Frédéric Zwicker am 30. März im Kulturforum Amriswil, Prolog Wortlaut 2017

Das 9. St. Galler Literaturfestival Wortlaut eröffnet seinen Veranstaltungsreigen um 19.30 im Kulturforum Amriswil. «Hier können sie im Kreis gehen» ist der Erstling des jungen Frédéric Zwicker, ein Roman, der mit viel Tiefgang und Witz bestens unterhält. Die Lesung dauert eine Stunde. Anschliessend Barbetrieb und Gelegenheit mit dem Autor in Kontakt zu kommen. Moderation: Gallus Frei-Tomic

Foto: Marlies Scarpino

Johannes Kehr ist 91. Und weil es irgendwann sowieso soweit sein wird, versteckt sich Kehr hinter einer vorgespielten Demenz in einem Pflegeheim der Stadt. „Ich habe das Gericht durch die Hintertür verlassen.“ Nachdem ihm der Tod seinen Sohn, seine Frau und seinen Freund nahm und er dem verbleibenden Rest der Familie nicht zur Last fallen will, verkriecht er sich hinter seinem selbst gewählten Vorhang. Eine letzte Inszenierung, die gar nicht so leicht zu spielen ist, akribische Vorbereitungen verlangte und keinen Fehler erlaubt. Endlich im Einzelzimmer in Ruhe gelassen kommentiert Kehr seine meist unfreiwillig mehr oder weniger anwesenden Mitbewohner und erzählt in kleinen Stücken die Geschichte seines Lebens. Als Waise ungeliebt bei Verwandten aufgewachsen hilft ihm der Zufall, aus den Mühlen von Armut, Stigmatisierung und Einsamkeit zu entfliehen. Er rettet das Leben eines Ertrinkenden, dessen Familie ihn am Ertrinken in seinem Unglück rettet. Er kämpft sich hoch, trotz einer verweigerten und nie überwundenen Liebe, durch ein Leben voller Arbeit und Pflichterfüllung, bis ihm am Ende nur noch Sophie bleibt, seine Enkelin. Aber auch Sophie weiht er nicht ein in seinen letzten Protest, seine Flucht nach innen. Ihr, ihrem Foto im Zimmer auf der Etage, erzählt er, ihr und dem Kater, einem Tier, das sich auch nicht einsperren lässt. „Am Ende bliebst mir nur du, Sophie. Aber ich hätte dir nicht so lange bleiben dürfen. Ich beklage mich nicht, aber das Leben hat mich abgenützt, hat seine Narben hinterlassen. Am Ende war es auch für mich zu viel. Ich habe die Kraft verloren, mich zu wehren. Ich wusste nicht mehr, wozu ich mich noch wehren sollte. Und ich sah keinen Ausweg. Ausser diesem hier.“

Vorverkauf Tickets Bücherladen Brigitta Häderli, Amriswil Webseite

Webseite WORTLAUT

literaturblatt.ch fragt, Teil 8, Joachim B. Schmidt antwortet

Joachim B. Schmidt, 1981 im Bündnerland geboren, lebt seit Jahren zusammen mit seiner Familie auf Island. Ein junger Autor, der sich auf zwei Inseln weiss. Ein Talent, das bereits zwei Romane veröffentlichte; 2013 «Küstennähe» und ein Jahr später «Am Tisch sitzt ein Soldat». Im April erscheint sein 3. Roman «Moosflüstern», dem ich von Herzen viele LeserInnen wünsche. Beste Unterhaltung!

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich! Ich möchte unterhalten. Ich möchte beim Leser Gefühle auslösen. Ich schreibe Bücher, die ich selber gerne lesen möchte. Ich mag es zum Beispiel sehr, wenn mich ein Buch (oder ein Film oder ein Lied) zu Tränen rührt. Beim Schreiben von Moosflüstern habe ich oft geheult. Ich finde das befreiend. Weinen wird leider noch immer mit Schwäche assoziiert. Dabei sind Weinen und Lachen fast dasselbe.

Wo und wann liegen in ihrem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen sie sich fürchten?
Ich fürchte mich vor dem ungeschriebenen Werk. Ich habe ein Buch im Kopf, habe vielleicht ein paar Seiten geschrieben, entschliesse mich dann, das Buch zu schreiben, und das macht Angst. Der schiere Zeitaufwand, die brotlose Arbeit, das ist hart und braucht Überwindung. Obwohl alles dagegenspricht, schreibe ich dann trotzdem, denn die Geschichte muss raus. Die schönsten Momente sind die, wenn sich das Buch plötzlich selber zu schreiben beginnt. Manchmal geraten mir die Zügel aus den Händen, ich schreibe Dialoge, wo ich keine Kontrolle mehr habe, ein Stunde geht vorbei wie zehn Minuten, meine Hand schmerzt beim Schreiben, die Protagonisten erwachen zum Leben, ich halte den Atem an, lache manchmal, oder weine. Das sind die allerschönsten Momente, die aber selten sind. Doch ich jage ihnen nach, so oft ich kann.

Lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Wenn ich nicht mehr weiter weiss, lese ich. Das ist die beste Möglichkeit, einen Schreibstau zu lösen. Wichtig dabei: Das Buch oder den Text, den ich lese, muss gut geschrieben sein. Manchmal genügt eine Seite, dann lege ich das Buch weg und weiss plötzlich genau, wie es in meinem Buch weitergeht. Nicht weil ich abschreibe, sondern weil ein gutes Buch die kreativen Kanäle öffnen kann. Musik hilft auch, um die passende Stimmung im Text zu schaffen. Beim Schreiben höre ich meistens Musik.

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Ich glaube nicht, dass Literatur eine Verantwortung hat, politisch sein oder die Welt verändern soll. Aber sie darf das von mir aus. Wenn sich Schriftsteller in Krisenzeiten äussern, sozusagen das Gewissen der Nation in Worte fassen, finde ich das bewundernd. Ich selber würde mir das nicht zutrauen – zumindest noch nicht, dafür fühle ich mich zu jung und zu unerfahren. Fakt ist, dass ein Buch oder ein Schriftsteller in der heutigen Zeit kaum noch Einfluss nehmen kann. Die Bücher werden von Gleichgesinnten gelesen – wie übrigens die Zeitungsartikel auch: Man liest nur die Kommentare, welche die eigene Meinung bestätigen. Deshalb lesen die Linken die Weltwoche nicht mehr, weil sie ihrem eigenen Meinungsbild nicht entspricht. Deshalb rümpfen Rechte die Nasen über linke Kunst ect. Ein schönes Beispiel ist Trump. Durchs Band haben sich Schauspieler, Schriftsteller ect gegen ihn gewehrt. Eigentlich die ganze intellektuelle Breite Amerikas. Gebracht hats nichts. Die Zeiten haben sich geändert. Dank dem Internet erhält jeder eine Plattform: Der US-Veteran, der die Kriege im Nahen Osten kritisiert, der Parkinson-Kranke, der dank Marihuana ein besseres Leben führt, ect. Ich denke, der Schriftsteller wird nicht mehr gebraucht, um Meinungen zu verbreiten. Die Leute an der Front haben heute eine Stimme.

Inwiefern schärft ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
Durch mein Schreiben spitze ich vermehrt die Ohren. Ich bin ein guter Zuhörer.

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende(r) mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür/dagegen?
Die Einsamkeit des Schreibens stört mich nicht, aber die physische Bewegungslosigkeit ist ein Problem. Ich vernachlässige meinen Körper. Eigentlich habe ich einen Körper zur Verfügung, mit dem ich über alle sieben Berge wandern könnte, Trockenmauern bauen oder Möbel zimmern könnte. Aber ich brauche nur meinen Kopf und mein Herz. Der Rest wird vernachlässigt. Das ist schade. Die Einsamkeit bleibt mir erspart, da ich Kinder habe und gelegentlich als Tourguide arbeite, also viel schwatzen und erklären muss – das pure Gegenteil zum Schreiben. Wenn die Tage 50 Stunden hätten, wäre ich Schriftsteller, Familienvater, Schreiner, Trockenmaurer, Musiker, Denker …

Gibt es für Sie Grenzen des Schreibens? Grenzen in Inhalten, Sprache, Textformen, ohne damit von Selbstzensur sprechen zu wollen?
Momentan lote ich noch immer meine Grenzen aus. Zum Beispiel in Sexszenen. Wie weit kann man gehen, ohne dem Leser den Lesespass zu verderben? Ohne vulgär zu werden? Doch mit dem eigenen Erwachsenwerden weitet sich glücklicherweise mein Horizont.

Zählen Sie 3 Bücher auf, die Sie prägten, die Sie vielleicht mehr als einmal gelesen haben und in Ihren Regalen einen besonderen Platz haben?

«Bis bald», Markus Werner
«Die kalte Schulter», Markus Werner
«Froschnacht», Markus Werner
«Pferde stehlen», Per Pettersen

Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wären Sie nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller, hätten sich die Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben? Gab es diesen Moment, der darüber entschied, ob Sie weiter schreiben wollen?
Ich bin noch immer auf der Kippe. Wenn ich nicht bald mal meinen Lebensunterhalt als Schriftsteller bestreiten kann, muss ich eine andere Tätigkeit suchen. Momentan verdiene ich mein Brot als Reiseleiter und Filmkritiker.

Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen? Es fällt mir schwer, ein Buch fortzuschmeissen, selbst wenn es schlecht ist. Solange der Umschlag schön ist, bleibt es im Regal. In der Regel lese ich ein schlechtes Buch gar nicht zu Ende. Das wäre Zeitverschwendung.

Vielen Dank für das Interview!

Im kleinen Emmentaler Landverlag erscheint im kommenden April «Moosflüstern», ein Roman über einen Mann, der auf Island nach seiner Mutter sucht. Ein Roman, den es unbedingt zu lesen lohnt! Tun Sie es! Ich verspreche Lesevergnügen!

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André David Winter, Gedichte aus der Schublade

Die Farben

Als wären wir Entdecker
Suchen wir die Farben,
Die hier an den Rand
Wichen.
Schwarze Äcker
Liegen wie Narben
In den weissen Land-
Strichen.

Wo ist anderes Wetter?
Wo sind die Blätter,
Die mit ihren Farben
Um uns warben.

Sind sie in uns verschwunden?
In langen Abendstunden
Holen wir sie heraus
In irgendeinem Haus,
Und bringen die feuchten
Abende zum Leuchten.

