Margrit Schriber «Heute + gestern + morgen, Gedanken zum 80sten

Margrit Schriber feiert heute ihren 80. Geburtstag! 1976 veröffentlichte sie ihren ersten Roman «Aussicht gerahmt», seither zwei Dutzend Romane, Erzählbände, Stücke und Hörspiele. Wer Margrit Schribers Werke kennt, weiss wie sehr sie den Spirit des Erzählens zu leben weiss. Ich wünsche ihr zusammen mit vielen treuen Leserinnen und Lesern, dass dieser Geist noch lange wirkt!

«Ihre grosse  Leistung sehe ich darin, dass Sie das Schweigen zum Reden bringt. Das Wort ist ihre Achillessehne. Ich füge hinzu: zum Glück, denn damit sind ihre Leser dazu eingeladen, die grosse, unglaubliche Wirkung der Sprache ernst zu nehmen.» Prof. Hans Ester

HEUTE mache ich mir Gedanken zu meinem Achzigsten. Eine unglaubliche Zahl. Doch ich fühle mich heute so jung, so frisch, so vital wie immer. Ich habe im Februar einen Roman beendet, mein neunzehntes Buch. Doch in meinem Verlag wechselt die Leitung. Und so liegt das Manus jetzt dort in der Schublade UNGEWISSHEITEN. Das ist ein Wermutstropfen am heutigen Tag.

RÜCKBLICKEND ist für mich «Schreiben» der abenteuerlichste Akt in meinem Leben. Jedes Buch ist das Schnüren meines Rucksacks zum Aufbruch in eine neue Welt. Ich holze linksrechts eine Schneise durch den Dschungel. Das belebt mich! Das ist das Elixier, das ich brauche. Das erhält mich jung.

Das Leben steckt Grenzen, bietet aber Möglichkeiten. Das ist ein Thema.

Ich schreibe über Menschen, ihre Wege, Wünsche, Möglichkeiten und Widerwärtigkeiten. Das was sie wollen ist nicht immer das, was sie erreichen. Aber ich bewundere aus tiefstem Inneren die fantastischen Höheflüge, zu denen ein Mensch sich aufraffen kann. Ob er scheitert, ob er seine Möglichkeit falsch einschätzt, das ist nicht von Bedeutung. Aber dass er all seine Kraft und Fähigkeit aufbringt, um für einen Traum zu kämpfen, das ringt mir Achtung ab. Ich glaube, dass es dieser ungebrochene Mut und Trotz ist, der aus einem Individuum erst einen Menschen macht.

Ich schöpfe aus meinem Alltag und meiner Umgebung. Manchmal drehe ich das Zeitrad zurück, doch immer nehme ich mir Leute zum Vorbild, die ich kenne oder die es gegeben hat. Ich stelle sie mir mit all ihren Widersprüchlichkeiten vor. Bilder erstehen, Gespräche, Handlungen, Konflikte. Schliesslich lebe ich mit meinen Figuren. Ich baue Szene um Szene den Roman oder die Geschichte.
Trotzdem: Wir wissen so wenig voneinander. Es ist immer nur ein Bruchteil, der aufschimmert, den wir wahrnehmen. Also baue ich aus diesem Bruchteil meine neue, eine andere Welt. Das ist mir klar. Meine Figur ist mein Geschöpf und dreht sich in der Spieluhr meines geschaffenen Turms zum Stundenschlag im Kreis.

ZUKUNFT ist immer ein Zauberwort. In meinem Alter reizt dieses Wort zum Lachanfall. Ich machte mir immer eine Idealvorstellung. Zum Beispiel wollte ich ein wertvoller Mensch sein, andere ermutigen, dass sie ihre Träume verwirklichen. Gute Literatur machen und ganz darin aufgehen. Daneben wollte ich jemand sein, der mit offenen Augen durchs Leben geht. Aber im Lauf der Jahrzehnte schrumpfte die Idealvorstellung von meinem Wert oder von der Bedeutung meines Werks. Ich habe begriffen, dass mein Aufleuchten in der Schöpfung bedeutungslos ist. Aber ich lebe: Das ist grandios. Ich zähle zum unermesslichen Grossen Ganzen. Und jetzt zum Achtzigsten kann ich sagen, dass ich die Schönheit anbete, die mich hier umgibt. Dass ich vor dieser Pracht in die Knie gehe. Wie andere vor mir und andere nach mir. Das Aufblinken meines Staubkorns im All ist nicht Nichts gewesen.

