen, wie tief ich in die Vermischungen eindringen würde, besuchte ich das Wohn- und Schreibhaus des ehemaligen Senegalesischen Präsidenten Leopold Sédar Senghor in Dakar. Ein Guide führte mich in die privaten Gemächer, die mit Möbel aus den siebziger Jahren ausgestattet waren, schwarze Holztischchen, Marmorböden, eine mit senfgelbem Stoff überzogene Polstergruppe, die mit der afrikanischen Malerei an den Wänden überraschend gut harmonierte. Keinesfalls prunkvoll oder einschüchternd, sondern nüchtern und stilvoll präsentierte sich hier die Macht und das Schlafzimmer des Präsidenten war eine überraschende Verschmelzung von afrikanischen Accessoires mit dem Bauhausstil.
Der Guide, der als Leibwächter des Präsidenten sowohl für dessen leibliche Sicherheit wie für sein seelisches Wohl zuständig gewesen sein muss, führte uns, während er die tragische Geschichte des verunglückten Präsidentensohnes erzählte, ins Schreibzimmer, ins Zentrum der Macht: vor dem hufeisenförmigen hölzernen Schreibtisch des Präsidenten, der zugleich ein Schriftsteller war, standen Bücher und lagen Stösse von Zeitschriften, und an der gegenüberliegenden ockerroten Wand, unweit einer imposanten Holzmaske und im Blick des Schreibenden, entdeckte ich die Werke von Georg Trakl und Rainer Maria Rilke, die beide auch zu meinen Lieblingsautoren zählen.
Durch das Fenster, in dem sich ein Teil der Bibliothek spiegelte, sah ich draussen die senegalesischen Orangenverkäufer barfuss die staubige Strasse auf und ab gehen und nach Käufern Ausschau halten. Am Schreibtisch, stellte ich mir vor, studierte der Präsident die Gedichte Trakls und Rilkes in der Originalsprache und liess wohl den einen oder anderen Gedanken in seine Theorie der Négritude einfliessen. Dann sah ich den Präsidenten zur Feder greifen und jene Rede verfassen, die er auf Einladung des österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky 1977 zur Eröffnung der Salzburger Festspiele halten würde: Österreich als Ausdruck der Weltkultur.
Rezension
Martin R. Dean wurde 1955 in Menziken, Aargau, als Sohn eines aus Trinidad stammenden Vaters und einer Schweizer Mutter geboren, studierte Germanistik, Ethnologie und Philosophie an der Universität Basel, unterrichtete an der Schule für Gestaltung in Basel und am Gymnasium in Muttenz. Dean ist vielfach ausgezeichneter Buchautor. Zu seinen jüngsten Werken gehören «Warum wir zusammen sind» (2019), «Verbeugung vor Spiegeln – über das Eigene und das Fremde» (2015) und «Falsches Quartett» (2014). Martin R. Dean lebt mit seiner Familie in Basel.
Wer sich in die Literatur Gertrud Leuteneggers begibt, tritt zugleich in eine Welt, in der Gegenstände, Zustände und Zeiten durchlässig werden, wo man wach zu träumen scheint, wo Blicke und Gefühle mit sanfter, aber sicherer Hand in immer andere Richtungen gelenkt werden; kleine Verschiebungen sind es bloss, Bilder und Szenen verändern sich kaleidoskopisch, ihre Zusammenhänge erschliessen sich jedoch mühelos – um gleich darauf eine neue Bedeutung anzunehmen. Ein Stil, so atmosphärisch wie beschwörend, verfasst in einem präzisen und besonnenen Ton. Er ist einzigartig in der deutschsprachigen Literatur, und ja, man muss sich einlassen auf das Luzide, auf das Fremde und Ferne. Über das Fremde in Leuteneggers Werk schrieb Ruth Schweikert vor über fünfundzwanzig Jahren in einem Essay mit dem Titel «Verlorene Pläne einer Weltordnung»: «Eine Ich-Erzählerin geht, wohin sie auch geht, in die Fremde. In ein Dorf der französischen Schweiz, mit dem Wunsch, in die dort «bestehenden Verhältnisse vollkommen sich einzugliedern», nach Japan, an den äussersten Rand des Horizonts, wo die Welt buchstäblich zu existieren aufhört, an die Grenze zum Tod[…].» Es ist ein Fortgehen, ein Sich-Fortbewegen bis in die Randgebiete, um sich und die eigene Herkunft erst zu begreifen. Das Risiko, nicht wieder zurückzufinden, das Risiko der Entfremdung schwingt fortwährend mit. Es ist eingepreist in ihre Kunst und dies alles zeichnet Gertrud Leuteneggers Werk aus.
«Eben bin ich aus dem Schlaf aufgeschreckt, weil das Gewicht eines Kopfs auf meine Schulter fiel.» Mit diesem Satz beginnt das Buch «Acheron» von 1994. Eine Frau reist durch Japan, von der Hauptstadt aus meerwärts, dem Pazifik zu, wo sie eine Fähre besteigt, um auf eine kleine Vulkaninsel zu gelangen. Sie ist auf der Suche nach Tenko. Tenko ist eine fliegende Händlerin, eine Streunerin, eine Getriebene und Suchende, eine ganz und gar zauberhafte Gestalt, deren schlafender Kopf in der Metro der ebenfalls schlafenden Erzählerin auf die Schultern sinkt. Tenko verkauft Muscheln an Reisende, sie ist unterwegs, den unsichtbaren Linien entlang, in ihren festen schwarzen Schuhen. Unmittelbar nach der ersten Begegnung knüpft sich zwischen der Erzählerin und Tenko ein Band der gegenseitigen Faszination und Anziehung: «Tenko aber hatte ihre Spuren bereits mit den meinigen vermischt», so beginnt ihre gemeinsame Geschichte. Die beiden streichen eine Zeit lang zärtlich verbunden durch Tokyo. Die Erzählerin wird die Spur Tenkos verlieren, sie wiederfinden und ihr folgen bis auf Tenkos Heimatinsel. Zwischen ihre Erlebnisse in Japan schieben sich die Erinnerungen an ihren ehemaligen und viel älteren Geliebten, den sie nur «Signor» nennt. Eine unerbittliche Liebe, die ins Unglück führt, vor dem Hintergrund eines Bergdorfes, am Rande einer Schlucht: «Der Signor war ein Abgrund, der jede frühere Leidenschaft verschlang, alle diese glühend zerstäubten Sterne und Planeten, und am Ende seiner Existenz von ihnen erhitzt, leuchtete er noch einmal hell auf. Doch ahnten wir das kalte expandierende Universum dahinter? Ich fühlte den Schatten der Liebe wachsen, als wäre diese bereits entflohen, und ich vergrub mich in diesen Schatten, krallte mich in seinen Flügeln fest, kämpfte bis zum Morgengrauen, ich lasse dich nicht!» Die Erzählerin entscheidet sich am Ende für die Gegenwart und gegen eine schmerzliche Erinnerung. Entscheidet sich für Tenko, was auf Deutsch soviel wie Wendung bedeutet, Umkehrung, Bekehrung oder Konversion, und damit entscheidet sie sich für ihre Befreiung. Auf der Fähre hinüber zur Vulkaninsel, wo Tenko ihre Kindheitssommer verbrachte, beobachtet die Erzählerin den ganz in weiss gekleideten Kapitän. Irgendwann verschwindet er von der Bildfläche und sie vermutet, er müsse ins Weiss einer Kabine eingegangen sein: «[…]nicht mehr unterscheidbar von den hellen Wänden; selbst wenn seine Hände, auch diese weiss behandschuht, einmal durch die Luft fahren sollten, wäre es nur wie das Auffliegen einer weissen Taube im Raum». «Acheron» ist nichts für Orientierungssuchende, in diesem Text sollen wir uns vielmehr verlieren, uns treiben lassen, wir sollen seine Farbe annehmen und mit ihm zerfliessen: Das Glück der Auflösung spüren.
