Sprachkunst im Eisenwerk!

7 Autorinnen und Autoren, 7 Dichterinnen und Dichter, 7 Sprachakrobaten! Svenja Herrmann, Thilo Krause, Levin Westermann, Dragica Rajčić und Elisabeth Wandeler-Deck alle auf ihre Art mit der Schweiz verzahnt, Esther Kinsky aus Deutschland und Serhji Zhadan aus der Ukraine, einer der Unerschrockenen seines Landes. Schon ausserordentlich, wenn ein Lyrikfestival am Rande der Schweiz den Ohren schmeichelt und sticht, flüstert und rockt!

Zum Beispiel Esther Kinsky:

Man möchte Samthandschuhe anziehen. Nicht weil die Autorin ohne solche nicht fassen zu wäre. Aber der Lyrikband „Am kalten Hang“ der in Berlin und Battonya (Ungarn) lebenden Dichterin Esther Kinsky ist ein geheimnisvoll schimmerndes Juwel. Gedichte, die ich laut und mit viel Hall ins Tal rufen möchte, andere leise unter der Bettdecke flüstern.

Ich mag Gedichtinterpretationen nicht, bin mit Sicherheit verbrüht. Aber wenn ich Gedichte lese, ist es wie mit Annäherung an anspruchsvolle Musik, die mir dann doch auf Anhieb gefallen muss, erst einmal ohne Deutung und Hinterfragen.

Esther Kinsky bringt auf Anhieb etwas zum Schwingen, zwingt mich, ihre Gedichte immer wieder zu lesen, einzelne Gedichte laut, so laut, dass andere Fahrgäste im Zug den Kopf zu mir drehen. Esther Kinsky ist Dichterin, führt Selbstgespräche über Leid, Fremdsein und Tod.
Aber warum denn mit Samthandschuhen? Zugegeben, ich besitze eine tief sitzende Affinität für Bücher, die zumindest für mich in ihrer Ganzheit bestechen. Was der Berliner Verlag Matthes & Seitz mit den 24 kurzen Gedichten und dem einen langen Poem vollbrachte, ist Kunstwerk in vielerlei Hinsicht. Auf dickes Papier gedruckt präsentieren sich die Gedichte wie auf geprägte, weisse Tafeln. Und die gegenüber gestellten Illustrationen des Künstlers Christian Thanhäuser wirken wie Kippbilder, unterstreichen, was die Dichterin mit ihrer Sprache zu erzeugen vermag; genaues Hinhören und Hinschauen!

Auch wenn Lyrik keine Massen mobilisieren kann, lohnt sich eine Sprachreise darum erst recht. Nicht zuletzt wegen der Nähe zu den Akteuren. Gedichte lesen ist das eine. Sie aber von den Autorinnen und Autoren selbst präsentiert zu bekommen, eröffnet Einsichten, die einem sonst leicht verwehrt bleiben.

Cynan Jones «Alles, was ich am Strand gefunden habe», Liebeskind

An der Küste findet der Hund eines alten Spaziergängers eines Morgens einen Toten, am Strand, weit weg von allem. Der Tote ist das Ende einer Geschichte, aber der Prolog zu einem Roman, der in der Presse als «Thriller» angepriesen wird, aber viel mehr ist als das. Eine Verlierergeschichte von Träumern, ein Psychogramm Verzweifelter.

Schon sein erster bei Liebeskind auf Deutsch erschienener Roman «Graben» ist eine «Parabel zwischen Gut und Böse». Eine Parabel allerding, die keinen Zweifel offen lässt, welche Seite mehr Gewicht in den ewigen Kampf werfen kann. Auch in «Alles, was ich am Strand gefunden habe» sind es zum Scheitern verurteilte Männerfiguren, Archetypen des Scheiterns, die sich im Roman irgendwann «über den Weg laufen» und das Geschehen kollabieren lassen.

Grzegorz, polnischer Migrant, verheiratet und Vater zweier kleiner Söhne, arbeitet in einem Schlachthaus Schicht. Ein trostloser Job, der nichts verspricht, der ihn abstumpfen und an der Menschlichkeit zweifeln lässt. Ein Mann, der sowohl an seiner Arbeitsstelle wie von seiner enttäuschten Frau schikaniert und ins Ungewisse getrieben wird. Grzegorz verschreibt sich nach der Arbeit Gelegenheitsjobs, die schnelles Geld versprechen. So auch eines Tages angeheuert auf einem Trawler im Meer, über dem ein Hubschrauber nachts Drogen abwirft. Diese Päckchen werden auf Schlauchboote verteilt, die mit dem Allernötigsten ausgerüstet das weisse Gold gleichmässig und unauffällig verteilt an die Küste bringen sollen. Grzegorz sitzt auf einem solchen Schlauchboot. Nur merkt er zu spät, dass sein bereits eingestellter elektronischer Kompass nicht funktioniert. Auf dem kleinen Schlauchboot im Dunkel der Nacht, ohne Verpflegung und Orientierung, mitten auf dem Meer, spitzt sich die eine Katastrophe zu.

