Frank Keil-Behrens „Ich weiß nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“ – ein erster Auszug, Plattform Gegenzauber

„Tut mir leid“, sagt meine Großmutter, „Sie haben sich verwählt.“ „Wen wollen Sie denn sprechen?“, fragt sie beim nächsten Mal. Ich höre sie atmen, dann klickt es in der Leitung. 
„Frank?“, fragt sie, bevor ich etwas sagen kann. Sie fragt: „Du hast noch das Auto?“

Wir vereinbaren den Tag, die Uhrzeit, mehr besprechen wir nicht, so ist es immer, sie ist wie sie ist. Sie steht unten auf dem Parkplatz vor ihrem Wohnblock, sie steht da in ihrem blauen Mantel, mit ihrem Gehstock, auf den sie sich mit beiden Händen stützt. Ich halte an, ich steige aus, ich helfe ihr beim Einsteigen und Anschnallen, ich rieche ihr Parfüm, leicht seifig riecht es, wir lächeln uns an, ich steige wieder ein, starte den Wagen, einen roten VW-Käfer, den ich bald verschrotten lassen muss, wir fahren los. 
Es geht in den Sonnenland, am Einkaufszentrum vorbei, ich biege rechts in die Kapellenstraße ein, ich folge der Straße zum Friedhof vorbei, auf dem meine jüngere Schwester beerdigt liegt. „Petra“ steht auf ihrem Grabstein, es fehlt ihr Nachname, es fehlt der Tag, an dem sie geboren wurde, es fehlt der Tag, an dem sie starb, ein erster September, der nachmittags noch herbstmild wurde, nachdem es am Vormittag geregnet hatte, so wie um uns doch noch ein wenig zu trösten, nachdem der Bestatter seinen in Kunstleder eingeschlagenen Katalog mit den verschiedenen Sargmodellen, Blumenbestecken und Totenhemden zugeklappt hatte und gegangen war. Meine Großmutter hält ihre Handtasche auf dem Schoß, und sie hält sie fest, sie schaut geradeaus.

„Fahr‘ erst mal“, sagt meine Großmutter, sie blickt durch die Windschutzscheibe, als sei alles neu für sie, was sie um sich herum sieht, die Bäume am Straßenrand, die Steinbeker Kirche, die hinter den Häusern hervorlugt und die auf einem Geesthang erbaut wurde, wie ich mal im Gemeindebrief gelesen habe, während ich die Gänge schalte und ich mich langsam entspanne. Vielleicht schaffe ich es nachher noch ins Büro.
Mal geht es in die Vier- und Marschlande, wo sie Balkonpflanzen kaufen will, falls wir an einer Gärtnerei vorbeikommen. Mal führt es ins Lauenburgische, wo es bald waldig wird und es nach nassen Nüssen und Moos riecht. Diesmal aber geht es zur Tatenberger Schleuse. Wir schauen auf die Bauernhäuser mit den Gewächshäusern, wir schauen auf das Schleusenbecken, wo gerade Wasser eingelassen wird, dass strudelnd vorwärts drängt. Ein Segelboot mit eingeklapptem Mast wartet auf die Weiterfahrt. Ein Mann steht auf dem Vorderdeck und hält die Leine konstant stramm, mit der das Boot an einem eisernen Ring festgebunden ist. Wir kehren um, wir halten an den Gasthof, an dem wir zuvor vorbeigefahren sind, beide werden wir Gulasch bestellen, dass auf der Schiefertafel vor dem Eingang angezeigt ist, dazu Kartoffelsuppe als Tagessuppe vorweg. „Viel los ist ja hier nicht“, flüstert meine Großmutter und nickt in den leeren Gastraum, in dem bestimmt 50 Personen Platz finden könnten, am Wochenende, wenn die Motorradfahrer einfallen. Aus der Küche kommt leise Musik, manchmal hören wir Stimmen. Der Wirt scheint ein Lied zu summen, doch als er schwungvoll den Gastraum betritt, verstummt er und stellt uns wortlos die Teller hin, erst meiner Großmutter, dann mir, wie es sich gehört. „Lass es dir schmecken“, sagt meine Großmutter, die ihren Hut nicht abgesetzt hat. Sie sieht mich aufmunternd aus ihren mittlerweile wassertrüben Augen an. Sie legt sich die Serviette in den Schoß, faltet sie nicht auseinander.

Sollen wir noch ein paar Schritte gehen? Wir gehen noch ein paar Schritte. Gehen kurz über den Gaststättenparkplatz bis zur Hauptstraße, langsam gehen wir, Schritt für Schritt, meine Großmutter ist jetzt 81 Jahre alt, 1910 geboren, sie erwähnt es manchmal. Sie hakt sich bei mir unter. „Das war ein schöner Ausflug“, sagt sie und ich weiß, dass wir nun umkehren werden. Und wir steigen wieder ein, und ich fahre auf die Stadt zu, die sich langsam vor uns aufbaut, in weiter Ferne die Hauptkirchen, der Fernsehturm, dann die Lagerhallen im Billwerder Industriegebiet, die näherkommen, als wir ostwärts abbiegen, als wir den Unteren Landweg entlang fahren, verschiedene Kanäle überqueren, die Grüne Brücke nehmen, Richtung Billstedt fahren wir, es ist dichter Verkehr, der Nachmittag bricht an, nicht jede Ampel ist nach einem Stopp zu nehmen. „Viel Verkehr“, sagt meine Großmutter zu dem vielen Verkehr und ich versuche mich zu erinnern, ob ich eigentlich gerne bei ihr war, an manchen Wochenende, wenn in der Tischlerei am Deich, in dessen Werkswohnung sie mit ihrem Mann wohnte, niemand arbeitete und auch sonst.

Frank Keil-Behrens, 1958 in Hamburg geboren und aufgewachsen, hat an der dortigen Universität studiert, hat die Stadt nie wirklich verlassen. Er arbeitet als freier Kulturjournalist für verschiedene Print-Medien und Magazine. Er ist Mitbetreiber der Plattform maennerwege.de und stellt dort regelmäßig das „Männerbuch der Woche“ vor; außerdem ist er Deutschland-Redaktor für das Magazin ERNST. Für sein Roman-Projekt „Ich weiß nichts über meine Familie, suche sie aber trotzdem“ bekam er einen der Hamburger Literaturpreise 2022.

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Beitragbild © Petra Behrens

René Frauchiger «Gespräche und Geschichten», Plattform Gegenzauber

Die Gabel

Er schneidet sein cordon bleu, sie stellt das Weinglas wieder auf den Tisch. «Weisst du, Mari, ich weiss eigentlich gar nicht mehr, wie du aussiehst», sagt er. «Ich sehe dich da und sehe dich auch nicht. Wenn ich auf deine Wangen sehe, denke ich immer nur, ich sehe wieder die gebleichten Küchenwände unserer ersten Wohnung im Schangnau, als ich Möbel ausgeliefert habe für den Steffen. Am Abend sind wir am Küchentisch gesessen und unter der Lampe hat alles dieselbe Farbe gehabt. Deine Wangen hatten den matten Schimmer, wie die Wand hinter dir. Und diesen Schimmer sehe ich jetzt noch auf deinen Wangen, da kann man nichts machen. Und deine Augen, das sind die Augen vom Sean. Das sind Kinderaugen für mich. Sie sagen mir immer, wie er hat Landschaftsmahler werden wollen und du stolz auf ihn gewesen bist und ich nur gemeint habe, dass man damit kein Geld verdiene, auch wenn er Talent habe, was ich nicht beurteilen könne. Dabei haben mich die Augen vom Sean zuerst an deine Augen erinnert und nun ist es umgekehrt. Und bei deiner Stirn ist der Huttwiler Wald, wo wir uns immer gestritten haben, das Moos an den Bäumen, wo du deine Stirn daraufgelegt hast und immer, wenn ich gedacht habe, dass du weinst und ich dir einen Arm um die Schultern gelegt habe, hast du zu wüten angefangen und mich beschimpft und auf deiner Stirn ist noch etwas Moos gewesen, was du nicht weggemacht hast. Und bei deinen Haaren sehe ich wieder die Scheiben meines Alten VWs, die innen sich beschlagen haben im Winter, als wir das erste Mal miteinander geschlafen haben, weil deine Eltern mich dich nicht besuchen lassen wollten und wir uns draussen getroffen haben, auch im Winter und deine Haare sind über die Scheibe geglitten und feucht geworden und du hast dich geekelt vor dem feuchten Haar, dass ich dich nicht mehr habe berühren dürfen an dem Abend. Aber wenn ich deine Lippen ansehe, dann sehe ich auch meine Wohnung in Aarwangen, wo du nie gewesen bist, den Velourteppich der Wohnung, ich weiss nicht weshalb. Damals als wir uns getrennt haben für zwei Jahre und du mit diesem Basler zusammen warst. Da bin ich oft auf diesem Velourteppich geschlafen, weil mir das Bett zu leer gewesen ist und mein Gesicht ist am Morgen wund gewesen von diesem Teppich. Das kommt mir in den Sinn, wenn ich deine Lippen ansehen. So ist das: Bei den Wangen die Küchenwände in Schangnau und bei den Augen die Augen von Sean und bei der Stirn das Moos im Huttwiler Wald und bei den Haaren die feuchten Scheiben vom VW und bei den Lippen der Velourteppich. Eigentlich ist es nur dein Hals, an dem ich nichts sehe, als deinen Hals, den ich immer gern geküsst habe und der mir schon aufgefallen ist, als du mich nicht beachtet hast und ich neben dir gesessen bin und mich nicht getraut habe dich anzusprechen.»

Im Oltner Restaurant lächelt sie, streicht kurz über seinen Handrücken und nimmt wieder ihr Besteck auf. Sie bemerkt wie er erneut auf ihre Wangen sieht, auf ihre Stirn, ihre Augen, ihre Haare, auf ihren Hals, und sie schiebt ein Stück des cordon bleus an den Tellerrand, sticht mit der Gabel hinein. Sie mag kein cordon bleu und bestellt es immer nur, weil er es mag und sie ihm sagen kann, dass sie satt sei und ob er nicht den Rest noch möge. Sie nimmt mit dem Messer den heruntergelaufenen Käse auf und streicht ihn auf das Stück Fleisch an der Gabel.

 

Wunderschön

Matthias Hauser ist blind, doch seit seiner Kindheit fotografiert er jedes Ereignis, welches ihm wichtig scheint, lässt die Fotos entwickeln und klebt sie in ein Album. Bilder des ersten Schultags, der ersten Liebe, der Reise nach Marokko. Auch wenn er nicht sehen kann, meint Matthias Hauser, so sehe doch die Kamera für ihn und nichts ginge verloren. Trotzdem hat er seine Bilder noch keinem Menschen gezeigt, aus Angst, es könnte nicht das darauf sein, was er sich vorstellt. Als Matthias Lisa kennenlernt, sie sich verlieben und bald heiraten wollen, holt er an einem Abend ein erstes Mal sein Album hervor. Lange und schweigend blättert Lisa durch die Bilder, bis sie zu ihm sagt, sie seien wunderschön.

