Jo Graber ist ein stiller Mann, unauffällig. Niemand im Quartier weiss mehr als das, was Gerüchte und Vermutungen in die Welt setzen. Auch bei der Arbeit bleibt er ein Geist. Bis er mit einem Mal verschwindet und man sich fragen muss, was geschehen ist. Gina Buchers literarisches Debüt ist ein Roman über Einsamkeit und die Macht des Gerüchts.
Schon eigenartig. Da schreibt jemand ein Buch, in dem die Hauptperson von einem Nachbarn in der Siedlung „Schattengänger“ genannt wird und auch genau das im Roman selbst bleibt; ein Schattengänger. Man sieht von ihm nur die Kontur eines Schattens. Jo Graber, Einzelgänger in einem Wohnquartier mit tausend Augen, Angestellter im Bauamt der Stadtverwaltung, Abteilung Aufzugsanlagen. So unkonventionell die Erzählperspektive, so eindringlich die Stimmen, die fast alle aus ihrer eigenen Isolation erzählen. Ein Roman über die Gegenwart, über Grenzüberschreitungen, Dichtestress, Gerüchte, Fehlinterpretationen, Distanz und Ängste. Und ein Roman über das Scheitern.
Noch eine Spezialität dieses Romans ist die Erzählstrategie. Wenn sich in vielen Romanen nach und nach die Schichten einer Zwiebel lösen bis man auf den Kern gelangt, fügt sich bei diesem Roman Schicht an Schicht. Auch wenn die Zwiebel dann nicht mehr geschlossen ist, sondern offen wie eine Rose. Es dauerte, bis ich mich bei der Lektüre traute, fixe Rückschlüsse aufs Ganze zu ziehen. Gina Buchers Erzählweise provoziert meine eigenen Spekulationen, genau das, was mit den Stimmen im Buch passiert.
„Schattengänger“ ist nicht nur der Titel, sondern Programm des Romans. Wer das Buch nach der Lektüre zur Seite legt, weiss nur wenig über jenen Jo Graber, über den ein ganzes Quartier und ich als Leser spekuliere. Genau das, was in Wirklichkeit passiert. Was wissen wir von den Menschen, die uns umgeben? Was wissen wir von unseren Nächsten?
Gina Bucher «Schattengänger», edition bücherlese, 2025, 200 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-03981-011-6
Fast ein Dutzend Stimmen erzählen; Aurel, ein etwa zehnjähriger Junge aus der Nachbarschaft, ein kindlicher Forscher und genauer Beobachter. Kris, der Nachbar, der „Verpuppte“, der Jo Graber den Schattengänger nennt, traumatisiert von seiner Familie, Kiffer, arbeitsunfähig, permatherapiert. Esmé, eigentlich Frau Kordik, Jo Grabers Ärztin, ängstlich, auch sie in gewisser Weise traumatisiert. Remigio, ein älterer Nachbar aus der Siedlung, verheiratet mit Marta, mit der Angst vor drohender Demenz seiner Frau. Renée, Grabers Chefin im Büro, durchdrungen vom Wunsch, eine gute Chefin zu sein, dauernd im Ungewissen über Nähe und Distanz. Tom, sein ahnungsloser Arbeitskollege, der mit ihm ein Büro teilt. Dennis, der ausländische Pfleger im Altenheim von Jo Grabers Mutter, der ihn bei Besuchen schätzen lernt und ihn fast zärtlich Herr Jo nennt…
Fast alle Erzählstimmen hätten das Zeug für einen eigenen Roman. Aber es wurde ein Spiegelroman. Die Geschichten der Erzählstimmen spiegeln sich im Erzählen über diesen geheimnisvollen Jo Graber. Und die Interprationen der Erzählstimmen verraten viel überdie Erzählstimmen selbst.
Jo Graber ist ein Geist. So wie viele, denen es nicht darum geht, eine möglichst breite Schneise der Publizität hinter sich herzuziehen. Irgendwo im Buch steht die Wendung „das Recht auf Verschwinden“. Wie viel Gewicht legen wir auf die Präsentation dessen, was das Bild von uns sein soll? Gibt es die Freiheit, sich zu verweigern, gibt es sie vor seiner Familie, seiner Umgebung, bei der Arbeit, vor dem Staat, der Polizei?
Wir machen uns ein Bild des anderen. Wie sehr dieses Bild immer wieder durchbrochen wird, erfahren wir immer wieder, wie sehr wir uns irren, verspekulieren. Genau dort steckt eine ordentliche Portion Gesellschaftskritik in diesem Roman.
Gina Bucher, geboren 1978, aufgewachsen in Luzern, ist Autorin, freie Journalistin und Dozentin. In Zürich und Hamburg studierte sie Filmwissenschaften, Publizistik und Kunstgeschichte. Heute lebt Gina Bucher mit ihrer Familie in Zürich und schreibt Kolumnen und erzählende Sachbücher. Zuletzt erschienen Geschichten über das Scheitern: «Der Fehler, der mein Leben veränderte» (2018) und Geschichten über die Liebe: «Ich trug das grüne Kleid, der Rest war Schicksal» (2016). Als Herausgeberin verantwortete sie verschiedene Bücher im Kunstbereich. Seit 2021 arbeitet Gina Bucher auch als Dozentin an der F+F Kunst- und Designschule, Zürich, und seit 2017 als Schreibtrainerin am Jungen Literaturlabor JULL in Zürich.
Eine Familiengeschichte? Eine Exilgeschichte? Ein Roman über Nähe und Distanz? Über Verlust und die Suche nach Identität? Katinka Ruffieux erzählt in ihrem literarischen Debüt kunstvoll und gekonnt, mit jener Portion Witz, die das Schwere leicht macht und mit Sätzen, die man festhalten will.
Manchmal beseelt einem die Lektüre so sehr mit Feinheiten, dass man das Buch nur in kleinen Schlucken geniessen will. Was mir dann doch nicht gelingt, weil, wie der Erstling von Katinka Ruffieux beweist, hier eine Autorin erzählt, die nicht nur sprachlich glänzt, sondern auch in ihrer Erzählstrategie. „Zu wenig vom Guten“ ist mit einer derartigen Reife geschrieben, dass man erstaunt ist, einer literarischen Debütantin zu begegnen, denn Katinka Ruffieux erzählt mit grosser Souveränität. In ihrem Erzählton steckt jene unverkrampfte Leichtigkeit, die man in helvetischer Literatur nur selten trifft, jene Portion Schalk und Humor, die das Lesen leicht macht und nicht zuletzt ein ordentlicher Schuss Lebensweisheit, den man wohl erst dann erreicht, wenn man selbst in den Tiefen der eigenen Existenz den Erfahrungen die richtigen Fragen stellt.
Katinka Ruffieux erzählt von einer Familie, die in der Folge des Ungarnaufstands ihr Land verlassen hatte, um wie viele andere Familien ihr Glück in der Schweiz zu suchen. Ich selbst erinnere mich gut an eine Nachbarsfamilie im Quartier meiner Kindheit, bei der zuhause noch immer Ungarisch gesprochen wurde und die Besuche bei meinem Schulkameraden zu Expeditionen in eine andere Kultur wurden. Nicht nur roch es in jener Wohnung anders als bei mir zuhause. Der Vater jenes Jungen war ein hagerer, grosser Mann mit Schuhgrösse 48, dessen riesige Hände die meinigen bei der Begrüssung zu Puppenhänden machten. Ein Mann der immer freundlich und immer leise sprach, als ob er in der Luft um ihn herum nicht zu grosse Wellen machen wollte.
Unsere Familie gleicht einem Hühnerstall. Wer wen hacken darf, steht fest. Trotzdem lassen alle Federn.
Katinka Rufieux «Zu wenig vom Guten», Arche, 2025, 256 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-03790-161-8
Genauso die Familie in „Zu wenig vom Guten“. Man wohnt zu fünft in einer winzigen Wohnung in der grössten Stadt der Schweiz, versucht um jeden Preis nichts falsch zu machen und tut alles, um den Traditionen und stillen Gesetzen des neuen Zuhauses zu genügen. Mutter, Vater, zwei Töchter und der Grossvater, den man regelrecht entwurzeln musste. Weil der Platz in der Wohnung gering ist und man die freien Stellen lieber mit den Errungenschaften des Westens auffüllt, leben die beiden Töchter zusammen mit dem Grossvater in einem Zimmer unter dem strengen Diktat der Mutter, mit einem Vater, der lieber durch Abwesenheit glänzt und einem Grossvater, der ganz unverblümt die Enge in der Wohnung mit In diesem Haus wird man kein echter Mensch, hier wird man bloss verrückt! kommentiert. Ein Grossvater, der im Reduit seiner kleinen Familie von dem träumt, was er zurücklassen musste und mit dem hadert, womit er sich in seinem Exil konfrontiert sieht. Kommentare, die die Mutter stoisch erträgt, die Töchter aber meist wörtlich nehmen, was die Stimmung in der Wohnung alles andere als entlastet.
Auch zwischen den Schwestern herrscht keine Verschwesterung, ganz im Gegenteil. Die Erzählerin versucht die Wogen in der Familie zu glätten, sieht sich im Gefüge als jene, die für das Gute zuständig ist und doch immer das Gefühl mit sich herumträgt, nicht zu genügen, letztlich verantwortlich zu sein für all das, was der Familie widerfährt.
Schon zu Beginn des Romans wird von der Asche der Schwester erzählt und dass nicht einmal diese sich den Wünschen der Familie beugt. Der Roman beginnt mit einem Verlust. Ein Thema, das sich durch das ganze Buch zieht; der Verlust der Heimat, der Identität. Der Verlust des Vaters, der irgendwann aus der Enge auszieht und ein anderes Leben beginnt, eine neue Familie gründet. Der Verlust des Grossvaters, jener Person, die auf alles eine Antwort hatte, der für die Erzählerin trotz der räumlichen Enge der Fels in der Brandung war. Und der Verlust der Schwester, die immer tiefer in ihrer Revolte gegen alles und jeden abrutschte, die sie aus dem Drogensumpf zu retten versuchte, die ihr Leben aber unrettbar gegen eine Wand fuhr.
„Zu wenig vom Guten“ ist eine literarische Perle. Wie schade wäre es, man würde sie zwischen all den bunten Kieseln nicht sehen!
Interview
Ein grosses Thema ihres Romans ist Verlust. Die Familie verliert ihre Heimat – Ungarn. Sie verliert den Vater, der sich das Glück mit einer neuen Familie sucht, den Grossvater, der im Exil stirbt und die Schwester. Verluste, die das Leben der Erzählerin prägen und doch nicht zerreiben. In ihrem Roman spürt man den Schmerz, aber ebenso die Kraft, die daraus entsteht. Obwohl sich alles um diese Verluste dreht und andere daran zerbrechen würden, bewahrt sich die Erzählerin jenen Mut, den es braucht, um nicht zu zerbrechen. Wie gelang es Ihnen, diesen Ton zu finden? Ist er Ihnen gegeben oder war es ein Prozess des Findens? Eine glaubhafte Stimme für diesen Roman zu finden, war entscheidend. Schreibt man aus der Perspektive einer Jugendlichen, wirkt das Geschriebene schnell aufgesetzt, schlimmstenfalls anmassend. Da kommt man um das Suchen und Finden nicht herum. Als die richtige Tonalität jedoch gefunden war, ging mir der «Sound» des Buches nicht mehr aus dem Kopf und das Schreiben leicht von der Hand.
