Martina Altschäfer «Ginger und Fred», 5. unschöne Weihnachtsgeschichte

Eigentlich hatten Tom und ich geplant, nur einen Wellensittich anzuschaffen. Dann aber wurden wir belehrt, es gäbe für gesellige Papageienvögel nichts Schlimmeres, als ihr Leben in Einzelhaft in einen Käfig eingesperrt verbringen zu müssen und kauften doch zwei. 
Die beiden Wellensittiche, die wir direkt von einem Züchter erwarben, waren dottergelb und, wie er uns versicherte, in seiner Voliere bestens miteinander ausgekommen.
Das erwies sich leider als Fehlinformation. Vielleicht hatte er sie verwechselt – Wellensittiche können einander sehr ähnlich sehen – vielleicht hatte er sie uns absichtlich angedreht, weil er sie los sein wollte, denn bereits kurz nach ihrem Einzug in ihr neues Zuhause zeigten sie deutlich, wie wenig sie einander mochten. Auch waren die Vögel mit Sicherheit älter, als der Züchter angegeben hatte. Das schlossen wir aus dem umfangreichen Schatz übelster Schimpfwörter, den sie sich nicht von heute auf morgen angeeignet haben konnten und aus dem sie in lautstarken Auseinandersetzungen ausdauernd schöpften.
Als uns bewusst wurde, dass unser Sohn Bruno, der damals anderthalb Jahre alt war und eben mit dem Sprechen begann, ihnen allerhand Schwachsinn ablauschte, war es für einen Umtausch bereits zu spät. Da hatten wir die Vögel schon Ginger und Fred getauft und uns durch die Namensgebung emotional selbst die Hände gebunden.

Bruno stand zu dieser Zeit bereits stabil auf seinen dicken Beinchen und verbrachte viel Zeit vor dem Vogelbauer. Er hatte große Freude an Ginger und Fred, und wenn er sich an den Gitterstäben ihres Käfigs festhielt und „Ginnifett“ krähte, nahmen die beiden das als willkommene Einladung und sausten zu seinem Entzücken wie wildgewordene Torpedos durch den Käfig. Obwohl wir unseren Sohn immer wieder ermahnten, die Finger von ihrem Türchen zu lassen, fummelte er ständig daran herum. Zu spannend war die Herausforderung, ob es ihm gelingen würde, den Klemmhaken ebenso geschickt zu lösen, wie wir es ihm Tag für Tag demonstrierten.
Wir hatten unseren offenen Wohnbereich so gut es ging wellensittichsicher gemacht und ließen die Vögel regelmäßig und immer um die gleiche Zeit zum Fliegen aus ihrem Bauer. Zugegebenermaßen taten wir das nicht nur, weil wir Wert auf eine möglichst artgerechte Haltung legten, es war auch eine gehörige Portion Eigennutz dabei. Die täglichen Flugstunden brachten nämlich nicht nur den Wellensittichen Entspannung. Wenn sie sich ausgetobt hatten und wieder in ihrem Käfig hockten, waren sie so müde, dass sie für eine Weile ihre schandmäuligen Schnäbel hielten.
Für ihre Stunde in Freiheit hingen sie bereits lange vorher ungeduldig zappelnd an den Stäben ihres Türchens, und wenn es geöffnet wurde, drängten sie sofort hinaus. Man hätte meinen können, sie würden dann, um endlich Ruhe voreinander zu haben, in unterschiedliche Richtung fliegen, aber sie flogen vollspeed und Flügel an Flügel zum Fenster und hängten sich dicht nebeneinander kopfüber oben in die Gardine. Dabei verhedderten sich jedes Mal ihre kleinen Krallen im Gewebe. Außerhalb unserer Reichweite fochten sie dort einen täglich wiederkehrenden Wettbewerb miteinander aus, aus dem der als Sieger hervorging, dem es zuerst gelang, die Krallen aus den Schlingen zu befreien.
Der Kampf mit den Fesseln dauerte Minuten, in denen sie bis zur Erschöpfung mit den Flügeln schlugen und unverständliches Zeug vor sich hin krächzten. Der Abstand zwischen Sieger und Verlierer betrug stets nur Sekunden, so dass sie zum Schluss doch wieder gemeinsam gen Boden segelten. Hier verzogen die Kontrahenten sich unter einen Stuhl und hüpften mit letzter Energie in Drohgebärden gegeneinander an, als trüge der jeweils andere Schuld an der Gefahr, der sie soeben ausgesetzt waren.
So ging das jeden Tag und änderte sich selbst dann nicht, als kurz vor Weihnachten zwei Katzen bei uns einzogen.

Das mit den Katzen war keine kluge Entscheidung und zu unserer Entschuldigung kann ich nur anführen, dass wir sie auch nicht bewusst trafen. Aber eines Abends saß zitternd ein kleines getigerte Katzenbaby auf der Matte vor unserer Terrassentür und miaute herzzerreißend. Es waren noch sieben Tage bis Weihnachten, draußen war es ungemütlich kalt und windig und um das Elend des Kätzchens zu untermalen umwehten die jämmerliche Gestalt erste Schneeflocken. Ich hatte umgehend vor der Gesamtsituation und dem mitleidheischenden Kullerblick kapituliert, ohne lange zu überlegen die Tür geöffnet und das frierende Etwas aufgehoben. Das Kätzchen war leicht wie eine Feder und schien nur aus Knochen, Fell und eben diesen riesengroßen Augen zu bestehen. Ich brachte es ins Warme und erst als der Winter wieder ausgesperrt war, bemerkte ich eine zweite Katze, die sich hinterrücks ins Haus geschlichen hatte und nun um meine Beine strich.
Selten hatte sich eine gute Tat so schnell verdoppelt.
Wir überschlugen kurz die Konsequenzen und dann setzte Tom sich ins Auto und fuhr zum Supermarkt, weil die Katzen Hunger hatten. Er kaufte eine ganze Palette Bio-Katzenfutter der Marke „cat royal – servierfertig“. Ich fand das etwas übertrieben, denn das Futter kostete ein Vermögen, aber Tom hatte den Etiketten, die zarte Häppchen in Gelee vom Geflügel mit Herz oder feines Ragout vom Weiderind an Pastinakencreme versprachen, nicht widerstehen können. Er brachte auch eine Katzentoilette und
geruchsmindernde Einstreu mit. Das wiederum erwies sich als sinnvolle Anschaffung, denn einmal im Warmen weigerten sich unsere neuen Mitbewohnerinnen, das Haus auch nur für den kleinsten Moment zu verlassen.

So kurz vor Weihnachten verstand es sich von selbst, dass wir die Katzen, die offensichtlich Mutter und Tochter waren, über die Feiertage beherbergten. Obwohl uns bewusst war, dass es danach, wenn viele Menschen ihre tierischen Fehlkäufe wieder los werden wollten, schwieriger werden würde, für sie einen Platz im Tierheim zu bekommen, hätte es sich falsch angefühlt, sie gleich dort hinzubringen.
Sicherheitshalber gaben wir ihnen keine richtigen Namen. Wir wollten nicht in die Ginger-und-Fred-Falle tappen und uns eine distanzierte Haltung bewahren und nannten sie daher einfach Mam und Babe.
Denn dass sie nicht bei uns bleiben konnten, stand spätestens nach der ersten Flugstunde unserer Wellensittiche felsenfest. Die Schwierigkeiten hatten eigentlich schon damit begonnen, dass Mam den alten Sessel im Wohnzimmer zu ihrem Lieblingsplatz erwählte. Von ihm aus hatte sie den perfekten Blick auf den Vogelbauer im Esszimmer und ließ sich im Weiteren auf keines der Tauschangebote, die wir ihr unterbreiteten, ein.
Von morgens bis abends lag sie wie eine Königin auf diesem Sessel und verfolgte interessiert Ginger und Freds Treiben. Fairerweise muss ich ihr zugestehen, dass sie keine Anstalten machte, sich den Vögeln zu nähern. Sie schien sogar ihrer Tochter beizubringen, die Wellensittiche zu respektieren. Ich konnte förmlich hören, wie sie Babe instruierte, Ginger und Fred wären keine Beute, es wären so eine Art Brüder, die von uns Menschen geliebt, gehegt und gepflegt würden. „Genau wie du und ich!“, schnurrte sie, die Katzenaugen zwei schmale Schlitze und ihr Maul zu einem gefälligen Lächeln verzogen. Sie seufzte, dehnte sich, streckte die Beine, spreizte die Zehen und fuhr gedankenverloren die Krallen aus. Dann rollte sie sich wieder zusammen und gähnte gelangweilt. Dabei entblößte sie ihre spitzen Zähne, die in ihrem Mund wie frisch geschliffene Messer blinkten. Ich traute ihr nicht über den Weg und hatte mir geschworen, sie nicht mit den Vögeln während ihrer Flugstunde allein zu lassen.
Bruno war unberührt von jedem Misstrauen. Er hatte sich vom ersten Moment an in Babe verliebt, was kein Wunder war, so süß, tapsig, verspielt und knuddelig wie sie war.
Ich hatte ein zerknülltes Blatt Papier an eine Schnur gebunden, und es waren Momente großen Glücks für unseren Sohn, wenn er es durch die Wohnung zog und Babe hinter ihm hersprang. Das Kätzchen schmeichelte um seine Beine, ließ sich von ihm streicheln und schnurrte so laut, dass unser Sohn vor Behagen mitschnurrte.
Mam beobachtete die beiden von ihrem Thron und schien nichts dagegen zu haben, dass Bruno mit Babe spielte. Aber auch das war mir nicht geheuer und ich fragte mich, ob sie ihr Kind vielleicht aus reiner Berechnung gewähren ließ, um uns von seiner und ihrer Harmlosigkeit zu überzeugen und in Sicherheit zu wiegen.