 

Kurz vor Olten

«Hey Peter, ja, ich bin’s … stör ich dich? Nein, ich bin im ZUG. … Gut … nein, kein Stress.»
Einige lesen, einige sehen in ihre Laptops. Ein dicker Mann schläft mit offenem Mund.
«Hab vorhin auf dem Perron gewartet, und mir überlegt: wie lange ist es her, seit ich eigentlich mit jemandem geredet hab. Wirklich, also so richtig geredet … man spricht viel, wenn der Tag lang ist, aber nicht richtig … Was ich sagen wollte, Peter … In der letzten Zeit kommt es mir vor, als wär ich … wär ich allein. Ich weiss, das klingt komisch, wenn jemand wie ich das sagt. Ich habe ja nie Mühe auf Menschen zuzugehen, da kenn ich nichts, und bei meinem Beruf, da lernt man immer neue Leute kennen und in Langenthal kennt mich die halbe Stadt und … und die Vereine und die Projekte. Aber weisst du, Peter, ich … Ich fand das komisch, als ich mir das überlegt hab und ich hab mir gedacht: das müsse etwas Anderes sein, allein … das kannst du bei jemandem wie mir nicht sagen, nein, so etwas wie das Burn-out vom Lüthi, das … Aber es kommt mir vor, als versteht mich niemand. Als wüsste gar niemand, wer ich bin. Dann dachte ich, es seien die Frauen. Und wenn jemand bis vierzig keine gefunden hat, dann findet er keine. Dass es dieses Alleine-Sein ist. Die Bettkälte. Und ich gebe zu, dass es nicht leicht war, aber heute, wenn man sich an das Leben so gewöhnt hat, da will man auch nicht noch eine Frau. Ehrlich, da … Da gibt es die, die sind glücklich mit einer Frau und die, die sind unglücklich mit einer Frau. Und da gibt es die, die sind glücklich ohne Frau und die anderen sind unglücklich ohne Frau. Da gibt es immer beides. Aber wenn ich mich etwas frage, dann warum ich eigentlich keine Frau hab; wenn ich doch so gut mit den Leuten kann. Und es ist mir auch nie schwergefallen, eine Frau anzusprechen und ich hab mit so mancher etwas gehabt, ich hab sie gar nicht mehr gezählt. Das sage ich nicht zum Prahlen, Peter, du weisst das. Aber ich will dich gar nicht so lange aufhalten, und dich vollquatschen, Peter, nein, um was es … Aber es ist genau das. Das hab ich mich gefragt. Warum ist da trotzdem nie etwas Richtiges daraus geworden. Und ich denk mir auch, dass ich vielleicht schon eine spannende Person bin und viel erlebt habe und viel mache, aber wenn man mich kennt und wirklich kennt, dann ist es halt vorbei. Ich weiss nicht, ob ich jemand bin, mit dem man länger etwas zu tun haben will. Ich bin ein komischer Mensch, und rede viel und mache viel, und das macht mich auch interessant und deshalb kann ich auch gut mit Menschen. Aber das ist dann auch alles. Aber ja, Peter, ich muss aussteigen. War schön mit dir zu sprechen, hab das mal gebraucht. Sorry, jetzt, dass ich dich so vollgequatscht hab. Ist wahrscheinlich einfach eine Laune und morgen ist es wieder vorbei. Ja, man sieht sich. Du, am Donnerstag, dann ist ja die Opel-Messe in Burgdorf. So, ich muss. Tschüss, Peter, tschüss.»
Er steht auf. Ohne aufzulegen, schiebt er das Mobil-Telefon wieder in die Tasche. An der Türe wartet er mit drei Männern und einer Frau. Er hat Peter nicht angerufen.
Der Zug hält, er steigt aus. Als er sich umdreht, sieht er hinter den Fenstern die Passagiere des Regionalzuges nach Olten. Einige lesen, einige sehen in ihre Laptops. Es war ein langer Tag.

 

Intensivkurs Französisch

Nachdem die Lehrerin nach der letzten Stunde des Französischkurses sie zu einem Kaffee eingeladen hat, kommen die Schülerinnen und Schüler gemeinsam aus dem Restaurant. Michael Ledermann geht neben einer grossgewachsenen Frau, ohne etwas zu sagen. Er kennt ihren Namen nicht, nur den Nachnamen hat er während den Stunden erfahren. Sie heisst Madame Schleiermacher. Vorhin im Restaurant sprachen sie in einer kleinen Gruppe über Paris. Nun hat sich die Gruppe aufgelöst, einige gehen zu zweit, einige allein. Er neben ihr. Er mag Madame Schleiermacher, wenn auch nur wegen ihrer Art Kugelschreibern nervös auf dem Pult zu drehen. Gerne würde er das Gespräch fortführen, doch es fällt ihm nichts ein. Schade sei es, sei der Kurs bereits vorbei, könnte er sagen. Er hätte viel gelernt. Nett sei es von der Lehrerin, hätte sie sie alle zum Kaffee eingeladen, auch das könnte er sagen. Er sagt nichts. Es wäre zu offensichtlich, dass er nur ein Gespräch anfangen möchte. Er hört vorne die Lehrerin etwas erzählen, das er nur schwer versteht. Es geht um Tulpen. Thomas Ledermann sieht zurück. Er sieht das Restaurant. Die Fenstergläser glänzen in der Sonne. Eines der Fenster ist geöffnet. Sie wohnt in Zürich, hat sie erzählt. Er könnte sie fragen, ob sie von Zürich hierher pendle. Das könnte er. Doch ist zu viel Zeit vergangen. Wenn er sie jetzt etwas fragen würde, würde sie denken, er hätte sich die ganze Zeit überlegt, was er mit ihr sprechen könnte. Es wäre seltsam. 

 

Die Leber

Bereits als sie den ersten Bissen der Kalbsleber in den Mund schiebt, merkt sie, dass es ihr nicht schmeckt. Das Fleisch ist schwammig und beinahe sauer. Muriel Amstutz denkt an das Kalb, das man wegen dieser Leber geschlachtet hat, nicht nur geschlachtet, man hat es gehalten, aufgezogen, es hat wegen diesem Stück Fleisch gelebt, und nun schmeckt es ihr nicht, es ekelt sie sogar ab dieser sauren Art von Fleisch. Muriel Amstutz wird still. Es war der jungen Kuh so gegangen, wie ihr selbst. Alle die Erwartungen, die die Menschen an sie hatten – und es waren im Grunde wenige – konnte sie nicht erfüllen. Die Buchhändlerlehre hat sie abgebrochen, letzten Sommer ist ihre langjährige Beziehung auseinandergegangen. Am Ende ihrer Tage würde es wenig geben, was sie richtig gemacht hätte. Je mehr sie darüber nachdenkt, desto mehr versteht sie dieses Kalb. Und obwohl es ihr noch immer nicht schmeckt, ist sie froh, es bestellt zu haben.

 

Goethe (eine Novelle)

Nachdem der Basler Pharmakonzern Novartis Patrick Huber gekündigt hat, haust dieser jahrelang ausgesteuert erst in Muttenz dann in Pratteln und züchtet in der Küche aus dem Genmaterial eines Fingerknöchels den Klon des längst verstorbenen Weltliteraten Johann Wolfgang von Goethe heran. Huber übergibt den Goethe-Klon, den er im umgebauten Backofen bis zum Säuglingsstadium reifen liess, seiner Freundin Flavia Gut, damit sie das Geschöpf wie ihr eigenes Kind aufziehe.
Der Klon erhält den Namen Johann Wolfgang Gut.
Johann überspringt mehrere Klassen, beginnt mit fünfzehn Philosophie, Botanik, Mathematik, englische und deutsche Literatur, Chemie und Physik zu studieren. Seinen ersten Doktortitel erhält er noch vor seinem zwanzigsten Geburtstag. Johann Wolfgang legt sich nicht auf ein Gebiet fest, seine Studien treiben ihn in alle Richtungen. In einem Zeitungsbericht wird er als letzter Universalgelehrter betitelt, bald fällt das Adjektiv: „olympisch.“
Ein brillanter Mensch jedoch auch ein umgänglicher Gesellschafter, ein ästhetischer Wanderer, ein engagierter Politiker und Redner, so sieht man ihn. Johann Wolfgang Gut ist der Mensch der Menschen.
An einem zweiten Dezember, Johann Wolfgang Gut ist vierundzwanzig Jahre alt, schlägt er die Einleitung zu Goethes Farbenlehre auf, die ein Freund ihm anempfohlen hat, obwohl er selbst sie für überholt hält. Er beginnt zu lesen. Johann Wolfgang erkennt in Goethe einen Seelenverwandten. Am nächsten Montag lässt er sich drei Biographien zukommen, eine Woche später kauft er Goethes Werke in hundertdreiundvierzig Bänden. Johann verlässt das Haus nicht mehr, wandert, politisiert, schreibt nicht mehr, Johann hält keine Reden, beantwortet keine Mails, keine Anrufe nimmt er entgegen. Johann Wolfgang Gut liest Goethe. 
Jahre vergehen, zusehends verarmt Johann; er zieht nach Pratteln in die Wohnung seines Paten und geheimen Schöpfers Patrick Huber, der mittlerweile eine Professur für Genetik erhalten hat. Johann Wolfgang schläft in der Küche, die überstellt ist von Goethe-Bänden und Kommentaren. Im Alter von zweiunddreissig Jahren stirbt der Goethe-Klon Johann Wolfgang Gut an einem Magengeschwür.
Während er am Küchenboden liegt, schmiegt sich eine Katze an seinen Kopf. „Gewiss weiss ich, Bützi“, sagt er keuchend zum Tier, „ich hätte mehr tun müssen als lesen. Aber jetzt … was mich jetzt plagt, ist nicht, das Neue, das ich nicht gesucht habe, die Taten, die ich nicht vollbracht habe, sondern die Seiten dort auf dem Pult, bei denen ich noch nicht weiss, was darin steht.“ Die Katze leckt ihre Tatzen.

René Frauchiger «Ameisen fällt das Sprechen schwer», Knapp, 2022, 113 Seiten, CHF 27.00, ISBN 978-3-906311-99-9

René Frauchiger, geboren 1981 in Madiswil, ist Autor von Kolumnen und Kurzgeschichten, sowie Gründer und Mitherausgeber vom Literaturmagazin «Das Narr» (seit 2011). Heute leitet René Frauchiger den Bereich Werkstätten des Aargauer Literaturhauses und lebt in Basel. Im September 2019 erschien sein erster Roman: «Riesen sind nur grosse Menschen» im homunculus-Verlag, 2022 folgte «Ameisen fällt das Sprechen schwer» bei Knapp. 

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Markus Kirchhofer «Das Planetenrührwerk», Plattform Gegenzauber

Jürg blickt stur durch die Windschutzscheibe. «Du bist sauer wie ein Naturjoghurt», sagte ich zu ihm, wenn er als Kind zornig war. Das brachte ihn noch mehr in Rage. Eigentlich habe ich einen guten Draht zu ihm. Einen immer besseren in den letzten Jahren. Obwohl wir uns nicht häufig sehen. Obwohl er was ganz anderes macht als ich. Obwohl er neun Jahre jünger ist als ich. Aber die werden gefühlt immer weniger. Jürg ist fast gleich alt wie Beatriz. Und ich fühle mich ebenso jung wie sie.

Wenigstens bleibt mir heute die Schaukäserei erspart. Früher gab’s keinen Familienausflug ins Voralpental ohne Schaukäserei. Im Restaurant vertilgten wir Vermicelles mit Meringues. Danach ging’s in den Shop, wo wir allerlei Käsesorten, Quark und Honig kauften. Neulich besuchte ich die Schaukäserei mit Beatriz’ Familie. Unter Anleitung stellten wir selber Frischkäse her. In Herzform, ganz nach dem Geschmack der Brasilianer. Am meisten beeindruckte sie aber der grosse Käsefertiger. Auch ich sehe sein glänzendes Kupfer, wenn ich an unsere Käserei denke.

Der Fertiger war rund und riesig. Darin ein weisser See. Vater erwärmte die Kuhmilch und brachte sie mit magischen Beigaben zum Eindicken: Labenzyme aus Kälbermägen und Milchsäurebakterien.

Dann bestückte Vater sein Planetenrührwerk. Er hängte Harfen daran und legte den Schalter um. Die Käseharfen begannen sich im Fertiger zu drehen und einander zu umkreisen. Zwei nebeneinander in der Mitte, die dritte aussen, dem Chromstahlring entlang. Die Harfen tanzten durch die eingedickte Milch, beschwingt und kraftvoll. Umeinander herum und durcheinander hindurch. Scheinbar chaotisch, aber ohne je zu kollidieren. Auf mysteriösen Umlaufbahnen, die ich zu ergründen suchte. Die Saiten zerschnitten die eingedickte Milch in immer kleinere, körnige Bruchstücke. «Je kleiner die Käsekörner, desto härter wird der Käse», belehrte mich Vater. Zum Rühren der Bruchmasse ersetzte Vater die Harfen durch Schaufeln. An den Fertigerrand montierte er Strombrecher. Unsichtbar am Grund wühlten die Schaufeln gegen die Schwerkraft der Käsemasse. Die Brecher bewirkten Querströmungen und körnige Wirbel. Vaters Planetenrührwerk bewegte Milchstrassensysteme. Am Fertiger beobachtete ich sie, hypnotisiert.