Grzegorz Parallelfigur ist Hold, auch ein Getriebener. Vom Tod seines Freundes in ein Versprechen gedrängt, von dem er sich mehr fürchtet als verantwortlich fühlt, ist Hold überzeugt davon, irgendwann auf der Sonnenseite des Lebens stehen zu müssen. Irgendwann all die Träume, die er mit sich herumschleppt, wahr werden lassen zu müssen. So wie der Pole auf dem Boot, mit dem Versprechen, dass sich nun endlich alles zum Guten wenden würde, findet Hold am Strand ein Schlauchboot. Ein Schlauchboot mit einem Toten und mehreren Päckchen Kokain. Hold nimmt das weisse Pulver zu sich, das materialisierte Versprechen, dass nun alles endlich anders werden würde. Mit einem Mal sieht alles ganz einfach aus, als hätte ihm sein toter Freund aus der Ferne diese eine Chance zugeschoben. Aber aus der vermeintlich sicheren Sache, aus dem weissen Pulver Geld zu machen, wird ein ungleicher Kampf um Leben und Tod. Ein Kampf, den Cynan Jones nicht mit billiger Action und Unmengen von Brutalität und Blut austragen lässt. Einen Kampf, den Jones in seinen Protagonisten inszeniert, die sich dabei immer tragischer im eigenen Unglück verstricken.

Cynan Jones schrieb einen Thriller ohne das sonst so sinnlose «Beigemüse», das sich zu oft zum Wichtigsten aufbläst. Wie in den plumpen Kinostreifen, die mit Action protzen und Spannung mit Schock- und Schreckmomenten verwechseln. Jones bleibt beim Kleinen, siedelt die Action in der sich immer fataler breit machenden Verzweiflung der Protagonisten an. Und weil Cynan Jones nicht einfach chronologisch erzählt, ist es, als würde er seine grosse cineastische Schicksalgeschichte gleichzeitig an mehreren Enden zu zeichnen beginnen und sie so Seite um Seite, Stück für Stück zu einem wirklich grossen Ganzen zusammenfügen. Der Prolog gibt unmissverständlich zu verstehen; diese Geschichte, wenn sie denn wirklich endet, endet nicht gut. Der Roman ist mit so eisiger Schärfe erzählt, als würde kalter und eisnasser Wind durch die Seiten wehen. Cynan Jones Roman halte ich für ein Meisterstück. «Alles, was ich am Strand gefunden habe» erzählt von der permanenten Verzweiflung und dem alles dominierenden Wunsch, dereinst wie Phönix aus der Asche zu steigen. Genährt von der Wut darüber, dass es stets «die Falschen» schaffen, obwohl doch eigentlich sie an der Reihe wären. Wie Cynan Jones den Gepeinigten an den Grund der Seele leuchtet, ist meisterhaft.

Cynan Jones wurde 1975 in Wales geboren. Er ist Autor von vier Romanen und zahlreichen Erzählungen, die in Zeitschriften wie «Granta Magazine» oder der «New Welsh Review» veröffentlicht wurden. Für seinen Debütroman wurde er 2007 mit dem Betty Trask Award ausgezeichnet, für «Graben«» erhielt er 2014 den Jerwood Fiction Uncovered Prize. Cynan Jones lebt in der Nähe von Aberaeron an der walisischen Küste. «Alles, was ich am Strand gefunden habe» wurde aus den Englischen von Peter Torberg übersetzt.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Konrad Pauli «Verweilskizzen»

… In diesen langen Augenblicken scheint alles stillzustehen – und die Schwalben schwirren durchs Himmelblau. Zuweilen rauscht ein Motorrad übermütig auf – es scheint, der Fahrer müsse etwas tun gegen den Stillstand, die sonntägliche Stille. Weitherum wird er, entgegen seiner stummen Absicht, aber nicht kommen – auch er dreht sich im Kreis. Sich selbst entkommt er nicht. Bloss in Kilometern ist seine Ausfahrt belegbar und dokumentiert. Aber das Licht ist eine wunderbare Last auf allem: Die Ziegeldächer, Busch und Baum. Vor lauter Ergriffenheit will sich nichts rühren. Alles wartet ab. Worauf… Man kennt ja die Fortsetzung – oder meint es zumindest. Frau Gerber hat es wohl vorgezogen, die Wärme, ja Hitze zu meiden – sie sitzt zu Hause und macht sich Gedanken über Vieles. Als junges Mädchen, so hat sie erzählt, hat sie früh aufstehen müssen und anpacken. Es war eine erzwungene Selbstverständlichkeit. Gelernt hat sie, Hitze und Kälte auszuhalten. Nicht wohlig am geheizten Ofen, nicht untätig im Schatten. So kann sie nicht verstehen, dass die Heutigen jedes Wehwehchen beklagen und darob fast in Ohnmacht fallen. – Das Licht bringt die Blätter zum Glühen – südlicher geht’s nicht mehr. Das Licht hat die Gegend brutal im Griff. Man bleibt stehen, hält gleichsam den Atem an und ist halbwegs besorgt, nicht in den wunderbaren Strudel gerissen zu werden.