Am Nachmittag des Weihnachtstages hatten wir alle Hände voll zu tun. Wir erwarteten Besuch, meine Eltern und Toms Schwester wollten mit uns zusammen feiern. Es war das erste Weihnachtsfest, das Bruno bewusst erlebte und sie wollten dabei sein, wenn er zum ersten Mal die Geschenke auspackte. Nicht nur weil Toms Schwester eine schwach ausgeprägte Katzenhaarallergie hatte, hatten wir ihnen von den Katzen erzählt, aber das hatte sie nicht von ihrem Besuchsvorhaben abbringen können.
Als es dunkel wurde, waren wir immer noch nicht mit all unseren Vorbereitungen fertig. Immerhin war der Baum mit bunten Kugeln, Strohsternen und zweierlei Kerzen geschmückt. Die Wachskerzen wollten wir während der Bescherung und wegen der Stimmung anzünden, die Lichterketten waren für die Stunden danach gedacht.
Bruno war an diesem Tag kaum zu bändigen. Er wusste zwar nicht genau, was auf ihn zukam, aber dass etwas Besonderes bevorstand, spürte er genau. Er war so aufgeregt, dass er mittags nicht schlafen wollte, was in der Folge bedeutete, dass er wahrscheinlich pünktlich zur Bescherung müde und knatschig sein würde. Er ließ uns keine Sekunde alleine. Ständig wuselte er zwischen unseren Beinen herum, Babe im Schlepptau, die unermüdlich hinter ihrem Papierknäul herjagte. Tom und ich waren durch die unberechenbaren Aktionen des Duos mehrfach ins Stolpern geraten und wir konnten von Glück sagen, dass sie uns nicht zu Fall gebracht hatten. Das hätte gerade noch gefehlt, dass einer sich verletzte und wir den Heiligen Abend in der Notaufnahme verbringen mussten.
Auch Ginger und Fred hatten sich von der allgemeinen Hektik anstecken lassen. Sie hörten überhaupt nicht mehr auf zu schimpfen und veranstalteten ein derart hysterisches Theater hinter ihren Gitterstäben, dass der Boden rund um den Käfig mit Sand, Samenkörnern, Spelzen und kleinen Federn völlig verdreckt war und ich weiß, ich sagte, da müsse nochmal einer mit dem Staubsauger ran.
Die einzige, die das ganze Durcheinander kalt ließ, war Mam. Sie lag auf ihrem Sessel und hatte ihre schrägen Katzenaugen überall. Sie hatte gesehen, wie wir weihnachtlich gestylt aus dem Schlafzimmer kamen und mit welcher Mühe ich mich in die Absatzschuhe zwängte. Sie sah Tom in immer kürzeren Abständen den Garpunkt des Gänsebratens überprüfen, sah ihn die Terrassentür öffnen, um noch einmal frische Luft herein zu lassen und beobachtete Brunos und Babes Zug durch die Wohnung.

Ich hatte eben die letzte Kerze angezündet, als mehrere Dinge gleichzeitig passierten. Tom machte sich auf in den Keller, um doch noch den Staubsauger zu holen, es klingelte, ich hastete zur Tür, riss sie auf und da standen meine Eltern und Toms Schwester mit Einkaufstaschen voller Geschenke. Meinen scherzhaften Einwand, sie würden maßlos übertreiben und Bruno total verwöhnen, lachten sie einfach weg. Es wäre doch ein ganz besonderes Weihnachtsfest, weil das Kind jetzt alles mitbekäme, sie wären so gespannt auf seine Reaktion. Sie hatten Sekt mitgebracht, der unbedingt gleich in den Kühlschrank musste und wir redeten alle durcheinander, wie man das macht, wenn man sich lange nicht gesehen hat und glücklich ist. Dann hörten wir plötzlich Tom im Keller schreien, es wäre eine verdammte Scheiße und als ich zur Treppe lief, um zu fragen, was denn jetzt wieder los sei, stand er mit seinen guten Schuhen bis über die Knöchel im Wasser und hielt den Staubsauger wie ein erlegtes Tier in der Hand. Aus dem Staubsauger tropfte es.
Und während wir vier uns auf der Kellertreppe stauten und ungläubig auf die Bescherung schauten und überlegten, wie so viel Wasser in den Keller gekommen war, ob eine Leitung geplatzt sei, oder die Waschmaschine kaputt gegangen wäre und wie wir die ganze Sauerei wieder aus dem Keller bekommen könnten und ob überhaupt, und ob es Sinn machen würde, die Feuerwehr zu rufen und ob die überhaupt am Heiligen Abend zum Wasserpumpen kommen dürften oder generell nur zu Löscheinsätzen ausrückten, ob wir mit Eimern und Schaufeln etwas ausrichten könnten und ob die Kühltruhe jetzt kaputt wäre, und ob der Inhalt noch zu retten wäre, wenn die Kühltruhe ihren Geist aufgab und wieviel Fußbad eine Waschmaschine vertragen kann, oder der Wäschetrockner und ob das alles jetzt Schrott sei. Und während die Gans im Ofen verbrutzelte und sich unsere Vorstellung eines gelungenen Weihnachtsabend in 15 Zentimeter hoch stehendem Wasser verflüssigte, glückte Bruno zum ersten Mal das Kunststück, mit seinen kleinen Fingern den filigranen Haken umzuklappen und das Türchen von Ginger und Freds Käfig zu öffnen.

Martina Altschäfer hat Bildende Kunst und Germanistik an der Johannes-Gutenberg Universität, Mainz und Freie Malerei an der Kunstakademie Düsseldorf studiert und ist Meisterschülerin von Professor Konrad Klapheck. Im Mirabilis-Verlag sind ihr Erzählband «Brandmeldungen» und 2020 ihr Debütroman «Andrin» erschienen. Martina Altschäfer lebt und arbeitet in Rüsselsheim am Main, Deutschland.

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Ruth Loosli «Eine unschöne, beinahe wahre Weihnachtsgeschichte», 4. unschöne Weihnachtsgeschichte

Sie hatte ein Inserat gesehen, «Fett absaugen», stand da.
Genau das wollte sie sich zu Weihnachten schenken, sie wollte die ganze Familie mit einem neuen «Outfit» überraschen, an der Familienfeier, die immer am 24. Dezember stattfand.
So transferierte sie, nachdem sie den Termin festgemacht hatte, eine stattliche Summe von ihrem Bankkonto zu diesem Schönheitsinstitut, den Rest musste sie nach erfolgreicher Ausführung überweisen und dann, dann bliebe kaum noch etwas auf dem Konto.
Und kaum Speck auf den Rippen, lachte sie.
Diese Überraschung würde ihr Geschenk an die Familie sein.

Am 20. Dezember war der Termin.
Der Arzt kam, strichelte allerlei Linien auf die Dellen und Rundungen ihres Körpers, murmelte, als müsste er eine neue Formel erfinden und fragte dann, sind Sie bereit?
Ja, antwortete sie tapfer, obwohl sie am liebsten aufgesprungen wäre, ihre weiten Kleider angezogen und davongerannt. Diese Maschine, die er nun am Bauch ansetzte und sich als unerbittlicher Saugnapf an ihr festsetzte, machte ihr Angst. Laut war die Maschine nicht, doch schmerzhaft.
Der Arzt beugte sich über sie und sagte, ich bin in wenigen Minuten wieder zurück, die Maschine kann allein saugen.