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MEHR UND WENIGER – fliegen durch ein dreidimensionales Buch (2020)

Die Weltbevölkerung wächst, noch im 21. Jahrhundert werden mehr als zehn Milliarden Menschen die Erde bewohnen. Die Menschen brauchen mehr Platz, andere Lebewesen werden weggedrückt, täglich sterben Tierarten aus. Wie geht der Mensch, wie gehen Kunstschaffende mit dieser Konstellation um?

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MEHR UND WENIGER führt Medienkunst, Lyrik, Fakten zur Bevölkerungsentwicklung und zu ausgestorbenen Tierarten zusammen. Beim Starten der App befindet man sich in einer urbanen, futuristisch anmutenden Stadtlandschaft, die permanent neu generiert wird. Mit dem eigenen Handy oder Tablet als Flugsteuerung bewegt man sich spielerisch durch eine Metropole aus Bild, Text und Architektur – fliegen durch ein dreidimensionales Buch. 
Nähere Infos zur App und Gratis-Download auf Android-Geräte unter MEHR UND WENIGER – fliegen durch ein dreidimensionales Buch – Marc Lee
Konzept: Markus Kirchhofer und Marc Lee, Realisierung: Marc Lee (CH),Gedichte (50 Haiku) von Markus Kirchhofer. Übersetzungen: Erin Palombi (US) ins Englische, Valentin Decoppet (CH) ins Französische, Sound: Shervin Saremi (IR),VR Entwicklung: Antonio Zea (PY), Florian Faion (DE) und Marc Lee (CH)

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Drei der Gedichte von Markus Kirchhofer:

der kiesweg ums haus
ist meine stratosphäre
my home is my earth

 

über den rücken
der eidechse aus beton
fahren lastwagen

 

verhüllt unterwegs
in frachtcontainern und tanks
früchte der erde

 

Markus Kirchhofer «Das Palnetenrührwerk», Knapp, Illustrationen Maurizio Pinarello, 2022, 89 Seiten, CHF 24.80, ISBN 978-3-906311-97-5

Markus Kirchhofer, geboren 1963, lebt mit seiner Frau in Oberkulm/AG. Seit 2013 ist er freier Autor, zuvor war er Lehrer und Erwachsenenbildner. In den letzten zwei Jahren erarbeitete er die App «MEHR UND WENIGER – fliegen durch ein dreidimensionales Buch» (mit Medienkünstler Marc Lee, 2020), eine Graphic Novel (mit Zeichner Reto Gloor, 2021), ein Musiktheater (mit Musiker Christoph Baumann, Videodesigner Kevin Graber und Regisseur Nils Torpus, 2021) und den Roman «Das Planetenrührwerk» (2022). Markus Kirchhofers literarische Arbeit wurde mit Werkbeiträgen für Lyrik, Prosa und Interdisziplinäres ausgezeichnet, zuletzt von der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia.

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Martin Liechti „Kurz um“, Bucher

„Wider den Mahlstrom des rohen Jetzt“

Im grossen Geplapper und Getwitter weltweiter Info-Inkontinenz sollte mal die Mitteilung an die Zeit gemacht werden, dass kurze Mitteilungen auch höchste Verdichtung geistiger Prägnanz sein können. Schon seit ein paar hundert Jahren: Als Aphorismen.

Gastbeitrag von Burkhard Jahn, Schauspieler und Autor, Zürich

Verweisen wir auf Google, um über die Meister der kleinen Kunstform zwischen Haiku-ähnlicher Dichtung und philosophischer Kurzmitteilung mehr zu erfahren. Und dann soll ein gleissender Scheinwerfer auf das vermeintliche Schattendasein heutiger Aphorismen gerichtet werden, dem die Beleuchtung zusteht. Wo die kleine literarische Form doch so viel Erleuchtung bedeuten kann.

Kurzum – Aphorismen und Notate“ von Martin Liechti, 168 Seiten, 2022, Bucher Verlag, ISBN 978-3-99018-645-9

Einer der produktivsten Meister der Gattung ist der Schweizer Martin Liechti, der nun wieder mit einem Buch voller Luzidität die grösste Aufmerksamkeit verdient. Heute im Zeitalter der Kurzmitteilungen, deren Gehalt sich oft genug in den Namen erschöpft, die sie bezeichnen – SMS, Tweet, Posting – könnte vielleicht ja das Griffige der pointierten Gedanken in Form des Aphorismus zu neuer Blüte gelangen. Hier haben wir es mit einer Kurzmitteilung höchsten philosophischen, didaktischen oder poetischen Nährwerts zu tun.
Und das Geistreiche steht – Gott sei es gedankt! – hier weiterhin über dem Zeitgeist, dem Liechti immer wieder den Fehdehandschuh zuwirft: „Sünderlatein“ steht als Titel über der Sentenz: „Jede Freude ist ein Affront gegenüber dem Leiden in der Welt und ihrem leidigen Zustand.“ Und der Titel brandmarkt die lebensfeindliche Phrase als Ausbund des frömmelnden Pharisäertums. Desselben Pharisäertums übrigens, dem die beklemmend aktuelle und so geschliffene Parade gilt:
„Kritisieren als vorausgenommene Ablehnung ist gang und gäbe und schliesst die zustimmende Wertung praktisch aus.“
Doch der Klage an der Welt, dem Spott über Welt und Wahnsinn stehen zur Seite die Besonnenheit und der gelassene Blick. Und so empfiehlt sich das Buch als Brevier, als Stundenbuch für Besonnene, für Trostsuchende im Irrsinn des Alltags. Lebenshilfe, Denkgenuss, Amusement und Frappanz liefern Scharfsinn und Esprit der rund 160 Seiten. Immer wieder verblüffend.

„Kurzum“ ist folgerichtig der Titel des Buches, das jetzt im österreichischen Bucher Verlag erschienen ist. Und das ist bereits Liechtis elftes Werk grosser Gedanken in kleiner Form.
Ein einfacher Trick, das Buch zu lieben: Es lesen! Ganz einfach!

Martin Liechti, geb. in Jegenstorf (Bern/Schweiz), lebt als Autor in Zürich. Neben Romanen (u.a. «ICH WILL», «Die Schärfe der Unschärfe», «Noch sind wir allein» und «Hic salta») veröffentlichte er vor allem Aphorismen. So «Sätze und Ansätze» (2002), «Vor- und Nachgedachtes» (2005), «Wortund Kopfsprünge» (2008), «Im Fluss …» (2010), «Sage mir …» (2012), »»Geflügeltes» (2014), «Randwärts» (2016), «Keiner weiss, warum (2018) und «Leicht daneben» (2020). Mit über zehn Aphorismenbänden gehört Liechti zu den namhaften Autoren der Gattung.

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Beitragsbild © Urs Heinz Aerni

Andreas H. Drescher «Mein alter Schwarzfernseher», Plattform Gegenzauber

 

WEICHE THEMEN

Sonnenaufgang. Das Zicklein nähert sich der Stadt über die A9 und bricht sich schließlich selbst eine Ausfahrt durch Leitplanken und Birkenschonung. Mit Vorbedacht schweift es in weitläufigen Mäandern, um den Grad seiner Verheer-ungen noch großflächiger zu gestalten. Von den Laubenkolonien zwischen A9 und dem Bahndamm bleibt so nur Schreberschredder übrig. Dabei absolviert es all das nur zum Warmwerden. Sein Ziel ist ein anderes. Punkt dreizehn Uhr wird das klar. Da bewegt es sich in gerader Linie auf den größten städtischen Uhrmacher zu und verwandelt auf dem Weg Schlachthof und Käserei in staubquirlenden Schutt. Der Uhrmacher hört keinen Ton davon. Er hält seinen Mittagsschlaf.


Die ganze Uhrmacherfamilie wird nicht wach vom herannahenden Dröhnen, obwohl ihr die Unruhen aus allen Weckern springen und die Kuckucke aus ihren Kuckucksuhren das Haus aus allen Fenstern verlassen. Dabei schnarcht jeder einzeln nicht einmal besonders laut. Je einzeln flappen ihnen lediglich die Lippen ein wenig beim Ausatmen. Gemeinsam allerdings schnarchen sie ohrenbetäubend: der Uhrmacher auf der Schlafcouch, der Großvater am Katheder und seine 
sieben Enkel auf den Schulbänken. Das Zicklein blinzelt nun zum Fenster dieses Klassenraumes hinein und überfliegt des Großvaters archimedisches Gekritzel: eine Inspiration. Sodann dreht es sich angelegentlich um, steckt sein Köpfchen in den Fluss und fängt gewaltig an zu saufen. Zugleich aber hebt es das Schwänzchen und füllt das Haus der Schlafenden vom Keller an durch seinen Schornstein auf. 


Ein druckvoller Pumpstrahl. Bald schon sieht man die Uhrmacherfamilie vor den Fenstern aller Stockwerke treiben und unter den großen Augen her die Lippen stimmlos zu einem entsetzten: „Helft uns!“ formen, zu einem „Aber so helft uns doch!“ Die Nachbarn aber sind beschäftigt. Sie haben, als sie sehen, dass auch nicht ein Tröpfchen Flusswasser in ihre Richtung sickert, die Fernsehsessel vors Fenster gerückt und nehmen ihr Abendbrot ruhig vor den hilflosen Zuckungen der Uhrmacher-Familie ein. Nur der Großvater hat sich genug Geistesgegenwart bewahrt. Er arbeitet sich durch die umhertreibenden Möbel zu seiner Schiefer-tafel vor, wischt alles Archimedische mit einem Strich seines Jackett-Ärmels aus und schreibt in großen Buchstaben: „Eine Million Belohnung. Randalierendes
 Zicklein zum Abschuss freigegeben.“ Kaum ist das erledigt, schwimmt er zu seinem Katheder zurück, macht es sich dort wieder bequem und atmet, nach einem allerletzten Bleistiftspitzen, tief ein, um sich das Sterben einfacher zu machen. 


Der Einzige, der sich von dieser Bekanntmachung angesprochen fühlt, ist ein 
Bäckerjunge aus der Nachbarschaft, der hin und wieder mit den Söhnen des Optikers in den Fluss gepinkelt hat. Er klemmt sich in der Backstube eine Packung feinen Mehls und ein Nudelholz unter den Arm und läuft hinunter zum Fluss. Hier hat das Zicklein das Haus des Uhrmachers eben bis zum Schornstein angefüllt und hebt den Kopf, um einmal tief einzuatmen. Im gleichen Augenblick wirft der Bäckerjunge die Packung Mehl in die Luft und stäubt es mit einem beidhändigen Schlag mit dem Nudelholz dem Zicklein gerade vor die Nüstern. Fast erstickt es daran, meckert jedoch zwischen den Niesattacken: „Hilf mir! Aber so hilf mir doch!“ Statt einer Antwort zeigt der Bäckerjunge in Richtung des Glasportals, hinter dem der Optiker und seine Familie inzwischen in Embryonalstellung
treiben. Keuchend kriecht das Zicklein darauf zu, niest die Lichtschranke auf und kühlt das Mehl in Mund und Nase mit dem Fluss, der ihm nun wieder entgegenströmt. Diesmal aber ersäuft es daran, weil ihm der Bäckerjunge auf den Schwanz getreten ist. Die Nachbarn sehen im Frühstücksfernsehen, wie die Kuckucke in den Laden des Uhrmachers zurückkehren, wo der Bäckerjunge im Wasserschaden steht und etwas auf die Tafel des Großvaters kritzelt. Es dauert aber das ganze Frühstück über, bis die Kreide in der Morgensonne getrocknet ist. Erst jetzt können sie entziffern: „Die Uhren sind umgestellt worden!“ Zu spät begreifen sie, wieviel Zeit inzwischen vergangen ist. So hat das Zicklein noch im Tod alle sieben Söhne des Uhrmachers wiedergeboren und diese Sieben haben bis zum Morgengrauen nicht allein ihre Bäckerlehre absolviert, sondern ihnen außerdem all ihre verlorenen und gesprungenen Unruhen in die Frühstücksbrötchen gebacken.