Margrit Schriber wurde 1939 in Luzern geboren, als Tochter eines Wunderheilers. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell. Margrit Schriber lebt heute als freie Schriftstellerin in Zofingen und in der französischen Dordogne. Sie erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem den Aargauer Literaturpreis für ihr Gesamtwerk.

Rezension des Romans «Glänzende Aussichten» auf literaturblatt.ch

«Die Verrücktheiten in meinem Leben» von Margrit Schriber auf der Plattform Gegenzauber

«Was ist Gerechtigkeit?», Sommer-ERNST #10

Weil es der zehnte ERNST-Magazin ist. Und weil es eben manchmal auch gross sein soll, stellen wir sie endlich, die monumentale Frage, die Frage nach der Gerechtigkeit.

Aus der Ferne lassen sich ihre scharfen Kanten noch klar erkennen, steh‘ ich aber vor ihr, ist die Frage überwältigend.
Trennscharfe Begriffe wie «Schuld“ und „Täter“ verlieren aus der Nähe betrachtet an Konturen. Wie Frank Keil zeigt, der sich knapp neun Jahre nach der Loveparade-Katastrophe in Duisburg umgeschaut hat. Noch immer ist niemand für dieses voraussehbare Unglück zur Verantwortung gezogen worden. Ist das gerecht?

Soziologe Martin Schoch ist für ERNST durch Kambodscha, aber auch durch seine Kindheit gereist und fragt: „Ist Ungerechtigkeit ein Gefühl, Gerechtigkeit eine Idee?“
Und Philosophin Svenja Flaßpöhler findet im Interview mit Anna Pieger, dass wir Ungerechtigkeiten zwar anprangern, aber dabei eben auch unsere eigene Position nicht unbetrachtet lassen sollten. Für sie sind Selbsterkenntnis und Verzeihen wesentliche Schlüssel im Umgang mit der grossen Frage.
Bei Jens Eber setzen sich eine junge, ungeduldige Klimaaktivistin und ein älterer, abgeklärter Berufspolitiker an den Tisch und ringen um das richtige Mass an Gerechtigkeit. In unserer Sparte „Politik und Bewegung“ beschäftigen sich zwei grosse Strecken mit Geschlechtergerechtigkeit. Sie zeigen, dass der Graben nicht entlang des Geschlechts verläuft, eher zwischen denjenigen, die Emanzipation als Recht – und denjenigen, die Emanzipation als Pflicht verstehen. Und auch wohltuend zu lesen ist das Plädoyer für einen gelasseneren Umgang mit Trennung.

„Sinn und Sinne“ bietet die gewohnt gute Mischung aus Musik- und Literatur, ERNST kocht ein Kichererbsen-Gericht und wir lernen „Kamerun-Ernst“ kennen. Und es fehlt nicht der Slam von Fabienne Krähenbühl, es fehlt nicht „Das Innerste“ von Ivo Knill, flankiert von einem tollen Foto, es fehlt nicht das Dreamscape-Abschlussbild von Luca Bricciotti und eine eindringliche Buchempfehlung von Gallus Frei-Tomic!

Also: Ein prall gefülltes Heft, nicht nur weil es die Nummer #10 ist.
Zehn schon, wir sind ein wenig – stolz!

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Das Literaturblatt auf «thebartleby.com»

«thebartleby.com» ist ein Onlinemagazin für Papier- und Schreibkultur. The Bartleby zeigt Künstler aus aller Welt, Kreativprozesse, Orte und sorgsam kuratiertes Papier- und Stiftgut rund um das Schreiben und Zeichnen. So werden die Bedingungen, unter denen etwas zu Papier kommt, in ihrer Vielfalt sichtbar. Im Idealfall sollen sie Leben und Arbeit inspirieren.