Sie lag da; sie atmete flach, um dem Schmerz zu entgehen.
Sie hatte das Gefühl, dass sich ihr Körper langsam auflöste.
Sie sah, dass durch den Schlauch der Maschine eine helle Flüssigkeit kroch, das war wohl ihr Fett.

Als der Arzt wieder kam, lag vor ihm ein schmaler Körper, eigentlich nur noch ein Skelett.
Er liess sich seinen Schrecken nicht anmerken, stellte jedoch hastig das Gerät ab, was der Klientin völlig entging, denn – sie atmete nur noch sehr unregelmässig.

Der Arzt musste den Notruf betätigen, die junge Frau wurde ins Spital eingeliefert.

Nach drei Nächten auf der Intensivstation verlegte man sie auf ein Zimmer in der Allgemeinen Abteilung des Spitals.
Holt mich hier raus, schrieb sie dem ahnungslosen Vater. Der war gerade am Einkaufen für das Familienfest am kommenden Tag, er las die Nachricht, während er zum Veloständer eilte, machte einen blöden Misstritt wegen einer Unebenheit am Rande des Gehsteigs, fiel hin, mitsamt der Tasche, mitsamt dem Gerät, auf dem die Nachricht stand, hielt das Gerät fest umklammert, ein Schrei fiel mit ihm, ein Schmerz durchzuckte seine Schulter: Er musste in die Notaufnahme. Oberarmknochen angerissen. OP je nach Entwicklung im neuen Jahr.

Am folgenden Tag wurden die zwei Patienten abgeholt vom Bruder der jungen Frau, die nun unendlich dünn im Rollstuhl sass, vom Sohn des Vaters, der den linken Arm nicht bewegen durfte. Das Filet im Teig schmorte im Backofen, die Kerzen brannten um die Wette, aus dem Radio plärrte «Stille Nacht». Plötzlich begannen sie mitzusummen, ein schräges Lächeln entfaltete sich auf den Gesichtern, auf denen der Widerschein der Kerzen flackerte.

Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg und im Seeland aufgewachsen. Sie hat drei erwachsene Kinder und ist ausgebildete Primarlehrerin. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet sie in Winterthur. Sie veröffentlicht in Anthologien und Literaturzeitschriften.
Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Es folgte im Wolfbach Verlag (DIE REIHE, Band 5) 2011 «Wila, Geschichten»; dieser Band wurde mittlerweile auf Französisch übersetzt. Weiter ist 2016 der Lyrikband «Berge falten» im selben Verlag erschienen.
2019 brachte der Waldgut Verlag den Lyrikband «Hungrige Tastatur» heraus.
Im Frühling 2021 ist im Caracol Verlag der erste Roman erschienen: «Mojas Stimmen».

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Chris Schneeberger «Eine unschöne Weihnachtsgeschichte», 3. unschöne Weihnachtsgeschichte

Es war das Jahr der Unfälle. Danach hiess es amigs, wir lebten halt hier unten im Bermudadreieck. Wobei, im Bermudadreieck wird spurlos verschwunden.
Also, zuerst kippte ein Milchlastwagen auf dem neuen Viadukt. Der Milchtanklastwagen enleerte sich und es ergoss sich nicht nur ein Strom von Milch vom Geelig oben runter ins Vogelsang abe, schön der geschwungenen neuen Strassenführung entlang, nei, es tropfte und spritzte und leuchtete ein Milch-Wasserfall vom gebogenen Viadukt über die Eisenbahngeleise Baden-Brugg herunter, dass es nur schön war.
Dann fiel ein Flugzeug vom Himmel. Also, mitten in eine Stube, genau genommen, in die Stube der Postkartenfamilie. Die machten Postkarten und konnten offensichtlich gut davon leben. Sicher waren es nicht Postkarten von hier. Auf jeden Fall landete das kleine Flugzeug mit der Nase auf dem Sofa, auf dem gerade noch die Postkartenmutter gesessen hatte, aber dann ein Glas Wasser holen ging, und Tätschbummpeng, sass die Nase von einem Flugzeug, wo gerade noch sie gesessen. Da stieg der Pilot aus und entschuldigte sich sehr. Sie bot ihm das Glas Wasser an. Er fiel um, und schlug sich den Kopf am modernen Glastisch auf.
Und dann beim Manta im Kraftwerkswehr. Auch da war es die Kurve, die einer nicht kriegte. Der Opelfahrer brach in Tränen aus, als er das havarierte Auto dann pflotschnass am Kranhaken aus dem Kraftwerkskanal auftauchen sah. Da mussten alle lachen.
Dann lag plötzlich der Onkel, der erst 17 Jahre alt war, wie eine komplett eingepackte Mumie im Spital, ich wusste nicht, wer das sei. Den Stromausfall hatten alle mitgekriegt, als der Lehrling von Papa und Bruder von Mama blöd in die Hochspannung geraten war, im Transformator. Auch er hatte Glück, aber da weinten alle.
Das war ja alles noch lustig. Aber es war auch der Sommer, ab dem wir nicht mehr in den Maisfeldern spielten, wegen den toten Kindern. In der Brockenstube hatte mich auch so ein Mann verfolgt, aber ich kannte mich im Labyrinth der Gestelle und Tische besser aus als er und konnte dann abhauen.
Ja, und jetzt wäre auch noch Weihnachten. In der Sonntagsschule bin ich immer der blöde Joseph, den es in der Geschichte ja gar nicht braucht. Ich wäre lieber etwas richtiges, ein König, vorallem Balthasar, aber der muss wie jedes Jahr Cedrik spielen, wegen der Farbe. Wegen seiner Farbe oder wegen meiner, ich finds jetzt emel blöd, und Cedrik auch – und zwar die ganze Welt. Er komme jetzt nicht auch noch in die Sonntagsschule. Dabei sahen wir uns nur dort und ich war in ihn verliebt. Nach der Feier Zuhause habe ich dann nur noch gekörbelt vor lauter Rimuss-Kinderwein und Wiehnachtschrömli und dem Braten im Teig und Grossmutters berühmter Ananascremetorte und Mama sagte, das war jetzt für dieses Jahr vielleicht doch ein Biss zu viel.

Christoph Schneeberger wird 1976 im Aargau geboren und wächst in Vogelsang und Birr auf. Er studiert zunächst am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und schliesst 2018 den Master in Literarischem Schreiben an der Hochschule der Künste Bern ab. Christoph Schneeberger verknüpft die verschiedenen Bereiche der Kunst und ist in vielseitigen Formen und Identitäten aktiv. Als X Noëme – so heisst er als Dragqueen – performt er etwa eine Lesung seines preisgekrönten Romans «Neon Pink & Blue». 2021 gewann Christoph Schneeberger den Schweizer Literaturpreis.

Nora Gomringer «Krippel“, 2. unschöne Weihnachtsgeschichte

Weiß man gar nicht, wie dunkel die Zeit der Lichter ist, bevor einer darin stirbt, statt geboren zu werden. Ähnlich ist, was sie dir ins Haus tragen, wenn du dann alle wissen lassen musst: Wir haben einen verloren. Myrrhe, Weihrauch, zu wenig Gold. Keiner bringt die Windeln mehr, die Sanitärartikel, keiner rollt die Augen, weil die Rezepte immer zum Freitag auslaufen und die Stürze als Regel immer tief in der Nacht, früh am Morgen ebenfalls zum Wochenende hin geschehen. Keiner telefoniert mehr wie wild. Und keiner weint, weil der Schnee selbst unwissend fällt. Die Natur ist Komplizin ihrer selbst, lacht ein bisschen über dich, weint verstohlen ein bisschen mit dir. Hast eine ganz neue Landkarte und wünschtest, da wäre ein Esel, ein Ochse. Ein paar große Tiere, die dich ablenken, deren Umsorgung eine Anstrengung wäre. So bist du nur ein Lebewesen ohne den anderen und das zur Weihnachtszeit. Vielleicht selbst der Ochse, der Esel – ein Tier, das man waschen und füttern muss, trotz schwerer Hufe, die man kaum anheben kann. Liegen da die Strümpfe, die engmaschigen, hautfarbigen, die man kaum über Beine und Hände zwingen konnte. Liegen da die Unmengen an Handtüchern, die Unfälle vermeiden, rasch ungesehen machen sollten. Liegen da Brille und Zähne. Engel kommen und gehen, sie lassen Federn. Das Haus wird ein Flughafen. Du hältst die aufwirbelnden Blätter fest: Fotos, Einkaufs- und Notizzettel, Beweise der Handschrift einer Hand, die nie mehr sichtbar werden wird. Du begreifst und verschiebst und verschreibst dich der Erinnerung, wirst ihr Besitzer, hängst ein Schild an dein Hirn: Cave Canem. Dieser Hund wird beißen, wer deiner Erinnerung widerspricht. Diese Phase – alles wird phasisch – hält an, wird groß und wild, deine Tränen waren nie feuchter. Nach dem Grab kommen der Frühling, das Auferstehen. Und schon im Sommer sind die Gedanken wieder voller Kerzen und du machst Yoga und lernst neue Rezepte für den Winter. Darin wird alles Schleife. So eine um die Geschenke, so eine im Hirn. Im Gottesdienst wird noch einmal der Name erwähnt, da klingt er schon fremd und wie Legende. Dann ist Weihnachten. Und die, die übrig sind, schlafen vor der Mitternacht. Schlafen im Stroh, träumen von sprechenden Tieren.