DER SPÄTE ZWIST

Die hundertjährigen Zimmermädchen waren für die ganze Bettenburg zuständig. Aber ihre Enkelin, die Hotelfachfrau, hatte sie nicht richtig eingeteilt. Denn die eine schüttelte ihre Plumeaus nun schon seit neunundneunzig Jahren mit Seeblick aus, während die andere sich dabei mit einem Blick ins Binnenland begnügen musste. So begannen die Zwillinginnen einander zu hassen und nahmen ohne Absprache mit ihrer Enkelin am Animationsprogramm teil. Die eine als Krustenbrot-, die andere als Granny-Smith-Granny, weil die eine Backwaren, die andere Obst aus ihren Decken schüttelte. Auf beiden Gebäudeseiten kamen so Hotelgäste zu Schaden. Doch obwohl nur die Tochter eines Straßenbauers und die eines Grobschmiedes ernsthafte Verletzungen davontrugen, wurden die Hotelfachfrau und ihre Großmütter fristlos entlassen. Vergeblich suchten sie an der Küste eine neue Anstellung. Doch auch im Binnenland hat es keine der Alten mehr geschafft, einen Baum oder einen Backofen erneut zum Sprechen zu bewegen.





GEFRIERBRAND

Schon in der Berufsschule genoss sie den ganzen Respekt ihrer Klassenkameraden. Vom Augenblick ihres ersten Erscheinens an. Ihrer sargförmigen Brille wegen, die sie selbst geschreinert hatte. Noch nie hatte ein Mädchen mit so geschickten Händen Bestatterin werden wollen. Ihr Meister hatte ihr zu Anfang nicht viel zugetraut. Doch gleich im ersten Lehrjahr zeigte sie so viel Kunstfertigkeit und Ausdauer als Leichenwäscherin, dass er schon im zweiten persönlich ihre Unterweisung übernahm. Ein Jahr, das sie mit dieser Brille abschloss. Die brachte ihre eisgrauen Augen nun derart vorteilhaft zur Geltung, dass es bald keinen Kunden mehr gab, der davon nicht zum lebenslangen Thanato-Erotiker geworden wäre.


Es hieß, sie habe das Talent von ihrer Mutter geerbt. Einer Frau von so grandioser Hässlichkeit, dass jeder Galan, den sie mit sich zu beglücken suchte, bei ihren unanständigen Anstandsbesuchen mit einem männlich-kühnen Sprung aus dem Fenster floh. Ganz gleich, um welches Stockwerk es sich handelte. Der Vater der Bestatterin hatte dem Himmel sei Dank jedoch nur in der dritten Etage gewohnt und war aus diesem Grund nicht vollständig zerschmettert worden. Die dritte 
Etage ist bekanntlich die der Querschnittslähmungen. Es wird für immer das Geheimnis ihrer Mutter bleiben, wie sie ihren Traummann steif bekam, als sie sich noch in dem Maulbeerbaum, der ihn abgefangen hatte, isishaft auf ihn setzte.


Das Kind wurde von der Alten verwöhnt wie weiland Aschenputtel. Dies war das Ideal ihrer Erziehung: Das Mädchen schlief in einem Taubenschlag. Sein erster vollständiger Satz war folglich: „Ruckedigu!“ So war ihre Kindheit akustisch eingefasst in dies halb daunene, halb quietschende Geflatter. Neun Jahre lang hatten die Tauben versucht, sie in ein ausgiebigeres Gespräch zu verwickeln, doch das Mädchen blieb verstockt. „Ruckedigu!“ Neun Jahre war sie alt, als der Mann vom Jugendamt sie fand: von Taubendreck geteert, von Daunen gefedert und in 
ein so gründliches Schweigen eingefasst, dass von einer regulären Einschulung nicht mehr die Rede sein konnte. So kaufte man ihr von Staats wegen die Lehrstelle bei diesem Bestatter, der selbst als ebenso rechtschaffen wie wortkarg galt.

Wie schon erwähnt, stellte sich die Kleine bereits mit zwölf Jahren derart verständig an, dass ihr Meister bald Vertrauen zu ihr fasste. Und das so sehr, dass er schließlich nur noch mit ihr die lockere Erde über den Särgen festtrampelte, während die Gemeinde den Kirchhof verließ. Wer sich von den Nachzüglern, durch das dumpfe, rhythmische Tönen aufmerksam gemacht, noch einmal umwandte und die beiden, bis zu den Nasenspitzen aus dem neuen Grab ragend, in dieser merkwürdigen Polka begriffen sah, drehte sich sofort wieder um, wurde jedoch bis ins hohe Alter hinein von dem Traum heimgesucht, selbst in diesem trampolinierten Sarg zu liegen. Der Traum wurde zum Gesellenbrief des Mädchens. 


Um diese Zeit herum fand man auch ihre Mutter. Sie hatte, vollständig ausgeweidet und perfekt geschminkt, seit drei Jahren vorm Spiegel einer Eisdiele gesessen und sich, über einen nie endenden Maulbeer-Shake hinweg, selbst fortwährend ins hohle Auge geblickt. Wie immer hatten alle an ihr vorbeigeschaut: die Gäste, die Bedienungen, selbst die Putzfrauen. Erst, als die Matriarchin des Familienbetriebs höchstselbst aus Neapel anreiste, weil der Verzehr von Tisch neun nun 
schon so lange zu wünschen übrigließ und die Mumifizierte, kurzsichtig wie sie war, ohne viel Federlesens anstibbte, zerfiel die prompt zu Staub. Die Zugluft durch die Gäste, die zu allen Ausgängen hinausdrängten, ließ sie so restlos verwehen, dass nicht einmal das kleinste Körnchen für einen DNA-Test übrigblieb.



 

REISE NACH JERUSALEM

Seit der Fuhrpark der Bundeswehr zur Deckung der Flugschulden des Verteidigungsministers versteigert worden ist, finden die Truppentransporte ausschließlich per Bahn statt. Ich bedaure das sehr, denn ich schätze dieses Fortbewegungsmittel außerordentlich. Besonders durch die Hooligans, die ihre Sozialstunden seit Neuestem bei den Pionieren ableisten dürfen, ist an die ruhige, distinguierte Art des Reisens, wie ich sie gewohnt war, nicht mehr zu denken. Nicht einmal meiner Anregung, die Eingänge zur Ersten Klasse durch Wachen abzuriegeln, oblag das Management der Bahn. So brachen denn auch vor dreizehn Tagen wieder Horden von Randalierern durch den nächtlichen Zug, verschütteten Sambuca und hörten selbst dann nicht auf, ihn vom Boden zu lecken, als dieser glatzköpfige Fettwanst … Ich bitte um Verzeihung: Als dieser übergewichtige Kahlkopf auf die Idee kam, ihn anzuzünden. Anna war dieser Geruch nach Grill selbstverständlich nicht zuzumuten, deshalb wies ich den Diener an, unsere Abteiltür zu schließen. 

Bedauerlicherweise machte das den Kahlkopf auf uns aufmerksam. Besonders auf Anna. Dumpf stierend ließ er sich auf einen der Klappsitze im Gang fallen und versank, ebenso somnambul wie impertinent, wie entrückt in ihrem Anblick. Es half nur wenig, dass der Diener sich zwischen die beiden schob. Sein Gesicht an der Scheibe platt drückend, fand der Dicke immer wieder einen Winkel, um hereinzugaffen. Nicht einmal, als ich Anna anbot, den Platz mit ihr zu tauschen, gab er Ruhe. Ebenfalls nicht, als wir mehrmals hin und her tauschten. Im Gegenteil: Mit einem Mal fanden wir den übergewichtigen Herrn sogar im Abteil vor, wo er versuchte, seine erstaunlich großen Hände in Annas Muff unterzubringen. 


Ich erhob mich, um Protest anzumelden, doch das hochgerissene Knie des Kahlkopfes ließ mich in Embryonalstellung zusammenfahren. So hatte ich kein Ohr für die beiden Schläge. Nicht für den klingenden. Und nicht für den dumpfen. 
Doch als sich meine edleren Teile wieder erholt hatten, sah ich den schweren Herrn zu meinem Erstaunen reglos zu meinen Füßen liegen und Anna in lebhaftem, wenn auch flüsterndem Gespräch mit dem Diener. Ihr Haar war ein wenig in Unordnung geraten. Gerade öffnete ich den Mund, um sie darauf aufmerksam

zu machen, als sie mich in einem Ton, der zu meinem Bedauern keinerlei Notiz von meinen zahlreichen Blessuren nahm, aufforderte: „Komm jetzt! Pack an!“ 


Ein wenig konsterniert, aber doch hilfsbereit, bemühte ich mich nun mit den beiden, den unhandlichen Körper durch das geöffnete Fenster zu bugsieren. Allein: Unsere Anstrengungen waren vergeblich. Der vorspringende Bauch des auskühlenden Kahlkopfes ließ ihn immer wieder zu uns hereinprallen. Im Gang brachen inzwischen, nun immer stärker vom Sambuca belebt, erneut die Hooligans vorbei, scheinbar auf der Suche nach ihrem Anführer. Zum Glück hatte der Diener, wenn auch ohne jede Aufforderung, die Vorhänge unseres Abteils geschlossen. 


Anna überzeugte uns nun mit dürren Worten davon, den Dicken in einem unserer frisch aufgeschüttelten Betten zu deponieren und uns selbst aufs Dach des Zuges zu verfügen. Gesagt, getan. Kaum hatten wir Anna an ihren unvergleichlichen Fesseln in die Höhe geschoben, als sie den Diener auch schon mit beherztem 
Griff zu sich heraufzog. Dann diese kleine Ungeschicklichkeit meinerseits, die sich jedoch bald als sehr vorteilhaft erweisen sollte: Während die beiden mich aus 
dem Fenster zogen, verhakte sich mein linker Fuß an dessen Griff, sodass ich es, 
freilich ohne dies beabsichtigt zu haben, fast zur Gänze schloss. Zudem stellte mein Schuh, der mir, als mich die beiden mit einem kräftigen Ruck aufs Dach beförderten, entglitt und zur Abteiltür kollerte, die Hooligans, die ihren Anführer schließlich in Annas Bett wiederfanden, vor ein schier unlösbares Rätsel. Den ganzen Zug durchsuchten sie nach dem Besitzer dieses Schuhs. Der Gedanke, einen Blick aufs Dach zu werfen, kam ihnen, aufgrund der Lage des Schuhs, nicht. 


Dem Diener, der die Geistesgegenwart besessen hatte, sich beim Angriff auf Annas Muff der leeren Sambuca-Flasche zu bemächtigen und damit einen so glücklichen Schlag gegen das Genick des Glatzkopfes zu tun, dass er dort irgendetwas Lebenswichtiges verschob oder durchtrennte, ohne dass auch nur eine Wunde zu sehen war, sagte ich auf der Stelle eine angemessene Gehaltsaufbesserung zu. 
Unser Plan war, uns beim Halt im nächsten Bahnhof in die Arme des frisch privatisierten (also motivierten) Bundesgrenzschutzes zu werfen und ihn um Beistand gegen die trunkene Horde anzurufen. Ein ausgesprochen aussichtsreicher Plan, wenn wir ihn auch bedauerlicherweise noch nicht haben ausführen können.


Seit dreizehn Tagen hat der Zug nämlich nun nicht mehr angehalten. Ein Truppentransport eben. Wir hätten es wissen müssen. Gut, dass Anna vorgestern auf den Gedanken kam, unsere regennassen Kleider gegen den Durst auszuwringen. Ich selbst beobachte trotz meines furchtbar frierenden Fußes – über den mir den beiden gegenüber selbstverständlich auch nicht ein einziges Wort über die Lippen kommt – noch immer aufmerksam den nächtlichen Himmel. Ich schweige eisern. Obwohl das Ziel unserer Reise inzwischen, besonders in sternenklaren Nächten, deutlich auszumachen ist. Denn inzwischen bewegen sich bereits in der neunten Nacht Teile des Hindukusch als frische Asteroiden in Richtung Hardthöhe. 