Der weisse Geigenkasten
Ein Mädchen in weissem Sommerkleid geht mit weissem Geigenkasten vorbei. Geradezu respektvoll halten Autofahrer am Fussgängerstreifen. Das Mädchen geht da wie eine lichtdurchflutete Erscheinung. Ist sie wirklich da – oder ist man das Opfer einer Luftspiegelung? Selbst wenn das Mädchen drüben nun in den Hausschatten taucht, überlebt das Lichthafte. Gewiss hat sie sich gut vorbereitet für die Übungsstunde. Ob sie ihrem Instrument treu bleibt, gar Grosses vorhat, weiss keiner. Jetzt ist sie hier ganz Gegenwart. Unangefochten. Was sie geübt und einstudiert hat, wird sich zeigen lassen. Aufmunterung wird Kritikhaftes übertönen. Vielleicht denkt das Mädchen, fähig schon zur Selbstkritik, sie hätte sich noch besser vorbereiten können – aber Verbissenheit ist ihre Sache nicht. Anderes gibt’s auch noch im Alltag. Nicht nur der weisse Geigenkasten verpflichtet. Aber in seinem Weiss verfängt sich die Sonne besonders schön. Schwarz? – Unvorstellbar. Es sieht nicht so aus, als werde das Mädchen zum Geigenspiel gezwungen mit schalen Versprechen, gar Nötigung. Ihr Gang wäre so ein anderer. Sie wird die Geige behalten als Mittel zum höheren Zweck, zur Erforschung der Musik. Noch ahnt sie kaum, welch ein Vorrat an Partituren-Schätze auf sie wartet. Genug für ein langes Leben, zumal man ein Stück nicht bloss einmal spielt. Üben, üben… Noch weiss man nicht, zu welcher Musik sie aufbricht, zu welchem Lied sie einmal fähig sein wird.

Auch das gehört dazu:
Die Kübelpalmen vor dem Ticino gaukeln Südliches vor. Nicht dass man immerfort daran hinge. Es sind die Klischees, die, ohne mein Dazutun, ihre Macht ausüben. Kein Zwang freilich, vielmehr ein Spiel, immer Erinnerungen der Ferne hervorlockend. Genauigkeit ist nicht zwingend. Es ist mehr ein entspanntes Umherstreifen und Zulassen. Greift nun ein kühler Wind über meinen Rücken in die Palmenblätter, ist’s plötzlich auch ein Nördliches. Die Jacke, die man soeben aufgeknöpft hat, wird wieder enggezogen. Harmloses erhält bestimmend Gewicht. So ist das Verweilen gesättigt von Aufmerksamkeit und Gegenwart. Weder geschieht Besonderes noch langweilen die Auftritte der Passanten. Wie Statisten stehen die Wartenden an der Tramstation. Vergeblich zähmen junge Frauen ihr langes Haar im Wind, aber die Geste ist voller Anmut. Ein Kleinkind stolpert über den Gehsteigrand. Die Mama ist froh, dass sie nicht allzu sehr trösten muss. Am Ende der Strassenflucht wachsen weisse Wolken in die Höhe: Vorboten des Sommerlichen. Ein Bus wartet, die Anschrift verlangt: Nicht einsteigen. Soldaten eilen urlaubsfroh zur Station. Der Wind flaut ab, sofort übernimmt die Wärme das Szepter: Die Jacke wird wieder aufgeknöpft. Erwartungen sind stillgelegt; es genügt, wenn gleichwelche Forderungen wieder aufleben. Die Zeit steht still – und eilt doch davon.

Konrad Pauli, 1944 in Aarberg in der Schweiz geboren, arbeitete nach der Ausbildung zum Lehrer wiederholt in Zeitungsredaktionen. Der Autor lebt in Bern und veröffentlichte bislang neun Bücher. Zuletzt erschienen «Ein Heldenleben», «Seit jeher unterwegs», «Marcos Blicke in Seeland», Weitergehen» und «Ein Romantiker in nüchterner Zeit» (Collection Montagnola, ediert von Klaus Isele).

Lawrence Osborne «Denen man vergibt», Wagenbach

Lawrence Osborne hat einen Roman geschrieben, der unzweifelhaft das Zeug zum Klassiker hat. Umso erstaunlicher, dass es sein erster in Deutsch erschienener Roman ist. Den Namen Lawrence Osborne sollte man sich merken!

Auf dem Weg zu einer Party mitten in der marokkanischen Wüste kommt es zum tödlichen Zusammenstoss. Ein britisches Ehepaar überfährt einen einheimischen Fossilienverkäufer, der urplötzlich aus dem Dunkel der Nacht auf die Strasse tritt. David und Jo steigen aus, vergewissern sich, ob er vielleicht noch lebt, durchsuchen seine Taschen, um dem Toten einen Namen zu geben und packen ihn auf den Rücksitz, weil man ihn doch nicht einfach so liegen lassen kann. David, ein in Verruf geratener Arzt und Jo, seine Frau, einmal eine erfolgreiche Schriftstellerin. Er am Steuer und betrunken, zu schnell unterwegs. Sie beide an einem Ort, an dem sie eigentlich nichts verloren haben. Während der Rücksitz mit fremdem Blut besudelt wird, fahren sie weiter in die Nacht bis zum Anwesen von Richard und Dally, die die Party ausrichten und nicht im Traum daran denken, die Party wegen dieses Zwischenfalls abzublasen. Auch nicht, als die Polizei auftaucht. Auch dann nicht, als sich vor dem Tor zum Anwesen Männer sammeln, Einheimische und man den Vater des Toten in die Garage zum Aufgebahrten vorlassen muss.