Ruth Schweikert schrieb in einer Literatur-Serie in der «Wochenzeitung», die im Zusammenhang der Solothurner Literaturtage von 1997 erschien, über Gertrud Leutenegger. Ruths genaue Gedanken, die sie sich damals über das literarische Schaffen ihrer Kollegin machte, werden in diese Laudatio hineinfliessen. Das Flüssige hier aufzugreifen scheint mir folgerichtig. Ruth Schweikert bemerkt in ihrem Essay: «Eine gern verwendete Metapher, den Zustand des Lesens zu beschreiben, drängt sich für diese Autorin – Gertrud Leutenegger – geradezu auf: eintauchen in einen Strom, der fast richtungslos noch in «Vorabend», stärker auf eine Geschichte eingegrenzt später, offenbar vor den Augen der hellwachen Ich-Erzählerin vorbeifliesst und dabei Sedimente abendländischer Kultur, deren alte und neue Mythen, begleitet von den Bildern einer katholischen Kindheit der Innerschweiz der fünfziger Jahre, Erinnerungen an den stets fernen Geliebten (mag er auch neben ihr sitzen) an die Ufer des erzählenden Bewusstseins schwemmt. Dieser Strom ist natürlich nicht nur ein willkommenes Bild für die tieferliegenden Textstrukturen; Wasser, Flüsse, Seen, Überfahrten, das Meer, die Angstvorstellung und/oder Beschwörung einer neuen Sintflut tauchen in allen mir bekannten Texten auch an deren Oberfläche auf.» Die Geschichte von Loredana, einer jungen Sexarbeiterin, die mit einer Freundin an einer grossen Ausfahrtsstrasse Roms wohnt, der Via Prenestina, und deren Unterkunft von zwei Männern mitten in der Nacht in Brand gesetzt wird, erscheint im November 1985 in einer Schweizer Tageszeitung. In «Roma, Pompa, Loredana» streift die Erzählerin durch das frühlingserwachte Rom, alle Poren sind geöffnet, und Sinnlichkeit strömt durch diese Zeilen und Sätze: Der Duft der Orangenblüten, die scharfen Kontraste der Palmen auf den Dachterrassen vor dem rötlich gefärbten Abendhimmel, die kühlen Schatten in den langen schmalen Strassenzügen. Aus diesen Strassen lässt die Erzählerin Loredana treten. Sie imaginiert sich in das Leben der jungen Frau: «Vielleicht hat Loredana einmal, rasch im Vorbeifahren, das Kolosseum mit einem Blick gestreift, eine Art Wut unterdrückend, wie kann man eine Ruine restaurieren, während draussen, in den Baracken, alles mangelt? Über den Innenraum des Kolosseums werden keine Seile und Segel mehr gespannt, von den Matrosen der kaiserlichen Flotte bedient, um die Zuschauer vor der Sonnenhitze zu schützen und in den anhaltenden Geruch von Blut und Dung einzuschliessen, aber Loredana hört die aufgehetzten Schreie auch so, sie hört sie jeden Tag, in der Via del Torrione, ladre! drogate! lesbiche! prostitute!» So fliessen in Leuteneggers Prosa die Zeiten wie Lichtbilder ineinander, überlagern sich wie ein Palimpsest, wiederholen sich hetzende Worte so lange, bis jemand sie aufschreibt und bannt; sie herausstellt in ihrer ganzen Verachtung. Worte, aus denen Taten wurden: «Inzwischen zirkulieren Bilder von Loredana in den Zeitungen. Loredana auf dem Spitalbett, aufgebahrt wie eine Mumie, vollkommen einbandagiert, kein Stückchen unversehrte Haut ist sichtbar, nur der Mund steht ab, und die Augen, die Augen weit geöffnet.» Die Erzählerin verschliesst ihre Augen nicht, schaut nicht weg aus Furcht oder Scham. Auch wenn Loredana den Brandanschlag auf sie und ihre Freundin vorerst schwer verletzt überlebt, wird sie sich nicht mehr davon erholen. Und die Erzählerin weiss um die Verbundenheit mit diesen Opfern und ahnt um die eigene Mittäterschaft als Teil eben dieser Gesellschaft: «Aus der bereits dürren Campagna, hinter der Via Prenestina, der Via del Torrione, steigt heiss, unbegreiflich und blau der Sommer empor, und ich laufe weiter durch die Stadt, Staub von Rom im Haar, Loredanas Asche.»