 

Andreas H. Drescher, 1962 in Griesborn/Saar geboren, studiert Germanistik, Politik und Philosophie in Köln und lebt als freier Autor und Künstler in Saarlouis. 2016 erscheint sein erster Erzählungsband „Die Rückkehr meines linken Armes“ in der EDITION ABEL. Der Roman „Kohlenhund“ erscheint 2018. Mit „Schaumschwimmerin“ legt Drescher den Nachfolge-Roman zu „Kohlenhund“ vor.

Heike Puderbach, 1966 geboren in Saarlouis, 1985 Abitur,1986-91 Auslandsaufenthalte in Paris und Norwich, 1991 Studium der Bildhauerei, Hochschule der Bildenden Künste Saarbrücken, 1992-97 Studium Produktdesign, HBK Saarbrücken, seit 1998 Freiberuflerin in den Bereichen Bildende Kunst, Design, Grafik, Inneneinrichtung, 1999 saarländischer Staatspreis für Produktdesign, 1999 Atelier in Paris, Ausstellungen in Montparnasse, 2017 Designerin bei Villeroy und Boch

Béatrice Bader Sollberger «Böse kleine Fische», 10. und letzte unschöne Weihnachtsgeschichte

Wenn sie nicht so schnell als möglich etwas veränderte, würde alles wieder seinen Lauf nehmen wie im letzten Jahr. Der einzige Unterschied bestand einzig darin, dass Helga in die kleine Wohnung im dritten Stock gezogen war, gemeinsam mit ihrem Vetter Klaus. Eigentlich war Klaus schuld am Umzug. Helga gefiel die Parterrewohnung viel besser. Aber weil Klaus die Miete bezahlte, musste sie sich wohl oder über fügen. Helgas eigenes Gehalt war viel zu klein um Wohnungsmiete und Lebensunterhalt zu bestreiten. Die neue Wohnung war zugig, besonders jetzt, im Dezember. Zündete Helga eine Kerze auf dem langen Tisch an, flackerte deren Schein nervös und liess die Schatten der Möbel wie ein Reigen ekstatisch zuckender grosser und kleiner Monster über die Zimmerwand tanzen.

Der Tisch
Helga erinnerte sich an vergangene Weihnachten. Eigentlich ist es nicht ihre Geschichte. Vielmehr ist es die Geschichte der Andern. Ihre Erinnerung zeigt ihr einen lichtdurchfluteten Raum. In seiner Mitte steht der lange Tisch mit vielerlei Spuren auf dem Kerbholz. Gezeichnet von kreisrunden Abdrücken gläserner Füsse. Dazwischen dunkle Flecken, welche Helga nicht zuordnen kann. Kratzer, vielleicht von der Gabel eines hungrigen Gastes. All diese Spuren über die Jahrzehnte verewigt in diesem Tisch. Dazu Stühle. Und auf diesen Stühlen die Gäste. Der Tisch steht in einer Länge parallel zu Fensterflucht, ausgerichtet nach diesem Rechteck, durch das jetzt der Himmel in seiner Nachtschwere zu stürzen schien wie eine müde gewordene Wand. Drinnen ist es wie draussen, dunkel und irgendwie leer. Das Fenster ist das Auge in die Unendlichkeit des Tages. Stirnseitig an der Tischkante, gut verborgen unterhalb des Tischblattes ist eine hölzerne Schublade eingelassen. Kaum wahrnehmbar für den Gast, der sich an seinen Platz am Tisch setzt. Sie klemmt ein wenig, wenn Helga sie versucht herauszuziehen. Eine Schublade voller unsichtbarer Geschichten, die darauf warten, zum Leben erweckt zu werden. Die Schublade der wartenden Geschichten, so nennt Helga sie. Da finden sich weggeräumte und vergessene Notizen, verloren geglaubte Fotografien wie Phantasiewesen aus einer vergessenen Zeit. Wo steht dieser lange Tisch? Im grossen Zimmer der Parterrewohnung? Oder vielleicht doch in Helgas Kopf? Sein gezeichnetes Tischblatt zeugt von heiteren, sorgenvollen, von Traurigkeit getränkten, hoffnungsvollen, verlogenen, liebevollen, wahrheitssuchenden Erinnerungsspuren gleich einem Buch vergangener und zukünftiger Geschichten. Helga ordnet diese Schätze mit spitzen Fingern immer wieder auf’s Neue, jedes Jahr am vierten Advent.

Die Gäste
Die Versammlung leerer Stühle – zwölf an der Zahl – dienstfertig wartend. Sie säumen den Tisch wie der Zaun ein fruchtbares Beet. Zwölf hölzerne Zeugen, aus unterschiedlichen Epochen stammend, schweigend. Trotzdem hört Helga jeden vierten Advent die Stimmen, die sich summend emporschrauben wie kleine Insekten im letzten Sonnenlicht. In der Tischmitte steht ein hoher Lüster mit wächsernen Kerzen gleich einem Wächter, dem nichts entgeht. Eben erst neu besteckt, warten auch sie darauf, ihren Dienst zu tun und mit hellem Licht die in den Winkeln des Zimmers hockenden Schatten zu vertreiben und sich in den Augen der erwarteten Gäste zu spiegeln. Noch erhellt letztes fahles Winterlicht das Zimmer. Strahlen fallen durch die Fensterscheiben wie von der Kälte erstarrte Vögel und bleiben auf dem Parkett liegen. Langsam wachsen die Schatten und schleichen sich aus ihren Winkeln hervor ins Zimmer, hinter die Lehnen der leeren Stühle, wo sie unbeweglich verharren. Helga zündet die Kerzen an. Eine erwartungsfrohe Stimmung breitet sich aus. Alles ist bereit für die Gäste. Das Abendrot stirbt flammend am Dezemberhimmel, Baumsilhouetten ragen dramatisch aus der Erde wie Finger, die nach etwas zu greifen scheinen. Durch die gläsernen Scheiben beugt sich die Stille des Abends. Helga lauscht hinter sich ins Treppenhaus. Künden Schritte bereits von den erwarteten Gästen. Sie atmet flach vor Aufregung die erwartungsgeschwängerte Luft, harrt angespannt dem, was da kommt, gemeinsam mit den erwarteten Gästen. Auf dem Tisch liegen Bücher unterschiedlicher Herkunft. Ihr Eigenleben, wird von der Geschichte genährt, die zwischen den Buchdeckeln wohnt. Titel und schön gestaltete Einbände versprechen Unerwartetes, Unbekanntes. Die Bücher wollen, dass ihre Geschichte gehört wird. Weisse Papiere halten die schwarzen Buchstaben an ihrem Platz, sorgfältig darauf achtend, dass sie nicht davon tanzen und die Geschichte durcheinanderbringen. Wie jedes Jahr am vierten Advent holt Helga die Fotografien aus der Schublade und ordnet jede zu einem Stuhl. Rund um den Tisch haben sich nun die Gäste versammelt, alle haben sich eingefunden, wie jedes Jahr. Eine illustre Schar säumt nun Helgas Tisch, ausgewählte Persönlichkeiten, die einen mit grosser Vergangenheit, andere jünger und neugierig, teils wichtigtuerisch im Feuer der Überzeugung. Alle zusammen sind sie eine Gesellschaft der grossen und kleinen Geschichten, die sich um vier Uhr früh wie jedes Jahr am vierten Adventssonntag um Helgas langen Tisch herum versammelt. Helga greift mit geschlossenen Augen zu einem der auf dem Tisch liegenden Bücher, schlägt es irgendwo auf und beginnt an einer zufälligen Stelle laut zu lesen. Ihre Stimme erfüllt das Zimmer und verdrängt die Schatten der Leere und der Einsamkeit, die Helga immer im Dezember besonders spürt, wenn sie sich wie ein warmes weiches Tier um ihren Hals legt.

Béatrice Bader, geb. 1968, ist eine Schweizer Konzeptkünstlerin und arbeitet multimedial. Als visuelle Kunstschaffende ist Béatrice Bader tätig im Bereich der künstlerischen Forschung und Konzeptkunst, Collage, Performance, Installation und Interventionen im öffentlichen Raum. In ihrer künstlerischen Auseinandersetzung bewegt sie sich an der Schnittstelle von Kunst und Theorie sowie hybriden Erzählformen (Bild-Text-Kombinationen).

Webseite der Autorin

Ruth Geiser «Zweigstelle», 9. unschöne Weihnachtsgeschichte

Martin zog seine Regenjacke an und ging.
„Immer, wenn’s schwierig wird, ziehst du Leine!“, rief ihm seine Frau hinterher. Und dann noch: „Du bist ein Feigling…..“, mehr hörte er nicht, auch wenn sie noch nicht fertig war.

Sie wusste auch nicht weiter. Es war verzwickt.

Draussen regnete es und er zog sich die Kapuze ins Gesicht. Da drin war alles so konzentriert und unausweichlich. Draussen erschien ihm alles einfacher, der Schmerz, der ihn immer wieder überflutete, war dort gemessen.
Unter freiem Himmel war ihm klar, dass er nicht alleine war. Der Wind, die Sterne, die Sonne, der Lärm, all das trug eine Botschaft: Du bist nicht so wichtig, du bist ein Teil vom Ganzen, dein Leben wird vorbeigehen und so auch der Schmerz.

Julian war immer auch dabei. Er hörte ihn, wie er sang, oder mit Lauten und Buchstaben spielte. Er musste noch alles ausprobieren, sein Aufenthalt in der Welt hatte ihm nur einen Vorgeschmack erlaubt. Jetzt war Martin dafür da, dass er Erfahrungen machen konnte. Martin spürte, wie sehr er ihn brauchte.

Lisa erzählte er nichts von seiner Verbindung zu Julian. Zu gross war seine Angst, sie würde sich über seine Vorstellungen lustig machen, oder sie in einem Streit gegen ihn verwenden. Das würde er nicht ertragen.

Sie wollte ihn weinen sehen, er sollte sich die Haare raufen und im Bett liegen bleiben. Das waren die Elemente ihrer Trauer und seine sah sie nicht.
Er spielte auf einer Bühne ohne Licht und sie sass im Zuschauerraum und rief ständig: „Ich kann dich nicht sehen, bist du überhaupt da?“
Und wenn sie ihn hörte, glaubte sie nicht, dass er wahrhaftig war, denn er war ja für sie nicht sichtbar

Wahrscheinlich galt für sie genau das gleiche, sie fühlte sich nicht wahrgenommen, nicht respektiert. Sie konnten ihre Trauer nicht teilen, sie teilten nur noch Misstrauen.

Martin realisierte, dass er im Kreis gegangen war. Schon zum zweiten Mal kam er am Eingang des botanischen Gartens vorbei. Es nieselte. Er ging durch das Tor. Es roch nach tiefgründiger Feuchtigkeit.
Bäume und Pflanzen bedrängten ihn nicht. Sie taten ihm gut. Seit Julian nicht mehr da war, sandten sie tröstende Wellen. Vor allem die Laubbäume waren ihm nahe. Sie wussten, was Abschied nehmen heisst. Martin musste lachen. So einfach war seine Welt.

Er konnte sich ohne Probleme mit einem Laubbaum anfreunden,weil er sah, wie er sein Laub der Erde spendete, zur Nahrung für andere Pflanzen. So möchte er auch handeln.

Aber mit seiner Lisa konnte er nicht mehr reden. Die Sätze waren Fallgruben , die einfachsten Mitteilungen waren Handgranaten, die oft zu nah bei ihm explodierten. Die Sitzungen mit dem Trauerberater fanden auf Minenfeldern statt. Nach jedem Termin gingen sie noch verwundeter heim.

Zwar hatte dieser letztes Mal etwas sehr Wichtiges gesagt, was ihm sofort einleuchtete: „Ihr solltet damit aufhören, dem andern die Schuld für den Verlust zuzuschieben. Niemand trägt Schuld. Ihr könnt nicht mal Verantwortung dafür übernehmen, Das Leben ist nicht in eurer Hand.“

Auch Lisa musste es begriffen haben, denn seither hatte er keinen ihrer „hätte ich doch, wären wir doch“ – Sätze mehr gehört.

