„Du blaust mir in die Seele“ Bild und Lyrik rund um den Bodensee

Das «Bodenseemeer», wie es oft auch genannt wird, ist bis heute eine der bedeutendsten Kulturlandschaften Europas. Das Redaktionsteam der Literaturzeitschrift orte, vertreten durch Regina Füchslin, Viviane Egli, Erwin Messmer und Cyrill Stieger und vier Autor:innen aus diesem fruchtbaren Kulturraum luden mit Lyrik und Prosatexten, gezielt und charismatisch ausgewählt, zu einer poetischen Segelpartie ein.

Ruth Erat

Einige dieser Texte wurden eigens für diese orte-Ausgabe „Du blaust mir in die Seele“ verfasst und spiegeln die intensive Verbindung der Schreibenden mit dem Bodensee wider. Im Heft mit an Bord sind 16 namhafte Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Für stimmungsvolle Blicke auf den Bodensee in der Mitte des Heftes sorgt der international bekannte Fotograf Bernd Schumacher.

Gemeinsam mit den Dichter:innen Ruth Ehrat CH, Bruno Epple D und Dorothea Neukirchen D und dem Redaktor Erwin Messner aus dem Redaktionsteam der orte Literaturzeitschrift stellten die Schreibenden Texte vor, tauchten ein in die Sprachlandschaft um den Bodensee und diskutierten über ihr Schreiben.

Bruno Epple

So wie es Lyrik auf dem Büchermarkt nicht leicht hat, so unverzagt muss der Einsatz und die Motivation sein, heute und in Zukunft eine Literaturzeitschrift herauszubringen. Verkaufszahlen und Umsatz müssen ausgeblendet werden. Wichtig allein ist das Wort, der Wille, jenen Autor:innen Raum zu geben, denen sonst die Bühne fehlt, die man vergisst. Literaturzeitschriften hatten in der Vergangenheit eine ganz andere Rolle, ein anderes Selbstverständnis als heute. Zeitungen interessieren sich kaum mehr für Lyrik und Verlage, die Lyrik veröffentlichen, mit solchen Büchern finanzielle Experimente starten, tun dies in der Regel nur, um die Lyrik nicht dem Vergessen zu übergeben. Umso verdienstvoller, wenn sich eine Literaturzeitschrift über 200 Ausgaben lang darum bemüht, der Literatur eine Stimme zu geben.

Erwin Messmer

Ruth Erat wuchs auf in Bern und Arbon, wirkte als Lehrerin und Dozentin. Seit 2016 ist sie ausschliesslich als Malerin und Schriftstellerin tätig. 1999 nahm sie am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil. Seit 2015 ist sie im Arboner Stadtparlament.

Bruno Epple studierte Philosophie, Germanistik, Romanistik und Geschichte in Freiburg, München und Rouen, war lange Lehrer, zuletzt Gymnasialprofessor. Er ist freier Autor und Künstler, der Bilder malt und Skulpturen schafft.

Dorothea Neukirchen

Erwin Messmer, 1950 in Staad SG am Bodensee geboren, hat Lehr- und Konzertdiplome für Klavier und Orgel. Es folgten intensive Konzerttätigkeiten als Organist sowie Radio- und CD-Aufnahmen. Daneben schrieb er stets Gedichte, Prosaarbeiten, Essays und Buchkritiken.

Dorothea Neukirchen, 1941, ursprünglich Bühnenschauspielerin, dann Filmschauspielerin, Regisseurin und Drehbuchautorin. Sie schrieb und inszenierte Kinofilme, Dokumentarfilme, Fernsehspiele und -serien. Neben Prosa schreibt sie auch Lyrik.

«Das Literaturhaus Thurgau war für uns von der orte-Literaturzeitschrift ein ganz wunderbarer Gastgeber und Veranstalter. Wir danken, dass wir unsere Arbeit und namentlich die Bodensee-Ausgabe unserer Literaturzeitschrift an diesem unvergleichlich schönen Ort und einem interessierten, wertschätzenden Publikum im Rahmen einer Sonntagsmatinée vorstellen durften. Das grosse Engagement und die literarische Kompetenz unserer Gastgeber, der rege Austausch und die tolle Organisation haben unsere Bodenseeautorinnen- und -autoren und uns beglückt.» Die orte-Redaktion