Künstler mit Hang zum Wort brauchen jederzeit Stift und Papier. Viele tragen es stets bei sich, um jederzeit Ideen festhalten zu können – auf Bierdeckeln, abgerissenen Zeitungsseiten, in Planern oder Notizbüchern. Synergien entstehen.

The Bartleby ist Judith Schallenberg. Seit mehr als 15 Jahren leuchtet sie als freie Journalistin das Leben und die Berufserfahrungen anderer aus: von der Confiseurin über die Reiseunternehmerin bis zum ESA-Astronauten. Ihre Texte erscheinen in Zeitungen und Magazinen in den Themenfeldern Kultur, Beruf und Reise. Daneben unterstützte sie Unternehmen und Gründer als Texterin und schreibt Prosa.

zum Bericht über literaturblatt.ch und die Literaturblätter

Ivo Knill «Das Innerste – Das letzte Geheimnis», erschienen im ERNST-Magazin #9

Das Innere ist unbekannt. Vielleicht ist es die Leere in uns, die wir hegen, denn in der Lehre, aus der Leere, kann sich alles ereignen – und vielleicht ist das Innere auch einfach: das Paradies.

von Ivo Knill

Das Innere des Teppichs, die grosse Mitte, heisst im Iran, so habe ich es von Nahostkorrespondent Werner van Gent gelernt, «Paradies». Der Ausdruck stammt aus dem Persischen und gehört im Orient bis heute zur grossen Kultur des Alltags, denn jeder Wohnraum, in dem ein Teppich liegt, hat sein Paradies. So sieht man die Welt im Iran, wo der Teppich nicht nur ein isolierender Bodenbelag ist, sondern ein Ausdruck des orientalischen Weltverständnisses: Das Draussen, das ist die Wüste, das ist die Welt der Tücken, der Schwierigkeiten und Widrigkeiten. Draussen ist Hitze, Staub, vielleicht der Verrat eines diktatorischen Regimes. Von diesem Draussen wird der Wohnraum, das Zuhause, durch die Mauern abgeschirmt. Man muss durch das Tor hineingelassen werden. Dann betritt man das geschützte Innere, den Innenhof mit Pflanzen und Wasser. Von da gelangt man in die Wohnräume. Hier liegt der Teppich mit seinem Paradies, das vom umlaufenden Randmuster umfasst wird.

Vielleicht finden wir in unserem Innersten auch einen Paradiesgarten, in den wir uns zurückziehen. Vielleicht ist das Innerste die sprudelnde Quelle des Lebens, das wir Atemzug um Atemzug, Pulsschlag um Pulsschlag in uns spüren. Aber auch wenn das Innerste nicht das Paradies wäre, so steht doch fest, dass wir einen Innersten Ort brauchen, aus dem sich unser Blick auf die Welt ergibt. Denn wie anders sollen wir handeln, Glück suchen, Glück finden, wenn nicht angetrieben von unseren innersten Wünschen, Regungen und Hoffnungen? Wir brauchen diesen Punkt, diesen Ort, vielleicht auch diese Momente des Einsseins, damit das Leben nicht in eine Vielzahl von Einzelheiten zerfällt. Das Innerste ist das Zentrum unserer Welt, der Punkt, um den unser Tun und Streben kreist.

Ist das Innerste ein Paradies, ein von Mustern und Ornamenten umfasster Garten? Oder ist es, ganz anders, die unerklärliche Unfähigkeit, sich zu motivieren, die mir in einem Studenten begegnet, der kampflos aufgibt, weil ihm, was er tun müsste, im Inneresten widerstrebt? Ist es der ständige Zweifel, das falsche Leben zu führen, über den ich mit dem guten Freund auf der Fahrt Richtung Berge spreche? Ist es die Begegnung mit der Erschöpfung im Innersten, die einen entfernten Bekannten dazu zwingt, ein lange geplantes Fest abzusagen? Ist es das Unheimliche, das Verdrängte, die abgründige Welt des Unbewussten, die Freud entdeckt hat, und von der wir gesteuert werden, ohne es zu bemerken?

