Cynan Jones «Alles, was ich am Strand gefunden habe», Liebeskind

An der Küste findet der Hund eines alten Spaziergängers eines Morgens einen Toten, am Strand, weit weg von allem. Der Tote ist das Ende einer Geschichte, aber der Prolog zu einem Roman, der in der Presse als «Thriller» angepriesen wird, aber viel mehr ist als das. Eine Verlierergeschichte von Träumern, ein Psychogramm Verzweifelter.

Schon sein erster bei Liebeskind auf Deutsch erschienener Roman «Graben» ist eine «Parabel zwischen Gut und Böse». Eine Parabel allerding, die keinen Zweifel offen lässt, welche Seite mehr Gewicht in den ewigen Kampf werfen kann. Auch in «Alles, was ich am Strand gefunden habe» sind es zum Scheitern verurteilte Männerfiguren, Archetypen des Scheiterns, die sich im Roman irgendwann «über den Weg laufen» und das Geschehen kollabieren lassen.

Grzegorz, polnischer Migrant, verheiratet und Vater zweier kleiner Söhne, arbeitet in einem Schlachthaus Schicht. Ein trostloser Job, der nichts verspricht, der ihn abstumpfen und an der Menschlichkeit zweifeln lässt. Ein Mann, der sowohl an seiner Arbeitsstelle wie von seiner enttäuschten Frau schikaniert und ins Ungewisse getrieben wird. Grzegorz verschreibt sich nach der Arbeit Gelegenheitsjobs, die schnelles Geld versprechen. So auch eines Tages angeheuert auf einem Trawler im Meer, über dem ein Hubschrauber nachts Drogen abwirft. Diese Päckchen werden auf Schlauchboote verteilt, die mit dem Allernötigsten ausgerüstet das weisse Gold gleichmässig und unauffällig verteilt an die Küste bringen sollen. Grzegorz sitzt auf einem solchen Schlauchboot. Nur merkt er zu spät, dass sein bereits eingestellter elektronischer Kompass nicht funktioniert. Auf dem kleinen Schlauchboot im Dunkel der Nacht, ohne Verpflegung und Orientierung, mitten auf dem Meer, spitzt sich die eine Katastrophe zu.

Grzegorz Parallelfigur ist Hold, auch ein Getriebener. Vom Tod seines Freundes in ein Versprechen gedrängt, von dem er sich mehr fürchtet als verantwortlich fühlt, ist Hold überzeugt davon, irgendwann auf der Sonnenseite des Lebens stehen zu müssen. Irgendwann all die Träume, die er mit sich herumschleppt, wahr werden lassen zu müssen. So wie der Pole auf dem Boot, mit dem Versprechen, dass sich nun endlich alles zum Guten wenden würde, findet Hold am Strand ein Schlauchboot. Ein Schlauchboot mit einem Toten und mehreren Päckchen Kokain. Hold nimmt das weisse Pulver zu sich, das materialisierte Versprechen, dass nun alles endlich anders werden würde. Mit einem Mal sieht alles ganz einfach aus, als hätte ihm sein toter Freund aus der Ferne diese eine Chance zugeschoben. Aber aus der vermeintlich sicheren Sache, aus dem weissen Pulver Geld zu machen, wird ein ungleicher Kampf um Leben und Tod. Ein Kampf, den Cynan Jones nicht mit billiger Action und Unmengen von Brutalität und Blut austragen lässt. Einen Kampf, den Jones in seinen Protagonisten inszeniert, die sich dabei immer tragischer im eigenen Unglück verstricken.

Cynan Jones schrieb einen Thriller ohne das sonst so sinnlose «Beigemüse», das sich zu oft zum Wichtigsten aufbläst. Wie in den plumpen Kinostreifen, die mit Action protzen und Spannung mit Schock- und Schreckmomenten verwechseln. Jones bleibt beim Kleinen, siedelt die Action in der sich immer fataler breit machenden Verzweiflung der Protagonisten an. Und weil Cynan Jones nicht einfach chronologisch erzählt, ist es, als würde er seine grosse cineastische Schicksalgeschichte gleichzeitig an mehreren Enden zu zeichnen beginnen und sie so Seite um Seite, Stück für Stück zu einem wirklich grossen Ganzen zusammenfügen. Der Prolog gibt unmissverständlich zu verstehen; diese Geschichte, wenn sie denn wirklich endet, endet nicht gut. Der Roman ist mit so eisiger Schärfe erzählt, als würde kalter und eisnasser Wind durch die Seiten wehen. Cynan Jones Roman halte ich für ein Meisterstück. «Alles, was ich am Strand gefunden habe» erzählt von der permanenten Verzweiflung und dem alles dominierenden Wunsch, dereinst wie Phönix aus der Asche zu steigen. Genährt von der Wut darüber, dass es stets «die Falschen» schaffen, obwohl doch eigentlich sie an der Reihe wären. Wie Cynan Jones den Gepeinigten an den Grund der Seele leuchtet, ist meisterhaft.