Ja, die Kontraste. Nicht nur als visuelles Phänomen tauchen diese in Gertrud Leuteneggers Texten auf, sondern auch als Gestaltungselement, als Lehre der Gleichzeitigkeit, als schmerzhafte Bewusstseinsübung und manchmal auch als Trost. Aber auch die Bewegung, das Bewegliche, das Konvulsivische und im Gegensatz dazu das Fluide und Zarte sind wichtige Motive ihrer Arbeit. In einem Text über Japan mit dem Titel «Nippon, Grün und Schwarz» schreibt sie: «Ein Gleiten, Verlagern ist alles.» In einer anderen Szene, aus «Zürich, ein Julitag» über das schöne und manchmal allzu glatte Zürich, formuliert sie eine Frage, die für mich ebenfalls einen Leitsatz ihrer Poetik skizziert: «Kommen nicht nur durch Störung unserer Gewohnheiten jene vielfältigen Kontaminationen und Kontaktmetamorphosen zustande, die eine Stadt erst vibrieren lassen?» Denn Leuteneggers Prosa findet ihren Ausgangspunkt nicht in der Konstruktion oder im Konzept, sondern im Kontakt mit dem Leben. Beim Gehen durch das verwirrende Strassennetz einer unbekannten Stadt, beim Graben mit blossen Händen in der Erde oder in der Erinnerung an Auffahrunfälle auf der Strasse, die zum Gotthardpass führt. Die Erzählerin hat sich berühren lassen und scheut nicht die Kontamination. Ihre Prosa vibriert, summt, bebt auch mal und hat bald die Wirkung eines Sturms, wo vieles nachher nicht mehr da ist, wo es einmal hingehörte.
Ruths Essay aus der WoZ trägt wie bereits erwähnt den Titel «Verlorene Pläne der Weltordnung». Das Ordnungsprinzip in Leuteneggers Literatur sei «ein Versuch, die «Weltordnung» zu erkennen, ohne die Elemente dieser Welt beim Schreiben hierarchisch zu ordnen; diese Überschrift könnte man über alle Texte Gertrud Leuteneggers setzen. Nichts Menschliches, nichts Unmenschliches, nicht zerstörte oder intakte Natur, nicht die zweiundzwanzigtausend Paar Kinderschuhe von Auschwitz, die Insassen einer psychiatrischen Klinik, nicht Berlin oder der Tod, nicht die Geste des missglückten Zigarettenanzündens oder das Alltagsleben einer italienischen Gastarbeiterfamilie ist dieser Autorin unwichtig, allein wichtig oder fremd, und alles ist ihr fremd und absurd genug, um es mit jener Distanz zu beschreiben, die den genauen (und poetisch überhöhten) Blick erst ermöglicht. Die in (eine unverkennbare) Sprache gesetzten Denk-Bilder Gertrud Leuteneggers erzwingen eine Konzentration der Lesenden, die höchst selten in einem Punkt sich sammelt, sondern ein Flimmern erzeugt.»
In einem anderen Text, mit dem Titel «Generalbass», beschreibt die Erzählerin ihr Kindheitszimmer: «Mein Kindheitszimmer bestand überhaupt nur aus Fenstern, durch den grossen Schlafraum meiner Eltern hatte man eine Wand gezogen; nun schlief ich da wie in einer Glasveranda, fast mehr schon in der Natur als im Innern des Hauses. Es fehlten auch Stuhl und Tisch; die weite Aussicht auf die beiden Seen, die Berge rundum am Horizont war alles beherrschend, eine Art luftiges Treibhaus, eine Loggia, eine Arkade.» Als schliesslich ein Föhnsturm durch das Tal fegt, beschreibt die Erzählerin, wie «in lauen Nächten die angestauten Luftmassen jenseits des Gotthards endlich zum Überwehen des Passes gezwungen wurden und diesseits mit tobender Gewalt in die Täler einfielen». Als das Kind Angst bekommt, sein Zimmer berste und es werde jäh hinaus ins Universum geweht, begreife ich, wie es sich mit Leuteneggers Prosa verhält: Als Leserin bin ich der Macht und der Zartheit ihrer Sprache ausgesetzt, dem aufwühlenden Gewitter und seinen Assoziationen, den Bildern und Gedanken. Ihre Lektüre ist eine Art immersive Erfahrung, ganz so, wie sich das Kind in der Glasveranda fühlte: Ausgesetzt, und zwischen dem Sturm und sich bloss der gläserne Schutz, wo es aufgehoben und ausgeliefert zugleich ist. Oft lässt die Erzählerin mir einen Schimmer Trost, eine Spur Zuversicht, einen «Rettungsanker im sturmerfüllten Sog der Unendlichkeit», wie sie einmal schreibt. Das Kind entdeckt nämlich durch das Schlüsselloch den bernsteinfarbenen Schimmer der Nachttischlampe der Mutter, ein «letzter mattleuchtender Faden, der mich an der Erde festhielt.» Nie lässt Leuteneggers Wortsturm uns Leserinnen ins Universum katapultieren, das ich mir heimlich so untröstlich vorstelle wie bei Georg Büchner in Woyzecks Anti-Märchen: der Mond ein Stück «faul Holz», die Sonne eine «verwelkte Sonnenblum» und die Sterne bloss kleine aufgesteckte Mücken, die goldig glänzen. Gertrud Leutenegger aber schenkt uns das Bernsteinlicht der Lampe.