«Die Matinee in Gottlieben zum hier buchstäblich naheliegenden Thema, in der wir von der Schweizer Literaturzeitschrift «orte» unsere Bodensee-Nummer vorstellen durften, bleibt in frühlingsheller, positiver Erinnerung. Der Gastgeber des Thurgauer Literaturhauses bewies als Moderator einmal mehr, dass für ihn Poesie nicht toter Buchstabe ist, sondern Lebenselixier. Der Funke sprang sogleich auf die vortragenden Gäste über: auf Ruth Erat, Bruno Epple und Dorothea Neukirchen, und von diesen auf ein aufmerksames und dankbares Publikum.» Erwin Messmer

Webseite der orte Literaturzeitschrift

Beitragsbilder © Cyrill Steiger

Michael Kleeberg im Literaturhaus Thurgau

Michael Kleebergs Buch „Glücksritter. Recherche über meinen Vater“ ist keine Abrechnung, viel mehr eine eigentliche Liebeserklärung an seinen Vater, eine Klärung, die sich nicht einstellen wollte oder konnte, solange sein Vater noch lebte.

Michael Kleeberg strotzt vor Geschichten. «Kein Wunder, Schriftsteller.» Aber Michael Kleeberg liebt Menschen, geht auf sie zu, verwandelt eine Lesung in ein Gegenüber. Und wenn der Autor dann mit einem Glas Wein aus seinem Leben erzählt, von all den Begegnungen, Erfahrungen, Reisen, Freundschaften, dann spüre ich als Zuhörer seinen unendlichen Reichtum. «Glücksritter. Recherche über meinen Vater» erzählt nicht zuletzt davon, wem der Autor seine Quelle verdankt.

„Alle Graustufen des realen Lebens sind verschwunden und es wird nur noch Schwarz und Weiss gepredigt.“

Wenn Mütter oder Väter sterben, wenn man Häuser und Wohnungen räumen muss, wenn man bei jedem Ding, das man noch einmal in Händen hält, entscheiden muss, ob es auch zur eigenen Geschichte gehört oder ob es bloss noch Überbleibsel ist, zwängen sich unweigerlich Fragen in den Vordergrund. Väter und Mütter sind einem irgendwie immer nah. Und doch muss man sie gewinnen, denn verlieren muss man sie unweigerlich. 

Eine Einsicht Kleebergs Recherche war, dass seinem Vater Freundschaften nie wichtig waren, viel mehr Status und das Bild einer perfekten Familie. Erklärbar durch die Nachkriegszeit, in der eine ganze Generation sich auf das Äussere fokussierte, eine intakte Hülle. Sein Vater war über Jahre das, was das Wirtschaftswunder im Nachkriegsdeutschland zum Muster erklärte; immer mehr, immer besser. Und selbst Jahrzehnte nach dem Krieg, während man die Erinnerungskultur in Deutschland an allen Rändern entzündete, blieben Männer und Frauen wie seine Eltern im Dunstkreis einer Normalität, die sie in Kindertagen wie die Muttermilch aufgesogen hatten, die eine tatsächliche Auseinandersetzung mit den Gräueln des Nationalsozialismus behinderte, wenn nicht sogar verunmöglichte.

Eine Recherche über die Mythen einer Familie, zu jenen die Überzeugung gehörte, man hätte es viel weiter bringen können, wenn einem das Glück nicht versagt geblieben wäre. «Glücksritter» als einer, der dem Glück hinterher galoppiert.

Michael Kleeberg beschreibt in seinem Buch unendlich zärtliche Momente. Zum Beispiel jenen, als sein Vater ihm als kleinem Jungen Geschichten zeichnete, Comics davon machte, liebevoll nachzeichnete, was er erzählte.
Ihm zu lauschen war wie der Blick auf seine inneren Bilderwelten und -landschaften. Genuss!