Vielleicht ist es das Sprudeln von Lust und Leben, das mir im vierjährigen Kind begegnet, als es  in einem zwei Minuten dauernden Wirbel die Stube in ein Trümmerfeld aus Barbies, Legosteinen, Holzklötzen und blinkenden und hupenden Autos verwandelt, nur um dann im nächsten Moment auf meinen Knien eine vollendete Ruhe und Konzentration beim Betrachten des Bilderbuchs mit dem Bauernhof zu finden. Bis zum nächsten Moment und zur nächsten Idee.

Ich habe keine Theorie für das Innerste. Es könnte ein Paradies sein. Es könnte die Leere sein, von der der japanische Autor des Buches über die Farbe Weiss spricht. Kenya Hara legt dar, dass der Tempel in der japanischen Religion des Shintoismus dafür gebaut ist, die Götter zum Innehalten einzuladen. Wir heften in unseren Kirchen ein Kreuz an die Wand, malen Engel ins Gewölbe, und schliessen Brot im Allerheiligsten ein. Ein schintoistischer Tempel aber ist eine Leere mit Dach. Es gibt mehr als acht Millionen Götter. Sie können alle zusammen auf dem Kopf einer Stecknadel sitzen oder einer allein kann einen Wald ausfüllen. Aber wo wären sie lieber als an einem Ort der Leere? Die Leere, der unverstellte Raum lockt sie mit ihrem unbegrenzten Potenzial für alles Mögliche. Vielleicht ist auch das das Innerste: Die Leere, die wir hegen, denn in der Lehre, aus der Leere, kann sich alles ereignen. 

Diese Leere wäre gar nicht so weit vom Paradies entfernt. Vom Himmel, der ein immenses, leichtes Nichts ist. Ein Hauch der Möglichkeiten. 

Es könnte sein. Ich weiss es nicht. Ich will es nicht festlegen, ich will, wenn ich ein Kreuz, einen Punkt oder einen Kreis dorthin zeichnen soll, wo das Innerste ist, zugleich sagen: Ich weiss nur, dass es ein Geheimnis ist.

Ivo Knill ist in Herisau im Appenzellerland zusammen mit sechs Geschwistern aufgewachsen, hat Germanistik und Geschichte studiert und unterrichtet in Bern an der Berufsmaturitätsschule Deutsch und Geschichte. Von 2005 bis 2016 war er Chefredaktor der Männerzeitung, heute Mitschreiber und Herausgeber des ERNST.

Ernst-Redaktor Ivo Knill nähert sich in der Rubrik «das Innerste» schreibend dem Kern der Dinge. ERNST ist ein unabhängiges Kultur- und Gesellschaftsmagazin. In seinen Reportagen, Portraits und Analysen geht die monothematische Publikation nahe ran und stellt politische und gesellschaftliche Fragen zur Diskussion. Mit einem Abonnement dieses Printmagazins unterstützen Sie freien, ernst-haften Journalismus, ein Magazin mit Tiefgang. (Hier können Sie ERNST abonnieren!)

Das 45. Literaturblatt hofft auf AbonnementInnen!

Reaktionen auf das 44. Literaturblatt:

«Ich möchte ihnen ein großes Kompliment dafür aussprechen, was Sie da quasi „nebenher“ auf die Beine stellen – ein großartiges und wunderbares Zeugnis für das, was Leidenschaft vermag!“
Christian Torkler, Schriftsteller

«Ich komme gerade zurück aus Hamburg und habe das analoge Literaturblatt im Postfach gefunden. Vielen Dank, Gallus! Das war eine richtige Überraschung. Ich bin sehr froh, dass dir das Buch gefallen hat. Vielen Dank für was du geschrieben hast über ‹Unter den Menschen›. Ich glaube, du hast das Buch nicht nur mit deinem Kopf, auch mit deinem Herzen gelesen. Hartelijke groet uit Amsterdam!»
Mathijs Deen, Schriftsteller

«Es ist sehr schön geworden, ist ein richtiges Objekt.»
Katrin Seddig, Schriftstellerin

«Herzlichen Dank für die treffende Rezension von „Stromland“ im Literaturblatt, ein wirklich sehr besonderes und aussergewöhnliches Format, das ich so noch nicht gesehen habe. Ich hoffe, sie führen es noch lange Zeit weiter!»
Florian Wacker, Schriftsteller