Nora Gomringer hat zahlreiche Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Ahrenshoop, Nowosibirsk und Kyoto wurde ihr 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis und 2019 war sie Max-Kade-Professorin des Oberlin College and Conservatory in Ohio. 2022 wurde Nora Gomringer mit dem Else Lasker-Schüler-Preis ausgezeichnet. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia als Direktorin leitet.

Barbara Peveling «Befana spricht», 1. unschöne Weihnachtsgeschichte

La befana scende dal camino, e porta doni ad ogni bambino…

Die Befana kommt durch den Schornstein und bringt jedem Kind Geschenke…

Er war aus dem Norden gekommen, nicht aus dem Süden, wie sie lange geglaubt hatte. All die Jahre glaubte sie, der Süden, Mandelblüten, Lavendel, Orangen, der heiße Wind zwischen den Bergkuppen, all das gehörte zu ihm, genau wie zu ihr. Mehr noch, er verkörperte all dies für sie, schlimmer noch, sie war, überzeugt gewesen, ohne ihn würde all das nicht existieren.
Sie erinnert sich an den Besuch der Floating Piers, dort wandelten sie gemeinsam über Wasser, Hand in Hand, der Geruch von Meer, kreischende Möwen über ihnen und dieses Gefühl, alles wäre möglich mit ihm an ihrer Seite. Heute zeigte der Kompass ihres Herzens: Nord.

Sie erinnert sich an seine Ungeduld, damals beim Frühstück in dem kleinen Hotel am Iseo-See. Avanti, Avanti, rief er ihr zu, auch, als sie zögerte, sich gerne von der Masse treiben lassen wollte, die da über den See wandelte. Er aber war ihr immer drei Schritte voraus, seufzte, stöhnte, rollte mit den Augen über ihre Langsamkeit. Dass es schon immer so gewesen war, fiel ihr nach und nach auf. Während sie noch die Wäsche vor der Abreise sortierte, hatte er schon im Auto gesessen, das fesche Käppi auf dem Kopf, mehrfach gehupt, bis sie am Ende doch die Wäsche liegen ließ, aus dem Haus eilte, nur, damit sich die Nachbarn nicht beschwerten. Später bei ihrer Rückkehr, ärgerte sie sich, dass sie noch dabei war Wäsche zu sortieren, während er längst vor dem Fernseher eingeschlafen war. Es hatte eben jeder seinen Aufgabenbereich, oder nicht? Dein Vater, hatte sie dem Kind gesagt, wenn es sich über seine Härte beschwerte, weiß was gut für dich ist. Sie hatten nur dieses eine Kind gehabt. Mit dir stimmt etwas nicht, hatte er gesagt, als es nicht mehr klappen wollte, und sie sich geschämt und gedacht, was bin ich nur für eine Hexe. Aber die Sehnsucht danach, zu geben, war in ihr geblieben, doch ihr Herz war ausgetrocknet, wie ein Flussbett in der Hitze des Sommers, oder wie das menstruierende Blut in ihrem Körper, da kommt nichts mehr nach, nach und nach hatte sie verstanden, dass er nicht aus dem Süden gekommen war, so wie sie Anfangs gedacht hatte, und irgendwann fragte sie sich nicht mehr, ob er schon immer so rau und so kalt gewesen war, sie war sich sicher, er war aus dem Norden gekommen. Und das würde sie auch vor Gericht sagen, ja, sie hatte zurückgeschlagen, ihn erschlagen, morgen schon, würde sie sprechen.

Barbara Peveling, geboren 1974 in Siegen, studierte in Tübingen Ethnologie und Pädagogik, promoviert über das Zusammenleben von Juden und Muslimen in einem Viertel von Marseille und lebt mit ihrer Familie in Paris. Sie publizierte mehrere Prosastücke und Poesie in verschiedenen Zeitschriften, darunter Akzente Zeitschrift für Literatur. 2006 nahm sie am 14. Open Mike teil. «Wir Glückspilze», ihr erster Roman, erschien bei Nagel & Kimche. 

Webseite der Autorin

Anna Pieger «Waldrausch», Plattform Gegenzauber

Prä-Positionen

unter Fichten, Föhren, Kiefern, Tannen,
Buchen
wohnt das Dunkel
schäle ich mich aus meiner Haut
schuppe
lege Schicht um Schicht ab
bis ich nackt dastehe
weich, zu verletzlich


zwischen Ahornschösslingen
wächst Klee
zupfe ein Blättchen ab
stecke es zwischen die Lippen
die Zunge schaudert
rolle mich über den Teppich
aus fleischigem Grün
hier findet mich keiner


lehne mich an den rauen Stamm
der Erle
die Sonnenstrahlen suchen
den Grund
blinzle
Sonnenflecken streichen über die helle Hälfte
meines Gesichts
Tränen laufen stumm
tropfen auf frühjahrsmüde Winterlinge





Aufstieg

die Fingerkuppen versuchen
sich in den Sandstein zu bohren
was so rieselt
muss doch nachgeben
Einbuchtungen ertasten
unter den Fingernägeln Monde aus Sand
krümelig, schmirgelnd
kein Halt
rutsche
kratze vergebens Spuren in die Erde
schlittere
Brombeerranke klammert sich an Hand
falle
falle
der Kopf landet zwischen Veilchen und Efeu
schliesse die Augen
um mit dem Schmerz allein zu sein


neben meinem Auge eine
Waldameise gross
ihre Glieder wirken unverbunden
sie arbeitet
ich bleibe liegen
aus dem Laub
das spröde knistert
wachsen Buchenschösslinge
wie zwei dunkelgrüne Fächer
bliebe ich liegen
sie trieben aus meinen Arterien
bis pelzige Blätter aus ihnen sprössen


ziselierte Gräser
gebleicht vom Sommerregen
spielen in einem kleinen Wind
zerfranste Cirruswolken
auf reinzuwaschendem Blau
eine Ahnung von Regen
steigt


rapple mich hoch
streiche mir die Laubpartikel aus dem Haar
betaste die dumpfe Beule
und schreite voran
stolpere über Wurzeln
am Boden ausgebreitet
wie die Finger von Greisen
knochig
verknorpelt, von staubigem Grau
mit erstaunlich festem Griff


finde ein Mohnkronenblatt
dahingeweht
auf Kalkstein
berge es gebückt
in meine Finger
seidig
leuchtet es
schwebt auf der Handinnenfläche
streiche so oft über das Fahnenrot bis
es bricht

 

Anna Pieger, geboren 1981 in München, studierte an der Universität Basel Kunstgeschichte und Philosophie. Ihr literarisches Schaffen umfasst Prosa und Lyrik. Sie lebt mit ihren beiden Kindern in Basel und ist als Co-Leiterin einer Sekundarschulbibliothek sowie als Redakteurin für das Gesellschaftsmagazin ERNST tätig.

Pia Troxler «Jubiläum», Vicon Verlag, Gastbeitrag

Der Roman von Pia Troxler wagt sich an ein heikles Thema. Es geht um sexuelle Übergriffe eines Professors, der seine Machtposition gegen junge Frauen ausnutzt. Was als kundiger Einblick in akademische Strukturen beginnt, endet mit Mord und Totschlag. Eigentlich findet das Buch überhaupt kein Ende – braucht es auch nicht.

Jubiläum oder Das Ende der Scham
Eine Gastkritik von H. S. Eglund, Berlin.

Denn alles bleibt offen, gleichsam erstarrt. Am Ende steht die ungeschriebene, unausgesprochene Frage: So, jetzt seid Ihr dran. Wie geht es weiter?
Ein Beitrag zur aktuellen Me-too-Debatte, zweifellos ein wichtiger Beitrag, der sich ins Genre eines Romans kleidet. Das ist gewagt, weil bei diesem Thema überall Tretminen lauern.