Im botanischen Garten wurde es ruhiger. Das Nieseln hatte sich zum Regen gewandelt. Regen tat ihm gut. Er hatte etwas Reinigendes, aussen und innen. Dennoch ging Martin in ein Schauhaus. Dort setzte er sich auf eine Bank. Der Garten war noch eine Stunde offen.

Zwei Kinder spielten Familie.“Morgen musst du den Baum holen“ , sagte das Mädchen. „Baum holen“, das hörte sich seltsam an in einem botanischen Garten.

Die Kinder setzten sich neben Martin. Sie waren noch immer vollkommen vertieft in ihr Familienspiel.
„Ja“, sagte der Junge, „ich mach das übermorgen.“ Das Mädchen war damit nicht zufrieden. 
„Nein, du gehst mir morgen¨“

„Aber Julia, morgen ist Sonntag“

„Aber wir spielen doch und im Spiel ist es Mittwoch und morgen hättest du Zeit,“

„Das sagst du nur, weil du nicht daran gedacht hast, dass morgen Sonntag ist“

Das Spiel wurde zum Streit und die Kinder liefen davon um die Eltern zu finden.

Martin hob seinen Blick. Da waren nur kahle Äste.
Waren Lisa und er in einem grausamen Spiel gefangen, bei dem das einzig wichtige war, nicht rauszufallen? Würde ein Verlassen des Spiels noch mehr weh tun?
Sie spielten immer noch Vater Mutter Kind. Nur das Kind fehlte so schmerzlich.
Würde das je gut enden können

Martin wusste es nicht. Aber irgendwie spürte er sich freier und weniger getrieben.

Endlich konnte er sich auf den Heimweg machen. Er verliess den Garten und streckte sich. Er hatte das Gefühl, dass sich seine Schritte harmonischer zum Gang fügten.

Schon merkwürdig, das Mädchen hiess Julia. Irgendwas rumorte in ihm.
Beim Gehen fiel ihm ein, dass sie auch noch keinen Baum hatten.
Dieses Fest würde wehtun.
Wie würden sie da durchkommen?

„Ein Kind ist euch geboren, Fürchtet euch nicht“ ging es durch seinen Schädel.
Und sofort auch. „Ein Kind ist uns gestorben und wir fürchten uns sehr.“

Martin wusste, dass Weihnachten ihr Test sein würde. Wenn sie dieses Fest als Paar überlebten, wären sie gerettet, das wollte er glauben.

Auf dem Heimweg kommt er an einer Verkaufsstellte für Christbäume vorbei. Das meiste Nordmanntannen, viele etwas asymetrisch. Letztes Jahr hätte er sie genauer inspiziert um festzustellen, ob es klug wäre, hier zu kaufen.

Plötzlich hellt sich sein Gesicht auf, er stapft bergan. Geht vorbei an der Strasse, wo er abbiegen müsste um nach Hause zu kommen und erreicht ausser Atem den Waldrand.
Äste wollte er oder Zweige. Er erinnerte sich an die Barbarazweige, welche seine Tante immer Anfang Dezember im Wald holte.
Sie brauchten Wasser und Wärme und würden mit etwas Glück an Weihnachten blühen.

 

Ruth Geiser, geb. 1956 von Roggliswil LU, Ausbildung zur Primarlehrerin, Abschluss 1977, unterrichtete als Primarlehrerin, 1984 Diagnose Parkinson, Studium Geschichte, Englische Literatur und Europäische Volksliteratur, Assistenz bei Professor Schenda, Europäische Volksliteratur, unterrichtete Englisch und Geschichte an Gymnasien, Fachhochschule und in der Erwachsenenbildung, Aufgabe der Berufstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen 2005, schreibt Gedichte, Kurzgeschichten, sowie autobiografische Texte.

Gabriela Cheng-Voser «gluät of dä huut», 8. unschöne Weihnachtsgeschichte

häsch mer gseit
i söll doch bliibä
mögischs nöd verliidä
wänn i nümm
um di umä ben

besch chli vorbi cho
chli gange
i dä zwöscherüüm
häsch mi
lang
la hange

weisch
häsch gseit
wänns druf aah chond
besch mis nummero eis
das hät mer en bode gäh
sesch sowiit cho
wiäs niä hätti dörfä

mängisch seisch
au wänns weisch
was nöd meinsch
das esch halt ä so besch chli vorbii cho
chli gange
i dä zwischerüüm
häsch mi
la hange

dänn han i der gseit
i chöng das nöd verträge
teilziitliäbi seg nöd so miis
du häsch gmeint
das liess sich nöd änderä
es seg dini verpflechtig
das müesst i doch wüssä
dänn esch mer i sinn cho
dass du eine besch
wo mängisch seid
au wänn er s weiss
was er nöd meint
das esch halt ä so

besch einä wo siis
verspräche haltet
au wänn er s scho
längschtens
brochä hät chli cho
chli gah
chli hange lah
chli bliibä
chli liäbä
chli pfupf uselah

han dech gfröged
öb sech dis konzept
nöd gäge dech richtet
öb das diä art esch
wiä du läbe wellsch
s gaht no om vell meh
esch dini antwort gsi
wellisch nöd alles verlüre
was du der uufbaut hegsch

verschtah di scho
han i zu der gseit
was hätti au soscht
no wellä

weht tuäts mer scho
ond öppe so
wiä gluät of dä huut
ha de glii afaah chränkelä
der versuecht z erkläre
wiä s mer so gaht
häsch gfundä
nemms doch locker
mach der kei gedankä
so wiä ech
han i probiert
häd nöd funktioniert

mängisch seisch
au wänns weisch
was nöd meinsch
zwingsch dis muul
öppis z plapperä
wo i der drinn nöd esch
kei ahnig wiä du
of so en idee cho besch

diä schpuur wo du mer gleit häsch
han i falsch verschtandä
wiä du seisch
ond wänn du öppis seisch
dänn esch es gültig
nemmä alles of mini chappä
s tuät öberall öppä glich fescht weh
wiä gluät of dä huut

han mini lippä wond küsst a der
mech i der neu geboräh
han glaberet
vo geborgäheit
ond vertrouä
be blend gsi
taub
ond resischtänt
han zu der gseit
was i nöd gwüsst han
aber gmeint
han mis glück
wellä erzwingä
met dem
was i der inne
nöd esch

schön gsi
so en momänt lang
wie zäme flüügä
mit tuusigä vo schmätterling
well mi no einmol met der betrügä
mech a dech verschänke
i der umächrüchä
a der schnupperä
met der zäme schnuufä
ond du seisch mer
was nöd meinsch
ond ech meine
was i nöd weiss
ond wänn du dänn
chli gasch
esch es för emmer
soscht würdsch
weder
chli cho
chli bliibä
chli liäbä
chli pupf uselah
för langi ziit
mech hange lah
würdsch mer
de schmuus bringä
am telefon
e paar pics vo der schickä
ond so
mini gfühl wäred
nöd so wechtig
wie dini verpflichtig
vo mir chli träume
häsch immer gseit
sig doch au no schön

han dech lieb
du mech au
nur nöd so richtig
verbring dis läbe
met dinä träum
s esch bald wiehnachtä
han s etz begriffä
lah dech la gaah
besch nöd min maah

s tuet öberall öppe
glich fescht weh

wiä
gluät
of
de
huut

säge der zum abschied
wird dech niä vergässe
dänn mängisch seisch
obwohl das weisch
nöd was meinsch
zwingsch dis muul
öppis z plapperä
wo i der drinn
nöd esch
kei ahnig
wiä du
uf so en idee
cho besch.

 

Gabriela Cheng-Voser ist fasziniert vom Schreib-Sog. Veröffentlichung von Prosa in Anthologien und als Gastautorin seit 2014. Lesungen u.a. 2019 Brüche im Literaturhaus Zürich, „Albert“ Hörgang München, 2021 mit „Acht Gramm“ Shortlist Deutscher Kurzgeschichtenwettbewerb (publiziert auf storyapp.de). Beschäftigt sich aktuell intensiv mit lyrischmusikalischen Reisen. Wird hierbei von Nic Niedermann an der Gitarre begleitet. Arbeitet mitunter neu unter dem Pseudonym Iggy. Führt weiters einen Roman im Gepäck, den sie schon viermal neu begonnen hat. Die Verzettelung wartet auf sie in einem Karton, den sie erst wieder öffnet, wenn sie genügend Zeit dafür hat, den Roman so zu schreiben, wie er geschrieben werden will.

https://www.storyapp.de/ (Die Namen der gewünschten Autorinnen und Autoren können in der Suchfunktion eingegeben werden).
https://www.qultur.ch/artikel/lila