«Wieder liegt so ein wunderschönes Literaturblatt vor mir. Ein jedes ist ein Kunstwerk. Man kann sie nicht nur mit Freude lesen, sondern auch mit Freude anschauen. Danke Gallus. Einfach grossartig.»
Margrit Schriber, Schriftstellerin

Michael Köhlmeier «Umblättern und andere Obsessionen», Edition 5plus

Kennen sie das? Sie begegnen jemandem und fühlen sich verwandt? Sie begegnen einem unbekannten Ort, als wären dort ein Teil ihrer Wurzeln verborgen? Viel mehr als ein Déjà-vu! Als ich für wenige Tage in der Bäderstadt Baden an der Limmat ausspannen wollte, spazierte ich durch die Gassen der Altstadt. Etwas abseits der Ströme, nahe an der Kante hinunter zum Fluss, liegt die Buchhandlung Librium. Ein Hort des guten Buches, des guten Geschmacks, ein Tempel der Literatur.

Die Buchhandlung Librium ist kein Gemischtwarenhandel, nicht einmal in der Auswahl seiner Bücher. Es gibt Buchhandlungen oder solche, die sich so nennen, in denen mein Auge kaum einen Ankerpunkt findet, kaum etwas lockt, nichts meine Neugier weckt. Im Gegenteil; an solchen Orten fühle ich mich fremd, beinahe ausgeschlossen, denn Bücher sind nicht gleich Bücher, so wie nicht jede Tomate das verspricht, was das Rot behauptet.

Librium schloss sich 2013 der Kooperation «5plus» an, einer Ideengemeinschaft, die sich 2009 unter fünf namhaften Buchhandlungen im deutschsprachigen Raum formierte: der Buchhandlungen Felix Jud (Hamburg), Lehmkuhl (München), zum Wetzstein (Freiburg), Leporello (Wien) und Klaus Bittner (Köln), die im Sommer 2009 entstanden ist. 2012 kam Schleichers (Berlin) dazu und 2013 die Buchhandlungen Librium in Baden und Dombrowsky in Regensburg. «5plus» gibt zweimal jährlich ein Buchmagazin heraus. Darüber hinaus engagiert sich «5plus» aber auch verlegerisch.

Uns wie! Im Oktober 2010 erschien eine Erzählung von Louis Begley: «Cowboys und Indianer» in einer einmaligen Auflage von 2.200 nummerierten und signierten Exemplaren, gestaltet von der Agentur Groothius, Lohfert & Consorten. Das Buch ist inzwischen vergriffen. Inzwischen sind acht weitere Bücher erschienen, ebenfalls zum ersten Mal auf Deutsch publizierte Erzählungen von Irène Némirovsky, William Boyd, Henry James, Gaito Gasdanow, Michael Köhlmeier, Jane Gardam, Cees Nooteboom und Julian Barnes.

Aus dieser Reihe gelesen habe ich «Umblättern und andere Obsessionen», einen schmalen Band mit fünf Texten zu Michael Köhlmeiers Liebe zum Buch. Der in Hohenems lebende und mit der Schriftstellerin Monika Helfer verheiratete Autor ist nicht nur ein Vielschreiber, sondern auch ein Vielleser. Kein Verschlinger, sondern ein Langsam- und Immerwiederleser. Ein Mann, dem Lesen längst zu einer Art des Schauens, des Verstehens, des Lebens geworden ist. Der all jene versteht, die unheilbar infiziert sind vom Virus «Buch», die Bücher nicht einfach nur verschlingen, weglegen und vergessen, so wie ein Mittagessen, das kurzfristig satt macht und das man Minuten später schon wieder vergessen hat.

«Umblättern und andere Obsessionen» ist eine Liebeserklärung an die ans Buch Verlorenen. An jene, die nicht einfach verschlingen wollen, sondern sich für das Buch als Kunstwerk interessieren, die mehr erfahren wollen, als nur das, was als Geschichte eingesperrt ist, die mit geschlossenen Augen über den Einband streichen, nicht ertragen, wenn das farbige Lesebändchen mehrfach gefaltet wird, die ihre Nase ins Buch stecken, um dem Leim oder den Vorbesitzern nachzuschnuppern, die wissen, was ein «Hurenkind» und ein «Schusterjunge» sind.