«Ich habe meinen Freunden aus Gottlieben geschrieben: «Grüße aus der Freiheit!» Und genau so habe ich es auch gemeint. Aus der Paranoia, dem Irrsinn und Denunziationswahn, die derzeit in Deutschland herrschen, herauszukommen (gegen manche von der deutschen Obrigkeit in den Weg gestellte Reisehindernisse) und zum ersten Mal seit sieben Monaten in einer von gesundem Menschenverstand geprägten Umgebung wieder vor echten Menschen lesen zu können, war ein Geschenk, für das ich Dir, lieber Gallus, nicht genug danken kann.
Es waren schöne Tage im Zeichen der Literatur, die wir beide lieben.» Michael Kleeberg

Programm Literaturhaus Thurgau

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Buchtaufe von «Kapitulation» von und mit Michèle Minelli

Auf der Bühne des Literaturhauses leuchteten Blumen und durch das offene Fenster hörte man Vögel pfeifen. Von Idylle erzählt Michèle Minellis neuer Roman «Kapitulation» nicht. Viel mehr von den Kollateralschäden eines nicht enden wollenden Geschlechterkampfs, mehr oder minder gescheiterter Lebensentwürfe und permanenter Missverständnisse, wie sich Wirklichkeit abbilden sollte.

Eine Handvoll Frauen, die sich nach vielen Jahren wieder treffen sollen, lebten damals für einige Wochen zusammen auf der Mittelmeerinsel Krk, eingeladen von einer Stiftung, sie alle voller Perspektiven und Hoffnungen auf ein Leben als Künstlerinnen. Die Initiatiantin von damals will die Frauen noch einmal zusammenkommen lassen, in Zürich, hergeholt aus ganz verschiedenen Lebensumständen.
Damals glaubten alle auf Krk an eine grosse Zukunft, alles sei offen. Um jetzt, nicht einmal zwei Jahrzehnte später, festzustellen, dass man kapituliert hatte, kapitulieren musste.

In den ersten 200 Seiten begleitet man die Protagonistinnen durch die zwei Tage vor dem ominösen Treffen in Zürich. Michèle Minelli webt einen dichten szenischen Teppich, bis sie sich treffen und aus dem kammerspielartigen Treffen bei gedämmtem Licht eine Katastrophe zu werden droht.

In einem Gespräch, das Adrienne Rytz-Bonnet, die ehemalige Präsidentin der Stiftung führt, fällt der Satz „Wenn eine Frau will, kann sie heute alles erreichen.“ Was sich ein grosser Teil der Gesellschaft wie ein Mantra vorsagt, widerspricht sich ausgerechnet in der Kulturszene, in der es  «Gockel» zuhauf gibt.

„Ich habe keine Kraft mehr, neben Männern funktionieren zu müssen, die menschlich Sosse sind.“

Blumen für zwei Bücher: «Kapitulation» und «Chaos im Kopf»

Mag sein, dass die Lektüre für den einen oder anderen (Mann) als Kampfschrift liest. «Kapitulation» ist aber alles andere als eine Abrechnung, sondern eine schonungslose Analyse dessen, was sich nicht leugnen lässt.

«Im Mai 2012 schlugen einst Blicke auf dem Gallusplatz in St.Gallen Brücken. Diese tragen heute noch. Herzlichen Dank für deine Einladung ins Literaturhaus – zum Glück verstecken die Masken nur die Münder!»
Michèle Minelli

Rezension von «Kapitulation» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Chaos im Kopf» auf literaturblatt.ch

Das weitere Programm im Literaturhaus Thurgau

Beitragsbilder © Lauro Zanabria

«Sehnsucht nach Freiheit» ein Abend mit Cilette Ofaire im Literaturhaus Thurgau

Es war in vieler Hinsicht ein denkwürdiger Abend! Zum einen war es nach vier Monaten die erste Veranstaltung vor Publikum im ausverkauften Literaturhaus Thurgau, und zum andern spürten alle BesucherInnen an diesem Abend das Feuer für eine Autorin, die nur zurück ins Bewusstsein der Öffentlichkeit kam, weil der unermüdliche Streiter für das gute Buch, Charles Linsmayer, mit voller Leidenschaft in die Glut bläst!

Cilette Ofaires Roman «Ismé», der 1948 zum ersten Mal deutsch erschien, damals aber kaum von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, ist viel mehr als der Reisebericht einer unerschrockenen Kapitänin in einer Zeit, in der sie wohl die einzige in einer solchen Funktion war. «Ismé» ist die Geschichte einer starken Frau, die alles daran setzte, ihr Leben nach ihrer Fasson zu gestalten, allen Widrigkeiten zum Trotz. «Ismé» ist auch eine Zeitdokument eines Abenteuers, das im Gegenwind von Geschichte und Bürokratie scheiterte. Und «Ismé» ist in seiner jetzigen Form, mit einer Biographie von Charles Linsmayer und dem abgebildeten, gezeichneten «Journal de bord», ein Gesamtkunstwerk, das seinesgleichen sucht.