Gertrud Leutenegger mit den Jurymitgliedern Eva Seck, Franziska Hirsbrunner, Leonora Schulthess und Martin Zingg
Ihr zuletzt erschienener Roman «Späte Gäste» spielt in einem Tessiner Bergdorf. Das Buch erschien im Sommer 2020, einem Jahr, dass uns globale Zusammenhänge neu begreifen liess, auch unsere eigene Verletzlichkeit, die Fragilität des Gesundheitssystems und des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Gewissheiten verschoben sich: Ein Verlagern ist alles und in diese neue und eigenartige Zeitrechnung hinein, die vielen von uns als surreal und seltsam schwebend in Erinnerung geblieben ist, erschien «Späte Gäste». Es berichtet von der fünften Jahreszeit, der Fasnacht, und vom Erinnern. Die erzählte Zeit erstreckt sich über eine einzige Nacht, in der wir mit der Erzählerin fürchten, träumen, wachen und bangen. Sie übernachtet in der verlassenen Wirtshaus-Villa, um am anderen Tag die Totenwache ihres einstigen Geliebten Orion zu beginnen. Wir warten mit ihr auch auf die Ankunft der gemeinsamen Tochter. Der Wirt ist über den Winter in seine Heimat Sizilien gereist, sie kennt das Haus jedoch gut, es war in ihrem früheren Leben Zufluchtsort und Stätte des freudigen Beisammenseins. Jetzt sind die Räume kalt, dunkel und unheimlich. Aber überall schimmert das Licht von einst durch und erleuchtet die Fresken und Wandbilder. Die Erzählerin träumt, die Erzählerin erinnert, die Erzählerin trauert, und ihre Visionen erhellen wie ein Gewitter den Nachthimmel. An der Decke entdeckt sie gar im gemalten Tellmythos den Ätna! Die Erzählerin schwankt zwischen Wachen und Schlaf, zwischen Traum und Realität, zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Völlig unvermittelt und wie aus einer fernen Welt tauchen in einer Geschichte der Freundin Serafina die titelgebenden späten Gäste an einer Fasnachtsgesellschaft auf: Es sind Geflüchtete von weit her, die mit ihren Booten gestrandet sind an den südlichen Küsten unseres Kontinents. Unter den Masken der «Hässlichen» blitzt eine Unerschrockenheit und Verzweiflung auf, die die Erzählerin fasziniert. Es ist ein Buch der Ankunft und des Abschieds. Einer mit Namen Orion ist gegangen und andere kommen und bringen ihre unerschütterliche Hoffnung mit. Mit der ganzen prekären Trauer und der ganzen Zartheit berichtet Leutenegger hier erneut von der Gleichzeitigkeit von Schönheit und Schrecken, Hoffnung und Angst, von Leben und Sterben. «Angesichts des Todes wird manches so leicht. Und dieser Schwerelosigkeit darf ich mich hingeben, ich weiss es, sie ist es, die rettet und erhält.» Gertrud Leutenegger verbindet sich mit verschiedenen Schicksalen in einer staunend-machender Empathie und scheut nicht das Unheilvolle, das Grausame und die Verletzlichkeit unserer Existenz. «Späte Gäste» ist aber auch eine Geschichte der Emanzipation; die Erzählerin und mit ihr wir Leserinnen müssen von etwas loslassen, damit etwas Neues beginnen kann und sei dies nur ein neuer Tag, der sich mit der Dämmerung ankündigt. Sie erzählt davon eindringlich und leuchtend, magisch und klar.
Es gibt so viele erleuchtete Sätze in Gertrud Leuteneggers Werk, ich könnte Seiten füllen. Viele davon sind versammelt im Band «Partita. Notate», der 2022 im Nimbus Verlag erschienen ist: «Die Glut der Ahnung. Denn noch erkenne ich nicht. Aber mein Gefühl weiss.»
Über Gertrud Leuteneggers Sprache schreibt Ruth Schweikert, sie sei von «einer bezwingenden rhythmischen Schönheit»: «Das Erkenntnisinstrument ist natürlich die Sprache, die noch auf einer weiteren Ebene, nicht nur auf der semantischen, zum beglückenden, zum irritierenden Lese-Erlebnis einer umfassenden Gleich-Gültigkeit führt; dem zufällig beobachteten Detail, den Reflexionen über die Schweizer Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg, der Farbe eines bestimmten Kleidungsstücks wird dieselbe sprachliche Sorgfalt zuteil. […] Die «Schönheit» der Sprache als übergeordnetes Prinzip?», fragt Ruth weiter: «Überzeugend ohne jede Ambivalenz wird diese Sprachkraft, wo ein solches Bild gefunden wird (das Liebespaar hält Nachtwache vor dem auf einen Eisenbahnwaggon aufgebahrten Wal)»: «Unsere Eltern, die von ihm verschluckt worden waren in den zwei Kriegen, die nur die Verdunkelung erlebt hatten, sie waren im Innern des Walbauchs gesessen, die meisten nachtblind, ungerührt, sie hatten alles als Verhängnis betrachtet und dumpf gewartet, bis sie wieder ausgespien wurden. Ohne einen Blick zurück.»
Gertrud Leutenegger ist auch eine Anruferin der Dichter: Sie bezeugt ihre Hingabe zur Literatur, indem sie über diese nachdenkt, sie beschreibt und von allen Seiten betrachtet; sie zu ihrem Leben macht. Sie ruft ihre Vorgänger an, Novalis, Goethe, Kleist, Dante oder Walser. Über Kleist schreibt sie: «Dieses Changierende, dieses Übergehen einer Wirklichkeit in die andere ist vielleicht das Beunruhigendste an Kleist, der in einem Brief an den Freund Rühle über den Tod sagte: «Es ist, als ob wir aus einem Zimmer in das andere gehen.»» Ein ständiges Gleiten, ein Verlagern ist alles. Mit der Fähigkeit, die Welt der Lebenden und die der Toten zu durchschreiten, ist ihre Literatur ausgestattet.
Man möchte Gertrud Leutenegger zur Verfügung haben (ein Wunschtraum, denn natürlich ist sie auch eine Meisterin des Unverfügbaren), und dennoch ersehne ich sie mir als Begleiterin an die Orte, mit denen ich verbunden bin und die ich besser verstehen möchte. Sie würde von unseren Reisen erzählen, Szenerien aufrufen, Figuren erschaffen, ihre klugen Beobachtungen und Gedanken dazu aufschreiben und mich so auf alles aufmerksam machen, was ich übersehen habe. Einmal stehen in einer ihrer Erzählungen tatsächlich die Länder Japan und Senegal in einer Aufzählung nebeneinander und ich muss lachen, weil ich solche Zufälle liebe und natürlich als Zeichen deute.
Ruth erklärte mir kürzlich: «Gertrud Leutenegger macht universelle Erfahrungen mit einer weiblichen Erzählstimme zugänglich. Während dem sich ein junger 68er oder danach geborener Schriftsteller im sogenannten Westen vor allem mit westlichen, männlichen Werten identifiziert, bettet sie den weiblichen Blick, wie beispielsweise in «Acheron», in eine grosse europäische, aber auch gerade in eine nicht-europäische Erzählung ein. Dies ist die grosse Stärke von Leuteneggers Schreiben.»