Zu leicht könnte die Autorin versucht sein, Partei zu ergreifen. Zu verführerisch ist die Chance, in Propaganda gegen männlichen Sexismus und Chauvinismus zu verfallen; Klischees zu liefern statt Erzählung, statt Kopfkino, das der Leserschaft eigene Urteile überlässt.

Wesentlich für die Authentizität

Als ich anfing, Pia Troxlers Roman Jubiläum zu lesen, stolperte ich zunächst über die Sprache. Da scheint eine Schweizerische Einfärbung durch, an die ich mich als Bewohner des größten Kantons erst gewöhnen musste. Im weiteren Verlauf der Handlung wurde der Stil jedoch schlüssig, denn der Roman erzählt aus einem Institut, aus einer Hochschule in der Schweiz. Sprache ist wesentlich für Authentizität, erst recht im Roman. Nach anfänglichem Stolpern kam ich gut in Tritt, zumal die Handlung wesentlich durch Dialoge getrieben wird, das macht sie flüssig und schnell.

Toxic Masculinity wie in Hollywood

Hauptfigur der Erzählung ist Sibylle Beckenhofer, eine Studentin am Institut für Sozial- und Technikforschung. Unter fadenscheinigen Gründen wird sie von Professor Karl Grossholz in sein Arbeitszimmer gelockt und grob begrabscht. Zuerst schmeichelt er ihr, spielt mit ihrem Wissensdrang, auch mit ihrer Eitelkeit. Dann zeigt er unverhohlene, hemmungslose Gier. Toxic Masculinity ist der Fachbegriff, der sich dafür eingebürgert hat.

Daneben treten weitere Frauen auf, die unter den Übergriffen des erfolgreichen Professors leiden, sie oft stumm erdulden. Ähnlich Harvey Weinstein in der amerikanischen Filmbranche haben Professoren nicht selten die Macht, über die künftige Karriere ihrer akademischen Schützlinge zu befinden – und zu entscheiden.

Pia Troxler «Jubiläum», 328 Seiten, Vicon Verlag, 2022, ISBN 978-3-9525294-7-8

Die Scham überwinden

Neben Grossholz tritt Professor Knoll auf, so etwas wie der Dekan und damit Vorgesetzter am Lehrstuhl. Kenntnisreich wird der akademische Betrieb dargestellt, hier anhand von soziologischen und Themen der Technikgeschichte. 
Langsam finden die Frauen zusammen, überwinden ihre Scham. Denn geschickt nutzen Leute wie Grossholz das Gefühl der Beschämung und Beschmutzung bei den Frauen aus, um unter Umständen jahrzehntelang weiterzumachen.

Kenntnisnahme erzwingen

Eine Anwältin wird eingeschaltet. Sie zwingt Professor Knoll, die Entgleisungen seines Kollegen zur Kenntnis zu nehmen. Knoll windet sich, einem Aal gleich, denn das 30-jährige Jubiläum des Instituts steht vor der Tür.
Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, wer stört solche Festlichkeiten gern mit Vorwürfen des Sexismus? Nach der Party verliert Grossholz völlig die Kontrolle über sich selbst, bringt eine junge Frau um. Und tut, als wäre nichts gewesen. Nur den Kollegen Knoll, den macht er zum Mitwisser.

Die Leiche im Aktenschrank

Die Leiche liegt verborgen, wo die meisten Leichen schlummern: im Aktenschrank. Ob und wie sie entdeckt wird, ob und wie Grossholz überführt und vollends entlarvt wird, wird nicht erzählt. Doch am Ende sieht der Leser das Blaulicht der anrückenden Polizei vor seinem geistigen Auge. Wie in Fernsehkrimis, dort als Cliffhanger bezeichnet.

Der Roman also endet und endet nicht. Nun könnte die Diskussion beginnen, über sein eigentliches Thema, den Missbrauch von Macht. Doch dieses Thema, das die Handlung über weite Strecken trug, ist durch den Mord in den Hintergrund getreten.

Scheiss Fernsehkrimis

Oder wurde auf die Spitze getrieben – und übertrieben. Soll heissen: Der Roman, der sich zum Krimi wandelt, hätte dieser Metamorphose nicht bedurft. Scheiss Fernsehkrimis, sie machen das Schreiben nicht unbedingt einfacher. So habe ich zwei Bücher gelesen, eines über Missbrauch, eins über Mord.
Zudem wird zum Ende hin seitenweise erläutert, was den Professor innerlich zur finalen Schandtat treibt. Psychologisch gesehen sind die inneren Monologe streckenweise geglückt und nachvollziehbar. Doch stets hören sie vorm emotionalen Urgrund auf. Unbeantwortet bleibt: Wo nahm der Schaden seine Anfang?

Es hätte dem Roman gut getan, weniger akademisches Fachwissen zu präsentieren, weniger Details der ausufernden Feier zum Jubiläum, dafür mehr Innensicht des Täters. Nicht, um ihn zu entschuldigen. Sondern um ihn als Figur gleichrangig neben die weiblichen Akteure zu setzen, sie literarisch auf eine Stufe zu stellen.
Denn die Frauen sind in ihrer Situation durchweg einfühlsam und behutsam dargestellt, das ist eine grosse Stärke des Romans. Auch ihre unterschiedlichen Reaktionen, wie sie mit den Übergriffen umgehen, wird verständlich, bis tief in ihre Gefühlswelt hinein, mit all dem emotionalen Chaos, das der Professor anrichtet.

Der Unterschied zwischen Belästigung und Mord

Nicht die Autorin oder der Autor sollten Urteile bilden, sondern Leserinnen und Leser. Der Mord am Ende des Romans stellt Professor Grossholz ausserhalb aller Normen.
Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob es um seine Motivation geht, Frauen zu demütigen, sie im normalen Institutsbetrieb sexuell zu belästigen. Oder ob es um Mord geht, vor dem diese Frage – zwangsläufig – verblasst.

Im Roman von Pia Troxler geht es eindeutig um sexuelle Übergriffe, die von bestimmten institutionellen Strukturen unterstützt werden. Schonungslos legt sie diese Strukturen frei, in denen maskuline Dominanz angelegt und konserviert ist.
Wir erwähnten Hollywood. Ebenso gut könnten wir die Kirchen nennen. Im Detail verschieden, geht es um haargenau das gleiche System von Abhängigkeit, um die gleiche, falsch verstandene Kollegialität. Um die gleiche, perfide Ausnutzung von Scham, um Übergriffe zu vertuschen.

Der Hammer war nicht nötig

Oder reden wir von Mord? Ich behaupte, dass die Autorin damit leider dem Holzhammer verfallen ist, um das Urteil zu zementieren. Jetzt ist jedem klar: Grossholz gehört abgestraft, und zwar richtig! Er ist ein Ungeheuer.
War gar nicht nötig. Dass Grossholz lebenslang in der Falle sitzt, Triebtäter im wahrsten Sinn dieses Wortes ist, hat die Autorin bereits verdeutlicht, weitgehend überzeugend. Spannender wäre (für mich) die Frage gewesen, wie lange ihn Knoll deckt, wie lange das akademische Getriebe solche Leute schützt. Wann Wegschauen zur Mitschuld wird.

Denn das war das eigentliche Thema, deshalb nahm ich diesen Roman zur Hand. Ich kann mit dem Ende (das keines ist) gut leben, immerhin bringt es mich zum Nachdenken. Dass schliesslich ein Mord geschieht, führt mich zwar von der breiten Bedeutung und Brisanz weg, führt mich weg vom Gleichnis, dass die Story stellvertretend für Filmproduzenten, Regisseure, Kardinäle, Bischöfe und Popen steht.
Das ist jedoch kein Problem, tut dem Buch keinen Abbruch. Denn Literatur ist Aneignung durch Lesen. Als Beitrag zur aktuellen, dringenden Diskussion funktioniert dieser Roman ausgezeichnet, auch ohne sein letztes Kapitel. Und mancher, der ihn liest, wird sich gerade am Mord erfreuen, wird durch diese Episode einen Zugang finden, der mir verwehrt blieb.
Diesem Buch und seiner Autorin wünschen wir zahlreiche Leserinnen und Leser und vor allem viele spannende Diskussionen.