«Ein kleines Schiff besitzen, damit die Ozeane durcheilen, sich
als ein freier Bürger der Welt fühlen – das genügt noch nicht, um weise zu werden. Dazu braucht man vor allem andern ein Herz, das fähig ist, zu lieben, eine Seele, die noch Wunder erleben kann, und ein Gewissen, das einem mit seiner Wachheit ständig in Erinnerung ruft, dass man ein Mensch unter Menschen ist und in Beziehung zum Universum steht. Aber auch das ist noch nicht genug. Es ist dazu noch nötig, dass das Leben, das konkrete, fordernde Leben, sich dieses Herzens, dieser Seele und dieses Gewissens bemächtigt, um sie zu zerreissen, zu zerbrechen, zu zerstossen, zu kneten oder anders zusammenzufügen. Dann, durch all diese Zweifel und Hoffnungen, Erleuchtungen und Verdunkelungen des Geistes hin-durch, zwischen den Erfahrungen der menschlichen Schwäche und dem allmählichen Erfassen jener unbekannten Macht, die den Lauf der Gestirne regelt, dann ist es, wenn man das kurze Erdenleben mit der Dauer der Ewigkeit in Beziehung zu setzen versteht, vielleicht möglich, ein klein wenig Weisheit zu erwerben.» (1959)

Ausschnitt aus dem «Journal de bord» von Cilette Ofaire vom 20. Januar bis 26. Februar 1939. An allen Tagen, an denen die Autorin weiter an ihrem Manuskript zu Ismé schrieb, ist ein Büchlein mit der Aufschrift «Ismé» gezeichnet.

«Es war schon was besonderes, dass ich zusammen mit Heidi Maria Glössner den ersten Abend im Thurgauer Literaturhaus bestreiten durfte, als die durch die Pandemie erzwungene Pause vorbei war. Wir stellten Cilette Ofaire und ihr Buch «Ismé» vor, und es war zu spüren, wie das Publikum sich dafür begeistern konnte. Besonders bewegend war es, als wir nach etwelchen technischen Bemühungen ab Tondokument die Stimme der Dichterin erklingen lassen konnten: In der einzigen Aufnahme, die überhaupt von ihr existiert.
Warum das so ist, ob es die alten Mauern und die hölzernen Balken ausmachen, die das jahrhundertealte Haus aufweist, oder ob es das ganz besondere Publikum ist: auf jeden Fall herrscht im Bodman-Haus Gottlieben immer eine ganz besonders intime, familiäre Stimmung.» Charles Linsmayer

Programm Literaturhaus Thurgau

Alle Fotos © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Joachim Zelter und sein Kammerspiel

Ein letztes Mal im Jahr 2020 lud das Literaturhaus Thurgau Literaturinteressierte zu einer Lesung im Bodmanhaus in Gottlieben ein. Joachim Zelter war Gast mit seinem aktuellen Roman «Imperia», mit dem der Schriftsteller lesend und performend das Publikum zu begeistern wusste – ein Publikum, das nach Kultur hungert!

Joachim Zelters zentrale Figuren in seinem Roman sind absolut gegensätzlich. Gregor Schamoni, ein mässig erfolgreicher Schauspieler mit einigen Geldsorgen und Iphigenie de la Tour, eine raumgreifende Frau und Professorin, deren Visitenkarte sich wie eine Speisekarte liest. Eine Frau, die sich als absolutes Zentrum ihres Sonnensystems sieht, ein Mann, der es wie ein kleiner Planet nie mehr schafft, aus der ihm zugewiesenen Umlaufbahn auszubrechen. Jeder kennt solche Archetypen wie die Professorin; Menschen, denen das Leben immer wieder Recht zu geben scheint, auch ihr Erfolg, ihr Geld, ihre Macht. Und weil Gregor Schamonis Verdienstmöglichkeiten begrenzt sind, gibt er ein Inserat auf: Schauspieler bietet Dichter- und Salonlesungen. Wenig später meldet sich am Telefon eine Frau Professor Iphigenie de la Tour. Man kommt ins Gespräch und trifft sich kurz danach in einem Café unweit des Münsters. Was mit diesem Treffen beginnt, wird für Gregor zu einem Strudel, der ihn immer mehr vereinnahmt. Auf der einen Seite seine immer wieder auftauchenden Panikattacken, die ihn um seine Existenz bangen lassen, auf der anderen Seite eine Frau, aus deren intrigierenden Fängen er sich nicht mehr befreien kann.