Es prallen Welten aufeinander. Hier jene von Richard und Dally, die mit viel Geld eine ganze Siedlung renovieren und sie zu ihrer Spielwiese machen. Dort jene von Driss, dem Toten in der Garage und seinem Vater, der seinen einzigen Sohn zuhause begraben will. Hier die Dekadenz des Überflusses, des Champagners, der spinnigen Parties. Dort die kaputte Gegenwart und Zukunft eines ganzen Volkes, das gezwungen ist, mit längst zu Stein gewordenem Leben das eigene Leben zu erkaufen. Hier die Angst und Arroganz. Dort die Wut, der Zorn und die unterdrückte Aggression.
Bis der Vater des zu Tode Gekommenen erwirkt, dass David den Tross ins Dorf des Verunfallten begleiten soll. Während Jo, Davids Frau, sich die Laune nicht verderben lassen will und weiterfeiert, fährt David in einem übervollen Auto und einem Toten im Gepäck hinaus in die Wüste, in die Berge, ins Ungewisse, vollkommen Fremde, in ein Dorf, wo sie trauernde Frauen erwarten und die Spannung messerscharf wird. Zweimal blinkt eine Klinge auf. Das erste Mal bloss um einen Apfel zu schälen, was demonstrieren soll, wie scharf die Klinge ist. Zum zweiten Mal vor Sonnenaufgang in der Wüste, auf Messers Schneide, zwischen Rachegefühlen und lähmender Wut.

Lawrence Osborne hat einen Roman geschrieben, der mir in die Knochen fährt. Osborne tut das in einer derart subtilen Art, die mich gefangen nimmt, die das geschehen nie explodieren lässt, obwohl während des ganzen Romans die Lunte brennt. Während der ganzen Lektüre muss ich mit dem Schlimmsten rechnen. Lawrence Osborne, bisher mit Reportagen in Erscheinung getreten, will ganz offensichtlich zeigen, wie weit sich der Mensch von seinem Bruder, seiner Schwester entfernen kann, wie weit Kulturen auseinanderdriften, was Reichtum und Armut mit Wahrnehmung und Innenwelten anrichten können, wie unversöhnlich diese Welten sind. Wie sehr jeder sich in seiner Sicht auf die Dinge, mit der Sicht auf die andere Seite sich in „Wahrheiten“ verrennt. Wie unüberbrückbar Gräben werden, erst recht dort, wo man in Ländern wie Marokko auf das Geld der reichen Ausländer genauso angewiesen ist wie die Reichen auf die Arbeitskraft der Einheimischen.
Und mitten drin das Drama eines sich abhanden gekommenen Ehepaars, das nicht weiss, ob man sich lieben oder hassen soll, das nicht weiss, warum man noch immer beisammen ist. Ein Paar im permanenten Kriegszustand, tief eingegraben, jeder in seinem Schützengraben, mit Mechanismen bewaffnet, ganz nah und Lichtjahre entfernt. Genauso wie die Menschen auf der Party von jenen, die sie bedienen, ihnen argwöhnisch zuschauen und zuhören, nicht verstehen können, warum den einen nur die Steine bleiben, während man hinter Mauern in Unmengen von Alkohol tanzt und der Wollust fröhnt.

Lawrence Osborne erzählt und verwebt drei Geschichten. Jene von David, der im Dorf der trauernden Marokkaner nicht weiss, ob er um sein Leben fürchten muss. Jenes von Jo, die einem vergangenen Leben, verpassten Chancen und der Jugend nachtrauert und sich dem Rausch hingibt. Und jene von Driss, dem in seiner Geschichte Gefangenen, Hoffnungslosen, der sein Leben am Strassenrand verliert. „Ein Niemand, ein armer Schlucker. So ist das nun mal.“
Der Unfall nachts in der Wüste, Autoblech auf Menschenknochen, macht auf mehrfach schmerzhafte Weise bewusst, wie weit man sich voneinander entfernen kann und wie viel tödliches Potenzial in Begegnungen schlummert. Dabei sind sie alle Gescheiterte, Gestrandete, Zerschlagene. Alle sind Opfer einer langen Folge unglücklicher Ereignisse, der Geschichte ihrer Kultur, der eigenen Lebensgeschichte.

Meisterhaft konstruiert und erzählt, spannend, Innenwelten aufreissend und mitreissend geschrieben. Und nicht zuletzt beweist Lawrence Osborne tiefes Verständnis für die Hoffnungs- und Zukunftslosigkeit der Menschen in der Wüste, die mit Hamid, dem Diener auf dem Anwesen von Richard und Dally erfühlen lässt, was es heisst, wenn dieser zuschaut und denkt. „So sind sie eben. Sie haben ein Herz aus Stein, wenn es um uns geht. Für sie sind wir nicht mehr wert als Fliegen.“
Ein Roman mit ungeheurer Reife geschrieben. Unaufgeregt, aber mitten ins Herz treffend, präzise auf den Nerv gezielt.

Lawrence Osborne, geboren 1958, ist ein Reisender, der mit seinen Reportagen unter anderem für die New York Times bekannt wurde. Ursprünglich aus Großbritannien, lebte er lange Zeit in Paris und jetzt in Bangkok. Inspiration für den Roman »Denen man vergibt« fand er während einer Marokkoreise. Es ist sein erster Roman auf Deutsch. Übersetzt wurde der Roman von Reiner Pfleiderer.

Webseite des Autors

Titelfoto: Sandra Kottonau

Krimi-Vernissage «Kenia Leak» von Peter Höner, Limmat

31. August, 2017, 19.30 Ihr: Lesung und Gespräch mit dem Schriftsteller Peter Höner und seinem Verleger Erwin Künzli in der Kantonsbibliothek Frauenfeld, an der Promenadenstrasse 12. Der fünfte Fall des Ermittlerduos Mettler und Tetu.