Neben der Suche nach der eigenen Identität ist Ihr Roman auch ein Spiegel dessen, was in den 80ern in der Schweiz geschah; Jugendunruhen, Spiessbürgertum, Drogenszene Zürich, Einbürgerung… Und trotzdem spiegelt sich das sozialpolitische Geschehen ganz in den Protagonisten. Es schwingt unterschwellig derart viel mit, dass ich als Leser manchmal das Gefühl hatte, mehrere Bücher miteinander zu lesen. Leser*innen in meinem und Ihrem Alter fühlen sich gespiegelt, erinnert – und junge Leser*innen wundern sich über die Abgründe hinter den Fassaden. War das Absicht? Absicht würde ich es nicht nennen. Als Autorin möchte ich möglichst viele Menschen erreichen und dafür treffe ich gewisse Entscheide. «Zu wenig vom Guten» ist im Grunde eine ziemlich traurige Geschichte, die ich mit einer grossen Leichtigkeit erzählen wollte. Aber einen solchen Entscheid trifft man instinktiv und nicht absichtlich. Ein tieftrauriges Buch hätte mich wohl selbst beelendet. Dass das Buch auch generationenübergreifend zu funktionieren scheint, freut mich besonders.
Sie beschreiben einen Kosmos, jenen der Familie. Einen ganz eigenen Kosmos, weil die Familie, aus Ungarn stammend, alles tut, um der „Schweiz“ zu genügen. Eine aus dem Ausland stammende Familie, die alles, aber wirklich alles tut, um sich zu integrieren. Das Idealbild gewisser Kreise auch heute. Integration bis zur Selbstverleugnung. Ein Prozess, der aber auch im Leben eines jungen Menschen passiert, dann, wenn man während der Pubertät unbedingt zu eine Piergruppe „dazugehören“ will, wenn man ein Teil von etwas Grösseren sein will. Ein Prozess, der die beiden Schwestern spaltet. Die Erzählerin will sie retten, scheitert aber. Ihre Schilderungen scheinen keine Innenansichten, sondern Aussenansichten zu sein, versöhnt distanziert. Viele Bücher, die sich mit ähnlichen Themen auseinandersetzen, triefen vor Selbstergriffenheit. Liegt das an Ihrer „Reife“? Um diese Geschichte zu erzählen, musste ich so alt werden, wie ich heute bin. Ich nehme vieles entspannter, fühle mich freier in meinem Denken aber auch sonst. Für distanziert halte ich die Erzählerin nicht. Aber sie weiss sich zu schützen und hält es für gut, dass alle irgendwann vergessen werden «dürfen». Eine Ansicht, die ich mit ihr teile.
Eine Familie mit Grossvater. Ich mag diesen Grossvater sehr, zumal ich selber Grossvater bin. Aber im Gegensatz zu mir, ist der Grossvater in Ihrem Roman einer aus der immer seltener werdenden Sorte „Grossfamiliengrossvater“, obwohl die Familie selbst, trotz falscher Onkel und Tanten, klein ist. Man lebt eng zusammen, hat eine fixe Rolle, ist Teil des Lebens, nimmt gegenseitig Einfluss. Dieser Grossvater nimmt auch kein Blatt vor den Mund, etwas, was ich mir nicht leisten kann. Etwas, das nur funktioniert, wenn man Teil eines Zusammenlebens ist. Trotzdem zerfällt diese Familie. Ist dieser Roman auch ein Stück „Sehnsuchtsbewältigung“? Ich mag den Grossvater selbst gut leiden, kenne ihn jedoch kaum. Aus Neugier wollte ich ihn mit besonderer Sorgfalt zeichnen. Der Roman soll keine Sehnsüchte bewältigen, aber es stimmt schon: Familien müssten immer gross und bunt und laut sein! Dass die einzelnen Familienmitglieder dieselbe Herkunft haben, ist dazu nicht nötig. Aber wenn da ein toller Grossvater wäre, der sich engagiert, dann wäre er ein Gewinn für die Familie und jedes Enkelkinds.
Schwestern. Jede mit ihrer Rolle. Jede im festsitzenden Glauben, diese Rolle spielen zu müssen. Für beide gibt es keinen Ausweg. Die eine verschreibt sich der Rebellion, die andere der Anpassung. Ein Motiv, das bis in die Märchenwelt greift. Ist das Schreiben ein Versuch, der eigenen Rolle zu entfliehen? Nein, das glaube ich nicht. Ich unternehme als Autorin keine Fluchtversuche, vielmehr wende ich mich den Dingen hin, bin eine aufmerksame Beobachterin für alles, was um mich herum geschah und noch geschieht. Auch das ist meiner Neugier geschuldet. Ich halte fast alles für interessant.
Katinka Ruffieux wurde 1968 in der Schweiz geboren und wuchs in einer ungarischen Familie auf. Sie lebt und arbeitet in der Nähe von Zürich. 2019 gewann sie mit ihrer Kurzgeschichte »Streuner« den Wettbewerb des Literaturhauses Zürich. Es folgten das Wanderbuch »Auf den Spuren der Literatur« und das SRF-Hörspiel »Kalter Kaffee«. 2023 war sie Stipendiatin der Bayerischen Akademie des Schreibens am Literaturhaus München, wo sie an ihrem Romandebüt »Zu wenig vom Guten« arbeitete.
Katinka Ruffiex liest und diskutiert im Rahmen von «Die Nacht der Debüts» in Frauenfeld in Theaterwerkstatt Gleis 5 am 26. September
Jon Fosses „Trilogie“, die drei Erzählungen „Schlaflos“, „Olavs Träume“ und „Abendmattigkeit“ zeigen die Meisterhaftigkeit des stillen Norwegers. Nichts an den Geschichten, an seiner Sprache ist effekthaschend, aufgeblasen und um irgend etwas bemüht. Jon Fosses Kunst ist seine Schlichtheit, seine Ehrlichkeit, seine Einfachheit.
Schlaflos
Asle und Alida sind noch jung. Und doch trägt Alida ein Kind in ihrem Bauch. Asle hat seine Eltern verloren, seinen Vater an das Meer (ein bei Fosse mehrfach erscheinendes Bild), seine Mutter an eine Krankheit, an Auszehrung. Das einzige, was ihm geblieben ist, ist die Fiedel seines Vaters und die Kunst sie zu spielen. Alidas Mutter lebt noch, auch wenn Alida von ihr nicht geliebt wird, ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester. Alida sei wie ihr nichtsnutziger Vater, schimpft sie ihre Mutter. Und dass Alida ein Kind erwartet, passt für die strenge Mutter ins Bild der liderlichen Tochter.
Asle und Alida entfliehen der Enge. Asle nimmt ein Boot, Alida zwei Netze voll mit Vorräten und das Geld der Mutter aus ihrem Versteck. Es kommt zum Konflikt mit der Mutter, die die beiden in der Küche erwischt. Ihr Weggehen, ihr Wegfahren mit dem gestohlenen Boot wird zur Flucht. Hinaus aufs Meer bis nach Bjørgvin, in den Stadthafen, wo Asle das kleine Boot verkauft und sich in der Stadt einen Neuanfang, eine Herberge, eine Arbeit verspricht.
Aber die beiden finden keine Unterkunft, obwohl es regnet und mit zunehmender Dunkelheit immer kälter wird. Man will sie nicht, zeigt ihnen die kalte Schulter, gibt ihnen trotz der Schwangerschaft mehr als deutlich zu verstehen, dass man für Fremde kein Bett, keinen trockenen Platz hat. Bis ihnen eine alte Frau begegnet, bei der sich die beiden gegen den Widerstand der Frau Zutritt ins Haus verschaffen. Asla und Alida verfallen in Kälte und Hunger immer mehr in einen traumatischen Zustand, in dem sich Bilder aus der Vergangenheit mit den Wünschen der Gegenwart kreuzen. Das Kind kommt zur Welt, nachdem man eine Hebamme gefunden hatte, eine Hebamme, die sich mehr als befremdet darüber zeigt, dass die beiden Zugang ins Haus der weisen Frau erhielten, einer Hebamme.
Olavs Träume
Asle heisst jetzt Olav, Alida Åsta, Olav und Åsta Vik mit dem kleinen Sigvald. Noch immer leben sie in dem kleinen Häuschen von der Hebamme, die scheinbar spurlos verschwunden ist. Asle, oder jetzt Olav, hält es aber nicht lange aus in dem kleinen Häuschen. Besorgungen müsse er machen, in der Stadt, in Bjørgvin. Er geht alleine. Aber kaum in den Gassen der Stadt wird Olav von einem älteren Mann verfolgt. Von einem, der ihn unverfroren anspricht, wissen will, wie er heisst, woher er komme, wisse er doch ganz genau, wer er sei. Er sei doch Asle aus Dylgja, nicht weit von hier. Dort wären schlimme Verbrechen passiert. Olav versucht, den älteren Mann abzuschütteln, was ihm nicht gelingen will. Bis sie in ein Gasthaus gelangen und sich die Schlinge immer enger um Olav zieht, die Situation immer auswegloser wird, will er doch nur seine Besorgungen machen, einen Ring für Alsa, für Åsta kaufen, so, dass sie wenigstens wie vermählt aussehen. Er flieht aus dem Gasthaus, kauft keinen Ring, sondern einen mit schönen Steinen verzierten Armreif für den er fast sein ganzes Geld ausgibt, hat er doch sogar seine Fiedel verkauft.
Jon Fosse «Trilogie», Rowohlt, 2016, aus dem Norwegischen vonHinrich Schmidt-Henkel, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-498-02065-1
Aber der alte Mann ist nicht der einzige, der Olav bedrängt. Eine junge, blonde Frau bezirzt ihn in den Strassen der Stadt, zieht ihn in eine der vielen engen Gassen, reibt ihre Brüste an der seinigen, gibt mehr als deutlich zu verstehen, was sie will und was sie sich verspricht. Olav reisst sich los, flieht auch vor der jungen Frau, bis er in einem Haus ein Zimmer für eine Nacht findet, bis er merkt, dass die Alte die Mutter der jungen Blonden ist und der Alte der Mann, der ihn durch die Strassen verfolgte und ihm seine Taten um die Ohren schlägt.
Olavs Alptraum wird Wirklichkeit. Nichts von dem, was er glaubte, zurücklassen zu können, bleibt verborgen. Irgendwann wird ihm ein Sack über den Kopf gestülpt und eine Schlinge um den Hals gelegt, obwohl Alida so nah ist, obwohl Alida damals, als Asle das Haus verliess, mit jeder Faser spürt, dass sie den Vater von Sigvald, ihren Mann nie mehr wiedersehen wird. So wie damals ihren Vater, den das Meer nahm.
Abendmattigkeit
So wie damals Asle, wird nun Alida bedrängt. Wieder von diesem älteren Mann, der sie vor Hunger und Obdachlosigkeit bewahren will, mindestens so tut, als wäre er der grosse Wohltäter. Er lädt sie gar zu einem ausgibigen Essen ein, tischt ihr Dinge auf, die sie noch nie oder schon lange nicht mehr gegessen hat, zieht ihr ein Leben durch den Mund, das Alida mit Asle verloren glaubt. Er habe unten ein Schiff, mit dem er sie mitnehmen könne in sein grosses Haus. Er brauche Hilfe bei sich zuhause, wohne allein in dem grossen Haus direkt am Fjord. Sie brauche nur einzusteigen, könne ihr armseeliges Leben hier zurücklassen, sie und ihr kleiner Sohn. Ihr Mann habe sie doch einfach sitzenlassen.
Alida, die ihren Mann mit dem dumpfen Gefühl, ihn nie wieder zu sehen, gehen liess, braucht für sich und ihren kleinen Sohn ein Dach über dem Kopf. Und dieser eigenartige ältere Mann verspricht ihr einen Neuanfang, wenn auch nur als Dienstmagd. Alida wird auch durch die Anspielungen des Mannes nicht misstrauisch, der ihr immer wieder von einem Asle erzählt, der ein Mörder sei. Alida steigt ein ins Schiff, lasst sich wegfahren, zurück an den Ort, wo alles begann, zurück nach Dylgja, wo Asle und sie doch einst nur weg wollten.
Als ihr der Mann aber erzählt, ihre Mutter sei gestorben, einem Verbrechen zum Opfer gefallen, steigt Alida ins Schiff, vorbei am Galgenhügel, wo ihr der Mann erzählt, dort sei ein Mörder erhängt worden.
Alle drei Erzählungen sind in ein seltsames Licht getaucht, einmal ganz real, einmal in ein eigenartiges Traumlicht. Zeitebenen springen. In allen drei Erzählungen springt die Handlung von der Zukunft zurück in die Vergangenheit, als hätte die Zeit eine untergeordnete Rolle. „Trilogie“ sind drei Geschichten, die von Liebe und Verrat erzählen, von Lüge und Wahrheit, von der Sehnsucht, einem unguten Leben entfliehen zu können und der Ernüchterung, dass nichts und niemand hinter sich gelassen werden kann. Davon, wie leicht Menschen mit Hunger im Bauch und der Sehnsucht nach einem Dach über dem Kopf zu manipulieren sind. Jon Fosse tut das sprachlich auf eine derart unnachahmliche Art, dass er mir als Leser glauben macht, es sei nichts leichter als Sprache. Umwerfend und zeitlos schön!
Jon Fosse, 1959 in der norwegischen Küstenstadt Haugesund geboren und am Hardangerfjord aufgewachsen, gilt als einer der bedeutendsten europäischen Schriftsteller unserer Zeit. 2023 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Internationale Bekanntheit erlangte Fosse zunächst als Dramatiker. Seine mehr als dreissig Theaterstücke werden weltweit aufgeführt und brachten ihm zahlreiche Preise ein. Seit 2011 geniesst er lebenslanges Wohnrecht in der «Grotte», einer Ehrenwohnung des norwegischen Königs am Osloer Schlosspark, und lebt mitunter auch in Hainburg an der Donau/Österreich oder in Frekhaug/Norwegen. Seit 2022 ist er Mitglied der Akademie der Künste in Berlin.
Hinrich Schmidt-Henkel, geboren 1959, lebt in Berlin. Er übersetzt u.a. auch Jean Echenoz, Édouard Louis, Jon Fosse, Tomas Espedal und Tarjei Vesaas. Ausgezeichnet wurde er z. B. mit dem Jane Scatcherd-Preis, dem Paul-Celan-Preis des Deutschen Literaturfonds und dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW (zusammen mit Frank Heibert).
Ich lese die Bücher von Christoph Ransmayr schon eine ganze Weile. Seinen ersten Roman „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ als ich vor 40 Jahren Lehrer in einer kleinen Dorfschule war. Sechs Klassen in einem Raum. Die Kinder kamen aus den umliegenden Höfen und verliessen das Haus wieder nach dem Unterricht, während ich alleine zurückblieb, ohne Anschluss ans Dorf, ein Aussenseiter. Mein Leben damals, frisch von der Ausbildung, bestand aus Unterrichten, Vorbereiten, Essen, Schlafen – und Lesen. Dieser Abenteuerroman, der damals in einem kleinen Verlag erschienen war (Christian Brandstätter Verlag, mit einer Auflage von 4000 Stück) war genau das richtige, um meine gebeutelte Seele (auch ich fühlte mich auf einer lebensbedrohlichen Expedition in einer menschenfeindlichen Gegend) mit dem Duft von Abenteuern zu trösten. Damals war Ransmayr noch ein Geheimtipp, ein Versprechen. Heute würde es niemanden erstaunen, würde nach Peter Handke ein weiterer Österreicher den Nobelpreis für Literatur bekommen. Diesmal ganz bestimmt mit deutlich weniger Nebengeräuschen (ausser der Tatsache, dass mit Ransmayr erneut ein weisser, alter Mann Preisträger wäre).
Damals schrieb Ransmayr seinen arktischen Epos ohne je einen Fuss auf das Packeis gesetzt zu haben. Reine Immagination mit einer gehörigen Portion Recherche. Heute funktioniert Ransmayrs Schreiben noch immer so, aber auch ganz anders. Ransmayr ist ein Reisender, einer, der seine Bilder, Erfahrungen und Begegnungen als grossen Schatz in sein Schreiben einfliessen lässt, was an sich alle Schriftsteller*innen tun. Aber Ransmayr hat mit seinen vielen Reisen, aus denen er in seinem neuen Buch „Mikroromane“ ein literarisches Fotoalbum machte, ein ganz eigenes Reisebuch geschrieben. „Mikroromane“ ist durchdrungen von Respekt, Ehrfurcht und Dankbarbeit. Die Sammlung dieser Texte, die meist nicht länger sind als zwei Seiten, sind Miniaturromane, nicht bloss Zeugnisse oder Berichte. In sich abgeschlossene Erzählungen, in denen Entwicklung passiert, die nicht bloss Erfahrungen abbilden, sondern Erzählungen, die eine äussere Reise abbilden, innere Reisen.
Ransmayrs Mikroromane sind Konzentrate, Handlungs- und Sprachkonzentrate. Nichts ist zuviel, kein mäanderndes Erzählen, keine Inszenierungen, weder von seiner Person als Reisender, noch von den Orten, den Menschen, zu denen ihn seine Reisen führen. Wer in diesem Buch liest, wird von Andacht erfüllt. Seine Mikroromane sind Ehrerbietungen und Zeugnisse eines Mannes, der sich seiner Privilegien ganz und gar bewusst ist. Es gibt Reisende und Touristen. Auch wenn Ransmayr eines seiner Bücher mit „Geständnisse eines Touristen“ betitelt. Ransmayr tut das meiste nicht, was der typische Tourist sonst tut. Ransmayr ermöglicht mir, zuhause zu bleiben und doch zu reisen. Er nimmt mich an der Hand zu Menschen, die er immer wieder besucht, die ihm wie die Orte selbst ans Herz gewachsen sind. Wäre man sich der Qualität dieses Buches bewusst, müssten Airlines und Hotelkomplexe auf der ganzen Welt mit ordentlichen Einbussen rechnen.
Und „Mikroromane“ liest sich atypisch, eben wie ein Fotoalbum. Man schlägt es irgendwo auf und liest. Man liest immer und immer wieder. Vielleicht sogar vor dem Einschlafen vorgelesen, als Einladung in einen guten Traum. Wenn es ein Buch gibt, mit dem man ideal in den Ransmayr’schen Kosmos einsteigen sollte, dann ist „Mikroromane“ der beste Einstieg in grosse Sprachkunst und tiefst empfundene Empathie.
Selten verliess ich eine Lesung eines Autors derart erfüllt und beschenkt, wie jene mit Christoph Ransmayr.
Liebgruss
Gallus
Was geschieht, wenn ein Mensch seine Entschlüsse gefasst, alle notwendigen Vorbereitungen getroffen hat und einen ersten Schritt tun will, seinem Ziel entgegen, und was, wenn er endlich einen Fuss vor den anderen setzt? (aus «Der fliegende Berg»)
Lieber Gallus
Dies war 2006 mein Einstieg in den Kosmos von Christoph Ransmayr. An einer Tagung im Bildungshaus Hertenstein am Vierwaldstättersee zeigte mir Werner Hegglin damals in einer Pause ein blau gefasstes Buch: «Das ist etwas für dich!» Wie recht er hatte! Die ersten Zeilen Ich starb 6840 Meter über dem Meeresspiegel am vierten Mai im Jahr des Pferdes rissen mich als Hausarzt und Alpinist sofort mit. Ich schaute zwischen Felszacken und eisigen Abgründen in die Tiefe, bangend, ob der Gipfel von den beiden Brüdern erreicht werden kann. Ich las es mit Begeisterung, war mit den beiden in eisiger Höhe, bei den Nomaden in Ost Tibet und in Irland unterwegs. Eine beeindruckende, tief berührende, abenteuerliche Reise, die mich aus dem oft belastendenAlltag als Hausarzt wegtrug.
Später begleitete mich «Schrecken des Eises und der Finsternis» auf Skitouren in Spitzbergen bis aufs Packeis und «Cox oder Der Lauf der Zeit» ersetzte eine nie stattgefundene China-Reise wunderbar.
Ich bewundere die Vielfalt in Form und Sprache in seinen Büchern. Ein Suchender unternimmt Reisen und lässt sich in Abenteuer ein. Neugier und die Liebe zu den Menschen geben den Werken Tiefe und regen uns zum Nachdenken an. Umso mehr freute es mich, dass wir vor Kurzem dem Autor bei der Schweizer Buchvernissage von «Egal wohin, Baby» persönlich begegnen durften. Christoph Ransmayr zeigte sich mir als sorgfältig und respektvoll arbeitender Schriftsteller, als ein offener Mensch mit Respekt vor fremden Kulturen und als begnadeter Vorleser.