Pia Troxler, geboren in Luzern, Autorin, Soziologin, Schreibcoach, lebt in Zürich, von 1997 – 2005 in Leipzig. Sie arbeitete u. a. als Lehrbeauftragte an der Universität Zürich, leitete von 2012 – 2021 einen Literaturtreff und unterrichtet privat und an Festivals Kreatives Schreiben. In der Literatur ist sie auf Prosa und Dramatik spezialisiert. Sie hat den Erzählband «Die Verwünschung» publiziert. «Jubiläum» ist ihr Romandebüt.

H. S. Eglund lebt als Publizist in Berlin, er war früher Reporter für «Der Tagesspiegel», «Frankfurter Rundschau» und «Die Zeit». Heute ist er Fachjournalist und Autor mehrerer Bücher. Sein letzter Roman «Nomaden von Laetoli» ist 2021 erschienen.

Website der Autorin Pia Troxler.

Literaturhaus Thurgau Gottlieben: Sonntag, 4. Dezember 2022, 11 Uhr: Ein AutorInnen-Kollektiv stellt junge Texte zur Diskussion.

Schreiben ist das eine. Wenn Texte einem Publikum „ausgesetzt“ werden, beginnen sich diese zu verselbstständigen. 10 AutorInnen aus der Schweiz sind Dieter Boller, Gianna Olinda Cadonau, Marc Gallus, Corina Heinzmann, Rebecca Holzer, Agnes Weber, Alessandro Weiler, Stefan Wenger-Ledermann, Pascal Witschi und Katharina Wüthrich lesen aus ihren Texten und diskutieren über ihr Schreiben.

Moderation Gallus Frei

Wer sich mit Textproben aus dem Schaffen einiger AutorInnen auseinandersetzen möchte, hier eine Auswahl an Textanfängen, die auf der «Plattform Gegenzauber» in ganzer Länge gelesen werden können.

Hier kann man sich im Literaturhaus anmelden.

Dieter Boller «Akzentfrei
»:

Schön schwer ist sie, dachte Emmelius. Das um Aronja gelegte Tuch leuchtete. So hell, dass er sich Sorgen machte. Der Weg vom Pfarrhaus auf die Anhöhe war zum Glück nicht weit.
Er hatte sich gut überlegt, wo er sie betten wollte. Das nördliche Feld war erst zur Hälfte belegt. Allesamt Diesjährige. Der Bereich eignete sich nicht. Noch waren die Tränen der Angehörigen nicht getrocknet. Kamen die Trauernden wöchentlich, wenn nicht sogar täglich vorbei. Beäugten minutenlang den Stein, die Blumen, die Kerzen. Jede noch so kleine Veränderung hätten sie sofort bemerkt.
Die vergessenen Seelen lagen im Westsektor. Auf den Schiefersteinplatten, die zu den Gräbern führten, war Moos gewachsen. Ihre Körper waren nicht mehr. Dem Erdboden gleich. Zersetzt. Vom sauren, sandigen Obwaldner Boden… (weiterlesen)

Corina Heizmann «Schaukelstuhl»:

Letzten Sommer wollte ich meinen Schaukelstuhl anmalen, Zitronengelb. Stundenlang bin ich durch den Heimwerkerladen gelaufen auf der Suche nach dem richtigen Farbton. Ein helles, frisches Gelb, einen Hauch vor der Grenze zum Grünstich, hell aber nicht grell. Ein sommerliches Statement Piece für meinen Balkon, auf dem ich kluge Bücher über Kapitalismus lesen und frische Ingwerlimonade trinken würde, deren Rezept ich auf dem Pinterest-Profil einer übermotivierten Agglo-Mutter gefunden hatte.
Es ist nun zum zweiten Mal wieder August und der Schaukelstuhl steht immer noch in der Ecke meines Lagerzimmers. Das dritte Zimmer meiner Wohnung, in das ich alles hineinstelle, von dem ich nicht weiss, wohin damit.
Manchmal leg ich mich dazu und schau, wie die Staubpartikel in den Sonnenstrahlen fliegen… (weiterlesen)

Agnes Weber «Der längste Gang»:

Heute Abend ist es so weit. Mary und ich sind bei Rita zum Essen eingeladen. Sie hat den Termin aus unklaren Gründen mehrere Male verschoben. Rita wohnt abgelegen in einem kleinen Dorf, in einem der wenigen Mehrfamilienhäuser neben den Bauernhöfen. Draussen ist es kalt, die Welt erstarrt im Schnee. Mary steuert das Auto vorsichtig. Ich wische die beschlagenen Vorderscheiben mit einem Lappen.

Rita empfängt uns herzlich und führt uns in die geräumige, warme Stube. Nach der Vorspeise verzieht sie sich, um den Hauptgang fertig zu kochen. Ein Mann tritt in die Wohnung, grüsst flüchtig, geht in die Küche. Ich weiss nicht, wer er ist; vielleicht Ritas Freund. Die Vorbereitung des Hauptgangs scheint viel Zeit zu brauchen. Es dauert und dauert. Mary und ich nehmen es kaum wahr, wir sind ganz in unser Gespräch vertieft. Plötzlich schrecken wir auf… (weiterlesen)

Stefan Wenger-Ledermann «was engt mich ein – was macht mich weit»:

I Erde / Schöpfung
was engt mich ein
was macht mich weit
ein stiller See
einsamer Grat
auch bei Regen
kleiner Frosch
Weinbergschnecke
Moos und Gras
der Duft
von Leben

II Innenraum
es engt mich ein
ein dunkler Traum
ein enger Raum
manch Schuldgefühl
und innerlich Gewühl
mal Kindsgeschrei
und ausgeleerter Brei
dann tiefe Trauer
Herzensmauer… (weiterlesen)

Pascal Witschi «wie das ewige Meer»:

«Nach mir wird ein Nächster kommen, der dich lieben wird wie seinen Sohn, und er wird von Neuem Licht entzünden, von Neuem Gottes Wort verkünden», schmatzte der Vater mit Pomadelippen vorne auf dem Podium des Saales. Das Echo klatschte durch das Kirchenschiff, verklebte beide Ohren Adams, der den Vater von unten in den Schatten stellte. Ihm in den verloschenen Greisenaugen leuchtete, den Geruch verbrannter Erde in der Nase und erleuchtet durch vier kolossale Kirchenfenster, vier farbgewaltige Bleiglasheilige, deren komplexes Spiel von Farben auf dem fremdländischen Teint kurzerhand verloren ging.
«Ich brauch kein austauschbares Wort von einem austauschbaren Gott aus dem Munde eines austauschbaren Vaters! Ich brauch allein mich selber!», bellte er, im Rücken das Foyer, zu dem die Tür noch offen stand. Es zog… (weiterlesen)

Kurzbiographien der lesenden Autorinnen und Autoren

Dieter Boller, geboren 1980 in Zürich, studierte Publizistik und Psychologie an der Universität Zürich. Nach seinem Master arbeitete er zwölf Jahre als Werbetexter in verschiedenen Schweizer Agenturen. 2019 hat er sich als freier Texter, Konzepter und Autor selbständig gemacht. Wenn er gerade keine Werbetexte textet, textet er Werbetexte wie diesen hier. Und schreibt Kurzgeschichten. Dieter Boller lebt mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen in Zürich.

Gianna Olinda Cadonau schreibt Gedichte und Prosa auf Romanisch und Deutsch. Bisher erschienen zwei Gedichtbände beim Verlag editionmevinapuorger, Zürich, „Ultim’ura da la not / Letzte Stunde der Nacht“ (2016) und „pajais in uondas / wiegendes Land“ (2020). Ersterer wurde mit dem Förderpreis Terra Nova der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet. Ausserdem leitet sie die Kulturabteilung der Lia Rumantscha. Die Lyrikerin lebt mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn in Chur. 2022 Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte deutschsprachige Prosadebüt «Feuerlilie».

Marc Philippe Gallus, geboren 1958 in Bettlach (SO) ist stolzer Vater einer erwachsenen Tochter. Beruflich widmete er sich bis zum 30. Lebensjahr der Haute Cuisine. Diverse Weiterbildungen führten ihn zu seiner zweiten Karriere. Über zwanzig Jahre führte er sein Unternehmen im Bildungsbereich. Mit sechzig Jahren zog er sich aus dem Arbeitsleben zurück. Die frei gewordene Zeit widmet er dem kreativen Schreiben. Zurzeit nimmt er am Diplomlehrgang ‹Literarisches Schreiben› an der SAL Zürich teil. Seine Texte entstehen zuhause, im Zürcher Oberland, mit Blick auf die Berge und den Pfäffikersee, wo er zusammen mit seiner Partnerin lebt.