Damit hat Jürg Mettler nicht gerechnet. Sein Freund Tetu, der pensionierte und erblindete Polizist aus Kenia, kommt zu Besuch. Er will in der Schweiz seine Augen operieren lassen. Ein Vorwand. Was will der Alte wirklich?

Eine alte Freundschaft auf dem Prüfstand

Nach zwei Wochen, als er wieder sehen kann, gesteht ihm Tetu endlich den wahren Grund: Ihm ist eine heisse CD zugespielt worden, auf der offenbar Belastendes über den Clan des kenianischen Finanzministers Kimele gespeichert ist. Tetu braucht die Hilfe seines Freundes. Aber warum lässt der Rentner nicht einfach die Finger davon? Schon einmal hatten die beiden gegen Kimele ermittelt und es nur knapp überlebt. Widerwillig lässt sich Mettler, der heute als Betreuer Asylsuchender arbeitet, darauf ein. Als erstes stossen sie auf Dokumente, die ausgerechnet Mettler in ein schiefes Licht rücken. Dieser behauptet, die Dateien seien gefälscht. Aber woher hat Mettler das Geld, mit dem er sich das Haus auf dem Iselisberg gekauft hat? Tetus Misstrauen dem ehemaligen Freund gegenüber wächst mit jedem Erklärungsversuch Mettlers. Auch mit der Technik sind die alten Herren überfordert, und so weiss Kimele schon bald, wo er seine Daten suchen muss…

«Dieser fünfte Krimi ist zugleich mein persönlichster – spielt er doch auf dem Iselisberg, wo ich zuhause bin.» 

«Seit bald dreissig Jahren begleiten mich die Figuren Mettler und Tetu. Als mein alter Ego entstand zwischen 1986 und 1999 der Privatdetektiv Jürg Mettler, der gemeinsam mit dem Polizeichef von Lamu, Robinson Njoroge Tegu, in drei Romanen auftritt. Nicht immer einer Meinung und auch nicht als Partner. Trotzdem würde zumindest Mettler behaupten, der Kenianer sei sein Freund. Nun sind beide alt geworden und ihre Geschichte spannt sich über fünf Romane, und darum ist dieser letzte Kriminalfall, der Tetu in die Schweiz lockt, denn auch mehr als ein Krimi. Er wird überdies zu einer Familiensaga – drei Generationen Mettler – und zur Geschichte einer aussergewöhnlichen Freundschaft.»

Aus Winterthur, geboren 1947, Schauspielstudium an der Staatlichen Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Hamburg, Schauspieler u.a. in Hamburg, Bremen, Berlin, Basel, Mannheim und Baden. Seit 1981 freischaffender Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur. Von 1986 bis 1990 Afrikaaufenthalt. 1997 – 2000 Präsident der Gruppe Olten. Von 2000 bis 2004 wohnhaft in Wien, seit Mai 2004 wieder in der Schweiz. Autor von Theaterstücken, Hörspielen und Büchern.

Buchpreis Long- und Shortlist

Wozu solche Listen? Soll ich damit in die Buchhandlung gehen? Soll es eine Liste sein, mit der ich meine «Treffer» abhäkeln kann? Soll ich mich wieder ärgern über alle jene Titel und Namen, die auf diesen Listen fehlen? Über die «Fehlbesetzungen»? Soll ich auf die Shortliste des Lichtensteiner Literaturpreises 2017 warten?

Doch, es gibt Gründe, warum solche Buchpreise Sinn machen. Sie bringen Literatur ins Gespräch, in die Medien, in den Focus einer Öffentlichkeit, die sich sonst allenfalls für Unterhaltung, aber nicht so sehr für Literatur interessiert. Nur schade, wenn Medien und Öffentlichkeit dann staunen, wenn jene Literatur,
die dann prämiert wird, nicht jene ist, die man so einfach abends vor dem Einschlafen lesen kann. So wie die Preisträgerin des letztjährigen, ersten Österreichischen Literaturpreises Frederike Mayröcker. Wer Frederike Mayröcker zu lesen beginnt, merkt schnell, dass man nicht so einfach aufsitzen kann, dass die Autorin von mir etwas abverlangt, wenn ich mich wirklich mit ihrem Schreiben auseinandersetzen will. Ebenso schade, wenn man sich über die Jury mockiert und ihr alles Mögliche und Unmögliche vorwirft und nicht akzeptieren will, dass es neben sicherlich ehrenwerten «Kriterien» der Geschmack ist, der entscheidet.

Solche Listen sind eine Aufforderung. Selbst eifrige Leser blenden Namen aus, lesen an Autoren vorbei. Ich hätte Christian Krachts Roman «Die Toten» wahrscheinlich nicht gelesen, tat es dann doch, weil sein Buch in der Shortlist des Schweizer Buchpreises auftauchte. Ein Buch, dass mich bewegte, erstaunte und faszinierte. Die Diskussion allerdings, die im Anschluss an die Preisverleihung anlässlich der BuchBasel entstand, befremdete mich viel mehr als Buch und Preis selbst. Solche Listen sind auch Netze. Und manchmal bleiben Fische hängen, die man noch nie gesehen hat, deren Namen man nicht kennt, die einem neugierig machen. So «warte» ich mit Spannung und Neugier auf diese Listen, immer in der Hoffnung, dort Überraschungen zu finden, Perlen, die ich noch nie gesehen habe.