Michael Köhlmeier nimmt uns mit zu Johann Georg Tinius, der für seine unermesslich grosse Bibliothek selbst als Theologe das Mass aller Dinge verlor und die letzten 20 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbrachte, in die Bibliothek seiner Eltern, in die Tiefen seiner Lektüre von Dostojewskys «Schuld und Sühne» und den Vorschlag des zu Unrecht vergessenen Schweizer Schriftstellers Ludwig Hohl, jedes Buch mit einer Zahl von 1 bis 10 zu markieren, als Orientierung für die empfohlenen Lesegeschwindigkeit (10 – schnell – die Romane von Walter Scott, 1 – langsam – «The Waste Land» von T. S. Eliot).

Besuchen sie die Webseiten der Buchhandlungen Felix Jud, Lehmkuhl , zum Wetzstein, Leporello, Klaus Bittner, Schleichers, Librium und Dombrowsky. Dort weht der Duft der Wahrhaftigkeit.

© Heike Bogenberger

Michael Köhlmeier, geboren 1949 in Voralberg. Er studierte Germanistik, Politologie, Mathematik und Philosophie. Lange Zeit Mitarbeiter beim ORF. Sein vielseitiges und vielfach ausgezeichnetes Werk – zuletzt mit dem Preis der LiteraTour Nord (2015), dem Düsseldorfer Literaturpreis (2015) und dem Walter-Hasenclever-Preis (2014) – umfasst Romane, Erzählungen, Lyrik, Theaterstücke, Drehbücher und Libretti. Ganz aktuell seine Sammlung von Reden «Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle» (dtv) mit der Rede auf dem österreichischen Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus am 4. Mai 2018, als er die anwesenden FPÖ-Regierungspolitiker ganz direkt ansprach: «Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle». (Rezension auf literaturblatt.ch)

Anna Pieger «Komm, wir gehen», erschienen im ERNST#9

ERNST ist ein unabhängiges Kultur- und Gesellschaftsmagazin für den Mann. In seinen Reportagen, Portraits und Analysen geht die monothematische Publikation nahe ran und stellt politische und gesellschaftliche Fragen zur Diskussion. Mit einem Abonnement dieses Printmagazins unterstützen Sie freien, ernst-haften Journalismus, ein Magazin mit Tiefgang. (Hier können Sie ERNST abonnieren!)