In seinem neusten Werk, in den siebzig Mikroromanen, tauchen wir ein in wirklich erlebte, erfahrene Begegnungen auf der ganzen Welt. Der Autor gibt sich den Namen «Lorcan», um sich von der Last der Erinnerungen zu befreien und in einen gelassenen Erzähler zu verwandeln. Die Abbildung eines Schnappschusses des Autors vor Ort ist jeweils vorangestellt. Jede Geschichte hat einen Höhepunkt, eine spezielle Aussage, wir erleben Vergangenes und Aktuelles in unterschiedlichen Landschaften und Gegenden, oft mit historischen Ereignissen verknüpft. Jeder Mikroroman hat einen Titel. Drei Beispiele:
«Gefallener Himmel» Ein trügerisch schönes Landschaftsbild aus Österreich, wo sich der Himmel in einem See spiegelt. Ich aber erfahre von einem Konzentrationslager aus dem zweiten Weltkrieg und der Produktionsstätte von Massenvernichtungswaffen in dieser Gegend. Lorcan wollte auf dem Weg zu ihren Verstecken im Hochgebirge biwakieren, um im Schlafsack den Auf- und Untergang jener Sternbilder zu beobachten, die den Verfolgten in der nächtlichen Weglosigkeit als Orientierung gedient hatten. Staunen und Erschrecken sind nahe beieinander.
«Am Ende der Welt» Eine Zeichnung von zwei Pferden des siebenjährigen Mädchens Emily Christian auf der weit abgelegenen Südseeinsel Pitcairn im Pazifischen Ozean. Pferde, die sie sich sehnlichst wünscht, obwohl sie noch nie ein Pferd gesehen hat. Sie glaubt, ihr Leben auf dieser Insel, wo es keine Pferde gibt, verbringen zu müssen. Wir erfahren zudem von kolonialen Kämpfen, Sklaverei und Meutereien ihrer Vorfahren auf und um Pitcairn. Emilys Zeichnung wird zur Brücke in die weite Welt.
«Heiliges Wasser» Also könne er (Ali Bazhi auf dem Foto) nun einen Reisenden nur bis zu den Gebirgszügen der algerischen Sahara führen, denn nachdem es niemanden mehr gab, der die Bewegungen des Sandes, wandernder, irrlichternder Dünen, die Geröllfelder und unüberwindlichen Felsbarrieren über mehr als eintausendfünfhundert Kilometer so gut kannte wie sein Vater, müsste nun in jeder Oase nach einem neuen Ortskundigen gesucht werden.Anstatt nach Timbuktu führt Ali den Reisenden an einen friedlicheren Ort, nämlich zu einer Oase mit dem Namen «Heilige Quelle». Unter Dattelpalmen trinkt Lorcan das glasklare frische Quellwasser.
Es geht beim Reisen immer um den Weg zu den Menschen, so Ransmayr in der «Sternstunde Religion» am Fernsehen. Seine Empathie und Liebe zur ganzen Schöpfung erfüllt mich mit Hoffnung für unsere arg misshandelte Erdkugel. «Egal, wohin Baby» ist ein weiteres beglückendes, heilendes Werk von Christoph Ransmayr. Arznei gegen die Sterblichkeit – mit seinen eigenen Worten!
Ich wünsche diesem Meisterwerk viele Leserinnen und Leser.
Herzlich
Bär
Sternstunde Religion vom 16.05.2022
Christoph Ransmayr wurde 1954 in Wels/Oberösterreich geboren und lebt nach Jahren in Irland und auf Reisen wieder in Wien. Neben seinen Romanen »Die Schrecken des Eises und der Finsternis«, »Die letzte Welt«, »Morbus Kitahara«, »Der fliegende Berg«, »Cox oder Der Lauf der Zeit«, »Der Fallmeister. Eine kurze Geschichte vom Töten« und dem »Atlas eines ängstlichen Mannes« erscheinen Spielformen des Erzählens, darunter »Damen & Herren unter Wasser«, »Geständnisse eines Touristen«, »Der Wolfsjäger« (gemeinsam mit Martin Pollack) und »Arznei gegen die Sterblichkeit«. 2022 erschien die Sammlung von Gedichten und Balladen »Unter einem Zuckerhimmel« (illustriert von Anselm Kiefer), 2024 der Erzählband »Als ich noch unsterblich war« sowie der Band »Egal wohin, Baby« mit Fotografien des Autors. Zum Werk Christoph Ransmayrs erschien der Band »Bericht am Feuer«. Für seine Bücher, die in mehr als dreissig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er zahlreiche literarische Auszeichnungen.
Das Wetter hat kein Ende. Der Himmel ist glatt. Wenn hinter dem Himmel nichts ist nur Blau und Sonnenschein schönes Wetter – Tagelang, wochenlang geht es so.
Februar
Die Wolken brechen, als wären sie hart darüber reißt der Himmel schreit grell das Licht darunter liegt milchig die Stadt.
Ein Milan treibt zwischen den Giebeln kreuzt den Flug eines beschriebenen Papiers.
März
Sonniges Glück wird überschätzt.
Sagst ausgerechnet du?
Mit dem Glück ist es wie mit der Wolke am Himmel.
April
Tief hängt der Himmel und trieft Autos rauschen im Kreis.
Es rauscht in meinem Ohr.
Ein Funkeln drüben am Berg, eine Antenne vielleicht vor uns ein Rest Landstraße.
Mai
Das Karussell dreht singt vom Abendrot und wilden Pferden.
Wir lutschen an einem Herz und lachen, als ob die Lichter niemals löschten.
So flirrt die Nacht und zerrt an Sehnen, Nerven, Lüsten, bis sie reißen.
Ich glaube an Drachenschnüre und fürchte mich vor dem Sturzflug.
Aber wir fliegen nicht, wir hängen.
Wie ein Knäuel am Jo-Jo drehen wir ein drehen wir aus. Wir zwei im Blitzlicht, nackt.
Wir drehen uns schwindlig
vergessen die Schnur und halten uns fest, du an mir und ich an dir. Wir drehen uns atemlos.
Bis das Jo-Jo in die Leine fällt
bis wir nachfedern bis wir still hängen und die Sonne schwarz in den See fällt.
Juni
Nachts kommen sie aus Spalten und Ritzen huschen durch Rohre und Rinnen verschwinden
und lassen den Schwan auf der Wiese zurück.
Frisch gewaschen steht er im Scheinwerferlicht.
Wenn das Geschrei anhebt flattern sie, drehen, keifen.
Wer?
Die Verwandten der Ratten und Schwäne.
Juli
Schlamm wälzt sich uns entgegen dampft wir drängen uns auf den Dämmen. Ein Getöse hebt an. Ein Glockengeläut, ein Zittern in der Luft, ein Grollen. Die tiefste Glocke setzt aus stimmt wieder ein im Ohr verschwimmen die Klänge in die abrupte Stille hinein das Gurren einer Taube überlaut und wie von einem Band abgespult.
«Geschätzte Zuschauerinnen und Zuschauer, der Sommer liegt über uns. Wetter findet vorerst nicht statt.»
August
Der Alb hockt und wartet in verwirrenden Traumschluchten, verheddert sich in meinem Haar.
Papierflieger schweben am Himmel meines Kopfes und weichen den Schreien der Nacht aus. – Ich gehe die Milchstrasse lang.
Du und das Morgenlicht.
Hell wird’s erst, im Osten der Lastwagen hupt.
Die Welt ist wieder da.
September
Wasser rauscht durchs Wehr.
Wichtiges gerinnt zu Nichts. Der Schnee fällt zu früh dieses Jahr.
Im Schmelzwasser pickt ein Huhn.
Oktober
Scheinheilig legt sich Nebel über den Platz erstickt den letzten Sommertag.
Ich sticke den Sonnennebel auf ein Tuch.
November
Das ist Glück
wenn man einmal nicht erschlagen wird vom Totholz und einmal nicht ersäuft im Novemberregen und einmal nicht in die Leitplanke rutscht im ersten Schnee. Das ist Glück und Gnade, wenn man immer nicht stirbt.
Dezember
Nebelinseln überm See. Eine dunkle Gestalt segelt hinaus die Ohren voll Windgeheul
stürzt sich über den Rand der Welt wo sie die Morgenröte erwartet.
Die Welt hustet nur kurz, bevor sie verschluckt wird.
Januar
Müde klingt das Alphorn am oberen See.
Wir wissen, wenn wir lange genug an der Wand stehen und das Gesicht gegen Süden halten – dass irgendwann die Sonne uns trifft.
***
Wie es begann? In einem Café, das es heute nicht mehr gibt, schlug Eva vor, dass die eine was schreibt, und die andere schreibt daran weiter; Miniaturen, die in Streichholzschachteln passen, schwebten ihr vor, ich dachte an Renga, das japanische Kettengedicht. Aufs Wetter kam ich durch das Buch „Wolkendienste“ von Klaus Reichert, und ich mailte Eva, wie es wäre, über etwas so Flüchtiges wie das Wetter zu schreiben? Ja, schrieb Eva, und wenn der Anfang nicht passt, schneiden wir ihn später einfach wieder ab. So sprachen wir miteinander in Gedanken ständig übers Wetter, formulierten um, probierten aus. Der Kommentar zum Wetter liest sich jedenfalls Jahre später noch wie ein Meta-Text zu diesem kollaborativen Projekt. Mal ist vom Pieselwetter die Rede, vom Husten und Niesen, Nesseln und Schlingen, von seltsamen Gestalten, die über den See wabern –es ist hier und da eingeflossen in unser Wetterschreiben.
Bis ein Jahr um war.
Bis ich die Kleintexte in eine Datei packte und Eva mailte.
Einmal gab es auch eine dialogische Version, die wir wieder verworfen haben. Schliesslich haben wir uns in einer «Werkstatt-Session» zusammengesetzt. Haben herausgeschnitten und neu kombiniert und umformuliert, bis kaum noch zu sehen war, welche Szene, welches Bild wem eingefallen ist. Und dann haben wir über Fanzines und Leporellos und Möwen am Bellevue nachgedacht, so ist die vorliegende Fassung entstanden, ein vierhändiges Stück.
Alice Grünfelder, geboren im Schwarzwald, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin (FU, Magister Artium) und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte von 2001-2010 Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche, leitet Workshops rund ums Schreiben, Lektorieren und Übersetzen und ist als freie Lektorin tätig. Von Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, schreibt Essays, Erzählungen und Romane. Das Buch Wolken über Taiwan (Rotpunktverlag) stand 2022 auf der Hotlist der Unabhängigen Verlage.
Eva Roth ist 1974 geboren und in Schwellbrunn im Appenzellerland aufgewachsen. Später wohnte sie in Kreuzlingen und seit 2008 in Zürich. Sie schreibt Prosa und Theaterstücke für Kinder und Erwachsene. Von 1997 bis 2014 war sie als Primarlehrerin tätig, danach als Lektorin und Programmverantwortliche im Atlantis Bilderbuchverlag. Von 2009 bis 2011 besuchte sie den Lehrgang «Literarisches Schreiben» der EB Zürich, und 2018/19 war sie Teil des «Dramenprozessors» am Theater Winkelwiese Zürich. Seit 2023 ist sie freie Autorin, Lektorin und Übersetzerin. Sie hat zwei erwachsene Söhne und eine Tochter im Schulalter.
Bei vielen Leserinnen und Lesern scheint die Frage, ob ein Buch ein Stück abgebildeter Realität sei, eine wahre Geschichte, oder reine Fiktion, ein Spiel mit Realem, so zentral wie nie zuvor. Evelina Jecker Lambreva treibt eben diese Spiegelungen zwischen Realem und Fiktionalem bis auf die Spitze – erfrischend und mit tiefgründigem Scharfsinn.
Fabiana Bianchi ist eine angesagte Krimiautorin. Ihre Bücher scheinen ein nach Crime hungerndes Publikum längst von selbst zu finden. Wo sie auftritt, füllt sie Säle, ihre Bücher verkaufen sich sensationell. Sie geniesst ihren Erfolg, ist sich ihrer Wirkung auch auf der Bühne sicher, geniesst die Zuwendungen ihrer Fans. Aber bei der Präsentation ihres neusten Romans meldet sich während der Lesung ein Mann in der ersten Reihe und behauptet, sie habe die Geschichte im Buch gestohlen, das sei seine Geschichte und er sei nie gefragt worden, ob sie so einfach Gegenstand eines Buches werden dürfe; die Geschichte einer zerrütteten Familie, eines Verbrechens. Und als er ihr beim Signieren mit einem Prozess droht und sie auch auf den darauf folgenden Lesungen in den Metropolen Europas verfolgt, wird aus dem Vorwurf, den Drohungen ein Alp, der Fabiana Bianchi bis ins Mark erschüttert. Fabiana weiss nicht, wie ihr geschieht.
Evelina Jecker Lambreva «Mein Name ist Marcello», Braumüller, 2024, 240 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99200-362-4
Eine sehr plausible Situation, gibt es doch im Literaturbetrieb immer wieder solch wirre und unkontrollierbare Situationen, die nicht nur ein Buch verhindern, sondern Schreibenden ihre Existenz rauben können. Aber während der Lektüre wird sehr schnell klar, dass es Evelina Jecker Lambreva nicht in erster Linie darum geht, wie Literatur mit Realem umzugehen hat. Sie erzählt auch die Geschichte von Paolo Privoli, eines erfolgreichen Kunsthändlers, der es mit Geschick und Glück von ganz unten bis nach ganz oben geschafft hatte. Er, der sich auch für Literatur interessiert, ein leidenschaftlicher Leser der Kriminalromane von Fabiana Bianchi ist, sitzt in seiner Stadt in der ersten Reihe und muss feststellen, dass die Frau, die er nur aus Büchern kennt, seine Geschichte erzählt. Eine Geschichte, von der niemand, höchstens seine engsten Vertrauten wissen sollten. Die Geschichte eines Mannes, der als Kind seinen kleineren Bruder durch seine unstillbare Lust nach Macht ins Unglück treibt. Von einer Mutter, die nicht zu lieben vermag, einem Vater, der sich in seiner Verzweiflung umbringt und einem Grossvater, der zum Tyrannen wird. Eine Vergangenheit, eine Geschichte, die er nicht nur durch fünf Jahre Gefängnis hinter sich lassen wollte.
Fabiana Bianchi kann sich die Vorwürfe des Mannes nicht erklären und sämtliche Versicherungen, die Geschichte sei ganz und gar ihrer Fantasie entsprungen, perlen an dem aufgeschreckten Mann ab. Im Laufe des Romans entwickelt sich eine Art Duell. Dort die Frau, die sich an den Alp in ihrer Kindheit zurückgedrängt fühlt, dort der Mann, der glaubte, sein Leben in absolute Kontrolle getaucht zu haben und feststellen muss, dass ein Buch sein ganz eigenes Trauma offenbart.
Aber dabei bleibt es nicht. Evelina Jecker Lambrevas Roman zwischen Krimi und Verwirrspiel, zwischen Familiengeschichte und Vergangenheitsbewältigung stellt zwei Menschen einander gegenüber, die sich beide auf ihre Weise mit ihrer Kindheit, den dunklen Flecken in ihrer Vergangenheit konfrontiert sehen. Bin ich der, den ich mit Akribie selbst inszeniere oder doch nicht durch die Poren meiner Fassade das, was ich nie zu verdauen in der Lage war? Evelina Jecker Lambrevas Wissen um die Vielschichtigkeit menschlichen Seins macht das Spiegellabyrinth, durch das ich mich als Leser winde, verständlich. Unser Innenleben ist verschachtelt, voller dunkler Sackgassen und tückischer Geheimnisse.
„Mein Name ist Marcello“ ist voller Überraschungen, liest sich wie ein Thriller, der sich immer und immer wieder meinen Interpretationen verweigert. So wie die menschliche Seele ein Labyrith ist, so gibt sich die Lektüre dieses Romans.
(bis ca. 21 Uhr), Eintritt inkl. Konsumation 35 CHF, zwingend Anmeldungen bis 10. August unter info@literaturblatt.ch oder 076 448 36 69 (Platzzahl beschränkt!)
Interview
„In each of us there is another whom we do not know…“, ein Zitat von C. G. Jung, ist Deinem Roman vorangestellt. Wären wir uns dessen mehr bewusst, wäre das Verständnis für die Schattenseiten anderer wohl viel grösser. Du bist Psychiaterin, Psychotherapeutin und Schriftstellerin und damit prädestiniert, den Spalt hinter Fassaden zu finden. Ist das Schreiben auch ein Ventil? Ein Ventil? Mein Beruf hat mich zwar schon immer zum Schreiben inspiriert, mit den Themen, die sich aus den Gesprächen mit meinen Patientinnen und Patienten ergeben, aber das Schreiben als Ventil habe ich noch nie gebraucht. Ich wüsste auch nicht, wozu ich ein Ventil bräuchte. Viel mehr dient mir das Schreiben für die persönliche Auseinandersetzung mit mir selbst, indem ich versuche, eben diese „andere“, die in mir verborgen ist, kennenzulernen. Für mich habe ich sogar die Worte von C.G. Jung so perephrasiert: „In jedem von uns lebt noch einer/eine, den/die wir nicht sein wollen.“ Genau diese möchte ich durch das Schreiben besser kennenlernen: die ich nicht sein möchte, die aber trotzdem irgendwo (auch) mein Inneres bewohnt.
Fabiana Bianchi ist eine überaus erfolgreiche Krimiautorin. Derer gibt es viele, man denke an Donna Leon oder Charlotte Link. Autorinnen, die Buch an Buch veröffentlichen, Bestseller an Bestseller reihen und mehr als gut von ihrem Schreiben leben können. Doch eigentlich die Ausnahme, denn die meisten AutorInnen leben mehr schlecht als recht von ihrer Schriftstellerei. Aber wie jede Person, die sich im Focus einer breiten Aufmerksamkeit bewegt, hat diese Popularität auch seinen Preis. Verkauft eine erfolgreiche Künstlerin, ein erfolgreicher Künstler mit seinem Ruhm nicht auch ein Stück seines Lebens? Natürlich tut er/sie das. Vermarktung der Intimität ist heutzutage hoch im Trend. Für mich ist es jedoch unklar, wie bewusst ein Künstler/eine Künstlerin so was macht. Ich glaube kaum, dass es viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen gibt, die ganz gezielt ihr Leben für Geld an das Lesepublikum verkaufen. Vielleicht ist es bei einigen eher ein Bedürfnis, das eigene Leben in die Welt hinauszuschreien, hinauszuweinen, auszukotzen, mitzuteilen? Man kann dieses Bedürfnis aber auch diskret verschlüsselt und eingepackt in Figuren, Metaphern oder Allegorien ausleben, derart, dass nur der Künstler/die Künstlerin weiss, dass es sich um sein/ihr Leben handelt. Somit wird auch der finanzielle Profit eines Verkaufs fern vom Bewusstsein gehalten.
Naviglio Grande, Milano @ Evelina Jecker Lambreva
In den unendlichen Möglichkeiten menschlichen Lebens ist die Wahrscheinlichkeit, dass man mit seinem Schreiben die Wirklichkeit eines fremden Menschen trifft, nicht so verschwindend wie man glaubt. Du als Schriftstellerin hoffst doch auch, dass Leserinnen und Leser sich in Deinen Geschichten gespiegelt sehen oder sogar wiedererkennen. Ist das nicht genau die Resonanz, die man als Schreibende erhofft? Schriftsteller/Schriftstellerin sein, ist ein einsames Schicksal, so denke ich. Wenn ich schreibe, denke ich nie an die potentiellen Leserinnen und Leser, nicht an Rezensentinnen und Rezensenten, nicht an die Medien. Ich bin allein in der Auseinandesetzung mit meinen Gedanken, Stimmungen, Atmosphären, Heldinnen und Helden. Die Lesenden müssen sich nicht unbedingt in meinen Geschichten wiedererkennen oder sich darin gespiegelt sehen. Von mir aus können meine Figuren auch befremdend, schrecklich, sogar abstossend auf das Lesepublikum wirken. Das würde mich gar nicht stören, wenn es so wäre. Viel wichtiger ist es mir, dass ich durch meine Figuren die Leserschaft zu neuen Gedankenanstössen anregen kann. So hoffe ich auf eine Resonanz zu den Lebensthemen, die ich in meinen Werken durch meine Heldinnen und Helden behandle. Dies aber erst, wenn das Buch veröffentlicht ist, nicht während des Schreibens.
Beide Protagonisten kommen aus Familien, die ihnen nicht geben konnten, was man jedem Kind wünscht. Beide tragen einen Alp mit sich herum. Ich bin Sohn und Vater und weiss sehr genau, wie tief die Schluchten sein können, an denen man sich als Mutter oder Vater vorbeihangelt. Mittlerweile lebt eine ganze Industrie von den Auswirkungen dieser Untiefen. Und auf der anderen Seite die Literatur; Bücher, die sich in den Untiefen tummeln, Bücher, die bewusst machen. Du schreibst Deine Bücher ja auch nicht zur blossen Unterhaltung und Zerstreuung. Wo liegt das Urmotiv dieses Romans? Wie kamst Du zu dieser Idee? Beziehungen zwischen Eltern und Kinder haben einen zentralen Platz in all meinen Werken. Vielleicht hängt das mit meinem Beruf als psychoanalytisch orientierte Psychotherapeutin zusammen, denn bei mir gehen Medizin und Literatur Hand in Hand. Das Urmotiv meines Romans kam von einem Mord, den ich als Falldarstellung an einem Studentenunterricht präsentiert habe. Während ich den Studentinnen und Studenten den Fall schilderte, lief plötzlich im Hintergrund der ganze Romanplot in meinem Kopf ab, wie in einem Film. Mehr dazu möchte ich nicht sagen, da ich nicht in eine Situation der Arztgeheimnisverletzung geraten möchte.
Das Städtchen mit dem Namen einer Heiligen in Ligurien @ Evelina Jecker Lambreva
In Deinem Roman geht es viel um Macht. Paolo Privoli kompensiert die Machtlosigkeit, die ihn als Kind ins Abseits drängte mit der Sehnsucht, Macht auszuüben. Macht ist ein grosser Antrieb, der in Politik und Wirtschaft aber allzuoft, hauptsächlich von Männern, zu Katastrophen führt. Geniessen die Schriftstellerin die „Macht“ über ihre Leserschaft? Ich habe nicht das Bewusstsein, Macht in irgendeiner Form auf die Leserschaft auszuüben. Wenn ich über Macht schreibe, dann ist das, weil mich Macht interessiert, insofern sie fast immer als unbewusster Kompensationsversuch von in der Kindheit erlebter Ohnmacht auftritt. Die Ohnmacht eines Kindes bewegt mich zutiefst, und was später im Verlauf des Lebens aus dieser Ohnmacht entstehen kann – diese Frage entzündet meine künstlerische Fantasie enorm. Wie sich aus einem ohnmächtigen, systematischer Gewalt ausgelieferten Kind später eine Ärztin, eine Schriftstellerin, eine Mörderin oder eine Rechtsextremistin entwickelt, das ist die Frage, die mich in meinen Texten beschäftigt. Denn das ist und bleibt für mich eines der grossen Geheimnisse des Lebens: Wieso machen psychische Traumata von in der Kindheit erlebter physischer und/oder psychischer Gewalt manche Menschen krank und (selbst)zerstörerisch, andere zu autoritären Herrschern oder gar zu monströsen Diktatoren, und andere wiederum zu hochbegabten Künstlerinnen und Künstlern, sowie zu hervorragenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Dieses Geheimnis, so denke ich, wird wohl nie von der Wissenschaft gelüftet werden.
Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. Ihr literarisches Schaffen in deutscher Sprache begründete sie mit dem Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie den Erzählbänden «Unerwartet» und «Bulgarischer Reigen». Bei Braumüller erschienen: «Vaters Land» (2014) «Nicht mehr» (2016) «Entscheidung» (2019) und «Im Namen des Kindes» (2022)
Anna Weidenholzer repräsentiert genau das, was an der österreichischen Literaturszene bestechend ist; Vielfalt, Experimentierfreude und sprachliches Feingefühl. So poetisch die Titel ihrer Bücher sind, so tiefsinnig und tiefgründig sind ihre Geschichten in ihrem neuen Erzählband „Hier treibt mein Kartoffelherz“. Ein literarischer Leckerbissen.
2010 debütierte Anna Weidenholzer mit ihrem Erzählband „Der Platz des Hundes“, der von der Kritik einhellig gelobt wurde. Damals ein Versprechen für die Zukunft. Heute ist Anna Weidenholzer ein Eckpfeiler der deutschsprachigen Literatur. Nach ihrem Erzählband erschienen drei Romane: „Der Winter tut den Fischen gut“, „Weshalb die Herren Seesterne trugen“ und „Finde einem Schwan ein Boot“. Schon allein die Titel ihrer Bücher öffnen Türen, beschreiben programmatisch, was der Autorin wichtig ist. Anna Weidenholzer erzählt nicht einfach ein Stück Erlebtes, keine blossen Anektoten, schon gar nicht plottorientiert. Alles, was Anna Weidenholzer schreibt, sind menschliche Verschiebungen, Verwerfungen, die sich im Unscheinbaren manifestieren. Menschliche Verunsicherungen, die sich während des Lesens unweigerlich auf mich als Leser übertragen, eine Verunsicherung, die die Autorin mit ihrem sprachlichen Feingefühl auslöst, eine Mischung aus Verwunderung und Heiterkeit. Genau das, was literarische Feinkost bewirken soll.
25 Erzählungen, die einen eine halbe Seite lang, die anderen seitenlang, verteilt über die vier Jahreszeiten. Erzählungen, die alle für sich selbst stehen und doch miteinander verbunden sind, seien es Motive, Orte, aber auch in den letzten und jeweils ersten Sätzen, bei denen Anna Weidenholzer erzählerisch den Stab von einem Text zum andern weitergibt.
Anna Weidenholzer «Hier treibt mein Kartoffelherz», Matthes & Seitz, 2025, 155 Seiten, CHF ca. 25.90, ISBN 978-3-7518-1023-4
Anna Weidenholzers Erzählen ist unspektakulär. Aber es scheint, als hätte die Autorin ein Sensorium mehr als die meisten Menschen, als würde sie in Bereichen sehen, hören und fühlen, die den meisten anderen Menschen verschlossen bleiben. Wie eine Fledermaus, die in Frenquenzen hört, die uns verborgen bleiben. Anna Weidenholzer verrät, sie habe sich gar einen eigenen „Fledermausdetektor“ zuglegt, um in der Dämmerung den uns verborgenen Stimmen zu lauschen. Genau so schreibt die Autorin. Sie schreibt von dem, was knapp unter der offensichtlichen Wahrnehmung geschieht.
Zweimal habe ich der Autorin am Internationalen Literaturfestival zugehört, zweimal mit gebannter Verzückung, grossartig unterhalten und bas erstaunt über den feinen Witz und hintergründigen Humor, mit dem die Autorin nicht in erster Linie bestechen will, sondern meine für fest und stabil gehaltenen Untergründe in sanfte Schieflage bringt. Ein Blick auf Menschen und Dinge, der weit über Oberflächlichkeiten hinausgeht. Als ich mit einem Freund am Festival in einem Gasthaus zu Abend ass und auf die Perlen der Literatur anstiess, sass da Anna Weidenholzer nicht weit von uns an einem grossen Tisch, umgeben von anderen Akteur*innen des Festivals. Da ist nichts Divenhaftes, nichts Überzogenes. Es ist, als wäre Anna Weidenholzer genau das, was sie schreibt. Da schaut und hört jemand, der in Sphären wahrnimmt, die den meisten anderen verschlossen bleiben.
Und die Sprache. Das scheinbar Banale offenbart unsägliche Tiefe. Das spiegelt sich auch in der Sprache, in der Intensität ihres Erzählens, in dem, was die Texte bei sorgfältigem Lesen auslösen. Zugegeben, „Hier treibt mein Kartoffelherz“ist weder Schnellfutter noch leicht verdaulich. Aber wer sich einlässt, wird mitten ins Herz getroffen.
Anna Weidenholzer, 1984 in Linz geboren, lebt in Wien. Mit ihrem ersten Buch, «Der Platz des Hundes» (2010), war sie 2011 für das Europäische Festival des Debütromans in Kiel nominiert. Ihr zweiter Roman «Der Winter tut den Fischen gut» war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2013 wurde sie mit dem Reinhard-Priessnitz-Preis ausgezeichnet. Ihr Roman «Weshalb die Herren Seesterne tragen wurde» 2016 für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2017 erhielt sie den Outstanding Artist Award für Literatur der Republik Österreich.
Eine junge Frau springt von einer Brücke. Aber nicht, weil sie Schluss machen will, sondern weil es ein Neubeginn sein soll. Von der „Alten Brücke“ in Mostar, jener steinernen Bogenbrücke über die Neretva, über eine Brücke, die mit ihrer Zerstörung 1993 zum Symbol des Bosnienkrieges wurde. Ein Sprung, der ein Versprechen einlösen sollte.
Gianna Lange schrieb mit ihrem feinmaschigen Debüt ein Stück Literatur, dass es in sich hat. Eine vielschichtige Geschichte über eine junge Frau und ihre Familie. Eine Familie, die zerrissen ist. Über die Gewissheit, dass man sich seiner Herkunft nicht verschliessen kann, dass die Frage nach dem Woher wenigstens jenes Mass an Antworten braucht, um sich von der Enge unbeantworteter Fragen befreien zu können. „Und dann springen wir“ ist ein Roman über eine junge Frau, die sich vom Schweigen, der Verdrängung in ihrer Familie befreien muss.
Elise stirbt, die Mutter von Rosa. Es war ein Leben, dass immer wieder tauchte. Elise sprang immer wieder, ohne je unten anzukommen. Auch wenn es Phasen des Glücks gab, war das Leben mit der Mutter und die Abwesenheit des Vaters für die junge Rosa ein permanentes Minenfeld, bescherte ihr ein Leben in Ungewissheit, übertrug ihr Verantwortung, die die Kraft eines Kindes, einer Jugendlichen übersteigt. Irgendwann entfloh Rosa ihrer Mutter, zog aus, in ein Wohnheim auf der anderen Seite der Stadt. Einen Abstand, den es brauchte, um vor den Katastrophen der Mutter zu entfliehen.
Gianna Lange «Und dann springen wir», Frankfurter Verlagsanstalt, 2025, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-627-02337-9
Man teilt ihr mit, dass die Mutter gestorben ist, nachdem sie an Tuberkulose erkrankte und ins Spital eingeliefert wurde. Obwohl man ihr versicherte, an Tuberkulose würde heute niemand mehr sterben, kam der Anruf dann doch. Mit einem Mal war ihre Mutter weg, unwiederbringlich. Und weil Rosa für die Bestattung ihrer Mutter Geld brauchte, war sie gezwungen, mit ihrem Vater Kontakt aufzunehmen. Einem Vater, der schon lange das Weite gesucht hatte, der wieder heiratete und einen neue Familie gründete, mit dem sie eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte.
Mutter und Vater. So sehr sie sich aber von ihrem „Vater“ distanzierte, so sehr wurde Elise in guten Phasen zu einer Freundin. Immer so lange, bis ein neuer Absturz in den Suff oder sonstige Rauschmittel wieder kappte, was Liebe hätte sein können. Wie damals, als Rosa mit ihrer Mutter nach Mostar reiste, an jenen Ort, an dem schon für die Mutter vor Jahrzehnten etwas zurückgeblieben war, einen Ort, der viel mehr war als das Ziel einer Urlaubsreise. Damals standen Elise und Rosa auf der steinernen Brücke in Mostar und wussten nicht, ob sie gemeinsam springen sollten. Irgendwann sprang die Mutter aber dann doch, wenn auch nicht von der Brücke, sondern in Prag auf einer gemeinsamen Reise, einmal mehr in ihren Suff. Sie verschwand mitten in der Nacht aus dem grossen Bett, um im Bad des Hotelzimmers in ihrem Erbrochenen zu liegen, um Rosa einmal mehr in Todesangst zu versetzen. Damals half man ihr. Damals wurde auch mehr als deutlich, dass Rosa, so sehr sie sich nach Familie sehnte, diese verlassen musste, um wieder atmen zu können.
Aber weder der plötzliche Tod ihrer Mutter noch das eigentlich so freundliche Bemühen ihres Vaters genügen für einen Neuanfang. Rosa spürt, dass sie Spuren aufnehmen muss, von denen sie nicht weiss, wohin sie sie führen werden. Unterstützt von ihrer Freundin Emma unternimmt Rosa Reisen dorthin, wo sie ahnt, dass mehr ist. Zurück nach Mostar, zurück zur Brücke, weil da ein Versprechen war – „und dann springen wir“.
Gianna Langes Roman ist ein Familienroman. Ein Wurzelbuch. In ineinnader verschränkten Zeitebenen erzählt die Autorin routiniert und gekonnt aus einem Leben, das seine Spur sucht. Ohne jede Zuordnung von Gut und Schlecht. So ruhelos das Leben von Elise war, so getrieben und anfällig auf Erschütterungen und Verunsicherungen, so gross ist Roses Sehnsucht nach einem festen Anker. Ein zarter Roman voller Wärme!
Interview
Momentan sind autobiographische oder autofiktionale Bücher angesagt. Ich kenne Leute, die die Qualität ihrer Lektüre nach der „Glaubwürdigkeit“, der „Echtheit“, nach dem „Selbst Erlebten“ messen. Gute Bücher sind jene, die davon triefen. Als ich „Und dann springen wir“ las, war es durchaus die Geschichte, die mich fesseln sollte. Aber wenn eine gute Geschichte gut erzählt ist, wenn die Sprache passt, dann relativiert sich „Echtheit“. Ist es nicht die Fähigkeit zur Empathie, die gutes Erzählen ausmacht? Dem würde ich auf jeden Fall zustimmen. Ich bezweifle, dass sich gute Geschichten ohne eine ausreichende Portion Empathie erzählen lassen. Daher freue ich mich auch, wenn Lesende meinem Roman immer wieder unterstellen, autofiktional zu sein. Das ist er nicht, aber ich fasse es als Kompliment auf, denn die Geschichte wurde in diesen Fällen offensichtlich als authentisch empfunden. Und dafür muss man sich, meiner Meinung nach, in seine Figuren hineinversetzen können, verstehen, was sie empfinden und warum. Ich finde auch nicht, dass es unbedingt „leichter“ ist, selbst Erlebtes authentisch zu erzählen. Oft gelingt es mir ganz gut, ich habe mich aber auch bei der einen oder anderen Geschichte zu nah dran gefühlt, um sie zu entwirren. Oder ich stand mir selbst dabei im Weg, mich zurückzuversetzen. Ich denke, das kennen die meisten Menschen, man möchte nicht alles Erlebte ungefiltert noch einmal erleben.
Rosa macht sich auf eine Reise, auf eine innere und eine äussere. Einer der Anlässe, dass sich Rosa aufmacht, ist der Tod ihrer Mutter. Eine Mutter, die für sie fast immer Elise hiess, in guten Phasen mehr Freundin war und in schwierigen ein Alp. Viele Familiengeschichten sind Emanzipationsgeschichten. Und dabei ist Emanzipation viel mehr als Selbst- und Eigenständigkeit. Ist Emanzipation in Ihrem Roman nicht vielmehr das ganz umfassende Bewusstsein, woher man kommt? Das fasst es sehr schön zusammen! Emanzipation hat ja immer auch damit zu tun, woher man kommt. Was ist das grosse Ganze eigentlich, von dem ich mich da löse? Und wo möchte ich hin? Es ist für mich das Verstehen, quasi das Aufdecken der Richtung, aus der man kommt, um so die Richtung zu bestimmen, in die man möchte. Und nicht womöglich versehentlich genau dort zu landen, wo man eigentlich gar nicht hin wollte. Vielleicht ist später das, wovon man sich unter Anstrengung gelöst hat, dann doch das, was man für sich selbst wählt. Doch ich glaube, die Wahl lässt sich befreiter und selbstbestimmter treffen, wenn ihr eine Emanzipation vorausgegangen ist.
Vieles in Ihrem Roman kann man metaphorisch verstehen. Rosa ist in Bosnien unterwegs; Abseits der Wege herrschte Minengefahr heisst es, als Rosa auf einer ihrer Reise in einem Bus gewarnt wird. Dieser Satz gilt doch auch für ihr eigenes Leben, das sie doch einfach weiterleben könnte, ohne all die Fragen, Konfrontationen, das Suchen. Waren sie sich dieser Metaphern bewusst oder geschehen sie unbewusst? Das ist bei mir ein Mischverhältnis. Manche Metaphern habe ich beim ersten Tippen der Worte bewusst eingesetzt. Die Teflonpfanne am Anfang des Romans ist so eine, zerkratzte Teflonschichten sind giftig. Das ist die grosse Sorge einer Frau, die aber freiwillig lauter anderes Gift zu sich nimmt. Es gibt aber durchaus auch Metaphern, die mir erst später aufgefallen sind, die dann entweder noch einen Feinschliff verpasst bekommen haben oder rausgeflogen sind, weil sie doch nicht so gut funktioniert haben. Das ist sowohl in der eigenen Überarbeitung als auch später im Lektorat noch vorgekommen. Ich würde behaupten, mehr Metaphern bewusst als unbewusst ins Buch geschrieben zu haben. Ich werde aber auch immer mal wieder von Interpretationen und Eindrücken Lesender überrascht, da offenbaren sich mitunter ganz neue Deutungen. Das finde ich total spannend.
Ein Familienroman darum, weil sich Rosa aus einer schwierigen Familienkonstellation „distanzieren“ will, nicht weil sie das alles nicht mehr will, sondern weil sie einzuordnen versucht, nicht zuletzt die Gründe dafür, dass sich Elise, ihre Mutter, immer wieder in ihren Abstürzen verliert. Auf der einen Seite das hochstilisierte Idyll der Familie, auf der anderen Seite die Realität vieler Abgründe, Zerrüttungen. Warum werden wir derart beherrscht von der Sehnsucht nach Familie und Zugehörigkeit? Eine Freundin von mir hat mal einen Satz zu mir gesagt, der hängengeblieben ist. Ich sass auf ihrem Sofa, vollkommen überfordert von einem sich anbahnenden Todesfall innerhalb der Familie, und geisselte mich dafür, mit der Situation nicht besser klarzukommen. Für mich hiess „besser“ damals, dass ich es allein verkraften können muss, weil ich ja nun mal erwachsen war. Und meine Freundin sagte: «Also Gianna, der Mensch ist ja nun mal ein soziales Wesen.“ Sie hat danach noch viel mehr kluge Worte gesagt, aber dieser Einstieg bringt es schon so gut auf den Punkt. Das sage ich mir auch heute noch, wenn ich mal wieder meine, ich müsste ganz allein mit allem zurechtkommen. Wir Menschen sind nicht dafür gemacht, vollkommen und immer allein zu sein. Ich bin eher introvertiert und wirklich gern allein, ich brauche das auch, aber genau so brauche ich meine Herzensmenschen, meine Familie, meine Freund*innen, meinen Partner. Und das ist etwas Universelles, wir alle brauchen unsere Netzwerke, in denen wir sicher sind, in denen wir Unterstützung erfahren, wenn wir darum bitten. Ich weiche den Begriff Familie im Buch bewusst etwas auf, weil ich weiss, dass Familie nicht immer die Blutsverwandtschaft ist. Familie ist für mich ein dehnbarer Begriff mit so vielen Facetten, die man zum Glück auch selbst gestalten kann.
Im Titel des Buches steckt ein Versprechen. Die „Alte Brücke“ in Mostar ist nicht nur für Rosa ein Symbol für ein Davor und Danach. In Ihrem Buch erzählen Sie unterschwellig auch vom Bosnienkrieg und seinen Auswirkungen bis in die Gegenwart. Sie schieben Schicht um Schicht unter die Geschichte, die Sie an der „Oberfläche“ erzählen, tun das sehr gekonnt. Ist da nie die Gefahr, dass man den Bogen überspannt? Ich würde sagen, die Gefahr ist immer da. Gerade in Bezug auf die noch immer recht junge Vergangenheit der ex-jugoslawischen Länder habe ich den Text wieder und wieder unter die Lupe genommen. Ich selbst habe die Region durch eine ähnliche Brille betrachtet wie Rosa und Elise, nämlich durch eine westeuropäische. Da waren die Schönheit der Orte und der Landschaft, die gastfreundlichen Menschen, aber auch die unübersehbaren Spuren des Krieges. All das sollte mit ins Buch, all dem wollte ich gerecht werden, ohne dabei ein weiteres, west-eurozentrisches Buch über den Osten zu schreiben. Ich bin dafür im Schreibprozess sehr nah an eigens Erlebtem und Beobachtetem geblieben, um im Text dann nah an den Figuren und ihren Erlebnissen und Beobachtungen zu bleiben. Dabei habe ich unweigerlich hier und da den Bogen auch mal überspannt, aber zum Glück wird ein Text ja noch einige Male und von mehreren Augenpaaren genauestens geprüft, bevor er gedruckt wird. So ist mir am Ende hoffentlich gelungen, was ich mir vorgenommen hatte.
Rosas „Vater“ ist nicht zuletzt eine tragische Figur. Mir hat er bei der Lektüre fast Leid getan, tut er doch viel, um Rosa eine Versöhnung anzubieten, nicht nur er, seine ganze Familie. Eines dieser unterschwelligen Themen in ihrem Roman ist die Adoption, ohne dass Sie daraus ein „Thema machen“. Beziehungen zwischen leiblichen Eltern und ihren Kindern bieten viel Angriffsfläche. Allein aus der Beziehung zwischen Rosa und ihm hätte man einen Roman schreiben können. Nähe und Distanz ist nicht nur in der Familie heikel. Gilt das nicht auch fürs Schreiben? Auch dem würde ich zustimmen und es lässt sich auf so vieles anwenden. Die Nähe und Distanz zu sich selbst beim Schreiben, zum Text, zu den Figuren, zwischen den Figuren. In meinem Fall gehören Schreibblockaden zum Schreiballtag und die haben oft damit zu tun, dass mir die eigene Geschichte an dieser und jener Stelle nicht vertraut genug ist. Ich muss dann meistens erstmal herausfinden, woran es liegt, und dann eintauchen. Das kann eine einzelne Figur sein, dann muss ich die sozusagen besser kennenlernen, oder das Verhältnis zwischen Figuren. Meistens hilft es, in die Tiefe zu gehen und diese Feinheiten aufzuspüren, um die Blockade zu lösen und zu wissen, wohin die Geschichte als nächstes führt. Bei vollkommen fiktionalen Elementen ist es für mich oft die zu grosse Distanz, je mehr selbst Erlebtes mit einfliesst, desto eher erlebe ich wiederum den Effekt, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Den kenne ich aber auch im späteren Verlauf, wenn der Text fertig, mehrfach überarbeitet und schon zigmal gelesen ist. Dann stehe ich auch hin und wieder mal mitten im Wald und sehe ihn nicht. Und dann sind wir wieder beim Fazit der vorigen Antwort, es lesen ja zum Glück noch Andere mit, die das grosse Ganze im Blick haben.
Gianna Lange, geboren 1988 in Bremen, studierte Journalistik und Transnationale Literaturwissenschaft in Bremen und London. Sie ist Gründungsmitglied des ‹Lyrikkollektivs gabrieleschreibtgedichte› sowie des Kollektivs für junge Literatur ‹Kollit‹ und Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift ‹Koller‹. Für die ersten Seiten ihres Manuskripts »Und dann springen wir« erhielt sie das Bremer Autor:innenstipendium vom Bremer Literaturkontor. Die Autorin lebt in Bremen und arbeitet im Konzerthaus ‹Die Glocke› sowie beim ‹Musikfest Bremen›.
Zurück im Alltag, in der Erinnerung mehr als zwei Dutzend besuchte Lesungen, sind es Glücksmomente, wunderbare Begegnungen, Verzückungen – mit einem schalen, leicht morbiden Nachgeschmack, die mich auf die 29. Ausgabe des Festivals zurückblicken lassen.
An den eingeladenen Autorinnen und Autoren kann es nicht liegen. Auch nicht am Wetter oder fehlender Kulisse, schon gar nicht am Interesse derer, die sich für die Literatur auf nach Leukerbad machen. Vielleicht ist es der Ort. Vielleicht die örtlichen Offiziellen, vielleicht der sterbende Sommertourismus. Da täuscht auch der eine oder andere neue Strassenbelag oder der neu eröffnete Supermarkt im Busbahnhof nicht darüber hinaus. Während man in den einen Hotels ohne grossen Aufwand einen Film drehen könnte, der in den Siebzigerjahren spielt, spricht man an der Rezeption anderer nur noch Englisch oder Russisch. In der Mittagspause wird auf dem Dorfplatz nirgendwo im Schatten etwas Kühles serviert und das Festivalcafé (wenn es denn eines ist) bei der Festivalbuchhandlung im Alten Bahnhof muss mit einer Plastikplane gegen den trüben Blick in eine ewige Baugrube geschützt werden. Ich sitze an einer Mauer mit zwei Schriftstellerinnen, die wie ich nicht so genau wissen, wohin mit sich selbst, wenn der Festivalbetrieb mal eben Pause macht.
Mariann Bühler
Warum dann jedes Jahr doch? Selbst wenn ich die lang ersehnte Literarische Wanderung am Donnerstag wegen eines „Personenunfalls“ versäumte, der Spannteppich in meinem Hotelzimmer Generationen von Gästen zwischen Bett und Badezimmer trug und mir einmal mehr der Mut fehlte, die Flasche Wein zum Abendessen mit einem Freund nicht leerzutrinken, weil die Aussicht auf nächtliches Schädelbrummen ziemlich gross war? Wegen der Literatur! Wegen jener AutorInnen, die man nur in Leukerbad trifft, die einem immer wieder über den Weg laufen und sich in Gespräche verwickeln lassen. Weil der Zustand des Dorfes ziemlich genau den Zustand der Welt, der Gesellschaft repräsentiert: bröckelnde Fassade, hier und dort Zeugnisse grosser Geschichten. Wegen der Geschichten in Büchern, jener gebannten Musik, den Partituren des Lebens. Wegen der Poesie, den letzten offenen Türen zum Paradies. Wegen der Menschen, die beim Zuhören den Atem anhalten, wegen den Tränen in den Augen, weil mich Texte aus den Socken hauen.
Birgitt Birnbacher
Wegen Birgitt Birnbacher, die mich mit ihrer Freundlichkeit, ihrer Menschenliebe überwältigt. Wegen Anna Weidenholzer, die mit ihrer feinsinnigen Beobachtungsgabe Grund zur Hoffnung gibt. Wegen Rolf Hermann, der mit seinem Witz die Bauchmuskeln strapaziert. Wegen Christian Kracht, der mit weicher, klarer Sprache überrascht, Jürg Halter, der mit Lyrik rockt, Patrick Holzapfel mit Poesie wie Meditationen zum Müssigsitzen, Victoria Kielland mit einem Seelenbrand, Katja Lange-Müller mit geschriebener Berliner Schnauze… Die Liste liesse sich noch lange weiterführen.
Rolf Hermann mit Moderatorin Monika Schärer
Wie jedes Jahr waren die Gesprächsreihen «Perspektiven» äusserst spannend und aufschlussreich; «Verständigt und verstanden», ein Gespräch mit den Schriftstellern Volker Braun und Christoph Geiser und dem Verleger Christian Ruzicska, «Gegenwartsliteratur: Kitsch mit Kulturanstrich?» mit Literaturwissenschaftler Moritz Baßler im Gespräch mit Lukas Bärfuss und Stefan Zweifel oder «Auf der Suche nach einem besseren «Woke»» mit Kulturjournalist Jens Balzer und dem neuen Co-Leiter des Festivals Stephan Bader. Wünschenswert wäre es, wenn man in der Auseinandersetzung mit solchen Themen auch die Besucher*innen mit einbeziehen würde, wenn man nicht zum stummen Zuhören verdammt wäre. Durchaus ein Feld mit Entwicklungspotenzial!
Tanja Maljartschuk, 1983 in Iwano-Frankiwsk, Ukraine geboren, seit dem russischen Angriffskrieg lebt in Wien. Sie war Überraschungsgast am Samstag Abend.
Es sind die Schreibenden, die locken. Ganz sicher nicht die Gastfreundschaft einer Tourismusdestination, die den Zenit vor Jahrzehnten überschritten hat. Da ist auch die Verleihung des Kultur- und Wirtschaftspreises des Kantons Wallis durch Staatsrat Christophe Darbellay wohl erfreulich und für das Festival mehr als verdient, aber trotzdem eher Versöhnungsversuch, weil die Absicht, der grossen Literatur ebenso grosse Bühne bieten zu können, etwas fadenscheinig wirkt.
Ab 2026 wird sich Hans Ruprecht, der das Festival fast zwei Jahrzehnte prägend gestaltete, aus der Leitung zurückziehen und der langjährigen Co-Leiterin Anna Kulp, verstärkt durch Stephan Bader, ehemaliger Redaktionsleiter beim «Literarischen Monat», das Szepter übergeben. Möge es der neu formierten Leitung gelingen, dem Festival ein neues Herz, ein echtes Festivalzentrum, einen Ort der Begegnung zu schenken, bevor sich der gute Geist des Festivals verabschiedet.
Ich reiste erfüllt und beseelt zurück, dankbar und reich beschenkt von einem Felsenkessel, in dem es brodelte.
Ich freue mich auf das 30. Internationale Literaturfestival Leukerbad 2026!
Wie weit das Nächste vom Jetzt entfernt sein kann und wie tief diese Entfernung bis in die Familie wirken kann, davon erzählt Didi Drobna in einem Roman, der sehr biographisch wirkt und die Geschichte vieler Familien erzählt, die ihren Kern, ihr Herz in einem anderen Land, in der Vergangenheit zurücklassen mussten.
Als erstes war es die Mutter, die eine Stelle hinter der Grenze in Wien fand, besser bezahlt als alles, was sie, selbst mit akademischer Ausbildung, in der Slowakei verdient hätte. Nach dem Zusammenbruch der DDR, der Sowjetunion, öffneten sich mit einem Mal Grenzen, die über Jahrzehnte Gegenden und Menschen hermetisch voneinander trennten. Mit einem Mal rückte der Westen in erreichbare Nähe und mit ihm der Traum, auch etwas vom grossen kapitalistischen Kuchen abschneiden zu können. Nachdem die Mutter Fuss gefasst, eine feste Stelle gefunden hatte, zogen Vater und Tochter nach. Und nachdem auch noch ein kleiner Bruder die Familie vergrössert hatte, wenn auch mit einem Jahrzehnt Abstand zur Erzählerin, wären alle Voraussetzungen da gewesen, um ein kleines Stück Glück zu finden.
Didi Drobna «Ostblockherz», Piper, 2025, 176 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-492-07280-9
Wenn das Wörtchen „wenn“ nicht wäre. Wenn der Vater in Österreich eine Stelle gefunden hätte, die seinen Fähigkeiten, seiner Ausbildung entsprochen hätte. Wenn der Vater den Zugang zur deutschen Sprache gefunden hätte. Wenn er seine Ostblock-Unterwürfigkeit, seine Ergebenheit nicht beibehalten hätte und seine Familie zum „Schlachtfeld“ seiner Kompensierungen geworden wäre. Wenn ein tief verankertes Patriarchat, ein versteinertes Familienverständnis nicht alles blockiert hätte, die an den Grenzen gefallenen Mauern unzerstörbar weiterwirkten an den Grenzen zum scheinbar Unmöglichen.
Didi Drobna erzählt in „Ostblockherz“ ihre ganz persönliche Geschichte. Ein literarischer Versuch, das zu verstehen, was sich über Jahrzehnte in ihre Seele brannte und erst viel zu spät zu einer Versöhnung wurde. Erst als ihr Vater schwer krank wird, bittet er seine Tochter, ihm zu helfen, ihm zur Seite zu stehen. Sie weiss, dass sie sich nicht um die Verpflichtungen einer Tochter drücken kann, obwohl ein Jahrzehnt vergangen war, währenddem sie sich mit gegenseitigem Schweigen straften, jeder verschanzt in seinem Schützengraben, auch wenn man sich zu Feierlichkeiten in der Wohnung der Eltern traf. Dazwischen die Mutter und der kleine Bruder.
Die Wut lebte in unserer Familie, sie war das fünfte Familienmitglied.
Der Vater gehört zu einer Sorte Mensch, die es nie gelernt hat, zu eigenen Gefühlen, eigenen Wünschen, eigenen Bedürfnissen zu stehen. Man spricht nicht, findet keine Worte. Familie hat nach einem vorgegebenen Muster zu funktionieren. Und in diesem Muster ist der Vater das Oberhaupt und alle weiblichen Mitglieder dienend, folgsam und untertänig. Und wenn die Situation unerträglich wird, dann ergreift man die Flucht, weg zur Sippe auf der anderen Seite der Grenze, weg in die innere Emigration, unerreichbar verbarrikadiert. Um dann irgendwann wieder aufzutauchen und Familie zu spielen.
Didi Drobna schildert behutsam einen schmerzlichen Kampf um Eigenständigkeit, Anerkennung und Verständnis – um nichts anderes als um Liebe und Respekt. Warum ist es so schwer, Schwäche zu zeigen? Einen Fehler zuzugeben? Den ersten Schritt zu tun. „Ostblockherz“ ist mit Nichten eine Abrechnung, sondern ein inniger Versuch zu verstehen. Als der Vater krank wird, seine Schwäche und Hilflosigkeit unübersehbar ist, wird er, der ein Leben lang den Starken zu repräsentieren hatte, der Hilfsbedürftige. „Ostblockherz“ erzählt von all den Zwängen, den Rollen, in die man eingeschlossen ist, von den stillen Kräften, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart wirken und eine Zukunft in Freiheit zu blockieren drohen.
Mir grossem Feingefühl und viel Liebe geschrieben!
Didi Drobna wurde 1988 in Bratislava (ehem. Tschechoslowakei) geboren und lebt seit 1991 in Wien. Sie studierte Germanistik und Kommunikationswissenschaft an der Universität Wien. Für ihre literarische Arbeit wurde sie mit mehreren Stipendien und Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Förderpreis Literatur der Stadt Wien 2023. Didi Drobna arbeitet auch als Jurorin für Literaturwettbewerbe (Literaturbiennale Floriana, Literatur-Stipendium Stadt Linz, FM4 Wortlaut, Literaturwettbewerb Wartholz) und lehrt 2024/25 erneut am Institut für Sprachkunst der Universität für angewandte Kunst in Wien. Parallel zu ihrem Schreiben arbeitet Didi Drobna an einem Informatik-Forschungszentrum in Wien.