Nun ist sie da, die Longlist des Deutschen Buchpreises. Darunter solche, die ich kenne und die es verdienen:
Franzobel «Das Floss der Medusa», Monika Helfer «Schau mich an, wenn ich mit dir rede!», Jonas Lüscher «Kraft», Robert Menasse «Die Hauptstadt», Feridun Zaimoglu «Evangelio» und Namen, die ich schlicht nicht kenne: Christoph Höhtker, Birgit Müller-Wieland, Kerstin Preiwuss, Robert Prosser, Sasha Marianna Salzmann, Michael Wildenhain oder Christine Wunnicke. Auf diese Entdeckungen freue ich mich.

Und meine spontane Favoritin: Marion Poschmann!

E.T.A. Hoffmann «Die Bergwerke von Falun» illustriert von Kat Menschik, Galiani

Wie ein Vorsatz: Einmal wieder Klassiker lesen, nachdem man sie nach dem Studium zur Seite gelegt hatte. Einmal wieder von den Schätzen kosten, von der Bibliothek der Unsterblichen. Einmal für kurz oder lang dem Drang nach Neuem entsagen, jenen Namen und ihren Büchern Zeit widmen, die wie Mahnmale in der europäischen Weltliteratur stehen.

Kat Menschik, eine Künstlerin, die beim Galiani Verlag ihre «Lieblingsbücher» illustriert und als Buchreihe herausgibt, hat eine märchenhafte und wortgewaltige Erzählung des Romantikers E.T.A. Hoffmann ebenso eigenwillig wie traumwandlerisch schön mit Bildern verstärkt. Vielleicht die Gelegenheit, um den ewigen Vorsatz in die Tat umzusetzen.

Elis Fröbom, eben zurück von einer monatelangen Schiffsfahrt auf dem Meer, auf der er nicht fand, worauf er gehofft hatte, sitzt als einziger trübselig und grübelnd abseits auf einer Bank, weg vom Getümmel. Ihm ist schon gar nicht nach Feiern zumute. Nicht nur, weil über dem Meer nicht zu finden war, wonach er suchte, sondern weil in den Monaten seiner Reise seine Mutter starb, ohne dass er etwas davon hätte erfahren können. Elis macht sich auf den Weg wie alle in einem Märchen, die sich aus einer Entfremdung aufmachen. Er wird gelockt und geführt von einem geheimnisvollen Alten, der ihm flüstert, «dass bei dem schwachen Schimmer des Grubenlichts des Menschen Auge hellsichtiger wird». Elis wandert vom Ufer des Meeres in die Berge von Falun, auf der Suche nach Glück und Erkenntnis und begibt sich in die Untiefen von Stollen und Schächten.

Es ist die märchenhafte Suche nach Einsicht und Durchsicht an die Grenzen von Ehrgeiz und Wahn. E.T.A. Hoffmann und Kat Menschik potenzieren gegenseitig die Wirkung ihrer Bilder, erzeugen beim Lesen einen rauschhaften Sog ins Geschehen, in den Taumel von Elis Fröbom. Die mehrschichtig überlagerten Illustrationen fügen sich perfekt in die Bilderwelt des grossen Dichters der Romantik.

Da freu ich mich auf den nächsten, im Oktober erscheinenden Band «Moabit», einen Volker-Kutscher-Krimi aus dem Berlin der 20er Jahre.

Kat Menschik ist freie Illustratorin. Sie gibt dem Feuilleton der FAZ die optische Prägung, diverse von ihr illustrierte Bände erlangten Kultstatus, u. a. Haruki Murakamis «Schlaf». Zahlreiche ihrer Bücher bekamen Auszeichnungen als schönste Bücher des Jahres. Bei Galiani sind erschienen: «Der Mordbrand von Örnolfsdalur und andere Isländersagas» (2011) sowie «Kalevala» (2014), «Der goldene Grubber» von großen Momenten und kleinen Niederlagen im Gartenjahr (2014), Shakespeares «Romeo und Julia» (2016) und Kafkas «Ein Landarzt» (2016).

Titelfoto: Sandra Kottonau

Yoko Ogawa «Zärtliche Klagen», Liebeskind

Es ist die Musik, die Ruhe, die Unaufgeregtheit, das Leben in der Stille, das Kammerspiel dreier Verletzter, die die Hauptrolle spielen in «Zärtliche Klagen», dem neusten Roman der Japanerin Yoko Ogawa. Ein Buch, dass man nach der letzten Seite ganz langsam schliesst und noch eine Weile über dem Herzen ruhen lässt, weil es dort angekommen ist.

Rukito fährt weg aus Tokio, hat genug von der Untreue ihres Mannes, den seelischen Grausamkeiten, denen sie sich nicht mehr entziehen kann. Sie fährt in die Berge, weg in das Landhaus ihrer Mutter, das weitab vom Lärm und der Hektik am Rande eines Waldes in einer kleinen Siedlung steht. Rukito ist Kalligrafin und nimmt sich vor, in der Abgeschiedenheit endlich die nötige Zeit aufzubringen, um die Memoiren einer alten, englischen Dame abzuschliessen. Das Haus in den Bergen soll verkauft werden, stand über Monate leer. Ein Ort ihrer Kindheit, der Erinnerungen. In der gleichen Siedlung leben Nitta, ein ehemaliger Pianist und nun gefragter Cembalobauer zusammen mit seiner jungen Assistentin Kaoru. Nitta baut dort in jener Stille und Abgeschiedenheit filigrane Instrumente, deren gezupfte Klänge in der Werkstatt des Meisterbauers zuhause zu sein scheinen.
Was sich zu Beginn der Lektüre wie eine leichte, unbeschwert herzliche Nachbarschaft entwickelt, wird immer mehr zu einem gemeinsamen Weg in die Tiefen der Verdrängung. Alle drei sind Entflohene, Weggelaufene, vom inneren Frieden Verlassene.