Je älter ich werde, desto eher erkenne ich die, die vor uns waren. Sie sind eine Möglichkeit der Verortung, die Möglichkeit des poetischen oder geistigen Verbunden-Seins, und sei dies durch die gemeinsame Luft, die wir atmen. Als ich geboren wurde, hatte Gertrud Leutenegger bereits ein umfassendes Werk: Da waren bereits acht Bücher; Romane, Gedichtbände und Erzählungen von ihr erschienen. Wie so oft zu den wichtigen Dingen fand ich über eine Freundin zu ihr: Die Schriftstellerin Noëmi Lerch drückte mir vor vielen Jahren Gertrud Leuteneggers Buch «Matutin» in die Hand. Ich las es, und noch heute weiss ich, wie ganz und gar fremd sich diese Welt für mich anfühlte; dieser morbide ehemalige Vogelfangturm, die Wärterin, kaum fassbar, wie ein Geist, die mystischen und spirituellen Bezüge… Ich verstand wenig. Mein jüngeres Ich gab aber nicht auf. Es weigerte sich, das Buch wegzulegen, auch wenn es das Gefühl hatte, dieses nicht wirklich zu durchdringen. Es mutete sich etwas zu. Das auszuhalten und darauf zu hoffen, den Zauber eines Textes zu einem anderen Zeitpunkt zu entschlüsseln, rührt mich, und ich hege eine heimliche Bewunderung für diese wohl manchmal etwas unbeholfene und bildungsferne Literaturstudentin, die ich damals war. Und bin dankbar für das Glück, mich heute noch einmal mit Leuteneggers Werk zu beschäftigen. Zwei Schreibgenerationen liegen zwischen uns. Ruth Schweikert steht in der Mitte und streckt uns verbindend ihre Hände entgegen. Wir, die heute schreiben, berufen uns auf die, die vor uns kamen. Sich als Teil einer sich fortschreibenden – und nicht zuletzt weiblichen – Literaturgeschichte zu begreifen, lehrt einen Demut und gibt Kraft. All die schreibenden Frauen, deren Bücher und Gedanken Teil von mir und meinem Denken wurden, weisen auch in die Zukunft, denn nichts, was heute ist und morgen sein wird, wäre ohne sie möglich gewesen. Sie sind Wegbereiterinnen und Wegbegleiterinnen, mögen die Lebensrealitäten und die Bedingungen, unter denen unsere Literatur entsteht, verschieden sein. Das Werk von Gertrud Leutenegger hilft uns die Schönheit, die Brutalität und die Unverfügbarkeit unserer Existenz immer wieder aufs Neue zu erfahren.
Laudatio von Eva Seck
«Vorabend» Roman, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1975 «Ninive» Roman, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1977 «Lebewohl. Gute Reise» Ein dramatisches Poem, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980 «Wie in Salomons Garten» Gedichte, Eremiten-Presse, Düsseldorf 1981 «Gouverneur» Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981 «Komm ins Schiff» Dramatisches Poem, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983 «Kontinent» Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985 «Das verlorene Monument» Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985 «Meduse» Suhrkamp, Frankfurt am Main 1988 «Acheron» Suhrkamp, Frankfurt am Main 1994 «Sphärenklang» Dramatisches Poem, Eremiten-Presse, Düsseldorf 1999 «Pomona» Roman Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004 «Gleich nach dem Gotthard kommt der Mailänder Dom» Geschichten und andere Prosa, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006 «Matutin» Roman, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008 «Panischer Frühling» Roman, Suhrkamp, Berlin 2014 «Das Klavier auf dem Schillerstein» Prosa, Nimbus, Wädenswil, 2017 «Späte Gäste» Roman, Suhrkamp, Berlin 2020 «Partita» Notate, Nimbus, Wädenswil, 2022
Da stehe ich. Ich stehe da und wache. Unter meinen nackten Füssen bebt die Welt. Es ist meine Welt, die bebt. Erschüttert vom Gedankenhauch an meine Erinnerungen. Vom blossen Hauch nur. Allein in der Fremde, stehe ich da. Ich wache am Tag und … nein … des Nachts wache ich nicht. Des Nachts gebiert mich die Erde zum Tanz und es tanzt mich zum Rhythmus meines Herzschlags in meine Erinnerungen hinein. Meine Bilder trinken mich gierig. Ich lasse mich verschlucken, nicht wissend, wo ich landen werde. Bis jetzt ging es immer gut – ich kam nach jedem Tauchgang wieder zurück. Ich tauche tief. Kalt ist es, dann plötzlich warm. Ströme, die sich abwechseln, während ich immer tiefer tauche und mich frage, ob ich nicht Luft holen müsste. Ich tauche in die Bilder meiner Ängste: Damals In Transylvanien. Als Zeit noch keine Rolle spielte in meiner Welt. Begegnete ich Graf Dracul. Am helllichten Tag. Auf einer steinig-staubigen Strasse kam er mir entgegen. Nichts als eine Trauerweide in der Landschaft. Der Wind spielte mit ihren Ästen. Graf Dracul streifte mir mit seinem Blick die Kleider vom Leib. Mir war, als ob ich durch seinen Blick hindurch mich selbst sah: Nackt und bewegungslos stehe ich da. Aus meinem Auge fliesst eine Träne Richtung Mund. Ich schlucke sie und schmecke Blut. Mein Blut. Sein Blut. Eine ungeheuerliche Kraft durchfährt meinen Leib. Die Trauerweide erzittert. Ich hätte sie ausreissen können. Stattdessen breite ich meine Flügel aus und Flügelschlag um Flügelschlag steige ich höher, immer höher. Eines Raben gleich erhebe ich mich und ziehe meine Kreise, während ich Schatten auf mich selbst werfe. Ich geniesse den Flug.
Und dann plötzlich lande ich sanft. Die Trauerweide nimmt mich schützend unter ihre Äste und spricht: «Bald wirst du aufgestanden und losgegangen sein. Deinen Leib gesäubert, deine Wunden geleckt, einen Fuss vor den anderen gesetzt und deine Spuren hinterlassen haben.» Ich nehme Abschied von der Trauerweide und stehe auf. Der steinig-staubige Weg unter meinen nackten Füssen. Der Blutstropfen Graf Draculs in meinem Herzen. Da stehe ich. Ich stehe da und wache. Unter meinen nackten Füssen bebt die Welt. Und ich frage mich, warum ich nackt bin und warum ich tief tauche und ob ich nicht Luft holen müsste. Dann diese Stimme, die sagt: «Lass dich verschlucken!» Ein Rabe, der mit seinen Flügeln den Staub aufwirbelt. Ich möchte fliegen. Ich spüre eine Kraft, alsob ich Bäume ausreissen könnte, aber ich kann mich nicht bewegen. Ich kann weder fliegen noch tauchen. Ich komme keinen Schritt vorwärts und ich höre mich schreien. Doch dann plötzlich lande ich sanft. Wiegend die Strahlen Wärmend die Wellen Berührungen, die Zärtlich erhellen Meine Sinne. Ich weiss wo ich bin Ich kenn diesen Ort Hier ist der Anfang Das Leben, das Wort Getragen, gewärmt und genährt Mein Kind sich noch heute verzehrt Nach mehr Nach viel Doch für den Moment Liegt sie still die Welt.