Beate Tröger «Weihnachten 1944», 7. unschöne Weihnachtsgeschichte

Sie hat die Geschichte gegen Ende ihres Lebens an jedem Heiligen Abend ihrer jüngsten Enkelin wiedererzählt. Da lebte sie schon seit Jahren allein, manchmal einsam, oft aber umringt von Besuch, in dem kleinen Haus auf dem Hügel, das sie in den späten Dreißigerjahren auf dem Grundstück gemeinsam mit ihrem Mann gebaut hatte, den sie letztlich um 13 Jahre überlebte.
„Wir haben uns das Grundstück urbar gemacht“, sagte sie, wenn sie davon sprach, wie sie und ihr Mann, der dahergelaufene Katholik, der Tagelöhner im Granitsteinbruch, der mit anderen wandernden Gesellen zu Mitte der Dreißigerjahre aus Niederbayern ins protestantisch geprägte Oberfranken gekommen war, weil es dort, anders als im Bayrischen Wald, zumindest noch Arbeit gab. Die jungen Männer schliefen auf einer Tenne im Dorf, abends bekamen sie ihren Lohn und konnten etwas essen.
Das Dorf ist klein, bis heute, es liegt am Ende einer Straße, die von der nächstgrößeren Ortschaft aus durch den Wald dorthin führt. Bis heute kennt dort jeder jeden. Das war auch damals so. Es war nur eine Frage der Zeit, dass sie ihn kennenlernte, vielleicht dauerte es länger, bis sie sich verliebte, aber es geschah. Er, der schön singen konnte und einen wilden, strahlenden Humor hatte, dazu dunkle Haare, die verschmitzten dunklen Augen einer Amsel. Sie wurde schwanger. Sie wusste es zuerst, sie sprach nicht darüber, zuerst nicht, auch nicht, als sie bei einer Tante einige Dörfer weiter zu Besuch war, die Tante erzählte, ein Mädchen aus dem Dorf habe sich in einen Katholiken verliebt, sie werde ihn heiraten. Die Tante sagte: Pfui Teufel. Sie aber, mit dem winzigen Fötus im Bauch, sagte später immer: „Als ich das hörte, wusste ich, wie über mich gedacht werden wird.“
Das Kind wuchs. Sie gestand die Schwangerschaft und die Verliebtheit den Eltern. Der Vater, der sich schon ausgerechnet hatte, dass sie den reichsten Bauernsohn aus dem Nachbardorf heiraten sollte, war außer sich, aber immerhin pragmatisch genug, dem ungeliebten Tagelöhner ein Bett im Haus für so lange zu gewähren, bis später das Grundstück oberhalb des Dorfes gerodet, das Wurzelwerk aus dem Acker gezogen, das Fundament des kleinen Hauses mit dem Satteldach, mit den Schrägen in den drei kleinen Zimmern des ersten Stocks, mit dem ausgemauerten Keller, fertig war.
Da war die erste Tochter schon geboren. Sie kam im Dezember 1936 zur Welt. Im Oktober zuvor war die Trauung vollzogen worden. Es gibt bis heute ein Foto davon. Man sieht die beiden vor einem dunklen Vorhang im Photoatelier der Kreisstadt, sie trägt ein dunkles Kleid, das den schon recht sichtbaren Bauch kaschiert, er einen dunklen, schlecht sitzenden Anzug. Ihre Eltern waren an diesem Tag auf dem Feld, Kartoffeln graben, seine Mutter schon seit Jahren tot, am Heiligen Abend im Stall des Hofes von einer Kuh beim Melken zwischen die Rippen getreten, sein Vater zwar noch am Leben, aber die Reise zur Eheschließung hatte er nicht angetreten.
Nach dem Vollzug der Eheschließung, auch das gehörte zu ihrem festen Geschichtenrepertoire, hatte ihre Patentante den beiden Brautleuten einen Kaffee gekocht, danach waren sie wieder heimgelaufen. Was sie wohl miteinander geredet haben? Waren sie wenigstens für Momente ausgelassen, weil jung und sie guter Hoffnung?
Als das Haus auf dem Hügel fertig war, zogen sie hin, es blieben ihnen zwei Jahre dort, die er tagsüber arbeitend im Steinbruch verbrachte. An den Abenden und am Sonntag legte er einen prachtvollen Obstgarten an, er wusste, wie man Bäume veredelt, ein Birnbaum vor dem Haus trug, nachdem er ihn gepfropft hatte, zweierlei Sorten Birnen, er schaffte Bienen an, damit die Bäume bestäubt wurden.
Dann kam der Krieg. Er wurde gleich nach dem 1. September des Jahres 1939 eingezogen. Sie blieb zurück mit der knapp Dreijährigen. Wovon sie lebte, davon sprach sie später nicht mehr. Es wird auch dank der Unterstützung der Eltern möglich gewesen sein, die sich gegen die Hochzeit gewandt hatten.
Die Jahre gingen ins Land, der Krieg dauerte an. 1939 war sie 26 Jahre alt, eine junge Frau, die gut nähen, kochen, tanzen konnte, die gerne lachte, bis ihr das Lachen verging. Sie sah in der Nachbarstadt den Pfarrer, der von SA-Männern durch die Straßen getrieben wurde, um den Hals ein Pappschild: „Ich bin das allergrößte Schwein, ich lass‘ mich auch mit Juden ein!“. Sie sah von ihrem Grundstück auf dem Hügel am Ende des Dorfes die unten auf der gegenüberliegenden Seite des Dorfs im Tal vorbeigetriebenen Trosse von Inhaftierten, die nach Flossenbürg getrieben wurden. Als sie es zum ersten Mal sah, sagte sie zu ihrer Mutter, man müsse diesen Menschen doch wenigstens Wasser bringen und erhielt zur Antwort: „Anna, versündige dich nicht, du hast ein kleines Kind!“ Sie verdunkelte die Fenster ihres etwas abseits liegenden Dorfes und hörte BBC. Später sagte sie oft diesen Satz: „Wir haben es alle wissen können, wir haben es alle gewusst.“
Hin und wieder kamen Briefe aus dem Feld. Harmlose Briefe, man wusste um die Zensur und war vorsichtig in der Wahl der Worte.
Im Frühjahr 1944 erhielt ihr Mann Heimaturlaub. Er kam aus Russland, hatte die Schlacht von Stalingrad überlebt, durfte auf dem Hof seiner Schwiegereltern bei der Aussaat helfen, die in dieser kalten, kargen Mittelgebirgsgegend spät anberaumt worden war.
Was sie in dieser Zeit miteinander sprachen, bleibt ihr Geheimnis.
Einige Wochen später schrieb sie ihm: „Alois, wir erwarten ein zweites Kind“. Der Brief kam zurück, ein „Vermißt“-Stempel war ihm aufgestempelt worden.
Weihnachten 1944, so hat sie es wieder und wieder erzählt, war bitterkalt, die Gegend war tief verschneit. Um die Mittagszeit am Heiligen Abend packte sie etliche Päckchen mit selbstgebackenen Keksen, sie zog sich und die kleine Tochter warm an und lief mit ihr durch den Wald in den Nachbarort, wo im Lazarett zahlreiche Verwundete zur Versorgung untergebracht waren. An sie verteilte sie die Päckchen.
Wenn sie die Geschichte erzählte, vergaß sie nie zu erzählen, wie sehr sich die Männer freuten und wie sehr sie sich wünschte, ihr Mann möge noch leben und etwas zu Weihnachten bekommen.
Sie ging nachher mit ihrer Tochter in den Gottesdienst, dann liefen sie durch den Wald wieder nachhause. Das Angebot der Mutter, doch im Elternhaus im Dorf zu feiern, hatte sie ausgeschlagen. Sie habe ihre eigene Familie, sagte sie, und so erzählte sie es immer wieder, sie habe sich dessen bewusst sein und bleiben wollen und sei erst am nächsten Tag hinunter gegangen ins Dorf
Wenn sie, die weniger fromme als weltliche, aber doch tief ihrem Glauben Verbundene die Geschichte erzählte, immer nur am Heiligen Abend, sagte sie: „Weihnachten 1944 war mein einsamstes und traurigstes Weihnachten, aber ich wusste in diesem Moment, dass ich so nah bei Gott war, wie man es im Leben sonst kaum sein kann.“ Sie hatte die Tochter ins Bett gebracht, saß am Fenster ihres kleinen Wohnzimmers und schaute hinaus in die Weite, man hatte einen wunderbaren Ausblick aus diesem Fenster, hinunter zu den Lichtern des Dorfes, hinter dem das Tal in eine bewaldete Hügelkette überging, und in Schneenächten erleuchtete der Schnee die Dunkelheit in eine paradoxe Helligkeit.
Bis ins Jahr ihres Todes verbrachte sie seitdem Jahr um den Heiligen Abend dort, in diesem kleinen Wohnzimmer. Nie nahm sie später für diesen Abend Einladungen ihrer Kinder an, weder von der älteren, die damals mit ihr unter einem Dach lebte, noch von der jüngeren Tochter, die am 27. Januar 1945, also einen Monat nach diesem besonderen Tag, in einer eiskalten Winternacht auf die Welt kam.
Im Sommer 1949, die jüngere Tochter spielte draußen vor dem Haus, kam der Mann unverhofft und unangekündigt aus russischer Gefangenschaft zurück. Ein fremder, abgemagerter Mann, so erzählte die jüngere Tochter, sei den Hügel hinan nähergekommen, er sei wortlos an ihr vorbei durch die offene Haustür in die Küche gegangen und habe gesagt: „Ich habe Hunger,“ vom Essen, das ihm hingestellt wurde, aß er, bis seine Frau es ihm entschieden wegnahm.
Als sie die Geschichte der jüngsten Enkelin erzählte, die dank einer frisch erworbenen Fahrerlaubnis von Weihnachten 1991 an immer in den Nachmittagsstunden des Heiligen Abends zu ihrer Großmutter fuhr, um die Geschenke der Familie zu bringen, saßen die zwei immer am gleichen Platz auf dem einen der zwei Sofas in dem kleinen Wohnzimmer. Sie saßen nebeneinander, sie tranken Tee, die Geschichte wurde erzählt, es gab kaum Varianten im Text. In der Stube war es warm. Der Großvater war 1982 an den Spätfolgen des Kriegs, gestorben, der ihm große Teile seines Magens gekostet und Gelenkrheumatismus eingebracht hatte.
Wenn sie die Geschichte von Weihnachten 1944 erzählt hatte, wenn der Tee ausgetrunken war, sagte sie: „Es ist schön, wenn man nicht allein ist an Weihnachten, aber es ist auch gut, es zu lernen, dass es so sein kann. Du fährst jetzt wieder zu den Deinen, und ich weiß, wie es geht.“ Ihr Lächeln war weich, ihre Umarmung herzlich wie immer.
Als sie im Juli 1995 starb, war die Kirche zu klein, um die Trauergemeinde aufzunehmen. Die Leute standen im Vorraum der Kirche und die gesamte Kirchentreppe hinunter bis auf den Dorfplatz.

Für meine Großmutter Anna Klessinger (1913-1995), meinen Großvater Alois Klessinger (1912 -1992) und meine Mutter Rita, geborene Klessinger, die am 27. Januar 1945 auf die Welt in die Ungewissheit gekommen ist. Und für alle Schwangeren, alle Mütter, Väter und Kinder, die aufgrund eines Krieges voneinander getrennt worden sind, und zur Stunde nichts voneinander wissen.

Beate Tröger, geboren in Selb/Oberfranken, studierte Germanistik, Anglistik und Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft in Erlangen und Berlin. Sie ist Literaturkritikerin, Moderatorin und Jurorin und lebt in Frankfurt am Main. Tröger ist Jurorin der SWR-Bestenliste, kürt mit Björn Jager und Carolin Callies die Träger des Wiesbadener Orphil-Preises für Lyrik. 2018 war Beate Tröger eine der Jurorinnen beim Münchner Lyrikpreis und 2018, 2020 und 2021 für den GWK-Förderpreis Literatur, ab 2019 gehört sie den Jurys für den Gertrud Kolmar Preis und den Peter-Huchel-Preis an, seit 2021 auch der Jury für den Brüder Grimm-Preis der Stadt Hanau und der Jury für das „Buch des Monats“, Darmstadt.

 