Yoko Ogawas Roman «Zärtliche Klagen» ist wie ein japanischer Garten, perfekt inszeniert, geheimnisvoll, aus europäischer Sicht etwas fremd. Wie die drei Protagonisten in Yoka Ogawas Roman agieren, erinnert an japanische Filmklassiker, die man liebt und doch nicht ganz versteht. «Les Tendres Plaintes» ist Musik des französischen Barock-Komponisten Jean-Philippe Rameau, von Kaoro, Nittas Assistentin, auf dem Cembalo so eindringlich gespielt, wie die Bilder und Emotionen, die sich beim Lesen Yoko Ogawas Roman auftun.

Yoko Ogawa gilt als eine der wichtigsten japanischen Autorinnen ihrer Generation. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Tanizaki-Jun’ichiro-Preis. Für ihren Roman »Das Geheimnis der Eulerschen Formel« erhielt sie den begehrten Yomiuri-Preis. Yoko Ogawa lebt mit ihrer Familie in der Präfektur Hyogo. «Zärtliche Klagen» wurde übersetzt von Sabine Mangold.

Husch Josten «Hier sind Drachen», Berlin Verlag

Caren, eine Journalistin, sitzt auf einem Flughafen fest. Der Teil, in dem die Passagiere auf ihren Flug von London nach Paris warten, ist abgesperrt. Nichts geht mehr. Niemand scheint etwas über die Gründe zu wissen. Irgendwann werden sogar Mobiltelefone eingesammelt. In diesem Vakuum aus Ungewissheit und latenter Angst sitzt Caren und schwenkt mit ihrem Blick in die Gesichter der Wartenden und in die Windungen ihrer eigenen Erinnerung.

Husch Josten erzählt klug und vielschichtig. Sie lässt mich teilhaben bis tief in das Innenleben einer Frau, die zum Innehalten gezwungen ist und dadurch Zeit hat, ihren Dämonen nachzuspüren. Sind es Zufälle, die sie immer wieder an Terror und Gewalt vorbeischrammen lassen? Warum blieb sie «übrig»? Der Schrecken von lauernder Vernichtung nistete sich ein, denn mehr als einmal schien es blosser Zufall, der sie vor dem sicheren Tod rettete. Seit jenen Geschehnissen senkt sich der Alp immer wieder langsam auf sie nieder, droht sie zu ersticken. Trotzdem bleibt sie Journalisten, bleibt beruflich ganz nah an diesem allgegenwärtigen Schrecken.

Aber Husch Josten genügt ein Erzählstrang allein nicht. Caren, die Journalistin, ist befreundet mit Ben. Sie liebt Ben. Aber Ben ist liiert mit Adelle. Eine Dreiecksgeschichte, in der jeder von jedem weiss, in der man sich in Gewohnheiten und scheinbaren Sicherheiten eingerichtet hat. Das Resultat aus Vernunft und Entscheidung, weil Caren alles andere als überzeugt davon ist, dass Ehen ehrlich, lebbar und zeitgemäss sind. Ben ist der Tadellose. Und eben diese Pause auf dem Flughafen Heathrow zwingt Caren ungewollt, sich Gedanken zu machen.

Während die Zeit beinahe stillzustehen scheint, beginnt sie zu fragen, was Liebe ihr bedeuten soll, ob nicht zu viele unglücklich sind in ihrer «pasteurisierten Zweisamkeit, ihren scheinheiligen Konstruktionen, in erstarrten Bildern der Tadellosigkeit». Und im Gate, Caren gegenüber, auch einer der Harrenden, sitzt ein Mann, liest und spricht, als würde er den Text auswendig lernen. Das Buch in seinen Händen ist vom Sprachphilosophen Wittgenstein. Caren, die den Unbekannten für sich Wittgenstein nennt, kommt mit ihm ins Gespräch. Zuerst über den Zufall, an den beide nicht glauben, später über das Wesen von Geschichten. Darüber, dass Geschichten das sind, was Menschen von allen anderen Lebewesen unterscheidet und letztlich alles sind, was Menschen «haben». Und dass sich hinter Geschichten andere Geschichten verbergen, unausgesprochene, der Schatten ihrer selbst. Beide, «Wittgenstein» und Caren, sind auf der Suche nach Geschichten, ihrer Geschichte. Es entwickelt sich zwischen den beiden ein Gespräch über Philosophie und Geschichten, ein Dialog, der packt und mitreisst. Ein Dialog, der zeigt, dass es Husch Josten beim Schreiben ebenfalls um weit mehr geht, als darum, eine Geschichte zu erzählen.