Was für den Schauspieler Gregor Schamoni Wirklichkeit ist, ist Wirklichkeit für viele Kunstschaffende: Wie weit soll, darf und kann man sich in Abhängigkeiten begeben, um nicht in Existenznöten unterzugehen. Es liegt einiges an Zündstoff in den Schilderungen, im Roman selbst, in der Dramaturgie des Geschehens, aber auch darüber hinaus, sind doch die Diskussionen über „Entmännlichung“ und Rollenverständnis nicht nur in vollem Gange, sondern Flächenbrand geworden.

Joachim Zelter inszenierte seinen Text auf der kleinen Bühne des Literaturhauses gekonnt und mit viel Leidenschaft, einer Leidenschaft, die sein ganzes Tun und Schaffen bezeugt, eine Leidenschaft, die im Publikum ganz selbstverständlich seine Resonanz findet. 

«Ganz Europa befindet sich in einem Corona bedingten Lockdown. Ganz Europa? Nein, ein kleiner Ort am Bodensee lässt sich von keinem Virus der Welt einschüchtern oder unterkriegen und hält fest an der Unverzichtbarkeit lebendiger Autor*innen und lebendiger Zuhörer*innen in den Hallen des Literaturhauses Thurgau, die dort – Corona zum Trotz – sehnsüchtig aufeinandertreffen. Es ist eine Insel des gesprochenen/gehörten Wortes in einem verstummten Ozean, und es war mir eine Freude, gestern Abend auf dieser Insel weilen zu dürfen.» Joachim Zelter

Ein fast volles Haus, mit aller Vorsicht geführt! Das Literaturhaus Thurgau dankt dem Autor für den spannenden Abend

Joachim Zelter «Die Würde des Lügens» – SWR2

Fotos © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Leuenberger & Méndez «rupture», eine Performance

Freitag, den 6. November – es treffen sich die Basler Lyrikpreisträgerin 2020 Eva Maria Leuenberger und die Singer Songwriterin Pamela Méndez für einen Tag im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben. Eva Maria Leuenberger und die Musikerin Pamela Méndez kennen sich bis zur Anfrage des Literaturhauses nicht. Eva Maria Leuenberger bringt einen unveröffentlichten Text mit, Pamela Méndez eine ganze Reisetasche voller Sound-Equipment. Um 19.30 wird dann unter dem Dach des Literaturhauses präsentiert, was aus diesem einen Tag der intensiven gegenseitigen Auseinandersetzung entstanden ist. Eine einmalige Performance – ein künstlerisches Unikat!

Hier können sie nachhören:

«Lieber Gallus, danke für die guten Tage im Literaturhaus und das schöne Experiment, danke für deine Offenheit und den Mut, uns einfach mal machen zu lassen!» Eva Maria Leuenberger

Ein Textausschnitt aus «rupture»:

Zeichnung © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau
Beitragsbilder © arttv
Textausschnitte exklusiv für literaturblatt.ch mit freundlicher Erlaubnis der Autorin Eva Maria Leuenberger

«Schreibende Paare» mit Dana Grigorcea und Perikles Monioudis

„Schreibende Paare“ heisst eine der neuen Veranstaltungsreihen im Literaturhaus Thurgau. Im Falle von Dana Grigorcea und Perikles Monioudis hätte man den Abend auch „Eine Literaturfamilie“ nennen können, denn die beiden reisten mit ihren Kindern an und einer ganzen Kiste voller Bücher.

Das Leben, der Alltag der Familie Grigorcea Monioudis ist durchsetzt von Literatur, ihr Haus ein Ort, an dem alles durch eine papierene Lunge atmet. Das Paar ist sich Inspiration, Kritik, Motivation. Der jeweils andere der Erstleser, man trägt sich gegenseitig, selbst ihre beiden Kinder tun es an diesem Abend im Literaturhaus Thurgau.