Boglárka Horváth stammt aus Siebenbürgen (Rumänien). Im Alter von sieben Jahren floh sie mit ihrer Familie nach Österreich. Sie absolvierte ihre Schauspielausbildung in Wien und Budapest. Sie studiert Dramatherapie und schreibt Texte für Theaterprojekte. Sie ist Mutter von zwei Kindern, lebt und arbeitet in St. Gallen.
– Tue doch kes Büro uf! – Mou! Gnau das wotti: Es Büro uftue! – För was? Ged’s ned scho gnueg Büro? – Settegi ned, nei! – Settegi … Meinsch du bsonderegi? – Jo, mou – das wett ech met eme gwösse Stouz behoupte! – Was esch öberhoupt es Büro? – Hmmmh … es Büro esch e Ruum ond e dem Ruum passiert öppis Bestemmts! – Hesch scho bestemmt, was das Bestemmte söu sy? – Klar! Meinsch, ech eröffni e Ruum em loftlääre Ruum?! – Aaaha! Du eröffnisch auso e Ruum em Ruum … esch das rechtig? – Me chönnt’s eso uusdröcke. Es ged eigentlech gar nüd anders of dere Wäut aus Ruum em Ruum. Wechtig esch, was deby entstoht! – Äbe! Ond was wär das, wemmer daf frooge? – Das chan-ech zom jetzige Zytponkt ned gnau ustüütsche. Was feschtstoht: Eso-n-es Büro esch es «work in progress», kes Fertigprodukt! – Danke! Jetz han-ech aber no e ganz grondsätzlechi Froog: Hesch du dä Ruum besch du dä Ruum? – DU stöusch Froge … aber mosch entschoudige: Of die verautet Buechhautig wett ech mech hött lieber ned iiloh. – Wieso ned? – Wöus för d’Föchs esch! Aber wenn partout en Antwort muess sy: Ech be de Ruum, won’i ha … Haut – no besser : Ech be de Ruum, wo n’ech mer neme. Gnau. Das esch es! – AHA! Das verstohni. Hättsch’es ou grad vo Aafang a chönne sääge.
Karsten Redmann liest aus seinem Erzählband «An einem dieser Tage».
Ruum ond Zyt
Me seid, s’Alter isch Zyt, wo verstriecht. Isch s’Alter ned au e Ruum, wo mer föllt? Wo mer föllt mit sich sälber? Mit de Art, wie mer s’Läbe aapackt? Klar, me wird au vom Läbe säuber am Chraage packt, gschöttlet und drinumegwirblet. Dem cha niemer entgoh. Ich glaube, s’Läbe isch grösser als ich sälber, viel grösser. En unändlech grosse, vielfältige Ruum. En einzigi grosse Iiladig, mich drininne z’bewege.
«Schön war’s, Gallus, bei der Eröffnung deiners Literaturbüros! Was für ein schmucker Raum, die vielen Bücher, der gute Wein, die Gespräche … in so einem Ambiente dann auch noch vorlesen zu dürfen, das beglückt, weil: fast wie in der eigenen Stube fühlt man sich doch sehr aufgehoben. Alles Liebe dir für all deine Projekte!» Laura Vogt liest aus ihrem Roman «Die liegende Frau».
Ein Raum muss sein must wachsen un wölben un schalten un walten und hegen un pflegen de Bausch vo die Wörter die Reihen und Ranken die Auswüchs un Schranken must sammeln un schützen must stützen die Pfützen der Tinten und Tanten un aller Verwandten die Lesestoff bunkern un Lesestoff fressen und völlig vergessen dass das was sie lesen mit einem Langbesen kann weggewischt werden im Nu un dann zeterest du nach mehr Poesie dem Niemalsversiegen und Niemalserliegen des sprudelnden Quell im Büchergestell im Kopf und im Herzen die Freud und die Schmerzen ich sag dazu nur: Lang lebe die Literatur.
Alle Texte sind von Christine Fischer. Gallus Frei dankt der Schriftstellerin für die Erlaubnis, die Texte an dieser Stelle zu veröffentlichen.
Nachts bei den glühenden scheiten am bach
Höre ich dem zwiegespräch der frösche zu
Verschlungene lautpfade durch die stille
Wovon reden sie im wechselgesang,
Verstehen sie den dialekt des feuers,
Wie es im innern des holzes rhythmisch atmet,
Antworten sie ihm, an dem ich mich wärme,
Ein lebendiges wesen, pulsierend im takt
Der elemente, kleine sonnenkraftwerke
Die durch die graue sommernacht glimmen,
Geheimnis des lebens, keim der zerstörung
Wolken
Aus dem atem der erde
Wachsen wolken
Wächter getürmt
Im lichtgrauen halbrund
Über dem kornfeld
Taumeln die ersten kohlweisslinge
Abgesandte der wolken
Geboren aus dem
Schaum des himmels.
Am Fluss
Wind spielt mit meinen haaren,
Die von den jahren gebleicht sind
Wie das vorjährige schilf
Während ich mich betrachte
Im spiegel des flusses, der mein bild
Davonträgt auf den eiligen wellen,
Rauschen am ufer die weiden
Und im gesang der nereiden
Der göttlichen schwestern
Verrinnen ungezählt die stunden
Im antlitz der zeit.