Corina Heinzmann, 1990 in Zürich geboren, arbeitet als Journalistin und schreibt beruflich fürs Hören. Während der Arbeit steht sie am Mikrofon, privat läuft sie hunderte Kilometer mit dem Rucksack durch Europa. Sie verlässt das Haus nie ohne Notizbuch und schreibt am liebsten Kurzgeschichten. Corina Heinzmann lebt in Zürich, liebt Hunde und hasst Deadlines. Sie ist fasziniert von menschlichen Abgründen und liest bei einem neuen Buch zuerst den letzten Satz.

Aufgewachsen ist Rebecca Holzer im östlichen Berner Oberland. Der räumlichen Einschränkung der dortigen Gestirne zum Trotz hat sie Wirtschaft und Politikwissenschaft in Luzern und Fribourg studiert. Nach einigen Jahren Reisen, Praktika im In- und Ausland und einem Einsatz mit der Schweizer Armee im Kosovo ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt. Heute lebt sie dort mit Partner und Kind. Sie führt unter anderem während der politischen Sessionen und Kommissionssitzungen in Bundesbern Protokoll und verfasst Reden für Politiker:innen.

Agnes Weber, geboren 1951 in Aarau, las und schrieb als Jugendliche viel. Nach ihrer Erstausbildung arbeitete sie als Sekundarlehrerin. Lebte insgesamt sieben Jahre im Ausland. Engagiert(e) sich politisch für eine bessere Welt. Studierte Bildungswissenschaften. Leitete in der eigenen Firma Projekte im Bildungsbereich. Publizierte ein Fachbuch. Ist heute noch in der Hochschuldidaktik tätig im In- und Ausland. «Das Fest» ist ein Auszug aus ihrem ersten literarischen Werk. Sie lebt mit ihrem Partner in Zürich.

Alessandro Weiler ist 1993 in Zürich geboren. Er wuchs mit Fantasy-Büchern, Games, Anime und Mangas auf. Seither zeigt er ein Interesse an missverstandenen Charakteren, die weder klar gut noch böse sind. Mit zunehmendem Alter faszinierten ihn die Fantasy-Geschichten, die viel Reales in sich trugen – mit Themen wie Gewalt, tiefen Bindungen, Liebe und Sex. Das führte zur Kreation seines eigenen Charakters und um diesen herum entsteht eine scheinbar unendliche Geschichte.

Stefan Wenger-Ledermann *1985. Als Jugendlicher hat er die Lust und Leidenschaft des Tagebuchschreibens entdeckt. Mit den Jahren kamen lyrische Texte, Gebete und Kurzgeschichten hinzu. 2021 gab er sich einen Ruck und damit seiner grossen Leidenschaft Raum: er besuchte den Lehrgang «Literarisches Schreiben» an der SAL in Zürich. Er ist verheiratet und Vater zweier Töchter, die er an zwei Wochentagen betreut. 2013-2021 Tätigkeit als Gemeindepfarrer (ref.). Ab 2023 tätig als Klinikseelsorger sowie Weiterbildung in Seelsorge.

Pascal Witschi ist ein Schweizer Autor. Der Berner mit Jahrgang 1989 schreibt seit seiner Jugend Prosa wie auch Lyrik und studierte an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich Literarisches Schreiben, ehe er sich der Natur- und Wildnispädagogik zuwandte. Er veröffentlichte zwei illustrierte Gedichtzyklen, namentlich «Gode Graubund» (2019) sowie «Das Märchen von Anao und Aloe» (2020), und arbeitet gegenwärtig an seinem Erstlingsroman.

Katharina Wüthrich schreibt seit vielen Jahren in kurzen Formaten als Teil ihrer spartenübergreifenden künstlerischen Arbeit. Ursprünglich vom Tanz und der Performance herkommend gestaltet sie Bilder, Objekte, Installationen, die sie mit ihren Texten erweitert. Sie ist Mitglied verschiedener Schreibgruppen und hat sich durch die Teilnahme am Lehrgang ‘Literarisches Schreiben’ an der SAL 2021 einen neuen Schwerpunkt in der Textarbeit gesetzt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Bern und unterrichtet in der Begabtenförderung.

Paubry «Hunger nach Echtheit», BLOX, 3

Wir hungern nach Echtheit. Doch haben wir wirklich den Sinn dafür? Und verkraften wir sie auch? Den meisten genügt ein Waldspaziergang, damit ihr Bedürfnis nach Echtheit gestillt ist. Mit Regenschirm und Mückenmittel. Aber wehe, ein Unrat liegt am Weg. Vor Jahren unterhielt ich mich mit einem Wildhüter, der mehrmals wöchentlich Kadaver aus den Büschen zieht. Der Grad an Fäulnis bemisst sich am Zeitraum, bis ihm der Fund gemeldet wird. Für die Spaziergänger, die echte Waldluft tanken, hatte er nur ein müdes Lächeln übrig. Gerne liess ich mir schildern, wie die Fliegen aufschwärmen. Oder wie er Maden aus dem Heck seines Wagens kehrt. Vom Geruch gar nicht erst zu reden. An diese eigentümliche Süsse habe er sich längst gewöhnt.

Wir mögen Echtheit, wo sie blüht, rieselt, plätschert, wo sie wie sanftes Sonnenlicht auf unsere Haut fällt. Aber das sind allesamt keine notwendigen Eigenschaften von Echtheit. Hässlichkeit ebenso wenig oder Wildheit, Grobheit. Wer jedoch das Widerwärtige meidet, damit er Echtheit erfährt, anerkennt nur die halbe Welt.

Gewünscht wird Tiefgang statt Oberflächlichkeit. Die Generation der Jahrtausendwende hat sich dem Wert der Authentizität verschrieben. Dieses fürchterliche Wort bedeutet, dass Gefühl und Ausdruck übereinstimmen, sei es in Wort oder Geste. Daran hängt sich sogleich der Begriff der Transparenz, der derart überanstrengt wird, dass man Authentizität sicherheitshalber vermeidet. Wer sein Gefühl verbirgt, gilt für unauthentisch. Mag sein.

Aber sein Verbergen ist echt.

Ebenso die Gründe, die diese Person dazu veranlassen. Wir mögen Masken nicht, wenn wir alltäglich miteinander verkehren. Dagegen freuen uns alte Bräuche, wenn etwa ein Lötschentaler mit Maske Wintergeister vertreibt. Es heimelt uns so urtümlich an.

So echt.

Wo Echtheit vor sich hin dämmert, übersehen wir sie leicht. Es braucht schon Rosen, bis wir Blumen bewundern. Die fahle Spierstaude fällt uns eher deshalb unangenehm auf, weil ihre Blüte wie menschlicher Same riecht.

Wenn Echtheit unsere Gegenwart aufmischt, erhöht sich ihr Reiz. Und die Befriedigung vertieft sich. Ein Schüler, mit dem ich öfter im Gespräch war, verriet mir, er bekenne sich zu den Ultras. Auf meine Frage, ob es da wirklich um Schlägereien gehe, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Die gehörten zweifelsohne dazu. Mitunter seien sie die Hauptsache. Eigentlich hätte ich diese Leidenschaft verurteilen müssen, aber es gelang mir nicht. Der Schüler, ansonst umgänglich und klug, schien Echtheit zu erfahren, wenn die Fäuste flogen.

Leider werde ich wohl nie einer Geburt beiwohnen. Immerhin stehen mir Todesfälle bevor. Beide Momente dürften an Echtheit kaum zu überbieten sein. Auf der Insel Ischia gab es vor Jahrhunderten ein Felsenkloster, wo verstorbene Nonnen sitzend auf einen Steinsockel gebettet wurden. Die Schwestern hatten andächtig ihrer Verwesung beizuwohnen. Es waren Rinnen in den Stein gehauen, zur Ableitung der Körpersäfte.

Eine Andacht dieser Art bleibt uns erspart. Oder vorenthalten, je nach dem. Was uns bleibt, ist der kleine Tod für dazwischen. Es reicht schon, wenn man diese kraftvolle Echtheit im Vollzug erlebt. Offenbar besteht darüber hinaus der Reiz, fremde Orgasmen zu betrachten. Dieser Ausdruck köstlichster Echtheit scheint besonders beliebt. Das belegen zahllose Selbstzeugnisse im Netz, die Gesichter im Augenblick dieser intimsten Echtheit darbieten. Wer auf die feinen, stillen Züge Acht gibt, statt dass er im Gehampel und Gestöne nach Beweisen sucht, damit er inskünftig vor Täuschung sicher sei, wird einen sanften Moment ausmachen, wo die Mimik derart entspannt ist, dass sie kurzfristig die Züge einer Leiche annimmt. Indes flutet der Höhepunkt das Rückenmark bis zum Kopf. Wie wenn ein Gulli in einem Schub überläuft.