Uli Wittstock «Bescherung auf Station 17», 6. unschöne Weihnachtsgeschichte

Schwester Gerlinde hat wohl das Flurlicht abgedunkelt, und ist in die Küche gewechselt, um die Reste des Stollens zu entsorgen. Das zumindest vermutet Pjotr, denn sie beide sind jetzt noch das Rumpfteam auf der Station, das allerdings in einer halben Stunde aufgefüllt werden wird, um dann einen guten Eindruck zu hinterlassen. Die Bewohner der Station waren nach dem Mittag alle noch einmal gebadet worden, doch Frau Mönkemeier hatte ein Stück Stollen zu gierig verschluckt, obwohl Pjotr ihn schon in Bonbongröße geschnitten hatte. Erst kamen aus ihrem Mund der Husten und in der Folge noch etwas mehr, Reste des Mittagsbrotes vor allem. Pjotr hatte bereits die Tischdecke in dem Wäschesack gestopft, Frau Mönkemeier in ihr Zimmer gefahren und ihre Bluse gewechselt, eine grüne, die nicht so recht zu ihrer beigen Jogginghose passen mochte. Aber vor Monaten, als Frau Mönkemeier noch sprach, hatte sie von der mit hellen Rüschen besetzten Bluse als ihrem Lieblingsstück gesprochen. Der Stoff ist inzwischen ein wenig verblichen, doch zeigt der Schnitt noch immer deutlich, dass Frau Mönkemeier in ihrem Leben viel Wert auf Eleganz gelegt hatte. Dass jetzt ein Lächeln über ihr Gesicht gleitet, könnte Pjotr sich einbilden, dazu allerdings ist er zu lange auf der Station, um solchen Täuschungen noch zu erliegen. Er knöpft die Bluse bis zum Hals zu, was kein Problem ist, da Frau Mönkemeier offenbar immer kleiner wird und zwischen den Hautfalten des Halses und dem Kragen nunmehr ein fingerbreit Platz ist. Dann dreht er den Rollstuhl in Richtung Fenster, mit Blick auf den Garten und das dezemberkahle Geäst zweier Platanen, wetterseitig Krähenschwarz. Im Speisesaal hat die Frühschicht bereits die Festtafel eingedeckt, Pjotr geht zum Weihnachtbaum und schaltet die Beleuchtung ein, buntes Geflacker, was eigentlich die Hausleitung mit Verweis auf die Energiekosten untersagt hat. Nur noch zu den Festtagen und nur von 18 bis 20 Uhr, so die Mail, die an alle im Haus ging. Doch seit dem Mittag ist der Parkplatz der Geschäftsleitung verwaist, und mit Flatterband abgesperrt, wohl für den hohen Besuch, der erwartet wird. „Ja mach ein bisschen Stimmung für den trüben Laden.“ Schwester Gerlinde steht hinter ihm und schaut nun ebenfalls auf die flackernden Lichter und die großen Kugeln dazwischen, die sich irgendwie lieblos in den dürren Zweigen der Fichte verteilen. Für den Weihnachtbaum ist der Hausmeister zuständig. An den Weihnachtsfeiertagen übernimmt Schwester Gerlinde grundsätzlich den langen Dienst. Sie habe wohl eine Tochter, so munkelt man im Team, doch der Kontakt sei vor Jahren abgebrochen. Pjotr wird noch heute Abend zu Hause anrufen, auf einer knarzenden Leitung weit über den Grenzfluss Richtung Osten, wenn dort die Bescherung vorbei ist, die auch in diesem Jahr gesichert ist, nicht zuletzt dank seiner monatlichen Überweisungen. „Die olle Steinberg kommt nachher persönlich.“ Schwester Gerlinde streicht, während sie spricht, mit ihrer rissigen Hand über die Tischdecke, um die letzten Falten zu glätten. Es sind genau diese Feinheiten, auf welche die Chefin großen Wert legt, und es das Team noch tagelang spüren lässt, wenn sie es für nötig erachtet, mit einem Bombardement von Mails, die gesamte Einrichtung an ihrer Enttäuschung teilhaben zu lassen. Nur der inzwischen nicht mehr zu leugnende Personalmangel hält sie offenbar davon ab, in solche Fällen schärfer zu reagieren. „Du kannst doch schon mal die Geschenke holen“ sagt Gerlinde und blickt mit einer gewissen Zufriedenheit über den Tisch, bevor sie die Teller so dreht, dass sie exakt ausgerichtet sind. Pjotr fühlt sich an das Schneidwerkzeug einer Erntemaschine erinnert, die sichelscharfen Teller, mit dem das alte Kraut vom Acker gesenst wird. Im Aufenthaltsraum steht seit gestern der Korb mit den Geschenken, dreiundzwanzig exakt gleiche Pakete, eingeschlagen in ein grünes Weihnachtspapier, und aus naheliegenden Gründen nicht mit einer Schleife umwickelt. „Sie glauben gar nicht, was der Mensch alles schlucken kann“ hatte jüngst die olle Steinberg bei einer der Stationsversammlungen erklärt und dabei gegrinst, als sei ihr die Mehrdeutigkeit des Satzes selber aufgefallen. Doch die Chefin ist niemand, die sich in Mehrdeutigkeiten ergeht. Pjotr wuchtet den Korb auf den Essenswagen und rattert ihn über den Flur zum Baum. An einer besonders kahlen Stelle stapelt er eine Art Weihnachtspyramide auf, für deren Spitze er allerdings noch einen Stern benötigt hätte oder auch ein Kreuz. Aber ein solches sucht man auf der Station vergebens, was nicht wundert, denn die wenig einladende Region, für welche die Einrichtung ihre Dienste vorhält, hat der Heilige Geist schon vor mehreren Generationen verlassen. „Noch zehn Minuten“ ruft Schwester Gerlinde vom Flur und öffnet die Zimmertüren. Die wenigsten der Stationsbewohner werden selbstständig den Weg zur Bescherung finden. Einige von ihnen verlassen ihr Bett ohnehin nicht mehr, die müssen nun zuerst in Richtung Baum geschoben werden. Geübt bugsiert Gerlinde den Herren aus Zimmer sechs und dreht das Bett so, dass der Weihnachtbaum gut im Blick ist. Pjotr folgt mit einer weißhaarigen Dame, deren Haut so durchscheinend ist, wie das Papier der Sterne am Fenster, hinter denen sich nun allmählich jene Dunkelheit ergießt, welche wohl zur Weihnacht gehört und die Lichterketten besonders glänzen lässt. „Das sieht doch jetzt wirklich gut aus“ sagt Schwester Gerlinde mit einer gewissen Zufriedenheit, als hätte sie gerade das Personal einer Weihnachtskrippe eingewiesen. Der Herr aus Zimmer sechs bewegt wie zur Bestätigung seinen Kopf. Kurz darauf haben sie die Betten im Flur so zusammengeschoben, dass für den Besuch noch ausreichend Platz bleibt. Dann huscht ein Lichtschein über die Wand, nicht der Weihnachtsstern, sondern das Fernlicht der Limousine, die nun in den Hof einfährt. Es sind offenbar mehrere Fahrzeuge, denn nun tanzen weitere Lichtflecken über den Flur. Pjotr läuft nun auf die andere Seite bis ans Ende des Gangs, um Frau Mönkemeier zu holen, der Herr aus Zimmer drei kommt ihm bereits entgegen. Frau Mönkemeier scheint sich kein bisschen bewegt zu haben, seit Pjotr sie zum Fenster geschoben hat, hinter dem die Dunkelheit nunmehr ziemlich vollendet ist. Nach einem kurzen prüfenden Blick löst Pjotr die Bremsen und schiebt die Dame zur Festtafel neben dem Baum. Der Herr aus Zimmer drei ist bereits angekommen und die übrigen Bewohner folgen allmählich, teils von Schwester Gerlinde unterstütz. Dann springt die Stationstür auf, als hätte sie jemand eingetreten. So pflegt nur die olle Steinberg durchs Haus zu poltern, im Schlepptau hat sie drei sogenannte Freiwillige aus der Frühschicht, die jetzt das Team verstärken sollen, damit der Heilige Schein im Pflegeheim auch wirklich gewahrt ist. „Toll, toll, toll – sehr weihnachtlich“ schnarrt sie über den Flur. In einer anderen Zeitrechnung soll sie Pionierleiterin gewesen sein. „Heute darf nichts schiefgehen, wir sind nachher immerhin in den Spätnachrichten zu sehen.“ Sie wirft noch einen kurzen Blick über das Arrangement mit Weihnachtsbaum, Geschenken und Festtafel, dann nimmt sie neben der Tür Aufstellung, bereit den hohen Besuch zu empfangen. „Uowarchs“ – plötzlich hallt ein Schrei über den Flur, der eher nach einem schwarzen Vogel als nach einem Menschen klingt. Der Herr von Zimmer drei äußert sich so, wenn er wegen irgendetwas aufgeregt ist. Pjotr geht zum ihm hinüber und legt die Hand auf seinen Arm. In diesem Moment geht die Tür erneut auf, und zwei große Rücken zwängen sich hindurch, mit geschulterter Kamera und einer Mikrofonangel. Der mit der Angel schiebt die olle Steinberg zur Seite, stellt sich dann vor sie und ruft „Kannst“. Nun folgt ihm der Kameramann, noch immer vorsichtig rückwärts gehend, und dann, deutlich kleiner, der Ministerpräsident, dessen dünnes Haar im Licht der Kamera aufscheint wie ein brennender Dornbusch. Die olle Steinberg will sich vordrängeln, doch der Mann mit der Mikrofonangel versperrt ihr weiter den Weg. Als nächstes, nahezu Türfüllend, folgen drei junge Männer, die den Eindruck erwecken, als würden sie Weihnachtsbäume mit der Hand pflücken, wahrscheinlich die Bodygouards. Der kleinste von ihnen stellt sich neben den Tonangelmann, so dass die olle Steinberg nun regelrecht eingekeilt ist. „Im Kasten“ ruft der Kameramann. Nun strömen weitere Menschen nach, ein Fotograf mit einem Ofenrohrartigen Objektiv vor dem Bauch, eine junge Frau mit Notizblock sowie mehrere junge Männer im Anzug, wahrscheinlich aus der Protokollabteilung. „Dann machen wir jetzt die Begrüßung.“ Der Kameramann stellt sich in Richtung Baum. „Herr Ministerpräsident, bitte hierher“ ruft er und winkt zugleich zur ollen Steinberg. „Achtung und Bitte.“ Während die Chefin versucht, sich am Tonmann vorbei zu schlängeln, schreit erneut der Herr von Zimmer drei. Die drei Bodyguards straffen sich und blicken noch finsterer, als sei schon Karfreitag und nicht erst Weihnachten. „Herzlich willkommen Herr Ministerpräsident. Wir freuen uns sehr, sie hier bei uns begrüßen zu können. Weihnachten feiern wir hier immer in großer Familie und sind stolz, dass sie heute unter uns weilen.» Warum die olle Steinmeier den Text von einem Zettel abliest, versteht Pjotr nicht, ebenso wenig wie die Antwort des Ministerpräsidenten, der sich nicht nur ins Amt genuschelt hat, sondern auch seitdem daran festhält, weitgehend unverstanden vor sich hin zu regieren. Der Fotograf hat das Objektiv in Stellung gebracht, das nun kanonenartig vor seinem Gesicht in den Raum ragt und schießt Blitzsalven ab. Dann, gewohnt voran zu gehen, wendet sich der Ministerpräsident in Richtung Weihnachtsbaum. Freundlich lächelnd und winkend geht er an den Betten vorbei, greift mal eine heraushängende Hand und schüttelt sie kräftig und hätte beinahe auch nach einem Fuß gegriffen, wenn die olle Steinberg ihn nicht einfach weitergeschoben hätte. Der Tross bewegt sich in Richtung Baum. „So jetzt noch mal bitte zu mir schauen.“ Der Kameramann steht mit leicht gebeugten Knien, hinter ihm der mit der Tonangel. Mit beiden Händen, als würde er nach einem Betonblock greifen, packt der Ministerpräsident eines der Geschenkpakete und bringt es hinüber zum Tisch. „Moment, sie sollten es direkt jemanden übergeben“ ruft der Kameramann und dreht sich zurück in Richtung Baum. „Also bitte noch einmal.“ Der Ministerpräsident greift erneut zu, blickt sich kurz um und geht dann zielstrebig auf Frau Mönkemeier zu. Pjotr hat in diesem Moment ein irgendwie ungutes Gefühl, doch da steht der kleine Mann schon vor ihrem Rollstuhl und legt das Geschenk vorsichtig auf ihre Knie. Diesen Augenblick nutzt nun der Mann mit dem Kanonenobjektiv und sorgt mit einer Kaskade von Serienblitzen für heftiges Geflacker. Später wird man darin möglicherweise den Auslöser für die weiteren Vorfälle sehen, was aber jetzt noch keiner wissen kann. Dieser Ort ist kein Platz für Hellseherei. Zunächst geht ein Zittern durch den dünnen Körper von Frau Mönkemeier. Ihre Hände krallen sich in die Griffe des Rollstuhls, so dass ihre Knöchel weiß hervorstehen. Ihr Mund bewegt sich, doch es fehlt nicht an Luft, sondern offenbar an Worten. Pjotr versucht am Kameramann vorbei zu kommen, um die Dame zu beruhigen, als sie sich plötzlich aufrichtet, mit einer Hand noch immer den Rollstuhl festhält und den anderen allmählich nach oben hebt. Dazu parallel strafft sich ihr kleiner Körper. Dann, mit einer überraschend jugendlichen Stimme, ruft sie: „Heil Hitler, mein Führer.“ Der Arm sinkt herab und sie versucht einen Schritt in Richtung des Ministerpräsidenten, doch der weicht zurück. Von rechts wirft sich nun der kleine Bodyguard dazwischen, die anderen beiden kommen von der anderen Seite, bringen Frau Mönkemeier zu Boden, wobei der Rollstuhl stört. Von einem kräftigen Tritt in Schwung gesetzt, rollt der in den Weihnachtsbaum, der erst gefährlich schwankt und dann schließlich umstürzt und mit der Spitze den Kameramann trifft, der vor Schreck in Knie geht und dann nach hinten kippt, die Kamera wie eine Truppenfahne nach oben haltend. „Uowarchs“ schreit der Herr aus Zimmer drei. Dann zieht für einen Moment weihnachtliche Stille ein. Pjotr blickt in die ramponierte Weihnachtlandschaft, aus der nun der Ministerpräsident herausgezogen wird, als hätte es einen Erdstoß gegeben. Die Spätnachrichten werden wohl ihre Programmplanung ändern müssen.

Uli Wittstock, geb. 1962 in Lutherstadt Wittenberg, aufgewachsen in Magdeburg. Nach dem Abitur hat er einen dreijährigen Ausflug ins Herz des Proletariats unternommen: Arbeit als Stahlschmelzer im VEB Schwermaschinenbaukombinat Ernst Thälmann. Anschließend studierte er evangelische Theologie. Nach der Wende hat er sich dem Journalismus zugewendet und ist seit 1992 beim MDR. Er schreibt regelmäßig Kolumnen und Kommentare.