Beatrix Langner, 1950 geboren, ist promovierte Germanistin, Autorin und Literaturkritikerin und lebt in Berlin. Seit 1990 zahlreiche Rundfunk-Features und Kulturreportagen für DeutschlandRadio Berlin sowie Feuilletons und Kritiken für Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, Deutschlandfunk Köln u.a. Sie veröffentlichte eine Biografie über Jean Paul (C. H. Beck), für die sie 2013 den Gleim-Literaturpreiserhielt, und ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland.
nur ein paar schritte durchs fegefeuer kalt hatten wir nie
nur eine hand voll schnee im licht wir tranken das wasser
nur eine amsel gesang vom baum wir entwurzelten ihn
das feuer brannte fegte über die worte funken streunten durch die asche
unsere augen tränten im rauch
Tango
Das Ende liegt jetzt näher. Wenn man nach dem Durchschnitt geht, bin ich über die Mitte hinaus. Wenn ich morgen sterben müsste, wäre ich länger schon, ohne es zu wissen, über sie hinaus gewesen. Dann wäre ich also in der Mitte des Lebens schon an dessen Ende gewesen. Aber wer spricht denn jetzt vom Sterben!
Jetzt denke ich manchmal daran. Es wird ein Gefühl, in dem die Freude am Leben und die Gewissheit über das andere miteinander tanzen. Ich stehe daneben und schaue ihnen zu. Sie finden keinen gemeinsamen Takt, sie bewegen sich wie völlig unmusikalische Wesen. Beide haben noch nicht erkannt, dass eines sich dem andern überlassen müsste, damit von einem Tango gesprochen werden könnte. Wer führt wen!
Ich führe ein stinknormales Leben. Ich stehe am Morgen auf und am Abend lege ich mich wieder hin, und nachts träume ich von einer Ameisenstrasse. Wenn ich nicht schlafen kann, träume ich von Schlaf oder ich stehe mitten in der Nacht auf und spreche mit dem Mond. Das ist ganz neu! Die Nachtkerze erwähnt die Hormone, die sie besitzt, und ich zeige ihr die Haare, die am falschen Ort wachsen. Du schöne Blüterin, sage ich, ich blute nicht mehr. Ich höre den wilden Schrei eines Katers. Ich will nicht sterben, vor allem nicht morgen.
Morgen habe ich nämlich einen Termin bei einem Gehörspezialisten. Seit ich meinen Mann verstehe, höre ich nicht mehr so genau, was er sagt. Als ich ihn noch gut hören konnte, stellte ich mich manchmal taub. Unsere Liebe wächst mit zunehmender Entfernung von der Lebensmitte. Ich versuche, ihm vom Mund abzulesen. Das ist die einzige Perspektive, falls es mich übermorgen noch gibt. Dieser schöne Mund ist noch da. Wir hängen die Liebesbriefe magnetisch bestückt an den Backofen oder an den Kühlschrank. Vergiss nicht, steht darauf, mein, steht auch da: Vergiss nicht, mein Hemd zu bügeln. Ich lege den Brief ins Gefrierfach. Ich küsse ihn dann auf den kahlgewordenen Schädel, wenn er, was immer öfters vorkommt, sagt, dass Altwerden ein Skandal sei. Wenn ich frage, woher er denn das habe, sagt er, er wisse das auch nicht mehr und ich sage, dann lass diesen Spruch. Manchmal sitzen wir bei heiterem Wetter abends vor dem Haus, in dem er geboren wurde, in dem ich hinzukam, in dem wir uns nie schlüssig waren, ob das Haus überhaupt ein Dach hatte. Auf jeden Fall hatte es einen Keller.
Er benutzt die stets herumliegende Schiefertafel bloss für Zahlen, beim Jassen oder bei der Einteilung des AHV geschwächten Haushaltsbudgets.
Ich schreibe zum Beispiel auf die Schiefertafel: Ich bin im Keller. Er weiss dann, dass ich am See sitze, um meine Gedanken, die wie etikettierte Einweckgläser daran erinnern, dass man von ihnen noch Gebrauch machen kann, zu ordnen, um sie berauschen zu lassen, als gelänge das nur noch mit der Kraft des Wassers, an dem man sitzt. Er kommt dann auch an den See und wir betten uns mit gegenseitiger Hilfe auf die Grasnarbe, die das Ende des Sandstrands oder der Anfang unserer Gemütlichkeit ist. Eine Flasche Wein steht zwischen uns. Zwei schöne Gläser, mit Olivenöl beträufelte Brotstücke, mit Pfeffer bestreuter Weichkäse, geviertelte Tomaten, der sinnvolle Gang der Uhr, das Ebenmass der luftigen Kräfte, das Wunderspiel dieses Raums und seiner Zeit. Wir haben uns einmal geschworen, dass wir nur und immer aus richtigen Gläsern trinken werden. Wenn wir sie zerschlagen, was nun auch immer öfters und nicht absichtlich wie früher geschieht, nehmen wir einfach zwei andere aus dem Schrank, die auch nicht mehr neu sind. Es ist fast erheiternd, wie die Gläserlinie im Schrank immer weiter nach hinten rückt, als wäre sie längst über ihre Mitte hinaus und als verschwände auch sie eines Tages einfach irgendwohin.
Ich zitiere ihm aus den Hymnen an die Nacht. Er verweist mich auf die Sonne, die gerade das Wasser belegt wie eine Silberschlaufe ein dunkel eingepacktes Geschenk und ein Schwan zerreisst gerade vor unseren Augen dieses Band, als hätte die verschwindende Göttin es ihm angetragen, in uns die Neugier dafür zu wecken, was sich unter diesem Dunkel der aalglatt gewordenen Fläche verbergen könnte.
Wir essen und trinken, beides sehr langsam und bedächtig. Wir können bleiben, könnten gehen. Der Tag kennt den Abend jetzt nur noch als Feststellung. Eine weitere, kleine Entfernung oder Annäherung und dass es die Momente gibt, wo ich das eine oder das andere vergesse.
Auf dem Nachttischchen liegen die künstlichen Tränen, in kleinen Plastikampullen. Das Auge damit zu treffen, ist eine wahre Kunst. Wenn es gelingt, fühlt es sich an wie früher, als sich der Kummer einen Überlauf erst in der Dunkelheit gestattete. Es ist das gleiche Brennen im Auge. Ich habe vergessen, worum es nicht ging. Ich habe nicht vergessen, worum es ging. Wahrscheinlich Komik, die zum Lachen und zum Weinen war, und jetzt, wo die echten Tränen fliessen könnten, gibt es nichts mehr zu Weinen. Das ist auch komisch.
Er liegt im Bett neben mir, er schläft. Sein Mund steht offen. Ich habe Lust, ihn am Gaumen zu kitzeln. Aber ich bin jetzt weit weg. Ich bin auf Sizilien.