«Hier sind Drachen» ist ein Roman, in dem eine Lunte brennt. Bis es wirklich knallt und nichts mehr ist, wie es einmal war, nicht einmal Carens Liebe zu Ben. Husch Josten belohnt mich mit einem äusserst gescheiten und spannenden Buch über die Ohnmacht in der Liebe, über die Wirkung von Gewalt und die Macht von Geschichten. Ein gewichtiges Buch!

Husch Josten, geboren 1969, studierte Geschichte und Staatsrecht in Köln und Paris. Sie volontierte und arbeitete als Journalistin in beiden Städten, bis sie Mitte der 2000er Jahre nach London zog, wo sie als Autorin für Tageszeitungen und Magazine tätig war. 2011 erschien ihr Romandebüt »In Sachen Joseph«, das für den Aspekte-Literaturpreis nominiert wurde. 2012 legte sie den vielgelobten zweiten Roman »Das Glück von Frau Pfeiffer« vor und 2013 den Geschichtenband »Fragen Sie nach Fritz«. 2014 erschien der Roman »Der tadellose Herr Taft« und im Frühjahr 2017 »Hier sind Drachen« im Berlin Verlag. Husch Josten lebt heute wieder in Köln.

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau

Peter Weibel «Mensch Keun», edition bücherlese

Hannes ist alt und lebt abseits eines Dorfes. Nur noch selten geht er den Weg hinunter ins Dorf, weg von seinem Haus. Hannes ist Holzbildhauer, Künstler, schnitzt, haut, meisselt und raspelt seinen Mensch Keun, eine mannshohe Figur, die sich erhebt. Der Erzählung vorangestellt ist der Satz «Für Hannes – und für die unbekannten anderen, denen die Kraft zum Aufstehen fehlt.» Hannes steht auf, allen Widrigkeiten zum Trotz.

Hannes sieht, was aus dem Holz werden soll, schon lange bevor die Figur und ihre Details sichtbar werden. Während die Erinnerungen an seine Frau, die der Krebs zerfrass, die er bis zuletzt in seinem Haus in den Tod begleitete, bleiben, dieses Gefühl von Einsamkeit, des Verlassen-werdens. Mensch Keun steht als Verwundeter, Gefallener wieder auf, so wie Hannes, der immer offensichtlicher mit den Tücken des Alltags zu kämpfen hat. Auch wenn ihm Judith, seine Tochter alle zwei Wochen zur Hand geht, Ordnung in das ins Stolpern und Stocken geratene Leben bringt und Nora, die Frau von der Pflege, die immer ein offenes Ohr hat, ihre Hilfe nicht als mechanisches Verrichten versteht. Überall im Haus hängen kleine, von Hand geschrieben Zettel. Sätze, die Hannes nicht einfach dem Vergessen preisgeben will. Erinnerungen daran, dass das Leben und die kleinen Verrichtungen des Lebens in ein grösseres Ganzes gehören, dass man leicht aus den Augen verliert. Aber die Besuche der Pflegerin Nora werden immer seltener, so wie alles immer weniger wird, auch die Sicherheit darüber, dass Mensch Keun jemals fertig  wird. Ob die Kraft ausreichen wird, seine Aufgabe zu beenden. Hannes humpelt seinem Leben immer mehr hinterher, immer mehr allein gelassen, umgeben vom Sterben, den schwindenden Kräften. Erst recht, als Übereifer und «Pflichterfüllung» das drohende Gespenst der Heimeinweisung zu einem handgreiflichen Überfall werden lassen und Hannes niederzustrecken drohen. Aus dem Former Hannes, umgeben von seinen Figuren und den Spänen auf dem Boden, wird ein in sich zerfallenes Häufchen Elend im Rollstuhl.

Peter Weibel macht die Entwurzelung eines alten Mannes zur literarischen Kampfschrift. Aber es ist eine Kampfschrift der leisen Töne. So wie der Holzbildhauer Hannes ins Wesen des Holzes hineinschlüpft, so sehr schlüpft Peter Weibel in den alten Mann Hannes. Er versteht ihn auch dann noch, wenn Alter, Verwirrung und Gebrechen ein altes Leben fast unerreichbar werden lassen. Peter Weibel beweist unendlich viel Feingefühl, sowohl für die Sprache, wie auch für den Menschen Hannes, seinen Mensch Keun, der sich wieder aufrichtet, dem während des Lesens alle Sympathie entgegenströmt. Aber auch sein Verständnis darin, aus einem Stamm Holz einen kunstvollen Körper entstehen zu lassen – so als ob Peter Weibel im Schreibtisch Holzhammer und Stechbeitel liegen hätte. Peter Weibel schreibt engagiert und trotzdem unaufgeregt, mit Distanz und grosser Empathie, auch wenn Wortmeldungen jener, die sich wegen Hannes Schicksal in die Haare geraten hölzern und steif wirken.

«Mensch Keun» ist ein Kunst- und Schmuckstück, nicht zuletzt, wenn man es in Händen hält. Die Verlegerin Judith Kaufmann gab der Erzählung einen Einband wie ein Stück Holz. Wer das Büchlein in Händen hält, fährt wie Hannes über das Holz von Mensch Keun. Ein Buch, das mitten ins Herz zielt.

Peter Weibel, geboren 1947, hat Medizin studiert und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemein praktiker und in der Geriatrie. 1982 erschien ein erster Prosaband «Schmerzlose Sprache», seither veröffentlicht er regelmäßig Prosa und Lyrik. Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt 2014 mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flügel» (2013). Peter Weibel lebt in Bern.