Dana Grigorcea gab Kostproben aus ihrem letzten Buch, der Novelle „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“ und ihrem Roman „Die nicht sterben“, der im kommenden Frühling erscheinen wird. Dana Grigorcea erzählte, dass „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“ nicht zuletzt auch ein Versuch war, sich von dem Thema zu emanzipieren, mit dem man sie mit ihren letzten beiden Büchern, vor allem mit dem Roman „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“, immer wieder zu reduzieren versuchte; Rumänien. Nicht dass sich die Autorin ablösen wollte, denn in ihrem neuen Roman spielt ihr Herkunftsland wieder eine zentrale Rolle, die Macht totalitärer Regierungen, der Wunsch vieler nach einer starken Führung, einem Phänomen, das sich trotz aller historischen Erfahrungen nicht ausrotten lässt. Aber kein Schriftsteller, keine Schriftstellerin will in eine Schublade gezwängt werden. Dana Grigorcea wollte mit „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“ „austesten“, ob man sie auch liest, wenn Rumänien kein Thema ist. Ein Versuch, der sie nur bestärkte. „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“ war und ist sehr erfolgreich.
„Die nicht sterben“ ist die Geschichte einer jungen Bukarester Malerin, die sich nicht nur mit dem totalitären kommunistischen Machthaber Rumäniens konfrontiert sieht, sondern auch mit dem langen Schatten Graf Vlad des Pfählers, der der Welt als Dracula bekannt ist.

Dana Grigorcea und Perikles Monioudis wollen mehr als „bloss“ schreiben. Sie wollen nicht nur ihre eigenen Bücher zu Geschenken machen, sondern auch jene anderer Autorinnen und Autoren. Solchen, die ihre Manuskripte schon Jahrzehnte mit sich herumschleppen und nirgends in ein Verlagsprogramm zu passen scheinen. Texte, die zu vergessen drohen. Ihr Leben als Schriftstellerpaar ist untrennbar mit jenem eines Verlegerpaars verbunden. Ihr beider Leben in allem Schreiben, Auseinandersetzung, Buch, Papier, Gestaltung, Kunst und täglich Brot.

Perikles Monioudis, der schon bald dreissig Jahre schreibt und ein weigefächertes Werk präsentiert, will sich mit jedem Buch neu erfinden, Perspektiven ausloten, Textarten auskosten. „Azra und Kosmàs“ ist eine Liebesgeschichte und doch keine Liebesgeschichte. „Azra und Kosmàs“ ist eine Erzählung, die aufgebaut ist wie eine liegende Acht, als könne ich als Leser überall und immer in die Erzählung einsteigen und mich von den Geschehnissen um die beiden wegtragen lassen. Perikles Monioudis setzt sich in seiner Erzählung mit grossen Themen auseinander, sei es die Flüchtlingskatastrophe am Mittelmeer oder der Wunsch, sich aus seinem Leben abzusetzen, zu verschwinden. Ein Thema, das nicht nur für Menschen, die sich im Brennpunkt der Öffentlichkeit befinden, existenziell werden kann, sondern sich als Phänomen durch sämtliche westliche Gesellschaften zieht. Für Perikles Monioudis ist literarisches Schreiben alles andere als Handwerk. Er gibt sich in seine Stoffe hinein. Schreiben ist Kunst!

Der Abend war tief beglückend.

«Wer einen handfesten Beweis dafür braucht, dass uns die Literatur zu genussfähigeren, glücklicheren Menschen macht, sollte zu Gallus Frei-Tomic ins Literaturhaus Thurgau. Den Abend, den inspirierenden Gedankenaustausch, das goldene Licht im Dachbodenlesesaal des Bodmann-Hauses und das grossartige Publikum werden wir nie vergessen.» Dana Grigorcea

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

arttv: Das Literaturhaus Thurgau im Porträt

Das Literaturhaus ist ein Treffpunkt für Schreibende und Literaturfreunde – ein Ort, an dem nachgedacht, gearbeitet und diskutiert werden kann.

Hier geht es zum Video:

Mit der Eröffnung des Literaturhauses Thurgau wurde in Gottlieben eine Gedenkstätte für den Schriftsteller Emanuel von Bodman geschaffen, der Anfang des 20. Jahrhunderts die Bodenseeregion wählte, um hier sein Leben der Schrift zu widmen. Sein Werk umfasst eine Reihe von Dramen, viele Erzählungen, Hunderte von Gedichten sowie Aufsätze zu Kunst und Literatur seiner Zeit. Heute ist das Literaturhaus ein lebendiger Begegnungsort mit Literatur, Kunst und einer eigenen Buchbindewerkstatt.