Ein blauer Tag

Auf den Bergen liegt Schnee,
Kormorane spreizen ihre Flügel.
Licht funkelt auf dem See,
Nebel, noch hinter dem Hügel.

Von irgendwo kommt ein Weg,
Weit weg, ein einsamer Geher,
– Möwen auf dem alten Steg –
Seine Schritte kommen näher.

Dies stille Land
Im Wintergewand.
Wasser legt Wellen
In den hellen
Sand.

Ein blauer Tag!
Auf dem See
Ein Flügelschlag.
Die Kälte tut weh,
Greift jeden Duft
Aus der kalten Luft.

Langsam naht die Nacht,
Das Licht schon blasser,
Ein Schwan landet sacht
Auf dem dunklen Wasser.

Die Nacht wird dichter,
Aus weiter Ferne
Glänzen die Lichter
Unbekannter Sterne.

So viele Hände
Haben nichts mehr zu tun.
Ein Tag geht zu Ende,
Und alles darf ruh’n…

 

Zu «Jasmins Brief», André David Winters letztes Buch: Käthe, alt und müde, weiss, dass ihre Tage gezählt sind. Selbst die paar Scheiter für den Ofen werden zur Strapaze. Und jeder Gang nur erträglich, wenn sie die kleine Flasche mit Morphium in Griffnähe weiss. Käthe ist allein. Ihr Mann, vor Jahren gestorben, verriet ihr auf seinem Sterbebett, dass sie nicht seine Einzige war. Käthe muss feststellen, dass sie bloss Stellvertreterin war. Sie blieb kinderlos in einer Ehe, in der sie schnell spürte, «dass etwas nicht stimmte». Aber sie schickte sich hinein. Käthe räumt auf, liest endlich den Brief, den sie schon lange mit sich herumträgt. Den Brief von Jasmin, auch eine Stellvertreterin, eine für die Enkelin, die sie so gerne gehabt hätte. Und Käthe denkt an Tolstoi, dem es noch kurz vor seinem Tod gelungen war, aus einer Ehe zu entfliehen, in der es nicht stimmte. Aber Käthe blieb. André David Winter schlüpft mitten ins Herz einer Frau, die nichts bereut, auch wenn es in ihrem Leben Gründe genug gegeben hätte, zu hadern und zu brechen. Ein sprachlich feines Buch aus dem ebenso feinen Kleinverlag «edition bücherlese».

André David Winter, geboren 1962 in der Schweiz. Seine Kindheit verbrachte er bis zum achten Lebensjahr in Berlin. Mit vierzehn verlor er seine Mutter. Nach Abbruch einer Lehre arbeitete André David Winter auf Bauernhöfen in der Schweiz und in Italien. Es folgten die Ausbildung in der Psychiatrie sowie die Arbeit in Notschlafstellen und in einem rumänischen Kinderheim. Heute arbeitet Winter als Kursleiter und Erwachsenenbildner im Gesundheitswesen. 2008 erschien sein Roman «Die Hansens», der von den Medien und dem Buchhandel begeistert aufgenommen wurde. 2012 folgte «Bleib wie du wirst. Deine Demenz, unser Leben». Zuletzt erschien bei edition bücherlese «Jasmins Brief».
André David Winter ist verheiratet und lebt mit seiner Familie in Emmen bei Luzern.

Tim Krohn «777 menschliche Regungen», Galiani

Aalglätte, Abartigkeit, Abenteuerlust, Abschiedsschmerz, Ambivalenz, Androgynie, Anmut, Asexualität, Barmherzigkeit, Begeisterung, Beharrlichkeit, Blockade, Charisma, Demut, Desinteresse, Direktheit, Dumpfheit, Durcheinandersein, Durst, Eros, Gerechtigkeitsliebe, ….. , Zauber,  Zynismus. 777 menschliche Regungen (Aktuell sind es bald tausend!) sollen eine Romanserie mit noch offenem Ende mit Blut versorgen.

Via «crowdfunding» sammelte Tim Krohn Wörter, menschliche Regungen und mit jedem Begriff Geld. Geld, mit dem seiner betagten und armengenössigen Mutter ein Bad gebaut werden wird. «crowdfunding» ist eine Finanzierungsart, in der übers Internet Begeisterte gesucht werden, die mit grossen und kleinen Beiträgen «Unternehmen» finanzieren, die auf konventionellen Wegen kaum zu Geld kommen würden. Nicht unumstritten, selbst in der eigenen Schriftstellerkaste. «Spielen» die Leute bis zuletzt mit, sollen es 7500 Seiten werden. Die ersten 470 Seiten unter dem schönen Titel «Herr Brechbühl sucht eine Katze» erscheint anfang März, «Erich Wyss übt den freien Fall» im Herbst und «Julia Sommer sät aus» im kommenden Frühjahr.

Auch ich beteiligte mich mit einer «menschlichen Regung» an diesem ungewöhnlichen Projekt. Eine literarische Serie. Tim Krohns Hoffnung, dass man nach der Lektüre seines ersten Bandes alle weiteren Bücher seiner Reihe kauft und liest, musste ihn mit Sicherheit dazu führen, all sein Können in den ersten Band zu legen, um, wie bei Serien üblich, die Lust auf mehr ordentlich zu schüren.

Meine Regung heisst «Nörgelei» und trägt die Nummer 149. Rein mathematisch sollte «mein Kapitel» also im Band 2 oder 3 erscheinen. Jeder, der ein solches Kapitel «kaufte», ist schon einmal ein sicherer Käufer der Serie. Jeder Besitzer eines Kapitels ist auch ein sicherer Werbeträger dieses Projekts, vor allem dann, wenn der erste Teil im März von all den RezensentInnen, Bloggern, Literaturverständigen in den Medien wohlwollend besprochen wird.

In vielen anderen Kunstformen, Ausdrucksformen der Kunst ist die Frage nach der Strategie, wie man sein «Produkt» an den «Konsumenten» bringt, fixer Bestandteil der Aktion selbst. Kein Filmschaffender macht still und heimlich in seinen vier Wänden einen Film und hofft, dass dieser dann irgendwie und irgendwann vor Publikum zu flimmern beginnt. Bei Aktionskunst stellt sich eine solche Frage gar nie. Aber warum in der Literatur?

Mit seinem Schreibprojekt schafft es Tim Krohn, eine ganze Bücherreihe zu «personifizieren». Er macht Leserinnen und Leser nicht nur mit seiner Story zu seinen Verbündeten, sondern mit den personifizierten Kapiteln, die im Anhang sogar den jeweiligen Spenderinnen und Spendern zugeordnet sind, sichtbar, zeigbar, erinnerbar.

Ich freue mich auf das Leseabenteuer und bin mehr als gespannt auf die Reaktionen und Diskussionen, die kommen werden.

Ganz am Schluss seines ersten Bandes von mindestens 10 schreibt der Verlag unter «Nachbemerkungen»: Die Romanserie «Menschliche Regungen» ist Work in Progress. Tim Krohns Plan ist, im Rahmen des überschaubaren Kosmos einer Genossenschaftssiedlung im Zürcher Kreis 5 jede erdenkliche Gefühlsregung und jeden erdenklichen Charakterzug eines heutigen Menschen zu beschreiben. Das Neueste zu  Stand des Projekts steht jeweils auf www.menschliche-regungen.ch!

Buchtaufe ist am 27. Februar im Kaufleuten in Zürich.

Tim Krohn, Jahrgang 1965, lebt als freier Schriftsteller in Santa Maria Val Müstair. Sein Roman «Vrenelis Gärtli» stand wochenlang auf Platz 1 der Schweizer Bestsellerlisten. Er war Vorsitzender des Schweizer Schriftstellerverbandes und wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien bedacht. Zuletzt veröffentlichte Tim Krohn bei Galiani den hochgelobten Erzählband «Aus dem Leben einer Matratze bester Machart» (2014), der auch ins Italienische übersetzt ist, und «Nachts in Vals» (2015).

Tim Krohn ist auch Gast an den Weinfelder Buchtagen, liest am 12. März um 11 Uhr im Rathaussaal in Weinfelden. Webseite der Buchwoche

Webseite des Autors

Yves Rechsteiner «Und dann fängt die Vergangenheit an», Waldgut

Yves Rechsteiners zwölf Erzählungen sind Geschichten eines Reisenden, eines Rückkehrers und noch nicht wirklich Angekommenen. Sie erzählen von den unstillbaren Sehnsüchten des ewig Reisenden, von Zurückgelassenen und nicht wieder Gefundenen.

Dass sich der Schriftsteller als Liebhaber eines unkonventionellen und bohemianischen Lebens bezeichnet, glaube ich ihm nach der Lektüre seiner gelungenen Geschichten bloss in Anführungs- uns Schlusszeichen. Denn er entlarvt beide Seiten, jene der Angepassten, Daheimgebliebenen genauso wie der Reisenden, Weltenbummler, denen meist schon mit dem Weggehen bewusst wird, dass sie sich in einen Ausnahmezustand begeben, in einen, der nur so lange dauert, wie das Geld reicht.

«Und dann fängt die Vergangenheit an» ist ein Buch über die Sehnsucht, der Sehnsucht, das Glück irgendwo zu finden, unterwegs, ausserhalb. Der Angst, das Glück nicht zu finden, nicht hier, vielleicht dort. Der Angst aus dem Rausch des Suchens aufzuwachen, weil die Sehnsucht die Ernüchterung in die Zukunft schiebt, die Ernüchterung darüber, dass dieses Sehnen ein Suchen nach Bildern war, die so gar nicht existieren.

Yves Rechsteiner, 1974 in Basel geboren ist Musiker, Dichter und nennt sich «Liebhaber des unkonventionellen und bohemianischen Lebens» mit zahlreichen, ausgedehnten Aufenthalten und Reisen rund um den Globus. Yves Rechsteiner schreibt Erzählungen, Hörspiele, Theaterstücke, Lyrik und längere Prosa. Sein Debütroman «Als läge dort tot der Vater» ist 2015 bei Marta Press erschienen.

Beat Gloor «Wir sitzen alle im gleichen Boot. Aber nicht alle rudern.», Salis Verlag

«Eine leise, zärtliche Gleichgültigkeit ist die Haltung, die dem Leben gegenüber wohl angebracht ist.»

Beat Gloor, Wortakrobat und Silbentrenner, veröffentlicht nicht zum ersten Mal im Salis Verlag den Bodensatz seiner Spitzfindigkeiten. Nach den Sprachbeobachtungen «staat sex amen», den Worttrennungen «uns ich er» und den literarischen Miniaturen «Wir verlieren hoch» ist der neue Band eine erfrischende und zum Nach-Denken animierende Sammlung gloorreicher Weisheiten.

Ein Buch ohne Seitenzahlen. Ein Buch ohne Beschriftung auf Buchrücken und Buchrückseite. Ein Brauch-Buch. Ein Buch mit genug Platz zwischen den Gedankenblitzen des Wortkünstlers. Luft und Platz für eigene Gedanken.

«Als ich glücklich war, wusste ich es nicht. Als ich es wusste, war ich nicht mehr glücklich.»

Ein Buch zum Mitnehmen. Ein Buch, das zerfleddern soll. Ein Buch in Taschengrösse. Für die Hosentasche, die Westen- oder Jackentasche. Fürs kleine Fach in der Mappe, im Aktenkoffer. Fürs Nachtischchen, fürs stille Örtchen, fürs Handschuhfach, zum Liegenlassen, Weitergeben. Endlich das richtige Buch, das als einziges in der Nachttischschublade des Hotelzimmers zu finden ist.

«Wenn die Kinder dieselben Fehler haben wie die Eltern, gilt die Erziehung in der Regel als abgeschlossen.»

Für die losen Momente im Zug und Bus, zum Warten beim Zahnarzt, als Rettungsboot bei langweiligen Sitzungen, für den Selbstunterricht, für die Augenblicke dazwischen, zum Tee, als Gedanken in den Schlaf, als Brevier, als Aufforderung mit dem Denken zu beginnen, statt Gratiszeitungen, als Zitatesammlung, als Lückenbüsser, als erste oder letzte Worte…

«Die Welt ist surreal. Sie bleibt derart unter ihren Möglichkeiten, dass man auf die Idee kommen kann, sie würde gar nicht existieren, wenn niemand sie sähe.»

Beat Gloor, 1959 geboren, hat Erfahrungen als Programmierer, Pianist und Papperlapappi gesammelt. Seit 1989 führt er das verlagsunabhängige Unternehmen Text Control, das sich mit Lektorat, Stil, Schreiben und Namensfindung beschäftigt. Beat Gloor interessiert sich für alle Formen des Schreibens, des Sprechens und des Denkens. Er lebt in Klingnau.

Webseite Beat Gloor

Webseite des Autors: Willkommen im Textbausteinbruch!

Die Texte aus dem Buch «Wir sitzen alle im gleichen Boot. Aber nicht alle rudern.» durften mit freundlicher Genehmigung des Salis Verlags hier wiedergegeben werden. Vielen Dank!

(Titelbild: Sandra Kottonau)

Herta Müller «Die Lüge ist ein Klettertier», Wortcollagen

Schon erstaunlich. Minuten bevor Herta Müller den Saal im Naturmuseum Basel betritt, murmeln die Wartenden nur noch. Die Leiterin des Literaturhauses Basel Katrin Eckert steht vor den Stuhlreihen und flüstert: «Alles bereit?» Weil da jemand kommt, der alleine duch seine Anwesenheit adelt. Bis auf den letzten Platz besetzt, ausverkauft, in den ersten Reihen ein grosser Teil der Basler Literaturprominenz: Verena Stössinger, Simone Lappert, Rudolf Bussmann, Martin R. Dean und viele mehr.

Zuerst las die Nobelpreisträgerin Herta Müller aus ihrem letzten bei Hanser erschienenen Prosawerk «Mein Vater war ein Apfelkern», las Erinnerungen zu ihrer Kindheit und Jugend in Rumänien, überzeugt davon, eine Autorin dann am besten zu verstehen, wenn man weiss, woher sie kommt. Herta Müller wuchs unter der Diktatur Nicolae Ceaușescu in Rumänien auf, auf dem Land, eng verbunden mit Einsamkeit und den Repressalien eines totalen Überwachungsstaats. Eine Kindheit, in der sie mit sich selbst das Beobachten lernte. Herta Müller las über das Fremdsein, selbst als Kind, von der Angst, «von der Welt gefressen zu werden». Und wenn die Autorin aus ihrer Kindheit liest und erzählt, hört und spürt man, dass die Bilder, aus denen die Autorin heute noch schöpft, damals schon glänzten, wohl noch nicht in abstrakten Worten, aber in konkreten Bildern, die zeugen, wie ein Mädchen mit Geschichten und Bildern im Innern die Welt zu erklären versucht. Selbst ihre Sicht auf die Natur, die Pflanzen, dem einzig wirklich Ästhetischen in einer pseudosozialistischen Umgebung, Pflanzen, die sich nicht um Gewalt und Grausamkeit zu kümmern hatten, sie in keiner Weise kommentierten, schienen sich gegen sie zu verbünden, mit dem Machthaber und seinem Apparat zu kollaborieren.

Herta Müller, eine witzige, sprudelnde, feine Dame in hochhackigen Schuhen, die sich selbst im freien Sprechen auf der Bühne von Pointe zu Pointe hangelt, die ihr entgegenzurollen scheinen, die Lacher und den Applaus geniesst, das Publikum fesselt. Erst recht, wenn sie aufsteht, rückwärts an den Bühnenrand steht und ihre Gedichtcollagen liest, die gross auf eine Leinwand projeziert sind.

Sie habe aus einer Not, zufälltig mit den Collagen begonnen. Viel unterwegs wollte sie Karten schreiben, ein paar Worte an Freunde verschicken. Aber die Ansichtskarten in Rumänien waren derart hässlich, dass sie aus Zeitschriften Wörter und Bilder schnitt, sie zu Collagen klebte und diese auf selber gekauften Karten zu verschicken begann. Buntes Papier aus der grau-in-grauen Welt Runmäniens. Sie begann zu sammeln, farbiges Papier, Bilder und Wörter, viele Wörter, tausende von Wörtern, richtete zuhause einen Wörtertisch ein, der schnell zu klein wurde, kaufte Schachteln und Schubladen, begann alphabetisch zu ordnen, richtete Werkstätten ein, eine mit rumänischen, eine mit deutschen Wörtern. Wenn sie keine Prosa schrieb, sass sie an ihrer Werkstatt, einer Arbeit, bei der «die Wörter von aussen kommen», jedes Wort ein kleines Theater, eine Inszenierung, selbst die gewöhnlichsten, alle ein Unikat. Und dann die Schönheit der farbigen Schnipsel, die Ästhetik eines aufgeklebten Arrangements. Die Arbeit an den Gedichtcollagen gebe ihr Halt, nicht zuletzt darum, weil die Auseinandersetzung mit ihrer Prosa, mit Vergangenheit und Gegenwart, ein schmerzhafter Prozess sei, das Suchen und Kleben ein Ausgleich. Ganz oft entstehe ein Sog, nur schon deshalb, weil sie Wörter findet, denen sie gerne einen Platz geben würde, die sie nicht so leicht einfach in eine Schublade zurückgeben kann. Herta Müller spielt mit Wörtern und Sätzen, begegnet ihnen wie den verschiedensten Pflanzen in einem unendlich grossen Garten. Eine sinnliche Arbeit, ganz anders als die Prosaarbeit am Computer.

Es gibt «Dinge», die nicht erledigt werden können, nicht in einem ganzen Leben, um die sich das Denken ein ganzes Leben lang dreht. Es brauche unsäglich viel Kraft aus einem «beschädigten Leben», das Schreiben notwendig macht, dem Trauma entgegenzutreten, sich nicht zu ergeben.

Wer noch nicht mit dem Lesen Herta Müllers Collagengedicht begonnen hat, kaufe sich eines der Bücher beim Hanser Verlag, schlage es auf, lasse es liegen und wirken. Es besteht akute Ansteckungsgefahr.

Herta Müller eröffnte mit ihrer Lesung das 14. Internationale Lyrikfestival in Basel

 

Nina Jäckle «Warten», kunstanstifter Verlag

Sterne leuchten für den Betrachter verspätet. So wie der Stern der Schriftstellerin Nina Jäckle, den ich einfach nicht sehen wollte am Himmel der Literatur. Aber jetzt, mit einem Mal, mitten in der Lektüre einer langen Reihe im Werk der Autorin, tauche ich ein und bin hin und weg.

Nina Jäckle veröffentlichte 2002 in ihrem ersten Erzählband «Es gibt solche» die Geschichte «Warten». Mehr als 10 Jahre später erschien beim kunstanstifter Verlag zusammen mit der Illustratorin Franziska Neubert «Warten» als Bilderbuch für Erwachsene. Wer Freude an schönen Büchern hat, wer sie auch gerne optisch wirken lässt, Kunst nicht nur auf den Inhalt beschränken will, dem macht dieses Buch auch ein paar Jahre nach Erscheinen noch grosse Freude.

Er ist zuhause, in seiner Wohnung, allein. Ein Mann in einer Stadt, an einer Strasse, in einem Haus, einem Stockwerk, einer Wohnung, in drei Zimmern mit Aussicht auf Strasse und Hof.

Er sieht hinein und hinaus. Auf die Strasse, den Hof, hinein in sich, was da geschieht, wenn er zuhause bleibt und nicht mehr zur Arbeit geht.

Über ihm wohnt eine junge Frau, seine Nachbarin. Er, allein gelassen, hört ihren Tritt oben in der baugleichen Wohnung, geht unter ihr herum, während sie morgens die Wohnung verlässt und ihre Katze zurücklässt. Die Katze, die dann schreit. Die Nachbarin wird immer mehr.

Während er, von seiner Freundin oder Frau verlassen, alleine ist, wächst der Wunsch, seiner Nachbarin gegenüberzusitzen.

Franziska Neubert studierte an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig und an der École Nationale Supèrieure des Arts Décoratifs, Paris. Nach dem Studium schloss sich ein Meisterschülerstudium ebenfalls an der Leipziger Hochschule an. Für ihre Meisterschüler- Abschlussarbeit erhielt sie den Anerkennungspreis des Ars Lipsiensis. Ihre Arbeiten werden regelmäßig im In- und Ausland in Ausstellungen gezeigt und sind mehrfach prämiert. Franziska Neubert lebt mit ihrer Familie in Leipzig.

Nina Jäckle, 1966 in Schwenningen geboren, wuchs in Stuttgart auf, besuchte Sprachschulen in der französischen Schweiz und in Paris, wollte eigentlich Übersetzerin werden, beschloss aber mit 25 Jahren lieber selbst zu schreiben, erst Hörspiele, dann Erzählungen, dann Romane. Ihre ersten Bücher erschienen im Berlin Verlag: «Es gibt solche», «Noll»,»Gleich nebenan» und «Sevilla». Bei Klöpfer & Meyer erschienen 2010 mit großem Erfolg ihre Erzählung «Nai oder was wie so ist», 2011 ihr Roman «Zielinski» und 2014 der Roman «Der lange Atem». Sowohl «Zielinski» als auch «Der lange Atem» wurden ins Spanische übersetzt.  Nina Jäckle ist Stipendiatin der Villa Massimo in Rom 2016/17.

Webseite der Illustratorin Franziska Neubert

Webseite kunstanstifter verlag

Akog Doma «Der Weg der Wünsche», Rowohlt

Während Kriege, Trostlosigkeit, Hunger und Krisen Menschen zwingen, ihrer Heimat unter Lebensgefahr den Rücken zu kehren, vergisst jener, der sich in seiner warmen Stube ob der vielen Flüchtlinge fürchtet, dass das 20. Jahrhundert die Menschen in Europa zu Hunderttausenden zwang, alles zurückzulassen.

Darf man angesichts des Flüchtlingselends keine Geschichten mehr erzählen, die vergangen scheinen? Keine Geschichte endet. Keine Geschichte hört auf. Aber gut erzählten Geschichten folgt man gerne – und der Roman «Der Weg der Wünsche» (auch wenn mir der Titel allzu salbungsvoll klingt) ist eine solche.

Akos Doma, der als Jugendlicher selbst zusammen mit seiner Familie Ungarn verlassen musste, erzählt eine dieser unzähligen Geschichten. Von jenem Moment, wo der 8jährige Misi zusammen mit seiner Schwester Borbála und seinen Eltern Teréz und Károly seinen Geburtstag im winzig kleinen Garten in Buda feiert – bis in den Schnee der Alpen, das längst nicht das letzte Hindernis bleiben wird, das die Familie zu besiegen hat. Eine Geburtstagsidylle mit einem kleinen Hund als Geschenk, nur für den Jungen, der nicht ahnt, wie sehr seine Eltern unter der korrupten «sozialistischen» Willkür der ungarischen Apparats zu leiden haben. Nichts ist Idylle, die Menschen desillusioniert nach einem Krieg, der weder aus Sieger noch Besiegten bessere Menschen werden liess. Teréz, die Mutter des kleinen Misi, besucht kurz vor der Flucht noch einmal ihren Onkel Barnábas, bei dem sie nach dem Krieg zwei Jahre blieb, um aus der traumatischen Starre aufzuwachen, in der sie der Krieg zurückgelassen hatte. Barnábas, ihr Onkel, warnt sie vor den Konsequenzen, sollte die Flucht misslingen, davor, dass dort in der besseren Welt auch bloss das Geld regiert.

Familie Kallay macht sich auf den Weg, auf eine Reise zwischen Welten und landen für Monate in einem italienischen Auffanglager voller Ratten, wilder Hunde, Kot und baufälliger Baracken. Ein Lager unweit der Bucht von Neapel, durch einen löchrigen Zaun von der Normalität getrennt, der Lagerleitung schamlos ausgeliefert.

Akos Doma erzählt auch vom Schmerz, den Verletzungen mit sich tragen, den unheilbaren Wunden eines Krieges, den Demütigungen durch ein System, das nach dem Ende des Krieges versprach, die Ordnung endgültig zu reformieren. Der Roman liest sich leicht. Die Qualität des Buches liegt nicht in der Aktualität der «Flüchtlingsperspektive», sondern in der Leichtigkeit, mit der es der Autor in die Nähe von Terés und Károly schafft, einem Paar, das sich aneinander hält, das bereit ist, fast alles zu «zahlen», um der Familie ein Stück Freiheit zu schenken.

Akos Doma will eine Geschichte erzählen, erlebte Geschichte am Beispiel einer Familie. Bestimmt gibt es zum Thema «Flüchtlinge» Wichtigeres zu lesen (z.B. von Navid Kermani «Einbruch der Wirklichkeit»). Aber das Buch ist spannend erzählt, nie platt, und schon gar nicht oberflächlich.

Ein Roman darüber, wie Geschichte die Seelen aus den Menschen zerrt.

Akos Doma, geboren 1963 in Budapest, ist Autor und Übersetzer. Er hat unter anderem Werke von Sándor Márai, László F. Földényi und Péter Nádas ins Deutsche übertragen. 2001 erschien sein Debütroman «Der Müßiggänger», 2011 «Die allgemeine Tauglichkeit». Doma erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, zuletzt etwa das Grenzgängerstipendium der Robert Bosch Stiftung, den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis 2012 und das Prager Literaturstipendium 2014. Akos Doma lebt mit seiner Familie in Eichstätt.

Lukas Hartmann «Ein passender Mieter», Diogenes

Gibt es einen Ort, an dem man sich sicher fühlen kann? Gibt es Menschen, auf die man sich bedingungslos verlassen kann? Oder steckt hinter diesem Wunsch, dieser Vorstellung bloss eine Sehnsucht? Die Sehnsucht des Menschen, während man dauernd und überall loszulassen hat, auf etwas zählen zu können; die Liebe, die Familie, die Religion, das Haus, der Grund, auf dem es steht?

Margret und Gerhard Sandmeier sind seit 25 Jahren verheiratet. Und mit dem Auszug ihres einzigen Sohnes beginnt sich die Geometrie der Familie zu verändern. Mit dem Fehlen des Sohnes wird auch der Anbau des Einfamilienhauses frei. Und man entschliesst sich, das Studio zu vermieten, lieber an einen Mann ohne Haustier und Musikinstrument. Man will nichts riskieren, seine Ruhe haben. Schlussendlich zieht Beat ein, ein stiller, sympathischer junger Mann, Fahrradmechaniker, so alt wie der Sohn. Ein Mann fast wie Sebastian, der Sohn, ein passender Mieter. Ein Mieter, dessen Name zu Beginn wie Programm erscheint, unauffällig, nett, ein Name passend wie angegossen.

Aber alles trügt. So wie Gerhard den Tritt als Geschichtsprofessor, der sich immer mehr abmüht mit der Infantilität seiner ZuhörerInnen, zu verlieren droht, die Mutter Margret die Trennung von ihrem Sohn nicht verschmerzt und auch in ihrer Arbeit nichts von dem findet, was ihr Sohn ihr mit Abweisung und deutlicher Distanzieung zu verstehen gibt. So spitzen sich die Meldungen in den Medien zu über einen Messerstecher, der in der Stadt sein Unwesen treibt. Verunsichert peinigt Margret ein unfassbarer Verdacht. Ein Verdacht, der vom bösen Traum zur Wirklichkeit wird, als das Haus von der Polizei umstellt wird.

Lukas Hartmann schreibt über diese seltsame Entfremdung von den eigenen Kindern, vom eigenen Fleisch und Blut, «ewig» Kinder, die man «ein Leben lang» mit sich trägt, von deren Heldentaten man in Gesellschaft erzählt, gerne beschönt und vergisst, wie wenig man in Wirklichkeit dazu beitrug und es in den Ohren anderer wie Eitelkeit, Hohn oder blanke Lüge klingen kann. Lukas Hartmann erzählt auch von einem Ehepaar, das noch unter der gleichen Decke ein-passender-mieter-9783257069679schläft, Berührungen aber kaum mehr verträgt. Ein Haus, eine Wohnung, einen Sohn, ein Bett teilt, das Leben aber längst nicht mehr. Ein Paar, das sich unlösbar in Missverständnisse verstrickt. Er schreibt darüber, was «Schicksal» mit einem zu tun vermag, wie es einem aus Normalität herauskatapultiert. Lukas Hartmann ist ein Meister der Schilderung. Er lässt einen Kausalteppich wachsen, aus dem es keinen  Ausweg zu geben scheint. Er schildert aus der Sicht aller Familienmitgleider, auch aus jener des Sohnes, der sich wandelt vom ewig genervten, endlich befreiten, zum besorgrten, von den Geschehnissen überrannten. Was sich im ersten Teil des Romans liest, wie das Psychogramm einer typischen Kleinfamilie, wird im zweiten Teil zum Höllentripp einer auseinanderbrechenden Schicksalsgemeinschaft.

Lukas Hartmann ist ein scharfer Beobachter, ein Meister der innerfamiliären Inszenierung, ein Ausloter von Grenzüberchreitungen, jener ganz feinen in einer Ehe, jener ganz groben, wenn sich besorgte Bürger verselbstständigen. Was passiert mit einem Verbrechen, einem Verbrechen, das in die Leben vieler unauslöschbar eingreift, nicht nur in das der als Opfer definierten. Ein Buch, das an Spannung nichts zu wünschen übrig lässt.

Lukas Hartmann, Schriftsteller, Foto in seinem Garten, in Spiegel bei Bern.

Lukas Hartmann, geboren 1944 in Bern, studierte Germanistik und Psychologie. Er war Lehrer, Journalist und Medienberater. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Spiegel bei Bern und schreibt Bücher für Erwachsene und für Kinder. Er ist einer der bekanntesten Autoren der Schweiz und steht mit seinen Romanen regelmäßig auf der Bestsellerliste. Für ›Bis ans Ende der Meere‹ wurde er 2010 mit dem Sir-Walter-Scott-Literaturpreis für historische Romane ausgezeichnet.

2010 erschien von Lukas Hartmann der Roman «Finsteres Glück». Die Geschichte vom achtjährigen Yves, dessen Leben nach einem schrecklichen Autounfall von seiner Familie weggerissen wird. Eine Psychologin, die dem Jungen über den Verlust hinwegzuhelfen versucht,ist derart erschüttert vom Schicksal des Jungen, dass auch in ihrem Leben und in ihrer Familie nichts mehr bleibt, wie es einmal war. Eine wirklich gelungene Verfilmung!

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Webseite Lukas Hartmann

(Titelbild: Sandra Kottonau)