Berufsverkehr, alle haben es eilig, nach Hause zu kommen, nur du stehst da ganz ruhig an der Ecke und wartest auf mich, in deinem Karohemd und deiner schwarzen Jacke, die du immer zur Arbeit trägst, und hältst diese braune Papiertüte in der Hand. Zur Begrüssung küssen wir uns nicht. Wir gehen nebeneinander her und schweigen. Deine Stirn ist gerunzelt. Wir überqueren den Fluss und sagen immer noch nichts. Deine Höflichkeitsfragen interessieren mich nicht, und meine Antworten haben nur eine Silbe. Unter hellem Frühlingsgrün, das unangemessen hübsch und hoffnungsfroh an den Bäumen der Allee spriesst, frage ich dich, ob ich dir etwas abnehmen soll, und du verneinst; trägst die Tüte bis zum Hafen. Wir setzen uns ans Ufer, meine Beine baumeln über den Rand, der Teer drückt sich in meine Handballen. In das Schweigen fallen dumpfe Sätze, die stammelnd vermitteln, wie sich das anfühlt, was geschehen ist. Von den violetten Industriewolken, die von der untergehenden Sonne beschienen werden, wende ich mich ab, weil ich dir in die Augen sehen möchte beim Versuch zu verstehen, ob du mein Gesicht von Ratten zerfressen lassen würdest. Wir haben beide Orwell gelesen. Aber du brauchst keinen Grossen Bruder, vielleicht genügen auch schon deine eigenen Interessen. Meine verbale Vehemenz verunsichert dich, dennoch bewahrst du die Contenance. Zurück bei den Brücken fragst du, wie es weitergehe. Die unvermeidliche Frage, aber es geht nicht weiter. Wir laufen in Richtung Bahnhof, manchmal lachen wir und ich sortiere vergeblich Gefühle, die Schubladen passen nicht. Hungrig vom langen Gehen und Sprechen bestellen wir bei Burger King Pommes und Eis. Als wir uns verabredet hatten, hatte ich gesagt, ich wolle dich nicht in einem Restaurant treffen, weil ich nicht in einem Restaurant heulen wolle. Aber als du mir die geliehenen Bücher und die Tüte hinstreckst und endlich verrätst, was darin steckt: bröselige Maiswaffeln, glutenfreie Linsenpasta, trockenes Beerenmüsli – du nennst es: «deine Sachen» –, da weine ich dann doch. Ich entgegne dir: Das will ich nicht, dass das dasjenige ist, was bleibt, und ziehe schniefend den Rotz hoch. Die Sechzehnjährigen an den Nebentischen drehen sich zu uns um, ich versuche ihre irritierten Blicke zu ignorieren. Du schaust mich entschlossen an und sagst: Komm, wir gehen. Der erste Satz an diesem Abend, für den ich dir dankbar bin. Ich nehme die Papiertüte in meine Hand, sie fühlt sich fremd und schwer an, und bringe das Tablett zurück, wundere mich, dass meine Beine tragen. Auf dem Bahnhofsplatz umarmen wir uns zwischen sich kreuzenden Tramlinien, dann gehen wir auseinander, und ich halte die Papiertüte, deren Inhalt ich am liebsten in den Müll schmeissen würde. Mit festen Schritten gehe ich am Abfallkübel auf der Passerelle vorbei. Mein Über-Ich flüstert mir ein, dass du recht hast, dass das Cracker und Müsliflocken sind wie alle anderen und kein Symbol. Deshalb gehe ich weiter und trage die Tüte, die sich anfühlt wie Feuer in meiner Handfläche, die Strasse hinunter, bis ich zum Haus des Mannes komme, der lange vor dir da war und es immer noch ist, weil wir Kinder zusammen haben. Er soll die Nahrungsmittel haben, für ihn lässt sich ihr Gehalt in Kalorien zählen. Zitternd suche ich mit nassen Augen den Schlüssel, da kommt er aus dem Haus, aufgekratzt, mit zurechtgegeltem Haar, neben ihm eine Frau, die schon da war, bevor ich da war. Mit rauer Stimme rufe ich seinen Namen und hebe die Tüte hoch, erkläre ihm den Inhalt, drücke sie ihm in die Hand. Und bin sie los.

Anna Pieger geboren 1981 in München, sesshaft in Basel. Schreibende, Mutter von zwei Kindern. Studium an der Universität Basel. Ihre Brötchen verdient sie als Lehrerin für Deutsch als Fremdsprache. Ihr literarisches Schaffen umfasst Prosa und Gedichte. Im Moment schreibt sie an ihrem zweiten Roman. Mit ihrem Mentor Urs Mannhart, den sie ihm Rahmen der Literaturplattform «double» des Migros-Kulturprozents kennengelernt hat, verbindet sie die Leidenschaft für kontroverse Diskussionen über Texte und eine Vorliebe für rezenten Käse. Unterstützt von der Literaturförderung Basel-Stadt geht das Mentoring mit ihm 2017 in die zweite Runde.

zum ERNST-Magazin

literaturblatt.ch macht ERNST, 3. Streich

ERNST ist ein unabhängiges Kultur- und Gesellschaftsmagazin für den Mann (und die interessierte Frau). In seinen Reportagen, Portraits und Analysen geht die monothematische Publikation nahe ran und stellt politische und gesellschaftliche Fragen zur Diskussion. In seinen Rubriken analysiert das vierteljährlich erscheinende Magazin mit einer Auflage von rund 3500 Exemplaren insbesondere Gleichstellungs-, Geschlechter- und Familienpolitik.

In der neusten Nummer geht es um «Prokrastination». Was nicht anderes bedeutet als aufzuschieben. «Und so tot dieses Wort auch klingen mag, so lebendig sind seine Geschichten», so Adrian Soller, der Geschäftsführer und Redaktionsleiter.

Natürlich freut mich, dass ich mit einer Rezension wieder mit ERNST mitmischen kann:

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