Literaturhaus Thurgau
Mit dem Literaturhaus Thurgau bietet die Thurgauische Bodman-Stiftung der zeitgenössischen Literatur einen einmaligen Ort für ihre Präsentation: ein Literaturhaus auf dem Land mit einem hochwertigen Programm und einer beeindruckenden Resonanz – ein Treffpunkt für Schreibende und an Literatur Interessierten, ein Ort der Begegnung und des literarischen Gesprächs. Bei seiner Eröffnung im Jahr 2000 war das Bodman-Literaturhaus, heute Literaturhaus Thurgau, nach Basel und Zürich das dritte Literaturhaus in der Schweiz. Durch seine Nähe zu Konstanz hat es eine wichtige Funktion für grenzüberschreitende Begegnungen in der Bodenseeregion.

Handbuchbinderei
Im Bodman-Literaturhaus werden Bücher nicht nur präsentiert, sondern auch gebunden und repariert. In der Handbuchbinderei Merten wird traditionelles Handwerk modern interpretiert. Mit besonderem Blick für die Auswahl und Haptik der Materialien werden bibliophile Einbände gebunden, Künstlerbücher kreiert, Schachteln auf Mass angefertigt und lieb gewonnene alte Bücher restauriert. In der besonderen Atmosphäre der Werkstatt im Bodmanhaus in Gottlieben finden Kurse in kleinen Gruppen statt, in denen die vielseitigen Varianten des Handwerks erprobt werden können.

Das Bodmannhaus
Mittelpunkt und Seele des Dichterhauses ist das nach der Renovation wiedererstandene Arbeitszimmer, das den Besuchern einen vertieften Einblick in das alltägliche Leben des Dichterehepaars Clara und Emanuel von Bodman vermitteln soll. Die Gäste des Bodmanhauses sollen das Gedenkzimmer so vorfinden, wie es verlassen wurde, mit all seinem unverwechselbaren Charme, seiner Bescheidenheit und Eigenheit. Alles ist wieder am angestammten Platz: Das schöne Schreibpult, der volle Bücherschrank, das schlichte Sofa, die sieben bescheidenen Tische und Tischchen, Stühle, Accessoires und der gesamte übrige Schmuck des randvoll gefüllten Zimmers. Das Arbeitszimmer soll den Raum so zeigen, wie ihn Emanuel von Bodman beim Tode hinterlassen hat, und wie er von seiner Gattin Clara in liebevollem Angedenken fast unverändert belassen wurde. Das Interieur ist gemäss dem Charakter des Hauses bewusst nicht restauriert und auf Perfektion getrimmt worden. Die über zwanzig Möbelstücke sind lediglich vom Fachmann gereinigt und wo nötig geflickt worden; einzig den Vorhängen widmete man erhöhte Aufmerksamkeit mit einer aufwendigen Restaurierung.

literaturblatt.ch gratuliert: Anna Stern ist Schweizer Buchpreisträgerin 2020! #SchweizerBuchpreis 20/11

Der diesjährige Schweizer Buchpreis geht an Anna Stern für den Roman «das alles hier, jetzt.» (Elster & Salis Verlag).

In der Begründung der Jury heisst es: «Anna Stern hat einem der ältesten Themen der Literatur eine völlig neue Form und unerhörte Töne abgewonnen. «das aller hier, jetzt.» handelt vom Tod eines geliebten Menschen, und die Autorin erzählt mit grosser experimenteller Kraft und zugleich mit hoher sinnlicher Intensität. Fast beschwörend wird die Vergangenheit wachgerufen und die Leserinnen und Leser in den Erinnerungsprozess einbezogen. Das Erzählverfahren ist höchst originell. Nicht nur kommt der Text über die gesamte Strecke ohne jede Gender-Fixierung der Figuren aus, es ist auch ein Roman in zwei Spuren: auf den linken Buchseiten die Gegenwart der Trauer, rechts die erinnerte Vergangenheit einer gemeinsamen Kindheit und Jugend – bis alles auf ein fulminantes Roadmovie-Finale zusteuert. Ein gleichermassen intimer wie kunstvoller Roman über zutiefst menschliche Erfahrungen.»

Rezension von «das alles hier, jetzt.» auf literaturblatt.ch

«Glücklich?»
«Ja, glücklich.»