Ich hielt den Fotoapparat in der Hand und erklärte dir, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Alles ganz weit weg, sagte ich zu dir. So neu und schon kaputt, futsch, sagte ich und schade. Ich steckte ihn in die Handtasche. Wir hatten uns auch gegenseitig aufgenommen. Eine wunderschöne Blumenwiese, die sich auf der Weiterfahrt auftat, schien es uns wert zu sein, aus dem Auto zu steigen und nochmals den Apparat auszupacken. Dann lachte ich so sehr und du lachtest mit. Später, wenn wieder einmal alles verkehrt und weit entfernt schien, was nahe hätte sein können, sagtest du, dass ich das jetzt nicht verkehrt herum aufnehmen solle, sondern geduldig ein paar Tage warten, um es wieder ganz nah zu sehen.
Es stimmt. Die Tage werden immer länger. Die Tage werden jetzt länger. Man muss abends wieder wartend vor dem Haus sitzen, weil es nichts mehr zu tun gibt ausser warten. Oft steht der Mond schon oben, wenn die Sonne noch nicht unten ist. Sie geht ja nicht unter, aber plötzlich oder langsam macht die Dunkelheit von ihrem Recht Gebrauch, so dunkel wie nur möglich zu sein. Dann zünde ich eine Kerze an und er meint: «Ist das nötig!» Aus Nachbars Garten dringen die Räucherschwaden und Schwaden von verbranntem Fleisch. Man hört Gläser klirren und Worte klappern, schlechterzogene Kinder lärmen und Hunde bellen, schlicht und einfach: ein unerträglich gewordenes Leben voller Leben. Er hat die Beine hochgelagert, damit seine eingebundene Zehe immer sichtbar bleibt, ein Grund, kleinere Dienstbotengänge in die Küche mir zu überlassen. Bis vor kurzem hatte ich einen Mann, der mir abends das Bett abdeckte. Der mir half, das künstliche Gebiss ins Wasserglas zu legen, oder meinte, das wäre sehr schön, wenn ich ihn zahnlos küsste und er keine Bisse eines falschen Gebisses fürchten müsste, der meine geschwollenen Beine mit einer schwungvollen Bewegung aufs Bett hievte und sagte: so das hätten wir. Und am Morgen tat er das alles jeweils in der umgekehrten Reihenfolge und meinte: Du, das wird ein schöner Tag mit uns.
Einmal, vor langer Zeit, warteten wir in einer Kneipe aufeinander. Ich oben, du unten. Ich ass oben alleine, du unten alleine. Gleichzeitig. Als wir uns am Ausgang zufällig trafen, redeten wir uns sofort ins Wort und verbrachten die Nacht getrennt durch unsere Wand des Eigensinns. Du hinter der Wand, ich vor der Wand. Und einmal – das geht mir jetzt alles durch den Kopf und an deinem schlafenden, offenen Mund vorbei – hast du mir an Weihnachten eine Pfeffermühle geschenkt. Ich war auf Seidenunterwäsche eingestellt und hielt diese klobige Maschine in der Hand. Ich trug die Gans trotzdem auf, weil sie ja schon im Ofen war. Als ich beim Geschenk auspacken dachte, jetzt knistert dann gleich die Seide, war diese Gans schon mindestens eine Stunde im Ofen und zum Schluss konnte ich dann gleich die Mühle – teures Holz, sagtest du – in Gebrauch nehmen, was ja mit der Unterwäsche schlecht gegangen wäre. Nachts im Bett fragtest du mich, ob mir denn die Pfeffermühle gar nicht gefalle. Ich erinnere den Wortlaut meiner Antwort nicht mehr. Es kann sogar so gewesen sein, dass ich gar keine Antwort hatte. Ja – ich glaube, es war so!
Er hat seit einiger Zeit diese blaue Zehe und seit er sie hat, decke ich bei ihm das Bett auf, und ich tue auch alles andere, abends und morgens in umgekehrter Reihenfolge. Aber ich bringe es nicht über die Lippen zu sagen: Du, das wird wieder ein schwieriger Tag!
Das Blut ist damit beschäftigt, durch das zunehmend verkalkte System die kleinste Zehe noch zu erreichen oder die noch verbliebene Haarwurzel. Und wir sind uns jetzt die gegenseitigen Tröster. Wenn einer den Titel des Films nicht mehr weiss, deutet der andere auf die schlecht durchblutete, blaue Zehe und stellt die mögliche Amputation dem namenlos gewordenen Film gegenüber. Alles wird relativ, sogar der Titel eines Buchs. Wenn ich seine blaue Zehe anschaue, weiss ich beim besten Willen nicht, was eigentlich dazu geführt hat, dass er so viel schlechter durchblutet ist als ich.
Wir waren doch beide dem Rauchen und dem Trinken zugetan. Aber eine blaue Zehe blieb mir bis jetzt erspart.Als Prävention schauen wir uns am besten keine Filme, keine Theater, keine Bücher mehr an, so müssen wir uns gegenseitig nicht trösten. Und in absehbarer Zeit werden wir eh zu Staub.
Aber jetzt muss ich schlafen. Die Brote für morgen sind gestrichen. Die Möglichkeit besteht, sie besteht natürlich immer, aber jetzt steht sie uns mit wesentlich mehr Kraft gegenüber als wir ihr entgegenzusetzen vermögen. Es kann sein, dass morgen einer von uns alleine aufstehen, die Brote allein essen muss. Er muss dann sogar alleine leben!
Ich sollte schlafen. Die Dunkelheit begeistert mich. Ich stelle mir vor, wie ich dann ganz allein die Brote esse, das heisst, dass ich mit dieser Vorstellung die Annahme verknüpfe, dass ich ihn, den Mann, mit dem ich lebte, lebe, überleben werde. Ich denke dabei überhaupt nicht an die Statistik, die würde mir zwar sogar Recht geben, nein, ich denke an die Hörgeräte, die auf mich warten, und die es mir wieder ermöglichen, ihm nicht immer alles vom Mund ablesen zu müssen.
Leben ist alles. Die Nacht wird kommen, himmlische Freiheit, selige Rückkehr
Was für eine begeisternde Vorstellung!
(Erzählung aus «Erstaugust»/ Edition blau/ Rotpunktverlag Zürich / 2019)