Cynan Jones wurde 1975 in Wales geboren. Er ist Autor von vier Romanen und zahlreichen Erzählungen, die in Zeitschriften wie «Granta Magazine» oder der «New Welsh Review» veröffentlicht wurden. Für seinen Debütroman wurde er 2007 mit dem Betty Trask Award ausgezeichnet, für «Graben«» erhielt er 2014 den Jerwood Fiction Uncovered Prize. Cynan Jones lebt in der Nähe von Aberaeron an der walisischen Küste. «Alles, was ich am Strand gefunden habe» wurde aus den Englischen von Peter Torberg übersetzt.

Titelfoto: Sandra Kottonau

China Miéville «Dieser Volkszähler», Liebeskind

Irgendwo in den Bergen liegt ein Dorf an einem Fluss, ein Brückendorf. Irgendwann in der Zukunft spielt die Geschichte eines Schlüsselmachers und seines Sohnes, nicht die Geschichte einer Liebe, sondern des gegenseitigen Misstrauens. China Miéville, ein Engländer aus Norwich, schrieb einen Roman zwischen Traum und Wirklichkeit, eine Geschichte aus einer anderen, fremden Zeit. Eine Geschichte in starken, dunklen, ungeheuren Bildern.

Ich lese kaum Fantasy Romane, mag das Abgewandte von der Realität nicht. Vor einigen Jahren waren es höchstens die Romane von Patrick Rothfuss, die mir ein Freund zu lesen empfahl. Aber auch jene entführten mich in eine mir fremde Unwirklichkeit. China Miéville schreibt aber nicht die Sorte Romane. Sie spielen nicht in weltfremden Ländern, vergessenen Zeiten. Es gibt keine Zwerge, Zauberer, Orks und Elfen. «Dieser Volkszähler» erzählt eine Geschichte in unbestimmter Zukunft, in einer Zeit, in der sich vieles von der Gegenwart unterscheidet, unsere Gegenwart kaum noch eine Erinnerung ist, vieles vergessen scheint. Ein Mann, von Beruf Schlüsselmacher, lebt mit seiner Frau und seinem Sohn hoch über dem Brückendorf weit ab in einem Haus am Hang. Man sucht den Schlüsselmacher auf, bittet um ganz spezielle Schlüssel, die der Handwerker in seiner Werkstatt im Erdgeschoss seines Hauses fertigt. Schlüssel, die nicht unbedingt Türen öffnen sollen. «Seine Kunden kamen aus dem Dorf zu ihm hinauf und baten um Dinge, um die Menschen üblicherweise bitten; um Liebe, Geld, darum, etwas zu öffnen, die Zukunft zu erfahren, Tiere zu heilen, Sachen zu reparieren, stärker zu werden, jemanden zu verletzen oder zu retten, zu fliegen -, und er machte ihnen einen Schlüssel dafür.»

Die Mutter ist still, der Vater noch mehr, das Dorf weit weg, Besucher selten, Besuch in der Stadt um Fluss auch. Bis der Sohn eines Tages in einem Alp aus Angst und Schrecken hinunter ins Dorf flüchtet und schluchzt, sein Vater habe seine Mutter im Streit erschlagen. Für eine Weile bleibt der Junge im Ort, bei den Kindern ohne Eltern, geführt vom grossen Mädchen Somma, den Kindern, die in Ruinen hausen, den Brückenkindern, die Fledermäuse fangen und essen.

Die Geschichte spitzt sich zu, ungemein atmosphärisch erzählt, bis dieser Volkszähler zu klären versucht, was dem Jungen unerklärbar bleiben wird. Der Junge muss zurück zu seinem Vater, einem Mann, dem er zu tiefst misstraut, der seine Einsamkeit noch viel grösser werden lässt. Ein Roman wie ein Traum, schlafwandlerisch erzählt. Während ich las, stiegen Bilder auf, die sich wie düstere, in dunkles Licht getauchte Theaterkulissen in meine Erinnerung brannten.

China Miéville schreibt Fantasy anders. Auch viel konzentrierter, denn seine Novelle hat gerade einmal 172 Seiten. Im Gegensatz zu den meist episch angelegten Fantasy-Wälzern, die einem am liebsten nie mehr entlassen würden.

China Miéville, 1972 in Norwich geboren, gilt als einer der wichtigsten Autoren der zeitgenössischen Fantastik. Er studierte Sozialanthropologie in Cambridge und Politikwissenschaft an der London School of Economics. Sein Debütroman «König Ratte» erschien 1998. Für seinen Roman «Perdido Street Station» erhielt er 2001 den Arthur C. Clarke Award sowie den British Fantasy Award. Mit seinem Roman «Die Stadt & Die Stadt» gewann er 2010 neben dem Arthur C. Clarke Award auch den Hugo Award und den World Fantasy Award. In Deutschland wurde er drei Mal mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet. China Miéville kandidierte 2001 für die Internationale Sozialistische Allianz bei den britischen Unterhauswahlen, bis 2013 war er aktives Mitglied der Socialist Workers Party. Er lebt und arbeitet in London.

Bild: Sandra Kottonau