«Kalmann» im Literaturhaus Thurgau

Zuerst verliebte sich Joachim B. Schmidt in die Insel, später in Kristin Elva Rögnvaldsdóttir. Jetzt lebt der Schriftsteller seit mehr als einem Jahrzehnt mit seiner Familie auf Island und es scheint, als wäre er mit „Kalmann“ , seinem vierten Roman, endlich auf dem Weg an den Ort, wo er hingehört.

Im Wissen darum, dass es absolut nicht selbstverständlich ist, dass der Betrieb eines Literaturhauses in diesen Zeiten aufrecht erhalten werden kann und darf, war der Abend mit Joachim B. Schmidt gut besucht und zeigt, wie sehr man gerade jetzt nach Kultur lechzt. Ein Abend mit Literatur. Ein Abend in Island in einem kleinen Dorf ganz im Norden der Insel, die nicht nur beim Schriftsteller selbst ein Sehnsuchtsort ist. Ein Abend mit Leidenschaft und Witz, mit Spontaneität und tiefen Bildern!

„Kalmann“ ist mehr als ein Buch. Vielleicht ist „Kalmann“ sogar ein Lebensgefühl. Wenn Joachim B. Schmidt aus seinem Roman liest, wird Kalmann lebendig, sein Grossvater, das Meer, die Kälte, Raufarhövn, dieses Dorf, das auch in Wirklichkeit auf verlorenem Posten steht, heruntergewirtschaftet, vergessen, irgendwie auf der anderen Seite der Zivilisation.

Joachim B. Schmidt «Kalmann», Diogenes, 2020, 352 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-257-07138-2

Joachim B. Schmidt wollte eigentlich einen Krimi schreiben. Auch ein bisschen aus der Verzweiflung heraus, dass sich seine ersten drei Romane nicht annähernd so verkaufen liessen, dass eine Familie sich damit nur ein Zubrot verdient hätte. Mit einem Krimi, einem Islandkrimi, hätte es klappen sollen. Das eine klappte, das andere nicht. Denn obwohl reichlich Blut fliesst, die Polizei zuweilen mit einem Grossaufgebot auftaucht, Drogen in Unmengen versteckt werden, ist „Kalmann“ kein Krimi geworden. „Kalmann“ ist eine Liebesgeschichte. Eine Liebesgeschichte an eine Insel, an die Menschen, an einen Ort, an diesen einen Menschen, der zufrieden in seinem Häuschen lebt, Polarfüchse vom Dorf fern hält und manchmal mit Petra hinaus aufs Wasser fährt um Grönlandhaie zu fangen, die er nach dem Rezept seines Grossvaters zu Gammelhai verarbeitet. Kein Krimi, aber der Erfolg seines Romans stellte sich trotzdem ein. Vielleicht deshalb erst recht.

Wer den Zeiten zum Trotz doch noch Zeuge einer der zauberhaften Lesungen mit Joachim B. Schmidt lauschen möchte, findet Infos dazu auf seiner Webseite.

Lesen Sie „Kalmann“!

«Was aber am meisten Freude und Spass bei der Lektüre bereitet, ist Joachim B. Schmidts Sprache, seine Kunst, einen Schauplatz, Menschen lebendig zu machen. Genaue Beobachtung. Liebe zu den Feinheiten und eine grosse Portion Witz machen die Lektüre zu einem aussergewöhnlichem Vergnügen. Joachim B. Schmidt erzählt aus einer Perspektive ganz nahe an seinem schrulligen Protagonisten. Selbst wenn es Leute in Raufarhövn gibt, die Kalmann aus lauter Gewohnheit nicht ernst nehmen; Kalmann kann erzählen, auch wenn seine Sicht eine etwas andere ist und er sich manchmal seinen Grossvater zurück an seine Seite wünscht, der gewusst hätte, was von der Sache zu halten ist.»
Rezension von «Kalmann» auf literaturblatt.ch

«Was gibt es Schöneres, als mit einem Freund die Bühne zu teilen. Takk fyrir mig, kæri Gallus. Der Auftritt im Bodman-Haus wird mir in guter Erinnerung bleiben, mehr noch: DAS Highlight auf meiner Schweiz-Tournee 2020. Das Publikum im märchenhaften Gottlieben zähle ich ab sofort zum Kalmann-Freundeskreis und schlage eine Partnerschaft zwischen Raufarhöfn und Gottlieben vor. Bis zum nächsten Mal, euer Joachim B. Schmidt»

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau