Svenja Flasspöhler «Streiten», Hanser – Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Streit ist nicht schlecht. Streit braucht es, auch den in der Liebe, in der Ehe. Und mit Sicherheit in der Gesellschaft und in der Politik. Aber dass zwischen Gegnern und Feinden ein grosser Unterschied besteht, dass Streit unter Feinden selbst dann zum Krieg wird, wenn man ihn vordergründig nur mit Worten austrägt – davon schreibt die Philosophin Svenja Flasspöhler leidenschaftlich und sehr persönlich.

Streitet man in Diktaturen? Wird im Kreml gestritten? Wohl kaum. Lager und Gefängnisse füllen sich schnell mit jenen, die sich dem Disput stellen. Navalny wird man so schnell nicht vergessen. Streitet man mit Trump? Stellt sich ihm in seinem engsten Kreis jemand entgegen? Traut sich dort jemand? Oder werden alle, die nur Anzeichen einer Widerrede zeigen, wegspediert, versenkt und geächtet? Wahrscheinlich ist es ein Gradmesser einer funktionierenden Demokratie, ob man den Streit aushält. Aber wo hört Streit auf? Wo beginnt verbale Vernichtungsstrategie? Die Gräben in der Politik zwischen links und rechts, zwischen konservativ und progressiv, zwischen den politischen Polen werden immer gehässiger. ExponentInnen sind immer weniger in der Lage, sich wirklich um die Probleme der Menschen zu kümmern, als um den strategischen Schlagabtausch der Streitenden, die sich stets profilieren müssen, um bei ihren Wählerinnen und Wählern nicht in Ungnade zu fallen.

Ein Streit ist nie harmlos. Der Abgrund der Vernichtung ist immer da.

Die Coronajahre haben mehr als deutlich gezeigt, dass wir die Fähigkeit der respektvollen Auseinandersetzung zu verlieren drohen. Wie schnell wird man abgestempelt und diffamiert, ins Offside gedrängt, in eine Ecke, aus der man, einmal in einen medialen Shitstorm geraten, nicht mehr oder nur mehr schwer herausfindet. Gräben ziehen sich zwischen Freundschaften, bis in Familien. Man schweigt lieber, als sich zu streiten. Sind wir zu zimperlich geworden oder leiden wir an Harmoniesucht, die angesichts der allseitigen Bedrohungen verständlich wird?

Damit ein Streit nicht eskaliert und die Parteien unwiederbringlich auseinandertreibt, müssem die Bindungskräfte grösser sein als der Vernichtungsdrang.

Svenja Flaßpöhler «Streiten», Hanser, 2024, 128 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-28004-5

In patriarchalen Strukturen, in Ehen nach alten Mustern, galt der Streit als Schieflage. Unterwerfung schloss Widerrede aus. Anpassung war das Mass jeder funktionierenden „Partnerschaft“ zwischen Chef und Untergebenen. Nicht unähnlich einer Diktatur. Man scheut(e) den Streit. Er ist Gift. Das mag heute in vielen echten Partnerschaften ganz anders sein. Man spricht von Streitkultur. Aber dass es für solche Auseinandersetzungen Raum bräuchte, nicht zuletzt Regeln, die von Streitenden akzeptiert werden, davon ist zumindest in der Politik wenig zu spüren. Wenn es in der Schweiz immer mehr Gemeindeführungsgremien gibt, die im ausufernden Grabenkrieg handlungsunfähig werden, ist das symptomatisch und bedenklich genug.

In der Feindschaft wird dem Anderen das Existenzrecht abgesprochen.

Im Sport akzeptieren wir Regeln, SchiedsrichterInnen, weil Gegner in aller Regel keine Feinde sind. Unterlegene geben sich am Schluss die Hand, Schwinger putzen sich gegenseitig das Sägemehl von den Schultern, man gratuliert dem Sieger. Im Sport scheint zu funktionieren, was in der Politik immer schwieriger wird, in totalitären, diktatorischen Stukturen unmöglich. Gegner werden zu Feinden, die nicht nur zu besiegen sind, sondern zu vernichten. Das Vokabular solcher Brandreden ist unmissverständlich und orieniert sich schamlos am Vorbild ehemaliger Verbrecher an der Menschlichkeit.

Es steht Wille gegen Wille wie in einem Krieg, mit dem Unterschied, dass eine Niederlage akzepiert werden kann.

Svenja Flasspöhlers Buch „Streiten“ ist ein leidenschaftliches Plädoyer für eine Fähigkeit, die mehr und mehr an die Ränder gedrängt wird, sei es in Parlamenten, in Wahlkämpfen oder in Talkshows, bei denen es nicht mehr um Argumente geht, sondern darum, die Gegner zu vernichten. Krieg. Svenja Flasspöhler hat in ihrem Leben genug Erfahrungen gesammelt. Sei es im öffentlich rechtlichen Rundfunk, in Talkshows, an Buchmessen, selbst in Gesprächen mit Menschen, von denen sie glaubte, sie wären ihr gut gesinnt, bis hin in eine Kindheit, als Tochter sich streitender Eltern und drohender Eskalationen. „Steiten“ ist der Versuch einer Einordnung, einer Besinnung.


Philip Kovce im Gespräch mit Svenja Flasspöhler am Montag, 18. November 2024 im Unternehmen Mitte in Basel

Svenja Flasspöhler ist promovierte Philosophin und Chefredakteurin des Philosophie Magazins sowie Gründerin und Co-Geschäftsführerin des neuen Berliner Philosophie-Festivals Philo.live!. Zuletzt erschienen von ihr u. a. «Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren» und «Die potente Frau. Für eine neue Weiblichkeit». Für «Mein Wille geschehe. Sterben in Zeiten der Freitodhilfe» erhielt sie den Arthur-Koestler-Preis. Svenja Flasspöhler lebt mit ihrer Familie in Berlin.

Wegseite der Autorin

Beitragsbild © Johanna Ruebel

Johanna Hansen «Brief an David Oates», Plattform Gegenzauber

April 2016

 Lieber David,

wir sind manchmal doch weiter voneinander entfernt als ich gerne glauben möchte.
Sie w i s s e n, weshalb Sie schreiben, wenn Sie sagen: „Wir sind kleine Gefäße, die an einem Ozean nippen. Mein Bestreben als Autor ist es, diesem wilden Exzess Ehre zu erweisen.“
Was für ein Vorhaben! Ich beneide Sie darum.
Dagegen komme ich mir vor, als säße ich nackt – wie Victorine Meurent auf Edouard Manets Bild Frühstück im Freien  zwischen lauter sorgfältig gekleideten Damen und Herren, die einen kulturellen Dialog führen, der nicht (wie bei Manet) unter Gleichrangigen, sondern über meinen Kopf hinweg stattfindet. 
„Chi-Ball“, „Chakra“, „kosmische Verlängerungsschnur“?
Sie zweifeln daran, David, aber Sie haben in bestimmten Lebenssituationen Erfahrungen damit gemacht. Respekt! Da kann ich nicht mitreden.
„Wörter sind dünn“, sagen Sie. Aber warum kommt mir so vor, als gehorchten sie Ihnen aufs Wort? Mir steht diese Sicherheit nicht zur Verfügung. 
Ich träume nachts oft, vor einem Schrankkoffer zu stehen, ohne darin etwas zu finden, was mich kleidet. Dann schau ich an mir herunter und erschrecke vor meiner Nacktheit.
Wenn ich aufwache oder durch ein Museum gehe oder durch die diversen Kanäle zappe, die uns umwerben, begegne ich diesem Moment des Erschreckens überall wieder. Meine Lage ist die, nackt zu sein, denke ich manchmal. Nackt begegne ich mir auf vielen Bildern. Und in vielen Sätzen. Dort ist auch häufig von Dingen die Rede, die ich nicht verstehe. Was ist richtig und was falsch? Wer bestimmt den Dresscode? Ich habe keine Antwort darauf und gehöre selten „dazu“. Bei meiner Suche nach einem Gegenüber ist es wohl meine Aufgabe, austariert zu werden von einem mich musternden Blick. Oder es gibt erst gar keinen Blickkontakt.
Dafür fehlen mir die Worte. Sie gehorchen mir einfach nicht. 

Wie gerne würde ich hin und wieder Mondschein-Romantik vermitteln. Sie sagen, Sie hofften dies nicht zu tun. Warum nicht? Steht Mondschein nicht jedem Dichter, der den Eigengeruch der Nacht aus der Lichtverschmutzung bergen will? Da ist sie wieder: die Sehnsucht. Auch nach Mondschein-Romantik.
Ich male mir immer noch das Paradies Schlaraffenland Arkadien aus. Kann einfach nicht die Finger davonlassen. Vielleicht bin ich ernsthaft krank und habe wieder zu viele Äpfel gegessen. Vielleicht lebte ich gesünder, wenn ich das Angebot des freundlichen Clubs akzeptierte, der mich bei sich aufnehmen möchte. Das Problem ist nur, dass ich nichts anzuziehen habe, um mich dort vorzustellen.

Gerade komme ich aus Paris zurück, wo ich erneut zwei Monate verbrachte. Wie schon vor zwei Jahren, als Sie und ich uns zufällig dort über den Weg liefen. Dieses Mal liefen mir ständig Soldaten in kugelsicheren Westen über den Weg, Maschinengewehre im Anschlag.
Der Ausnahmezustand war überall sichtbar. Ich grüßte die Soldaten, die vor unserem Haus standen, und sie grüßten zurück. Aus welchem Land kommen Sie, fragten sie nach einer Weile des Grüßens erstaunt, denn sie waren es nicht gewohnt, gegrüßt zu werden.

Aus Deutschland, antwortete ich. Sie lächelten. Deutschland nimmt so viele Flüchtlinge auf. Verwandte von uns. Freunde, sagten sie. 
Traten höflich auf dem schmalen Gehweg zur Seite, wenn sie mich sahen. Da glaubte ich einen Moment lang, im Paradies angekommen zu sein. Wertgeschätzt zu werden, weil das Land, in dem ich lebe, etwas gelernt hat aus seiner Vergangenheit. Wären da nur nicht die ständig wiederkehrenden Anschläge auf Asylantenheime. Im Feuerlegen kennt mein Heimatland sich gut aus.

In Paris lief ich mir die Füße wund. Die Stadt überwältigte mich ohne Angabe von Gründen. Der Ausnahmezustand ließ sie außerdem ganz anders aussehen als beim letzten Aufenthalt. Kontrollen am Gare du Nord. In den Kaufhäusern. Absperrbänder. Terrorwarnung. Keine endlosen Touristenschlangen vor den zentralen Sehenswürdigkeiten. Abgeriegelte öffentliche Grünflächen, wo ich vor zwei Jahren noch flanierte. Was ich wiedererkannte, war architektonische Grandiosität neben Verfall. Eleganz neben Obdachlosigkeit. Stinkende Abfälle neben üppig blühenden Kamelien in struppigen Hinterhöfen. Schon nach wenigen Ausflügen musste ich mich ins Atelier zurückziehen. Meine Füße streikten. 
Ich streifte mir Schwimmflossen über und tauchte ab. Las in Jean-Pierre Abrahams Buch „Der Leuchtturm“ über das Leben und die Einsamkeit weit draußen im Atlantik. 

„Ohne mir dessen bewusst zu sein, bin ich in die stumpfen Seelen alter Seemänner vorgedrungen…Ich wüsste zu gerne, ob sie auf hoher See jenen Moment erlebt haben, da die Haut dünn, endgültig lichtdurchlässig wird.“

Gedankenträgerin, Tusche auf Papier 2019

Jean-Pierre Abraham öffnet mit einer weit ausholenden Handbewegung das Fenster zur Stille. Sie wird zum Leuchtturm vor der Küste der Bretagne. 
Nach der Lektüre gab ich jeden Plan auf, etwas Bestimmtes fertigstellen zu wollen. 
Wochenlang studierte ich das Moos auf dem Haufen rostiger Fahrräder vor meinem Fenster. Hatte Besuch von einer einzelnen Taube, die immer auf exakt derselben Stelle des gegenüberliegenden Daches ihr Revier in Besitz nahm. Hörte aus dem Tanzstudio nebenan Übungen in Schreitherapie.
In der Waschküche lernte ich ein junges finnisches Genie kennen. Ein Komponist, der seine Mütze tief über die Augen gezogen hatte, gab mir den Link zu seiner ersten Symphonie. 
Am Ende des Waschprogramms murmelte er entschuldigend so etwas wie „zeitgenössische Musik findet wenig Zustimmung“ und verschwand nahezu völlig unter seiner Mütze. 
Direkt neben meinem Atelier lag ein russisches Studio. Dort malte Olga Tänzerinnen in Pastelltönen. Da uns eine gemeinsame Sprache fehlte, verständigten wir uns mittels gefüllter russischer Eier und Baguette. Olga beschrieb mir ihre Bilder, indem sie fliegende Bewegungen mit den Armen machte und die Hand aufs Herz legte. Sich die Augen rieb, als müsse sie weinen, wenn sie von Abreise zu sprechen schien und auf ihr Gepäck zeigte.

Ich tauchte noch tiefer in meine Skizzenbücher und hatte das Gefühl, die Seine in meinen Ohren rauschen zu hören. Wahrscheinlich war ich längst auf den Grund des Flusses gesunken, über mir nichts als bleigraues Wasser, durch das sich Ausflugsboote schraubten. An Deck spiegelte sich der Himmel in chinesischen Selfies. Jemand hatte mit weißer Farbe einzelne Worte auf die Trottoirs der Brücken zur Île Saint- Louis und Île de la Cité gestempelt: Ich bin, stand dort oder: Vernunft. Traum. 

Vier Worte reichen, um Philosophie auf die Straße zu bringen! Das begeisterte mich. Vier Worte, die wirksamer sind als jede Vorschrift im deutschen Straßenverkehr. Die Franzosen bauen auf ihren Descartes wie auf solide Brückenpfeiler, die bis in die Moderne reichen.  Hier trägt kaum jemand einen Fahrradhelm, fährt niemand auf dem Gehweg, auch wenn es keine Fahrradwege gibt.
Rote Ampeln und Fahrspuren dienen lediglich als grobe Orientierung. Trotzdem funktioniert der Verkehr.  Selbst Kinder überqueren die Straße bei Rot und niemand regt sich darüber auf. Ich nahm den Bus zum Jardin des Plantes, um mich von der Frage abzulenken, weshalb so ein Verhalten bei uns undenkbar wäre.
Erschöpft vom Stadtlärm ließ ich mich auf eine Parkbank fallen.

Asseyez-vous, je vous en prie et parlez moi d`amour (Setzen Sie sich und erzählen Sie mir von der Liebe)

las ich auf einem kleinen Metalltäfelchen, das an unauffälliger Stelle auf der Sitzfläche der Bank angebracht worden war. Was für eine Begrüßung! 
Leichtfüßig sprang ich auf und verliebte mich sofort in weitere Parkbänke, wo spendable Pariser für ihren finanziellen Beitrag zum Erhalt des Gartens eigene Gedanken oder bemerkenswerte Zitate hinterlassen dürfen.
Mancher Besucher nickte mir amüsiert zu, weil ich vor den Bänken kniete, um die herzstärkenden Mittel auf den kleinen Täfelchen abzuschreiben.
Es sind zu viele, um sie hier alle wiederzugeben. Am besten kommen Sie selbst noch einmal nach Paris und testen die Wirkung, wenn Sie im Botanischen Garten von Bank zu Bank schlendern wie durch ein durch Fantasie geschütztes Areal. Hier ist vieles möglich, was außerhalb der Mauern, die den Park umschließen, schon wegen des Ausnahmezustands schwer vorstellbar ist.

Nous arrivons toujours à l`endroit où nous sommes attendus. (Wir kommen immer da an, wo wir erwartet werden)

Fast hätte ich den riesigen versteinerten Wirbelknochen übersehen, der wie ein Meteorit aus dem All in ein Blumenbeet gestürzt zu sein schien und als eine Art Mahnmal daran erinnert, dass Mensch und Natur irgendwann eine Einheit bildeten.  Gehörte der Wirbelknochen einst einem Pottwal? Ich weiß es nicht, aber zusammen mit Pfingstrosenduft, Buchsbaumornamenten und Orangerien ergab sich ein Szenario, das mir den Kopf verdrehte. Das Paradies schien kurzfristig um die Ecke zu liegen. Fast greifbar nah.
Mag sein, dass dieses Drehen des Kopfes die nötige Haltung ist, um den Glückszustand wahrzunehmen, den ich so oft vermisse. Wer stets absprungbereit lebt und das Aroma von frisch gepflückten Zitronen fast vergessen hat, wird schnell mutlos. 
Ich nahm mir vor, auf dem Rückweg eine Tarte Pommes et Compote zu kaufen.
Diese unvergleichliche Köstlichkeit müssen Sie unbedingt probieren. Auf einen knusprigen Mürbeteigboden wird zentimeterdick Apfelmus gelöffelt und mit hauchdünn geschnittenen leicht karamellisierten Apfelscheiben belegt. Ich schicke Ihnen das Rezept gern zu. Ein Biss davon genügt, und Sie sind…..Sie wissen schon wo.

à bientôt

Johanna 

«Schreiben ist eine Art von Luftwiderstand», von Johanna Hansen illustriert

(Aus einem deutsch-amerikanischen Schriftwechsel, den Johanna Hansen mit dem Schriftsteller David Oates aus Portland/Oregon über zwei Jahre lang führte. Das Buch erschien im Wortschau Verlag mit dem Titel «Schreiben ist eine Art von Luftwiderstand».)

Johanna Hansen, Schriftstellerin, Malerin, Herausgeberin, Studium der Germanistik und Philosophie an der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn. Lebt in Düsseldorf. Zunächst Sprachlehrerin und Journalistin. 1991 Beginn der künstlerischen Tätigkeit. Seit 1993 zahlreiche Ausstellungen. Seit 2008 literarische Veröffentlichungen als Einzelpublikation, in Literaturzeitschriften, Anthologien und auf Literaturplattformen. Seit 2013 zusammen mit Wolfgang Allinger Herausgeberin der Literaturzeitschrift wortschau. Mehrfache Auszeichnungen. Zuletzt Lyrikpreis Feldkirch 2024.

Webseite der Künstlerin

Beitragsbild © Elena Hill

Rebekka Salm & Markus Kirchhofer «Salmhofer» 3/6

Rebekka Salm und Markus Kirchhofer arbeiten seit 2022 zusammen. Und zwar so: Sie oder er macht per WhatsApp zwei Vorschläge für den Oberstollen. Das Gegenüber wählt einen aus, fügt den Unterstollen an und schickt das fertige Gedicht per Postkarte zurück. Für das nächste Tan-Renga wechseln die Rollen.

 

Auf dem Wäscheberg
bei laufendem Staubsauger
schläft tief der Kater

du ganz ohr auf meinem bauch
die verdauungsgeräusche

Rebekka Salm / markus kirchhofer  Salmhofer 3/6

 

zartblauer himmel
wolken wie wattebäusche
der geruch von heu

Dort, wo der Holunder blüht
liegt das totgemähte Kitz

markus kirchhofer / Rebekka Salm  Salmhofer 2

 

Im dunklen Geäst
streiten sich Rabenvögel
Um das Stück Goldmond

geturtel am caquelon
gabelgefecht im käse

Rebekka Salm / markus kirchhofer  Salmhofer 1

 

Was ist ein Tan-Renga?
Ein Tan-Renga besteht aus zwei Teilen: eine Autorin / ein Autor gibt den Oberstollen vor, ein anderer Autor / eine andere Autorin ergänzt mit dem Unterstollen zum fertigen Gedicht. Tan-Renga haben keine Titel und keine Reime. Üblicherweise wird zwischen dem Ober- und Unterstollen ein Abstand gesetzt und die Namen der Verfasser werden unter dem Gedicht vermerkt.
Zentral im Tan-Renga ist die Verbindung zwischen dem Ober- und Unterstollen. Meist wird im zweiten Teil ein Wort aus dem ersten Teil aufgegriffen, ohne dieses zu wiederholen. Der Oberstollen besteht aus drei Zeilen mit der Silbenfolge 5 – 7 – 5, der Unterstollen aus zwei Zeilen mit nochmals je 7 Silben.
Tan-Renga halten Augenblicke in der Gegenwart fest, möglichst konkret, bildhaft und offen.

In diesem lyrischen Pingpong sind bisher gegen 50 «Salmhofer» entstanden, von denen 16 im Lyrikband silbensee (Knapp Verlag, 2024) erschienen sind.

Rebekka Salm wohnt in Olten. 2022 erschien ihr vielbesprochener Debüt-Roman «Die Dinge beim Namen». Zwei Jahre später folgte «Wie der Hase läuft» (beide Romane im Knapp Verlag). 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur sowie von der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung den Förderpreis Dreitannen. Ihre nächsten beiden Romane erscheinen im Ullstein Verlag. 

Markus Kirchhofer (1963) lebt mit seiner Frau in Oberkulm. Seit 2013 ist er freier Schriftsteller. Gedichte sind die Basis seines vielfältigen Schreibens, das mit Werkbeiträgen für Lyrik, Prosa und Interdisziplinäres ausgezeichnet wurde. 2024 erschien seine 17. Publikation, der Lyrikband silbensee. Das Vorwort verfasste sein Primarlehrer Jannis Zinniker, unter dessen Anleitung Markus Kirchhofer seine ersten Gedichte schrieb.

 

Judith Keller «Ein Tag für alle», Der gesunde Menschenversand – Wortlaut 2025

Dass die Kurzform weit mehr sein kann als einfach eine kurze Geschichte, dass sich da Abgründe auftun, dass da jemand mit Sprache wahrhaft zu spielen versteht, verschieben kann, Sprache ganz und gar wörtlich nehmen kann, mit Witz und Mehrfachböden brilliert – das beweist Judith Keller mit „Geschichten“, die alles andere als harmlos sind!

Ich erinnere mich gut an einen ganz frühen Auftritt der Schriftstellerin anlässlich der Solothurner Literaturtage im kleinen schmucken Stadttheater. Sie stand im Scheinwerferlicht und zauberte Kurztexte aus ihrem Zylinder. Schon damals Texte, die wie Feuerwerk ihren Glanz und Glitzer wohl ohne Knall, dafür mit Effekt über ZuhörerInnen ausbreiteten. Mutige Texte voller Überraschungen, weil sie nicht in erster Linie abbilden wollen, nicht einfach originelle Nacherzählungen, sondern Umwandlungen, Konzentrate, angereichert mit Gährstoffen aus Sprachspiel, Lebenserfahrungen und dem Vertrauen, dass man mit Worten weit mehr machen kann, als bloss abbilden.

Judith Keller «Ein Tag für alle» Der gesunde Menschenversand, 2024, 136 Seiten, CHF ca. 25.00, ISBN 978-3-03853-204-0

„Ich versuche, da aufzuhören, wo etwas anderes, vielleicht ein Denkvorgang, beginnt“, meinte Judith Keller damals bei einem Interview mit literaturblatt.ch. Sie spielt den Ball zu mir, dem Leser, löst mit ihrer gespielten, lockeren Naivität in der Sprache, in der Art des Erzählens Kaskaden von Assozitionen aus. Dabei sind es oft nur minimale Auslassungen oder Verschiebungen, als hätte sich ein Fehler eingeschlichen, ein „Druckfehler“, ein „Schreibfehler“, eine Luftmasche, ein Stolperer – und plötzlich öffent sich eine Tür, hallen Zwischentöne mit, deren Wirkung die Ursache um ein Vielfaches übersteigt.

Wunsch
Leonore möchte emotional alle abholen. Wenn sie nur wüsste, wo sie sind.

Judith Keller nimmt die Sprache beim Wort, gibt einem Satz damit eine ganz andere, unerwartete Richtung. Eine, die sich aber nicht weniger schlüssig zeigt, wie die eigentliche Erzählrichtung, mich mit einem kleinen Schups in einen ganz anderen Zusammenhang schickt. „Ich notiere mir oft Redewendungen, die ich höre oder in der Zeitung lese und über die ich nachdenken muss“, schrieb die Schriftstellerin damals über ihr Debüt „Die Fragwürdigen“. „Ein Tag für alle“ ist Fortsetzung und Weiterführung zugleich. Judith Keller kann etwas, was vielen fehlt. Judith Keller nimmt nicht nur die Sprache beim Wort, sie nimmt es wörtlich, ganz direkt, ungeschminkt, unverschlüsselt.

Dass die Autorin damit auch Kritik mit einschliesst, ihre Beobachtungen, ihre ganz eigene Art des Interpretierens mit tänzerischer Leichtigkeit auf den Punkt bringt, beweisen Kalauer, die man auch ganz wörtlich nehmen kann:

Beweise
Sobald Leopold etwas bewiesen hat, ist er sich nicht mehr sicher, ob er es bewiesen hat. Er glaubt dann, er könne erst sicher sein, wenn er es bewiesen habe. Dass er das nur glaubt, hat er oft bewiesen. Aber er glaubt nicht an Beweise.

Judith Keller hat es faustdick hinter den Ohren. Ihre Text beissen und reissen, auch wenn sie das eine oder andere Mal tiefe Weisheiten mit einschliessen, Heilsames, etwas, das rütteln und schütteln kann.

Unweigerlich erinnert man sich an Lieder von Mani Matter. Scheinbar einfache Texte mit Entblössendem, Doppelbödigem, Entlarvendem. Texte, die nie moralisieren, nie mit erhobenem Finger mahnen. Falls sie es doch tun, verraten sie nur meine eigene Interpretation.

Und wer die Autorin kennt, weiss, wie herzerwärmend ihre Performance sein kann. Ich freue mich! Sprachkunst der Extraklasse!

Judith Keller, 1985 in Lachen (SZ) geboren, lebt in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert. Für ihr Debüt «Die Fragwürdigen» wurde Judith Keller mit Anerkennungspreisen von Stadt und Kanton Zürich ausgezeichnet.

Beitragsbild © Ayse Yavas

Frédéric Zwicker «Carlas Scherben», Zytglogge, Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Im Vorsatz zu Frédéric Zwickers neustem Roman steht ein Zitat einer der Protagonistinnen: Familie, so ein harmloses Wort. Und gleichzeitig so schrecklich, dass es jeder Psychotherapeutin zuvorderst auf der Zunge hockt. Larry, Carlas Mutter, die es versäumte, wie schon ihre Mutter, mit offenen Karten zu spielen.

Frédéric Zwicker lässt in seinem dritten Roman eine junge Frau erzählen, die ihr Leben gleich auf mehreren Ebenen in Scherben sieht. Carla arbeitet als Künstlerin, als Keramikerin und soll in Hamburg in eine bedeutenden Galerie ihre neusten Arbeiten ausstellen. Ein paar Monate Zeit bleiben noch und ein nicht unbedeutender Vorschuss ist bereits bezahlt. Wenn da nur die Leere in ihrem Kopf nicht wäre, das Ausbleiben von Ideen, eine neue Spur, die nicht einfach das Begonnene fortsetzt oder Altes wieder aufnimmt. Und wenn da nicht all die Baustellen in ihrem eigenen Leben wären, die sie von dem wegreissen, dem sie sich eigentlich widmen würde.

Der Tod ihrer Grossmutter Lili im Altenheim, zu der sie sich seit ihrer Kindheit viel mehr hingezogen fühlte als zu ihrer umtriebigen Mutter Larry. Die Tatsache, dass ein Zimmer zu räumen ist, das Übrige eines Nachlasses gesichtet werden muss und Carla in einer Lade eine Schachtel mit Briefen ihres Grossvaters findet, der schon lange gestorben innerhalb der Familie zu einer Überfigur wurde, nicht zuletzt durch die konsequente Verehrung ihrer Grossmutter, weit über die Krankheit und den Tod ihres Mannes hinaus.

Frédéric Zwicker «Carlas Scherben», Zytglogge, 2024, 192 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-7296-5172-2

Und Klaus. Klaus ist Maler, erfolgreich und immer wieder auf Reisen, so wie die letzten Monate in Kasachstan. Ob Klaus ihr Lebenspartner ist, weiss Carla nicht. In den Zeiten, in denen er verfüg- und erreichbar ist, scheint er das zu sein. Wenn er nicht da ist, monatelang auf Reisen, auf denen er sammelt, was er danach auf grosse Leinwände bannt, scheint er sie abzustreifen wie einen alten, zu schweren Mantel. Und Klaus ist dominant, scheint nicht zu verstehen, was gegenseitiger Respekt bedeuten könnte, versteht seine aus seiner Sicht grosszügigen Gesten als Zuwendung. Carla immer weniger.

Und Dawit, ihr äthiopischer Nachbar, der wegen Frau und Kind in der Schweiz um Asyl bat, seine Heimat verliess und mit der verlorenen Liebe zu seiner Frau und der darauf folgenden Scheidung auch seinen Status als „Geduldeter“.
Das alles würde zur Krise reichen. Aber was Carla durch das Bündel Briefe und die bröckelnde Fassade von Familienlegenden erfährt, schüttelt sie noch viel mehr. Paul, ihr Grossvater, den sie als Kind über alles mochte, der zusammen mit der Grossmutter zumindest bis zur Pupertät jene Familie ausmachte, die ihr die alleinerziehende und ruhelose Mutter nicht geben konnte. Paul war nicht der, den ihre Grossmutter auf Fotos, mit Erzählungen und durch ihren täglichen Gang auf den Friedhof verehrte.

Was passiert, wenn sich die Familiengeschichte als zusammengeschusterte Chronik erweist? Wenn kein Stein auf dem anderen bleibt? Wenn man als Künstlerin den Boden unter den Füssen verliert, alles, was Fundament war, sich in Treibsand verwandelt?

Carla wendet sich an Paul, ihren Grossvater, stellt ihn Jahrzehnte nach seinem Tod zur Rede, fordert ihn heraus, stellt auch ihrer Mutter die längst fälligen Fragen, beginnt sich tatsächlich zu emanzipieren. In den Briefen, den Liebesschwüren an Lili, als sie noch nicht verheiratet waren, der Krieg ihn zum Grenzschutz ins Tessin orderte und er mitansehen musste, wie ganze Familien an der Grenze zum faschistischen Italien auseinandergerissen wurden, wie man Menschen in den sicheren Tod zurückschicken musste und er sich nicht traute, Stellung zu beziehen, offenbart sich ein Mann ohne Rückgrat. Auch später im Dorf, als alle zu wissen schienen, dass Paul nicht nur eine Nebenfrau in der Stadt hatte, als man schon damals alles tat, um die Fassade aufrecht zu halten. Bis auf jener Reise zusammen mit ihrer Mutter, im Zug nach Hamburg, zu dieser einen grossen Ausstellung klar wird, dass auch der Mutter der Boden fehlte, bis in die Gegenwart.

Man spürt, dass Frédéric Zwicker schon seit Jahren auch als Kolumnist schreibt, im manchmal bissigen Ton, dem Beschreiben all jener Scherben, die eine gedankenlose Gesellschaft übriglässt. Carla versucht als Künstlerin mit filigranen Installationen auf das Zerbrechliche hinzuweisen. Zwickers Art zu schreiben, zu erzählen steht in einem erfrischenden Kontrast. Manchmal erinnert mich Zwicker an einen Elefanten im Porzellanladen. Aber wahrscheinlich braucht es solche polternden Elefanten, weil all die Tauben und Fastblinden sonst nichts mitbekommen.

„Carlas Scherben“ ist der Versuch des Ordnens, wenn alle Scherben ausgelegt sind.

Frédéric Zwicker, geb. 1983 in Lausanne, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. Als Gitarrist, Geiger, Komponist, Texter und Sänger spielt er bei ‹Hekto Super› und ‹MusiCucina›. Seit 2008 ist er Kolumnist bei der ‹Linthzeitung› und der ‹Südostschweiz Glarus›. In Rapperswil organisiert er als Kulturveranstalter die Kleinkunstbühne ‹Im Urlaub› und andere Formate. Er arbeitete u.a. als Werbetexter, Journalist, Reisejournalist in Ostafrika, Musiklehrer, Slam-Poet, Pointenschreiber für die Satiresendung Giacobbo/Müller, Drehbuchautor. 2009 wurde er mit einem Literatur-Förderpreis der Internationalen Bodenseekonferenz ausgezeichnet, 2017 mit dem Kulturförderpreis des Kantons St. Gallen

Rezension von «Hier können Sie im Kreis gehen» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Radost» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Nikolai Wirsing

«Die Literaturrunde» bei Tele D – eine Lanze fürs Wortlaut Literaturfestival

Es gibt sie nicht nur in den grossen staatlichen Fernsehgiganten, sondern auch in den «kleinen», die ganz und gar von der Leidenschaft einer eingeschworenen Betreiberschaft getragen werden. «Die Literaturrunde», von Jeanette Bergner mit Kompetenz und Begeisterung moderiert, ist über die letzten Jahre zu einem fixen Sendebestandteil des Privatsenders Tele D geworden. Erstaunlich genug, wo doch in Deutschland vergleichbare Formate «aus Spargründen» abgesetzt werden.

letzte Absprachen zwischen Gallus Frei, Literaturvermittler und Co-Leiter des Wortlaut Literaturfestivals, Jeanette Bergner, Moderatorin und Ariane Novel, Lektorin, Ghostwriterin und Co-Leiterin des Wortlaut Literaturfestivals St. Gallen

«Umlaufbahnen» von Samantha Harvey: Was die Schriftstellerin literarisch schafft, ohne einen einzigen Besuch in einer solchen Kapsel abgestattet zu haben, mit blosser Imagination und sogfältiger Recherche ist ausserordentlich. Was sie daraus macht ebenso. Jene Erfurcht, die Weltraumfahrende immer wieder beim Anblick unserer Erde erfasst, springt über. Was Samantha Harvey erzählt, hat durchaus eine mahnende Komponente, obwohl Samantha Harvey nicht moralisiert. Aber was wohl das Verblüffendste an diesem Roman ist, dass ich als Leser ihre Freude an der Sprache spüre, ihre verschriftlichte Leidenschaft, die sie so beschreibt. «Dieses Gefühl, dass mir der Atem stockt und ich schwebe, das wollte ich zu Papier bringen. Es war pure Freude, diesen Roman zu schreiben, reiner Eskapismus. Ich wollte nicht, dass er endet.»

Kameramann Joel Reisinger

Wild nach einem wilden Traum von Julia Schoch: Ihre Romane entlarven die Gegenwart, spiegeln ein Lebensgefühl der permanenten Suche, diesem Drang, sich zu bewegen, sich mitreissen zu lassen. Rasch fertig werden, um Zeit für das Eigentliche zu haben: den Wahn der Liebe. So gar nicht das, was man mit dem Modewort „Achtsamkeit“ zu verkaufen versucht. „Wild nach einem wilden Traum“ ist ein gnadenlos ehrliches Buch. Nicht zuletzt ein Buch über das Schreiben, über Julia Schochs Schreiben. Darüber, wie sehr sich Begegnungen auf das eigene Tun auswirken, oft tief verborgen im Unterbewusstsein. Und vielleicht ist es eben diese Fähigkeit einer Schriftstellerin, dass sie sich dessen bewusst ist, dass sie in den Sedimenten ihres Lebens nach jenen Einschliessungen sucht, die bis in die Gegenwart wirken.»

«Zwei Leben» von Ewald Arnez: Was den Reiz des Buches ausmacht, ist seine Sinnlichkeit. Ewald Arenz beschreibt derart leidenschaftlich und innig, dass ich als Leser die Landschaft riechen kann. Aber auch die Sinnlichkeit in den Gefühlen des Personals, in diesen zwei Leben dieser beiden so unterschiedlichen Frauen; Roberta und Gertrud. Oder im klaffenden Gegensatz zwischen den Auswirkungen der 68er und einer bäuerlichen Tradition, die erst auf Änderungen aufsteigt, wenn es nicht zu vermeiden ist. Ewald Arenz weiss genau, wovon er schreibt. Er schöpft aus der Atmosphäre seiner eigenen Herkunft – und tut dies mit Wonne.

Klicken Sie auf das untenstehende Bild, dann können Sie in «Die Literaturrunde» hineinschauen:

ph.neff@schliff.ch

Beitragsbilder © Philipp Neff

Tarjei Vesaas «Das Eis-Schloss», Guggolz

Doris Lessing schrieb über diesen Roman: So feinsinnig. So stark. So anders als alle anderen. Er ist einzigartig. Er ist unvergesslich. Er ist aussergewöhnlich. «Das Eis-Schloss» von Tarjei Vesaas – unbedingt lesen. Ein Roman über die Kälte eines Versprechens.

Ist Literatur haltbar? Man kann diese Frage mehrdeutig verstehen. Aber so wie bei Lebensmitteln, und Literatur zählt zumindest für mich zu den unverzichtbaren Lebensmitteln,  Haltbarkeit eine entscheidende Rolle spielt, zeigt es sich auch bei Büchern, dass nicht jeder Text über Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte haltbar ist. Heute, wo vieles auf dem Schaffot der Kulturellen Aneignung hingerichtet wird und Gendersensibilität Texte aus der Vergangenheit ungeniessbar zu machen droht, muss Literatur ganz vielen Parametern genügen, um haltbar bleiben zu können. 

Ja, es gibt Literatur, die anderen Haltbarkeitsgesetzen unterworfen ist, als andere. Vielleicht sind es die Klassiker. Aber ganz offensichtlich passiert es immer und immer wieder, dass Literatur, KünstlerInnen im kollektiven Bewusstsein vergessen gehen. Nicht, weil das, was sie erschufen, nicht mehr zeitgemäss ist, sondern weil die schiere Masse von immer Neuem das eine oder andere wegspült. In der Literatur nicht anders wie in allen anderen Kunstsparten.

Glücklicherweise gibt es immer wieder VerlegerInnen, die sich genau jenen Namen annehmen. Nicht auszudenken, was aus dem Werk Franz Kafkas geworden wäre ohne den Verleger Kurt Wolff. Nicht ganz so dramatisch verhält es sich mit dem norwegischen Schriftsteller Tarjei Vesaas, der dank dem Verleger Sebastian Guggolz und seinem 2014 gegründeten Guggolz-Verlag eine deutsche Bühne bekommt, der bislang drei Romane des einstmals für den Nobelpreis vorgeschlagenen und ausserhalb Norwegens fast vergessenen Autors herausbrachte. Romane, die nichts von ihrer Kraft verloren haben. Romane, die, obwohl sie von vergangenen Zeiten erzählen und Technik nur ganz am Rande eine absolut nebensächliche Rolle spielt, nichts von ihrer Gültigkeit eingebüsst haben, die mit einer Intensität erzählen, die selten ist und sich ganz auf Innenwelten konzentrieren, selbst dann, wenn die Landschaft, die Kulisse eine entscheidende Rolle spielt.

„Das Eis-Schloss“ von Tarjei Vesaas, das 1963 in Norwegen und 1966 erstmals auf Deutsch erschien, zählt zum Spätwerk des Autors, der sich bereits in den Zwischenkriegsjahren über Norwegen hinaus einen Namen machte. Bei Guggolz erschienen „Der Keim“ (in Norwegen 1940), „Die Vögel“ (1957) und „Das Eis-Schloss“, das auch verfilmt wurde. Zu hoffen ist, dass noch mehr vom umfangreichen Werk dieses Dichters in den wunderschönen Ausgaben aus dem Hause Guggolz erscheint.

Tarjei Vesaas «Das Ein-Schloss», Guggolz, 2019, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel und einem Nachwort von Doris Lessing, 199 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-945370-21-6

In „Das Eis-Schloss“ erzählt Tarjei Vesaas von der Freundschaft zweier elfjähriger Mädchen zu Beginn eines kalten norwegischen Winters. Unn kommt als Waise zu ihrer alleine lebenden Tante in einem namenlosen Dorf, weitab von den grossen Strassen des Landes. In der Schule bleibt sie seltsam distanziert, umgibt sich mit einer Hülle aus Traurigkeit und Unnahbarkeit. Aber genau deshalb fühlt sich Siss zu dem Mädchen aus der Fremde hingezogen, nähert sich vorsichtig an und trifft sich ein erstes Mal in ihrem neuen Zuhause, dem kleinen Haus der Tante.
Es ist schon dunkel, als sich Siss auf den Weg macht, voller Spannung, mit dem grossen Versprechen, eine Freundin zu finden. Siss wird freundlich begrüsst, auch von der Tante. Aber als die beiden Mädchen in Unns kleinem Zimmer sitzen, spürt Siss, wie sehr Unn damit ringt, etwas loszuwerden, ein Geheimnis zu teilen. Aber Unn gelingt es nicht, einzig Siss das Versprechen abzuringen, immer ihre Freundin zu bleiben, sich nie von ihr abzuwenden. Eine Begegnung, die beide Mädchen zu tiefst aufwühlt, weil sie eine Art der Nähe offenbart, die sie beide bisher nicht kannten.

Unn schafft es am nächsten Tag nicht, in die Schule zu gehen. Sie verlässt morgens warm eingepackt wohl das Haus der Tante, macht sich aber auf dem Weg zum See, zum Fluss, zum Wasserfall, der in den späten Herbstwochen zu einem Eisschloss wächst, einem beinah mytischen Gebilde aus Türmen, Zinnen, Hohlräumen und Spalten. Unn verliert sich nicht nur im Labyrith des Eisschlosses, sie verliert sich auch mehr und mehr in der Not, die schon lange, mit dem Tod ihrer Mutter, ihrer immer tiefer werdenden Einsamkeit, das Dunkel eines Abgrunds öffnete. Unn erfriert.

Was am Abend, nachdem Unns Tante erfährt, dass Unn nie in der Schule aufgetaucht war, als hektische Suche einer ganzen Dorfgemeinschaft beginnt, wird zum hoffnungslosen Tappen im Dunkeln, weil in genau dieser Nacht das grosse Schneien beginnt und alles, was eine Spur hätte sein können, zudeckt. Was der Schnee nicht zudeckt sind Siss’ Schuldgefühle, die Ahnung, viel mehr als eine Freundin verloren zu haben. Man bedrängt Siss, weil man nicht glauben will, dass Siss nicht mehr weiss, als das, was sie preisgibt. Siss zieht sich zurück, schliesst sich ein. So wie Unn im Eisschloss erfriert, so erfriert Siss in ihrer Einsamkeit, ihrer Angst, ihrer Trauer.

Es ist kalt in diesem Roman. Unn und Siss leben als Elfjährige erst an den Grenzen zur Rationalität, noch ganz in einer kindlichen Unmittelbarkeit. Dieser Roman lebt zum einen von der Dramatik der Geschichte, aber viel mehr von den inneren Bildern dieser zwei in sich gefangenen Mädchen. Es sind die Beschreibungen von Empfindungen. Tarjei Vesaas war weit über sechzig, als er diesen Roman schrieb. Aber ganz offensichtlich hat er viel von dieser kindlichen Sichtweise, diesen Empfindungen bewahren können. „Das Eis-Schloss“ ist mit aller Empathie geschrieben, aller Wärme geschrieben und beschreibt eine mytische Welt der Kälte und des Eises. Unglaublich atmosphärisch geschrieben, suggestiv und von einer Intensität, die man nur in kleinen Schlucken wirklich auskosten kann.

Dringend empfohlen!

Tarjei Vesaas (1897–1970) war der älteste Sohn eines Bauern in Vinje/Telemark, dessen Familie seit 300 Jahren im selben Haus lebte. Vesaas wusste früh, dass er Schriftsteller werden wollte, verweigerte die traditionsgemässe Übernahme des Hofes und bereiste in den 1920er und 1930er Jahren Europa. 1934 heiratete er die Lyrikerin Halldis Moren und ließ sich bis zu seinem Tod 1970 in der Heimatgemeinde Vinje auf dem nahe gelegenen Hof Midtbø nieder. Vesaas verfasste Gedichte, Dramen, Kurzprosa und Romane, die ihm internationalen Ruhm einbrachten. Er schrieb seine Romane auf Nynorsk, der norwegischen Sprache, die – anders als Bokmål, das «Buch-Norwegisch» – auf westnorwegischen Dialekten basiert. Abseits der Grossstädte schuf Vesaas ein dennoch hochmodernes, lyrisch-präzise verknapptes Werk mit rätselhaft-symbolistischen Zügen, für das er mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Als seine grössten Meisterwerke gelten «Das Eis-Schloss», für das er 1964 den Preis des Nordischen Rats erhielt, und «Die Vögel«, das Karl-Ove Knausgård als «besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde» bezeichnete.

Hinrich Schmidt-Henkel, geboren 1959 in Berlin, übersetzt aus dem Französischen, Norwegischen und Italienischen u. a. Werke von Henrik Ibsen, Kjell Askildsen, Jon Fosse, Tomas Espedal, Louis-Ferdinand Céline, Édouard Louis und Tarjei Vesaas. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. (gemeinsam mit Frank Heibert) mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW und zuletzt 2018 mit dem Königlich Norwegischen Verdienstorden.

Tarjei Vesaas «Boot am Abend. Nimm meine Hand. Der wilde Reiter», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Rolf Chr. Ulrichsen

«Bilder müssen im Kopf der Leserin erblühen», ein Interview mit Ewald Arenz

«Zwei Leben» heisst der neue Roman von Ewald Arenz und er betont, wie wichtig die Empathie für sein Schreiben ist. Ewald Arenz ist mit diesem Roman Gast am Wortlaut Literaturfestival in St. Gallen.

Gastgeitrag von
Urs Heinz Aerni

Urs Heinz Aerni: Herr Arenz, Ihr neues Buch liegt in den Buchhandlungen, und schön ist es geworden, dann das Auge liest ja mit. Können Sie als Autor bei der Aufmachung vom Cover über Schriftbild bis zum Lesebändchen mitreden?

Ewald Arenz: Ganz anders, als man gemeinhin denkt: Nein. Kein bisschen. Ich bekomme die Coverentwürfe zwar geschickt und kann sagen, was mir am besten gefällt, aber letztlich entscheidet doch der Verlag. Und das ist gut so.

Aerni: Warum?

Arenz: Wenn ich Grafiker hätte werden wollen, dann könnte ich jetzt keine Romane schreiben. Die Herstellerinnen bei DuMont wissen wirklich, was sie tun und ich verlasse mich völlig auf sie.

Aerni: «Zwei Leben» ist ein stiller, berührender Roman natürlich mit der Liebe als zentrales Thema. Was auffällt ist, dass sie aus der Perspektive von Roberta erzählen. Wie können wir das Hineinversetzen in weibliche Protagonistin als Mann vorstellen?

Arenz: Ich werde das seit «Alte Sorten» häufig gefragt.

Aerni: … Ihr Roman, der 2019 erschienen ist…

Arenz: Die Antwort ist: Es hilft, wenn man als Mann und Autor Frauen einfach mal zuhört. Ich glaube, das tun wir viel zu wenig. Und dann sind wir gar nicht so unterschiedlich. Ich meine, wer fragt Donna Leon, wie sie sich in Commissario Brunetti hineinversetzt?

Aerni: Gute Frage.

Arenz: Als guter Schriftsteller – ich wähle hier bewusst die männliche Form – muss man sich in alle hineinversetzen können. Empathie ist eine Grundvoraussetzung für gelungenes Schreiben.

Aerni: Der Roman beginnt in den 1970er Jahren, in Süddeutschland. Wie trifft man den Ton und die Farben von Jahren, die schon lange her sind? Oder wie gingen Sie da vor?

Ewald Arenz «Zwei Leben», Dumont, 2024, 368 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-8321-8205-2

Arenz: 1971 war ich sechs Jahre alt und lebte in einem kleinen Dorf im fränkischen Jura. Jedes Bild, alles Gehörte und Erlebte ging direkt in mich hinein. Ich musste nur aus der Erinnerung schöpfen. Und dann blätterte ich in den alten Fotoalben meiner Eltern und jedes Bild weckte eine Vielzahl an neuen Szenen.

Aerni: «Als sie aus dem Zug stieg, wehte es ihr frisch um die Haare und ins Gesicht; ein ganz zarter Duft darin wie von frisch gepflügter Erde. Ein Frühlingsversprechen». Diese Passage zeugt von Ihrer Affinität zu Landschaft und Natur. Hilft die Sprache für die Tiefe des eigenen Geniessens?

Arenz: Die Sprache ist das A und O. Wenn ich erzähle, möchte ich, dass meine Sprache ist wie ein eleganter Rolls Royce. Man hört ihn kaum, aber er bringt einen mit grosser Sicherheit an den Ort des Erzählten. Meine Sprache muss Bilder transportieren, die im Kopf der Leserin erblühen. Sie ist essenziell.

Aerni: Der Roman thematisiert auch die Ambivalenz zwischen den Sehnsüchten, einerseits nach Urbanität und Karriere in der Modewelt, andererseits nach dem Dorfleben mit der Landwirtschaft und Natur drum herum. Wohin zieht es Sie momentan eher?

Arenz: Ich habe das grosse Privileg, in beiden Welten leben zu können. Lebte ich nur in einer, dann würde es mich unweigerlich immer auch in die andere ziehen.

Aerni: Sie studierten unter anderem englische und amerikanische Literatur und es dünkt, dass die amerikanische Erzählkultur mit ihren Weiten und Familienchroniken Ihr eigenes Schreiben prägt. Oder?

Arenz: Sowohl die amerikanische wie auch die englische Literatur haben mein Schreiben geprägt. Dos Passos genauso wie Steinbeck oder Phlip K. Dick, die Brontës nicht weniger als Jane Austen. Aber alles in allem sind es doch auch und immer wieder die deutschsprachigen Schriftstellerinnen und Schriftsteller – darunter nicht zuletzt Max Frisch und Dürrenmatt. Ist es nicht grossartig, dass Literatur so nationenübergreifend wirkt?

Aerni: Sehr. Davon könnte die politische Welt wohl noch lernen. Von schreibenden Zunft wird oft erwartet, dass sie sich gesellschaftlich ja sogar politisch mehr engagieren müssten, da sie ja mit der Sprache und Inhalten arbeitet im Gegensatz zur Musik oder Malerei. Sie tun dies unter anderem auch durch Stellungnahme zu Vernunft und Ängsten vor dem Fremden. Aber was meinen Sie zu dieser Erwartungshaltung?

Arenz: Ich bin politisch in der kleinsten Zelle der Gesellschaft, in ihrem Kern, der Familie und dem engsten Umfeld. Dort beginnt alles: Toleranz und Vergebung und das Gespräch miteinander. Von dort aus wirken wir weiter. Wenn wir uns in der Familie nicht zuhören und uns verzeihen können, wie dann im Grossen? Ich bin auch parteipolitisch engagiert, aber ich glaube, dass ich mit Literatur mehr bewirken kann.

Aerni: Wenn ein Roman veröffentlicht ist, kommen die Interviews und die Lesungen. Wie bereiten Sie sich auf die lebendige Phase des Schriftstellerlebens vor, da doch das Schreiben eine ruhige und zurückgezogene Angelegenheit ist?

Arenz: Ach, das sind doch die schönen und lebendigen Stunden. Schreiben ist manchmal eine verteufelt einsame Angelegenheit mit tausend Selbstzweifeln und manchmal sehr dunklen Stunden. Da bin ich froh über Lesungen und den echten Kontakt zum Publikum.

Aerni: Dürften wir erfahren, wie Ihr Lieblingsschreibort aussieht?

Arenz: Immer wieder: Mein Schreibtisch in meinem Arbeitszimmer. Es gibt einen Blick auf den verwilderten Garten und den Blick auf eines meiner Lieblingsbilder – ein Gemälde meiner künstlerisch so begabten Grossmutter.

Aerni: Erlauben Sie mir noch zum Schluss folgende Frage: an welchem Ort als Kulisse würden Sie mal gerne einen Roman platzieren?

Arenz: Jedenfalls nicht in Berlin. Aber ganz ehrlich: Der Mars würde mich mal reizen…

(Zuerst erschienen im Magazin «Lesen» von Orell Füssli Schweiz.)

Ewald Arenz wurde 1965 in Nürnberg geboren, hat englische und amerikanische Literatur und Geschichte studiert. Er arbeitet als Lehrer an einem Gymnasium in Nürnberg. Seine Romane und Theaterstücke sind mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Mit «Alte Sorten» (DuMont 2019) stand er auf der Liste »Lieblingsbuch der Unabhängigen« 2019 und «Der große Sommer» (2021) erhielt 2021 ebenjene Auszeichnung. Zuletzt erschien «Die Liebe an miesen Tagen» (2023). 

Webseite des Autors

Beitragsbild © Ilka Birkefeld

Sara Gmuer «Achtzehnter Stock», hanserblau

Eine alleinerziehende Mutter mit ihrem kranken Kind in einem Hochhaus in einer Berliner Platte. Eine Frau vor dem Absturz ins Nichts. «Achtzehnter Stock» ist ein hartes Stück Gegenwart, erzählt von einem gehetzten Leben, mit dem niemand tauschen will, das man tunlichst ausblendet. Wäre dieser Roman Musik, wäre sie laut, schmerzhaft verzerrter Sound.

Wanda wohnt im achtzehnten Stock eines Hochhauses, ein schimmliges Loch, von dem ihr Onkel, der ihr die Wohnung vermietet, behauptet, es sei ein Juwel. Aber das Hochhaus ist ein Ort der Gestrandeten, der Gescheiterten, der Zurückgelassenen, der Resignierten. Für Wanda kein Zuhause, kein Ort, an dem sie sich wohl fühlt. Kein Zuhause, das Wanda sich für ihre fünfjährige Tochter Karlie wünscht. Und doch alles, was sie kriegen kann. „Kriegen“ ist dabei mehr als wörtlich zu verstehen. Für Wanda ist Leben ein Kampf, ein Krieg. Zum einen lebt Wanda mit dem Selbstverständnis, eine Schauspielerin zu sein, auch wenn es schon Monate her ist, seit ihrem letzten Werbefilm. Zum andern wird in der Scheinwelt des Film der Reichtum, dieses Gefühl, man müsse nur wollen, dann erreiche man seine Ziele schon, mit aller Dekadenz zelebriert. Da ist kein Platz für eine Frau mit Kind, für eine alleinerziehnde Mutter, für jemanden wie Wanda, der weder auf Familie noch ein intaktes Betreuungssystem zählen kann. Zum andern die immer grösser werdende finanzielle Not, dieses Gefühl, immer tiefer in ein Loch zu fallen, aus dem es keine Chance mehr gibt, aus eigener Kraft an den glatten Wänden wieder hochzukommen.

Ich habe genug gesehen. Wir müssen weg.

Sara Gmür «Achtzehnter Stock», hanserblau, 2025, 224 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-446-28278-0

Und dann wird auch noch Karlie krank, liegt apathisch auf dem durchgesessenen Sofa und tropft aus den Ohren. Ausgerechnet jetzt, wo ein Angebot winkt, ein Casting, das Wanda aus der Scheisse hieven soll. Da ist zwar ihre Nachbarin mit ihrer Tochter Aylin, die sie immer wieder mal fragt, ob sie auf Karlie aufpassen kann. Aber Aylins Mama spiegelt ihr ziemlich unverblümt, was sie von der Welt hält, in die Wanda um jeden Preis zurückkehren will. Die Situation spitzt sich so sehr zu, dass Wanda mit Karlie von Praxis zu Praxis rennt und sich die Katastrophe zu einem Drama auszuweiten beginnt. Ein Drama, für das man am Set, an dem man ihr tatsächlich eine Rolle anbietet, keinen Platz hat. Alleinerziehende Schauspielerinnen mit kranken Kindern ohne Betreuungsnetz haben keinen Platz in einem Berufsfeld, das weder klare Arbeitszeiten noch Ausfälle, familiäre Notfälle tolerieren will.

Niemand ist frei. Es entscheiden immer die anderen, was man wert ist.

„Achtzehnter Stock“ ist ein schonungsloser Roman. Der Höllentripp einer Frau, einer Mutter, die zwischen Welten zerrissen wird, die in beiden Welten abzustürzen droht, über deren Leben sich ein Sturm zusammenbraut, aus dem es unmöglich scheint zu fliehen, erst recht mit einem kranken Kind. Es ist ein Roman, der die Situation vieler Frauen erzählt, die auf sich selbst gestellt in den Zwängen der Gesellschaft, im Spagat zwischen Erziehungs- und Erwerbsarbeit bis zur Selbstaufgabe abrackern. Von fehlenden Vätern, von Männern, die nur bis zur eigenen Nasenspitze denken und handeln und einer Gesellschaft, die zwar Familie auf ein Podest setzt, aber nicht bereit ist, Berufs-, Betreuungs- und Gesundheitssystem so zu ordnen, dass alleinerziehende Mütter nicht durch die Maschen fallen.

Man vererbt nicht nur Geld, man vererbt auch Armut.

Literatur ist ein Spiegel der Gesellschaft. Dieser Roman ganz bestimmt. Und der Roman überzeugt auch sprachlich. Was Sara Gmuer in ihrer Geschichte erzählt, spiegelt sich in der Sprache, im rauhen Ton, in den Beschreibungen der Szenerien. Das Hochhaus in einer Berliner Platte ist nicht nur ein Funkloch im Netz, auch ein Funkloch im Bewusstsein der Allgemeinheit, zumindest derer, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Sara Gmuer hat einen aussergewöhnlich berührenden Roman geschrieben, kein Mutmacher, aber ein fühlbar schmerzender Stich in die Gegenwart, der der Traum wichtiger ist als die Realität.

© Sara Gmuer

Interview

Ein Roman auf der Schattenseite vieler Lebensträume. Und dass dabei ausgerechnet ein Kind zur scheinbaren Ursache aller Not wird, schmerzt. Wanda, ihre Protagonistin, ist in ihrer Zerrissenheit gefangen. Ich behaupte nicht, dass Männer, Väter ebenso davon betroffen sind, aber was fehlt an Struktur und Gesellschaft, dass Muttersein nicht zur Armutsfalle wird? 
Es fehlt an finanzieller Absicherung, flexibler Betreuung und gesellschaftlicher Akzeptanz für Frauen, die mehr wollen als „nur“  funktionieren. Es bräuchte einen anderen Blick auf Mutterschaft. Ein System, das nicht erwartet, dass Mütter ihre Träume kleinhalten. 
Wanda will Mutter sein und ihre Karriere verfolgen, aber ihr Umfeld hält das für naiv oder egoistisch. Das Problem sind nicht die Kinder. Es sind die Strukturen drumherum. 

Wanda will raus, raus aus der versifften Wohnung im achtzehnten Stock, raus aus dem Quartier der Verlierer und Gestrandeten, obwohl genau dort das ist, was nicht an Status und Geld gebunden ist. Ist Wanda ein Opfer ihres Lebenstraums? Warum hat man es geschafft, wenn Geld keine Rolle mehr spielt? 
Wanda ist kein Opfer ihres Lebenstraums – sie kämpft für ihn, weil er ihre einzige Chance ist, aus der Platte rauszukommen. Erfolg bedeutet für sie nicht nur Anerkennung, sondern vor allem finanzielle Sicherheit. Es geschafft zu haben, heisst für Wanda, sich nicht mehr jeden Tag fragen zu müssen, ob sie die Miete bezahlen kann. Geld ist für sie kein Luxus, sondern die Voraussetzung, um selbst zu entscheiden, wie sie leben will. 

© Sara Gmuer

Die Welten zwischen Plattenbau und Filmglamour könnten grösser nicht sein. Sie kennen beide Seiten. In der Welt des Films scheint es für die Unberechenbarkeit eines Familienlebens, des Mutterseins keinen Platz zu haben. Weil sich Wanda in ihrer Not für ihr Kind und gegen Termine entscheidet, ist die Rache an ihr vernichtend. Spiegelt das die Welt des Films? 
Es gibt viele Berufe, in denen für die Unberechenbarkeit des Mutterseins wenig Platz ist. Die Filmbranche ist da keine Ausnahme. In Wandas Fall kann ich die Produktion sogar nachvollziehen. Drehs sind eng getaktet, es hängen viele Menschen und viel Geld daran. Wenn eine Newcomerin plötzlich nicht ans Handy geht, würde ich sie wahrscheinlich auch ersetzen. Gleichzeitig zeigt das genau das Problem: Die Strukturen sind nicht darauf ausgelegt, dass jemand auch nur kurz ausfallen könnte, schon gar nicht eine junge Mutter ohne Status. In Wandas Welt ist kein Spielraum für Fehler oder persönliche Krisen. Wer nicht liefert, ist raus. 

Wanda bekommt dann doch eine Rolle. Aber man macht aus ihr eine Leerstelle. Sie erscheint weder im Abspann der aufgeführten Mitwirkenden, man lässt sie draussen bei der Promotion des Films. Um jene Rolle entsteht in der Folge ein Geheimnis und daraus so etwas wie ein Hype. Wanda will eine Rolle spielen. Ist dieses Wollen mehrdeutig zu verstehen? 
Ja, Wandas Wollen ist definitiv mehrdeutig. Sie will eine Rolle spielen – im Film, aber auch im Leben. Es geht um mehr als nur die Schauspielerei. Sie will sichtbar sein, Teil von etwas Grösserem. Sie will ernst genommen werden. 

„Achtzehnter Stock“ ist ein Roman über all jene Mütter, die es irgendwie alleine schaffen müssen. Ein Roman über den drohenden Verlust von Lebensträumen. Ich unterrichte 13jährige Kinder. Wenn ich sie frage, was dereinst ihr Platz im Leben sein könnte, staune ich nicht schlecht. Von Bescheidenheit keine Spur. Interpretieren wir unser Leben, unser Dasein nicht allzu sehr als Wettkampf, als Streit um jenen kleinen Platz an der Spitze der Pyramide?
Ich glaube, die meisten verlieren ihre Lebensträume erst später, mit 13 sind grosse Träume noch ganz normal und ich finde, man sollte sie sich bewahren. 
Wanda kämpft nicht um die Spitze der Pyramide, sie kämpft darum, unabhängig zu sein und ihr Leben so zu leben, wie sie es will. Für sie ist Erfolg kein Statussymbol, sondern das Ticket raus aus der Platte. 

© Sara Gmuer

Sara Gmuer, 1980 in Locarno geboren, zog nach ihrem Abschluss an der Filmschauspielschule Zürich nach Deutschland. Sie stand für Dominik Graf und Die Ärzte vor der Kamera und als Rapperin auf der Bühne. Sie schrieb Songs, textete für Agenturen und fand dabei ihre ganz eigene Stimme. 2020 erschien bei orange-press ihr Debüt «Karizma», Lovestory, Hiphop-Video und Roadmovie in den Strassen von Berlin. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Berlin.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Urban Ruths 

«Jeder ist des andern Bedrohung.» Über Jonas Lüschers Roman «Verzauberte Vorbestimmung», Hanser (18)

Lieber Bär

Die Lektüre des neuen Romans von Jonas Lüscher entlässt mich mit sehr gemischten Gefühlen. So wie ich vieles im Roman nicht einordnen kann, so kann ich nicht einmal den Titel „Verzauberte Vorbestimmung“ einordnen. Aber vielleicht ist genau das Prinzip „Einordnungsversuch“ der Schlüssel zu Jonas Lüschers Roman. 

Jonas Lüscher schrammte während der Covid-Pandemie knapp am Tod vorbei. Er ist ein Gezeichneter. Ich begegnete ihm nach seiner Krankkeit in Leukerbad am dortigen Literaturfestival, wo er Auszüge aus einem Manuskript las. Als wir uns auf der Strasse begegneten, miteinander sprachen, traf ich einen ganz anderen Jonas Lüscher wie vor der Pandemie; verletzlich, dünnhäutig, vorsichtig. Damals auf der Intensivstation stand eine ganze Batterie von Maschinen um das Bett des Schriftstellers, der währnd bestimmter Phasen schon glaubte, in den Prozess des Sterbens übergegangen zu sein. Das beschreibt Jonas Lüscher in seinem Roman, wenn auch erstaunlich zurückhaltend. Er war ganz und gar abhängig von Maschinen, die lebenswichtige Körperfunktionen übernahmen. Es muss eine ganz eigene Erfahrung sein, dass man sein physisches Dasein Geräten übergeben muss, dass man in Phasen maximaler Empfindsamkeit zu einem eigentlichen „Cyborg“ wird, unfreiwillig.

„Verzauberte Vorbestimmung“ ist  ein Konglomerat aus verschiedensten Handlungssträngen und Personen, Handlungssträngen, die sich überschneiden und solchen, die sich wieder verlieren. Personen, die über Dutzende von Seiten zentral erscheinen, dann aber nie mehr auftauchen. Einzige Konstanten in dem Buch sind der suchende Erzähler und der Schriftsteller, Dramatiker, Maler und Filmemacher Peter Weiss, der sich mit seinem Spätwerk „Die Ästhetik des Widerstands“ ein literarisches Denkmal setzte. Eine Figur in Lüschers Roman, die in ganz unterschiedlichen Zuständen und Erzählebenen auftaucht. Wie Lüscher selbst ein ewig Suchender, seine Kunst ein einziger Versuch des Einordnens. Eine andere Konstante in Lüschers Roman ist die Auseinandersetzung mit Technik, mit Maschinen, sei das die Maschinerie der modernen Kriegsführung, jene der Industrialisierung, der Medizin bis in die Architektur des Grossenwahns, wenn der Erzähler im Ägypten der Zukunft zwischen der perfekten Retorte und dem Realen, Vergessenen pendelt.

New Adminstrative Capital mitten in der Wüste © Jonas Lüscher

Das Buch beginnt mit Knall und Rauch. Ich erinnere mich an einen Kinobesuch zusammen mit meiner Frau vor vielen Jahren. Ich überredete sie zum Film „Der mit dem Wolf tanzt“, ein Streifen, der mit einem minutenlangen Schlachtgemetzel beginnt. Ich musste meine Frau während Minuten trösten, zurückhalten, beschwichtigen und besänftigen, damit die dem Kino nicht entfloh.  Genauso ging es ihr mit «Verzauberte Vorbestimmung» (Übrigens ein Titel, der angesichts des Romananfangs arg strapaziert!). Jonas Lüscher beschreibt die Erlebnisse eines algerischen Soldaten während des ersten Weltkriegs in den Schützengräben gegen die Deutschen. Den ersten strategischen Giftgasangriff, das Herannahen eine beinah fluoreszierenden Wolke, in der alles grausam erstickt, Menschen mit schrecklich verzerrten Fratzen tot zusammenbrechen. Eine apokalyptische Szenerie, die eigenartig fesselt und ebenso abschreckt. Aber wer sich an die Fersen dieses algerischen Soldaten heftet, verliert ihn wieder, obwohl er Jahre später in Paris zum Postboten geworden ist. Ein Erzählstrang, der wie viele andere aus dem Meer der Möglichkeiten auftaucht und wieder versinkt. So wie die Geschichte eines anderen Postboten, des Franzosen Joseph Ferdinand Cheval, der zwischen 1879 und 1922 an seinem „Palais idéal“ baute, aus gesammelten Steinen, auf einem Grundstück weitab, einem Monument, das Künstler wie Max Ernst und Pablo Picasso faszinierte und bis heute viele Touristen lockt. Oder sie Geschichte von Ned Ludd im tschechischen Varnsdorf, einem Ort der aufblühenden Textilindustrie. Ein Aufstand der Arbeiter, einer Frauenrevolte, einem Fabrikgrossbrand. Eine Geschichte, die Lüscher in ganz eigener Sprache, beinah märchenhaft erzählt. Eine Geschichte, bei der es aber weder um das Personal noch um die Geschichte selbst geht.

„Verzauberte Vorbestimmung“ ist eine literarische Auseinandersetzung. Sprachgewandt, plottabgewandt. Lüscher will weder unterhalten noch betäuben. Er nimmt mich mit in seine Odyssee, in ein Labyrinth, von dem nicht einmal er selbst das Ziel, die Mitte gefunden hat. Ein literarischer Stoffknäuel mit vielen Anfängen und Enden, ein Flickenteppich aus Fragmenten, Zuständen und Erzählebenen, der von mir alles abfordert, viel mehr, als ich bei fast allen Autorinnen und Autoren zulassen würde. Jonas Lüscher schreibt mit der Membran eines Überempfindlichen, eines Hochsensiblen, eines Verwundeten, Gezeichneten. 

Ich tat mich schwer mit der Lektüre, obwohl es immer wieder lange Passagen der Beglückung gab, nicht zuletzt dank seiner Sprachkunst. Ich werde Zeuge dieser Hypersensibilität. Und wenn ich die Lektüre zu einer solchen Zeugenschaft machen kann, dann lese ich mit grösstem Interesse und unsäglichem Staunen.

***

Lieber Gallus

Ich habe bisher keinen Roman von Jonas Lüscher gelesen, aber schätze seine klugen Gespräche über unsere Gesellschaft und deren Zukunft in verschiedenen Medien.  So interessierte ich mich sehr für seinen neuen Roman. Wegen einer vernichtenden Kritik in einer Innerschweizer Zeitung vor der ersten Lesung in der Schweiz war ich verunsichert, ob ich dieses Werk lesen soll, habe dann aber das Buch trotzdem gekauft. Wie reich wurde ich belohnt! Hilfreich war die Lektüre seiner Poetik-Vorlesungen von 2019 «In die Erzählung flüchten», wo das «Oszillieren zwischen mathematisch messbarer Wissenschaft und erzählender Literatur, zwischen Aufklärung und Romantik» ausführlich besprochen wird. 

Obwohl die Lektüre von «Verzauberte Vorbestimmung» anspruchsvoll ist, habe ich das Buch mit Interesse und Gewinn gelesen. Dass sich vieles nicht einordnen lässt, gefällt mir als Ausdruck der Herausforderungen und Ambivalenz des Menschen im Umgang mit Maschinen. Das in fünf Teile gegliederte Werk zeigt mehrere Erzählstränge, die abbrechen, wieder auftauchen und inkonstant durch die verschiedenen Abschnitte führen. Auch die Zeitebenen wechseln oft ohne Übergang, beginnen im Ersten Weltkrieg und enden in der Nach-Putin Ära. Die Auswirkungen der Macht der Technik und des Geldes auf die Menschen bestimmen in vielfältiger Weise den Text. Zum Beispiel die Veränderung des Ertrags der Arbeit an neuen Webstühlen in der Fabrik im Vergleich zu der an der Heimarbeit:
Sein Staunen über die Zahlen, die sich da untereinander reihten, Beträge, die ihm vor kurzem noch fantastisch erschienen waren, fand kein Ende. Es war ihm, als täten sich ganz neue Möglichkeiten, eine Ahnung eines anderen Lebens, vor ihm auf, und mit diesem weiten Horizont, der aber bei genauerer Betrachtung nur aus dem Wort «mehr» bestand, einem Begriff, den er nicht in der Lage war, mit konkreten Vorstellungen zu füllen, kam die Gier in sein Leben.

Mehrere Kapitel werden durch Peter Weiss, Maler, Autor, Filmer, der als Alter Ego auftritt, miteinander vernetzt. Sein frühes Gemälde «Die Maschinen greifen die Menschen an» stellt bildhaft die Ambivalenz des Verhältnisses Mensch- Maschine dar. Mit Peter Weiss besuchen wir auch den «Palais Idéal» vom Briefträger Cheval in Hauterives und die Weber im tschechischen Varnsdorf.

Hauterives © Jonas Lüscher

In den letzten zwei Kapiteln befinden wir uns im futuristischen Ägypten mit Cyborgs, Mensch-Maschinen, und Androiden, umgeben vom grössenwahnsinnigen architektonischen Gebilde New Kairo, herausgestampft aus der Wüste, absurd und eklektisch mit einem geplanten 1000 Meter hohen Wohn-Obelisken. Vor einem Jahr war ich in Ägypten auf den Spuren der Pharaonen und deren Grabstätten, 4000 Jahre alt und noch in besten Farben leuchtend, daneben Kairo und Alessandria als verkommene Moloche voll Lärm, Armut und Müll neben hochglanzpolierten Inseln für die Touristen. Aus dem Flugzeug konnte ich damals einen Blick auf die New Administrative Capital werfen. Mich beschäftigten und belasteten diese Gegensätze sehr. Literarisch drückt Jonas Lüscher dies so aus:

Für einen Moment war ich in der Lage gewesen, die pittoreske und exotische Seite dieser mir fremden Landschaft und dieser mir fremden Menschen mit ihren mir fremden Leben zu sehen, aber bald war es nur noch die Armut, manchmal sogar die schiere Not, die sich mir aufdrängte, und die neue Stadt in der Wüste, durch die ich mich noch keine vierundzwanzig Stunden zuvor hatte fahren lassen, erschien mir grotesk weit weg, und doch war es dasselbe Land, unbegreiflicher noch, dieselbe Regierung, die für beides verantwortlich war, und so unbegreiflich mir dies in jenem Moment schien, so einfach zu verstehen war der ökonomische Mechanismus, der die beiden Realitäten miteinander verband, die sechzig Milliarden, die sich der Feldmarschall aus China  und den Golfstaaten geliehen hatte, um seinen Traum zu bauen, und der sinkende Wert des ägyptischen Pfunds, der das Elend der Menschen, die ich vor dem Fenster an mir vorbeiziehen sah, Tag für Tag vergrösserte und ein Entrinnen unwahrscheinlicher machte.

Das zentrale Thema, das Überleben seiner schweren Covid Erkrankung im wochenlangem Koma auf der Intensivstation dank neuester Technik kommt, nach kurzem Anklingen am Anfang des Buches, erst im letzten Teil zur Sprache: Ein «Gespräch» zwischen einem Taxifahrer ohne Englischkenntnisse und dem Protagonisten ohne Arabischkenntnisse mittels Google-Translater führt zum Nachdenken über die Technik-Skepsis des Autors, der als wahrer Cyborg seine Covid Erkrankung nur dank der Herz-Lungen-Maschine überleben konnte. Diese Erfahrung prägte sich tief ein, Personen die im Koma wie in einem Traum vorhanden waren, werden nach dem Aufwachen wie Verstorbene vermisst. 

Dieser in seiner Struktur und in seiner Sprache einzigartige Roman umfasst die Zeitspanne von 1914 bis in die Zukunft, wo Cyborgs, also Mensch-Maschinen, ans Weltwissen angeschlossen sind. Die Beziehung von Menschen und Maschinen, deren grossartige Möglichkeiten, aber auch deren potenzielle Gefahren, zieht als roter Faden durch dieses Buch. Es endet mit hoffnungsvollem Ausblick.

Die Anregungen und die Auseinandersetzung mit diesem Buch werden mich noch lange begleiten. Ich wünsche ihm viele aufmerksame Leser!

Herzlich 

Bär

Jonas Lüscher wurde 1976 in der Schweiz geboren, er lebt in München. Seine Novelle Frühling der Barbaren war ein Bestseller, stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis und war nominiert für den Schweizer Buchpreis. Lüschers Roman «Kraft» gewann den Schweizer Buchpreis. Jonas Lüscher erhielt ausserdem u.a. den Hans-Fallada-Preis, den Prix Franz Hessel und den Max Frisch-Preis der Stadt Zürich. Seine Bücher sind in über zwanzig Sprachen übersetzt.

Herzlichen Dank an Jonas Lüscher für die Recherchefotos.

 

Beitragsbild © Hassiepen