Je mehr wir in die Dinge eingreifen und sie gestalten, indem wir sie einander absondern und anders zusammenfügen, reden wir vermehrt von künstlichen Welten. Für echt halten wir demnach Sachverhalte, wenn sie unserem Einfluss entzogen sind. Wie etwa die Natur. Und da sollte jenen, die nach Echtheit dürsten, eine schlichte Tatsache aufgehen:

Unzweifelhaft echt sind wir selbst.

Von Natur so hervorgebracht, wie sie es offensichtlich für richtig hält. Ohne unser Dazutun. Daher gilt für mich die Unterscheidung in echt und künstlich nur bedingt. Aus meiner Sicht entspringt sie eher einem menschlichen Unbehagen an der Welt. Und an sich selbst.

Was wiederum echt ist. Aus guten Gründen.

Zsuzsanna Gahse «Wie sonst?», Plattform Gegenzauber

Und ihre Eltern haben Sie dann aus den Augen verloren? Beide gleichzeitig?

Sie sagen nichts?

Bin ich Ihnen zu nahegetreten? Ich wollte Sie nicht beleidigen, ich wollte Sie ja verteidigen. Kennen Sie diesen Satz, diesen gesungenen Satz aus der Fledermaus? Könnte ich Ihnen vorsingen, vorsingen lassen. Aha, gefällt Ihnen nicht. Ich wollt Sie nicht beleidigen.

Entschuldigen Sie.

Mögen Sie Lieder und welche am liebsten?

Mit einem Mal sehen Sie merkwürdig aus. Wie eine hölzerne Gestalt. Im Augenblick sehen Sie aus wie eine Statue! Come una statua. Über die starre Statue könnte man auch singen.

Nun habe ich es verstanden. Sie finden es lächerlich, Sie mit Sie anzusprechen. Kommt nicht wieder vor.

Bist du ein Anhänger von Elvis? Du magst ihn also nicht.

Eher den Armstrong, die schöne tiefe, kratzige Stimme?

Derzeit gibt es Songs im Schweizer Dialekt, die sich südamerikanisch ausnehmen. Wäre das etwas?

Anfangs hast du Lisa erwähnt, die Braunblonde. Warum habt ihr euch getrennt?

Hast du wirklich Angst vor Frauen? Vor allen Frauen, oder hast du dir das eingeredet?

Gibt es das, gibt es alle Frauen als ein einziges großes Gebilde? Das frage ich mich auch. Ich glaube, dass es das nicht gibt. Alle Frauen zusammen gibt es nicht. Sie sind absolut unterschiedlich, divers, tausenderlei. Daher ist in den alten Dichtungen immer von einmaligen Frauen die Rede. Die Ersehnten sind einmalig. Im Hochgesang sind alle Ersehnten einmalige Frauen.

Nun aber, aber versammeln sich die einmaligen Frauen. Ausgerechnet sie. Fischschwärme von Einzelwesen. Sie schwirren aus.

Denkst du jetzt an das Forellenquintett? Eher nicht. Ich glaube nicht, dass du gerade an Schubert denkst.

Magst du eine Zigarette?

Gerade will mir kein Zigarettenlied einfallen. Dafür die sengende Sonne.

Oh, Insel in der glühenden Sonne, der Morgen bricht an. Die erschöpften schwitzenden Schwarzen hören nachts die Trommel und den philosophischen Calypso (jemand sagte, der Calypso sei philosophisch), bald bricht der Morgen an, während ich (in diesem Fall ist Ich ein schwarzer Sänger) schwere Lasten tragen und heben muss, zum Himmel empor heben, aber wo ich auch sein mag, auf welchen Meeren ich auch segeln mag, werde ich immer Deine Ufer preisen.

Sobald mir die Sonneninsel einfällt, folgt das Lied vom mutterlosen Kind. Manchmal, manchmal fühle ich mich wie ein mutterloses Kind, weit weg von zu Hause, weit, weit weg von zu Hause, manchmal fühle ich mich wie ein mutterloses Kind. A motherless child. Meist fällt mir gleich darauf oder kurz vorher Moses ein, der den Pharao auffordert, seine Leute mit ihm ziehen zu lassen. Let my people go.

Außerdem gibt es ein altes Lied mit einer ähnlichen Grundlaune, das ich allerdings nur in der von Kodály bearbeiteten Version kenne. Spät war ich aufgebrochen, war unterwegs, weit weg von zu Hause, ging immer weiter, aber auf halbem Weg blieb ich stehen, schaute zurück und hatte die Augen voller Tränen. Seither gibt es mittags Kummer, Kummer ist mein Abendbrot, unglücklich sind alle Stunden, und ich weine nicht selten unter dem Himmel voller Sterne.

Es gibt eine mehr oder minder bekannte Herbst-Melodie, vom Text her eher unbekannt, wobei in geglückten Fällen die Texte zusammen mit der Musik loslegen, sie sind miteinander unterwegs. In diesem Herbstlied sagt ein Ich ihrem Gegenüber, dass sie ihn nicht liebe, sie sagt ihm das mitten ins Gesicht (im Original sagt sie ihm das in die Augen). Später stellt sich heraus, und nach wie vor erzählt das der Text, dass sie das nur gesagt habe, um seine Antwort zu hören. Erst stand er wortlos vor ihr, dann ging er stumm, und seither sieht die Erzählerin seinen Blick, immerzu die dunklen Augen. Er sagte kein Wort und ging stumm. Vergilbte Herbstblätter fallen von den Bäumen, ihn hatte der Herbst fortgefegt. Automn Leaves.

Tränen, die sind das Ende, Tränen und leere Hände. Blieben allein zurück, Tränen vom großen Glück.

Das war Ende der 50er Jahre neben Shantys ein Lied, das heute nicht einmal auf YouTube auftaucht. Ein Billiglied, allerdings mit guten Beschleunigungen, mit wechselnden Tempi. Einfach zu singen, am besten mit Gitarrenbegleitung.

Abgedroschen, ausgeleiert, abgenutzt, abgesungen und trotzdem absolut ansprechend ist der lachende Bajazzo. Verzweifelte Arie eines Verlorenen. Ist er verloren?

Singen Sie oft?

Entschuldigung. Singst du oft?

Nie, wirklich nie? Liedallergie?

Wirst Du oft nach deiner Herkunft gefragt? Oder nach den Liedvorlieben.

Liedvorlieben ist ein gutes Wort.

Endlos nach der Herkunft zu fragen ist abscheulich.

Am besten nicht antworten, nur singen. Please hear my cry (Sam Cook).

 

(erschienen online in “Für den Fall», Salzburger Literaturhaus und in OSTRAGEHEGE, der Zeitschrift für Literatur und Kunst)

«Kaum zu fassen, wie unterschiedlich Berge betrachtet werden. Investitionsmöglichkeiten, Urlaubsregionen, Jagdgebiete, Regionen für Klettertouren zum Himmel hinauf …», notiert die Ich-Erzählerin von Bergisch in eine ihrer Mappen. Unterwegs in nicht nur freundlichen Alpengegenden sammelt sie in unterschiedlichen Hotels und Berghütten Porträts von Besuchern und den heimischen Gastgebern. Öfters ist sie auch mit Freunden unterwegs, die ihr Interesse für Speisen, Sprachen und deren topografische Zusammenhänge teilen. Sie sammeln Farben, suchen sogar nach Farblosigkeiten, und zu sechst entwickeln sie die Idee eines begehbaren Tagebuchs, um ihre Beobachtungen aufschlussreich archivieren und präsentieren zu können.
Nach und nach tauchen weitere Gebirge auf, unter anderem das Uralgebirge oder etwa die Guayana-Region, und auch die Berge aus Literatur und Kunst sind mit von der Partie.
In über 500 Aufzeichnungen entfaltet Zsuzsanna Gahse ein feinmaschiges Zusammenspiel zwischen den sechs Personen und zugleich entsteht ein lebendiges Panorama der Bergwelten, eine vielschichtige Typologie des «Bergischen».

Zsuzsanna Gahse, geb. 1946 in Budapest, aufgewachsen in Wien und Kassel, lebte längere Zeit als Schriftstellerin in Stuttgart und Luzern, zurzeit wohnt sie in Müllheim, Schweiz. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. aspekte-Literaturpreis (1983), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2006), Italo-Svevo-­Preis (2017), Werner-Bergengruen-Preis (2017), Schweizer Grand Prix Literatur (2019).

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