Eindrücke und Statements vom 16. Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Das 16. Wortlaut St. Galler Literaturfestival war ein voller Erfolg. Für drei Tage war die Ostschweizer Metropole das Mekka der Literatur. 40 Gäste aus dem In- und Ausland beglückten Literaturinteressierte mit Lesungen, Performances, Gesprächen und Musik und boten spannende Impulse zum Festivalmotto «Hoffen und Bangen».

Ein sehr schönes Festival in St. Gallen, tolles Publikum, spannende Gäste, perfekte Organisation, gutes Essen. Vielen Dank dafür. Peter Stamm

© Timona Furrer
Dank an Ariane Novel, Gallus Frei und das ganze Festivalteam für Frühlingstage in St.Gallen – an Peter Stamm für die Einladung zum Carte Blanche am Sonntagmittag… und ein großer Dank an ein tolles Publikum: Schön war’s! Judith Hermann
 
© Timon Furrer
Ich durfte als Stadtrat die Begrüssungsrede halten. Ein kleiner Auszug davon: «Das Motto hat mich sehr bewegt und zugleich herausgefordert. Herausgefordert hat es mich in den vergangenen Tagen, wenn nicht Wochen, im Hinblick auf den vom OK an mich gestellten Auftrag, nämliche eine «Kleine Ansprache» zum Motto «Hoffen und Bangen» zu halten. Ich habe gehadert. Den Anstoss gegeben hat mir dann letzten Endes der Artikel im Tagblatt vom vergangenen Mittwoch, in dem Gallus Frei zitiert wird, dass ‘Texte etwas auslösen müssen – sei es Begeisterung, Faszination oder Verunsicherung’; ein Text dürfe nicht kalt lassen.» Persönliche Schicksale können und sollen im Literaturbereich verarbeitet werden. Das ist einem Publikum zuzumuten, meine ich. Danke, lieber Gallus, liebes OK für die Möglichkeit! Mathias Gabathuler, Stadtrat
 
© chrispix

«Lieber Gallus Frei, dieses Festival ist ein ganz besonderes Erlebnis gewesen. Vielen lieben Dank für die großartige Organisation und den schönen Leseort. Es war ein großes Vergnügen, vor dem Schweizer Publikum lesen sowie Rede und Antwort stehen zu dürfen. Ich freue mich auf ein Wiedersehen!» Ewald Arenz

© Timon Furrer

«Quand on va de Genève à Saint-Gall, c’est comme traverser en un jour un immense pays. Et quand on arrive à la poste de Saint-Gall et qu’on est accueilli avec tant de sympathie, on se dit que ça valait vraiment le voyage. En merci, cher Gallus, de m’avoir laissé parler en public d’Un dimanche à la montagne, c’était une première en Suisse. Amicalement.» Daniel de Roulet

© Timon Furrer

«Was für ein schöner Sonntagmorgen! Die Matinee-Gäste, das Wetter und dir Betreuung vom Wortlaut-Team: alles wunderfrühlingsherrlichschön. Vielen Dank für die Einladung zu Wortlaut!» Michèle Minelli

© Sandra Kottonau

«Es war so erfreulich, wieder beim literarischen St. Galler Heimspiel mit dabei sein zu dürfen! Ich hatte – auch dank der tollen Moderatorin Cornelia Mechler – einen wunderbaren Anlass. Ein Heimspiel eben. Danke Wortlaut!» Christoph Keller

© Sandra Kottonau

«Es hat Freude gemacht, die grosse Bibliothek wie verzaubert zu sehen und immer wieder Leute zu beobachten, die Räume suchend herumeilten, um die nächste Lesung nicht zu verpassen, während andere in Sesseln sassen und lasen. Hoffen und bangen – beides Verben, die sich auf die Zukunft beziehen. Und auch ein Anlass, zu bemerken, dass sich in der Gegenwart Dinge erfüllen, die man sich gewünscht und nach denen man sich gesehnt hat!» Judith Keller

«Was erst als Notvariante erschien, entpuppte sich bei dem schlechten Wetter als goldrichtig: ein prallvolles Bibliotheks Café mit interessiertem Publikum. Die Sofabank als improvisierte Bühne gewährte zumindest einen Hauch von Strassentheater. Vielen Dank ans gesamte sehr engagierte Wortlaut Team.» Marcus Schäfer

Daniela Koch (Atlantis), Jo Lendle (Hanser), Bettina Spoerri (Geparden) und Moderator Jürg Ackermann (Tagblatt) © Philipp Neff
«Liebe Ariane und lieber Gallus, es war mir eine Freude, bei eurem schönen Festival dabei zu sein. Das Podiumsgespräch (Zukunft des Buches) war für mich sehr anregend und schlug klar Richtung «Hoffen» aus. Die Branche ist unter Druck, ja, aber sie ist auch stark und entwickelt immer wieder gute Ideen. Was man nicht zuletzt bei einem Festival wie Wortlaut in St. Gallen spüren kann!» Daniela Koch
 
Laura Vogt und Theres Roth-Hunkeler © Sandra Kottonau

«Ich trage das Wortlaut-Bändchen noch immer am Arm, damit die Erinnerungen an die Begegnungen mit Texten und Menschen, die der Literatur gewogen sind, immer wieder aufwallen. Ein grossartiges Festial habt ihr uns geschenkt. Vielfältiges Programm, tolle Moderator:innen, schöne Räumlichkeiten und heitere Atmosphäre. Ja, hoffen, hoffen, hoffen – das Bangen ist eh immer präsent. Grossen Dank für eure riesige Arbeit.» Theres Roth-Hunkeler

© Philipp Neff

«Grosses Dankeschön an das gesamte Wortlaut-Team. Dank Gallus Initiative durften wir im Café San Gall die Kurzlesungen geben. Eine riesen Chance und einmalige Erfahrung für uns Neulinge. Es war ein unvergessliches Erlebnis, an das ich gerne zurückdenke. Ich freue mich jetzt schon auf nächstes Jahr, wenn St. Gallen sich wieder von seiner literarischen Seite zeigt.» Noreen

© Sandra Kottonau

«Danke dem ganzen Wortlautteam, allen Helfenden für die Gastfreundschaft, eure umsichtige Planung, ihr habt selbst an so viele Kleinigkeiten gedacht, die es so angenehm gemacht habe. Auch mir war es eine wirklich Freude dabei sein zu dürfen. Danke für das Vertrauen in unsere Arbeit. Dieser Dank gilt auch meinen beiden Gesprächspartnern Frédérik Zwicker und Ewald Arenz, es waren sehr persönliche und spannende Einblicke in ihre Geschichten.» Judith Zwick

© Philipp Neff

«Ein riesengrosser Dank an Ariane und das ganze Wortlaut-Team, dass ihr die «Lücke» so rasch, umsichtig und mit so unendlich grossem Engagement füllen konntet. Der Tag war rundum gelungen, meine Moderationen waren mir eine Ehre und Freude zugleich. Schön war auch, dass genügend Zeit zum Austausch blieb.» Cornelia Mechler

© Timon Furrer

«Vielen Dank für die schöne Einladung zum Wortlaut-Festival, es war mir eine Freude und Ehre, bei der Eröffnung mitzuwirken.» Svenja Flasspöhler

© Timon Furrer

«Es war wunderbar, Teil des Wortlaut Festivals zu sein und zu erleben, wie sich Menschen begeistern lassen für Texte, Gedanken, das gesprochene Wort.» Barbara Bleisch

© Timon Furrer

«Perfekt aufgegleist, deshalb – und dank rasanter Reorganisation des restlichen Teams – reibungslos über die Bühne gegangen. Es war uns eine Ehre, den Eröffnungsabend mit Hekto Super musikalisch zu begleiten. Und auch meine Lesung aus Carlas Scherben – wunderbar moderiert von Judith Zwick vor vollem Saal – war eine Freude. Herzlichen Dank Ariane, Diana, Rebecca, Karsten, Gallus und allen anderen für alles!» Frédéric Zwicker

© Sandra Kottonau

„Das Festival war super. Dass es in einer geöffneten, öffentlichen Biblothek stattfand, gab der Sache einen besonderen Charme. Vielen Dank für die super Organisition!“ Steven Wyss

© Philipp Neff

«Die Wortlautausgabe 2025 hatte ein sehr tolles Programm mit vielen guten wichtigen Frauenstimmen. Meinen eigenen Talk hab ich sehr genossen! Es war so erfrischend, voll inspirierend und ungeheuer ermutigend, mich mit den drei jungen Frauen Léa, Phoebe und Vera auszutauschen.» Lika Nüssli

© Timon Furrer

«Das Gespräch von meinen Maturandinnen Lara Hofstetter und Julia Mülli mit den american poets Jan Heller Levi und Jan Herman war berührend, tiefsinnig und von gegenseitigem Respekt getragen. Ich bin dankbar, dass ich es anregen durfte.» Florian Vetsch

© Sandra Kottonau

«Merci beaucoup pour l’invitation à St Gallen, c’était une joie de participer au festival!» Douna Loup

© Philipp Neff

«Dem ganzen Wortlaut-Team ein grosses Dankeschön für die Einladung und Möglichkeit, an diesem wunderbaren Literaturfestival eine Kurzlesung zu halten. Eine tolle Stimmung, anregende Gespräche und schöne literarische Momente. Ein grosses Merci.» Raphael Schweighauser

16. Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Andrea Gerster «Bleibender Schaden», Geparden

Anda hat es nicht auf die Sonnenseite des Lebens geschafft. Das Leben watscht sie gandenlos ab. Ein Leben, in das sie sich selbst und andere sie hineinmanövriert hatten. Ein Leben, das irgendwann nur noch aus Trümmern bestand, trotz all der guten Absichten, die da einmal waren.

„Bleibender Schaden“ ist ein ungemein eindringliches Buch. Das Buch einer Bruchlandung, von einem Leben, bei dem kein Stein auf dem andern bleibt. Ein Roman jener Sorte, die nicht beschönigen, keine Geschichtchen erzählen, weder bezaubern noch betören will – wenn dann nur durch die Sprache. Und das hat der neue Roman von Andrea Gerster ganz; die Qualität einer sprachlichen Offenbarung. Auch wenn es für die Geschichte beinahe einen Beipackzettel bräuchte.

Anda ist verheiratet, Mutter erwachsener Zwillinge und arbeitet als Ergothearpeutin in einer sozialen Einrichtung. Ein Beruf, bei dem körperliche Nähe Basis ist, unvermeidbar. Aber auch ein Beruf, der Risiken birgt, gerade dann, wenn Grenzen überschritten werden. Anda wird während einer Therapiestunde von einem älteren Patienten geschlagen. Zweimal. Mitten ins Gesicht. Schläge nicht nur ins Gesicht, Schläge in ihre Mitte, die eh schon lange aus dem Lot geraten ist. Anda kämpft um ihr Gleichgewicht. Nicht nur dass die Beziehung zu den erwachsenen Kindern schwierig geworden ist. Luk, ihr Mann, hat einen Seitensprung zugegeben, ein Affäre, die noch nicht durch ist. Aber statt Reue seinerseits schafft es Luk, ihr das schlechte Gefühl unterzuschieben, als wäre sie es, die den Schritt zur Wiedergutmachung machen müsste. Als läge es an ihr, ihm zu verzeihen.

Als unsere Zwillinge noch Kinder waren, roch das Leben nach Zukunft.

Andrea Gerster «Bleibender Schaden», Geparden, 2025, 152 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-907406-15-1

Eines Abends kommt Anda von der Arbeit nach Hause. Luk demonstiert Hausmannskraft. Nur Bob, der Hund, fläzt faul auf seinem Polster. Bis es im Obergeschoss rumpelt und der Staubsauger in gleichmässigem Geräusch weiterheult. Als Anda nach oben geht, findet sie Luk, ihren Mann, zusammengebrochen auf dem Boden, reglos, mit geschlossenen Augen.

Sie wüsste, was zu tun ist. Sie müsste zum Telefon greifen und anrufen. Luk in Seitenlage drehen. Aber Anda tut es nicht, wartet. Ich warte gern, bis du wieder so weit bist, hatte Luk gesagt. Jetzt wartet Anda.

Später liegt Luk im Spital im Koma. Auf einmal ist Anda aus einem Leben gerissen, aus dem es keinen Fluchtweg zu geben schien. Alles, was sich in der Vergangenheit für Momente als Fluchtversuche anfühlte, waren Sackgassen. Die manischen Fahrten mit Rolltreppen genauso wie der Alkohol, mit dem sie sich zu trösten versuchte.
Während ihr Mann im Koma sein Leben ausgesetzt hat, rollt es sich für Anda vor ihr aus. Ein Leben, das nur noch als Resten besteht, in denen selbst die „guten“ Erinnerungen zu verblassen drohen.

Es braucht mich nicht, hatte mich nie gebraucht.

Anda versucht sie neu zu erfinden, neu einzurichten, darauf vorzubereiten, nicht wieder in alte Muster zurückzufallen. Soll sie auf Luks Rückkehr hoffen, auf Besserung? Oder wäre das schlimmste Szenario für ihn das beste für sie? Anders leben als bisher, auf jeden Fall so, wie ich es will, mahnt sie sich selbst. Luks Zusammenbruch, die Leere zuhause, ist für Anda die Aufforderung zu einem Neuanfang. So wie Erinnerungen in ihr hochkriechen, die Sehnsucht nach einem kleinen Stück Glück, so sehr will sie sich befreien von den Damönen ihrer Vergangenheit, nicht zuletzt vom Klammergriff ihrer Alkoholsucht, einer schwierigen Familiengeschichte, von einer Mutter, die nie da war, von den Schlägen und Bestrafungen ihres Ehemannes.

Sie, die es mit ihren Kindern hätte besser machen wollen, sie, die mit Luk hoffnungsvoll in eine Liebe steuerte, sie, die immer wieder glaubte, es wäre da eine Tür, Therapien würden helfen, sie, die konstatieren musste, dass stets Luk die Trümpfe in der Hand hatte.

„Bleibender Schaden“ ist stark geschrieben, vielschichteig, von bestechender Intensität.

Andrea Gerster, geboren 1959 in Schaffhausen, ist vielseitig künstlerisch tätig. Neben ihrer langjährigen Arbeit als Journalistin für Tageszeitungen und Magazine organisierte sie u.a. auch zahlreiche Literaturveranstaltungen. 2002 wandte sie sich überwiegend dem literarischen Schreiben zu. Andrea Gerster wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit einem Anerkennungspreis der UBS Kulturstiftung. Sie lebt im Kanton Thurgau. Zuletzt erschienen u.a. «Verlangen nach mehr» (Roman, 2014), «Alex und Nelli» (Roman, 2017).

Beitragsbild © Miklós Klaus Rózsa

Literaturhaus Vorarlberg – ein Palast der Künste

Manchmal müssen Prozesse dauern, um Ziele zu erreichen oder diese gar zu übertreffen. Was in Hohenems an der Radezkystrasse 1 noch immer entsteht und am 5. April feierlich eingeweiht wurde, ist mehr als beeindruckend.

Das grosse Haus steht mitten in Hohenems. Berta Thurnherr, eine Mundartdichterin aus Diepoldsau, erzählte mir, sie habe sich immer ein bisschen gefürchtet, wenn sie an dem lange leergestandenen Haus vorbeigegangen sei. Nur schwer zu ertragen sei es gewesen, dass mitten im Ort ein so stolzes und schönes Haus dem Zerfall preisgegeben wurde. Daniela Egger, Obfrau des Trägervereins, erzählte an der Eröffnungsfeier sichtlich stolz und gerührt, wie lange es dauern musste, dass die Literatur an diesem Ort zusammen mit diesen Menschen einen derart schönen und würdigen Raum erhält: Raum für Begegnungen, zum Schreiben und Lesen, ein Raum, der die Literatur feiert, nicht nur am Tag der Eröffnung.

Rückkehr der Fenster ins Literaturhaus © Frauke Kühn

Dass dieses Haus nun der Literatur übergeben wird, muss dem unermüdlichen Einsatz einer unerschrockenen Gruppe Literaturbegeisterter angerechnet werden und einer ganzen Reihe von Glücksfällen, nicht zuletzt jenem, dass die Kunst in Zeiten steigender Geldknappheit in der Politik, auf Landes- und Stadtebene Unterstützung erhielt. Aber es wäre nicht passiert, wenn nicht einzelne Exponent*innen über Jahre an diesen einen Moment geglaubt hätten, allen voran die Geschäftsführerin und Leiterin des Literaturhauses Frauke Kühn. Mit strategischem Geschick, dem nötigen Charme und klugem Team wurde aus einer Ruine ein Palast der Literatur.

© Frauke Kühn

Was nun in vollem Glanz erstrahlt und jede Skepsis in Luft auflösen muss, beweist, was Idealismus, Fleiss und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit erreichen kann. Ganz offensichtlich muss dieser Ort nicht nur für die Literatur zu einem stolzen Flaggschiff geworden sein. Hier hat sich Politik, eine ganze Region, eine Stadt ein steinernes Statement geschaffen: in Zeiten, in denen anderorts mit der Kettensäge institutionell vernichtet wird, setzt man hier ein Zeichen, weil eine ganze Schar von Menschen und ganz offensichtlich auch eine breite Öffentlichkeit davon überzeugt sind, dass Literatur, Kunst Brücken bauen, verbinden, Neues erschaffen und Inhalt und Sinn spenden kann.

Leiterin Frauke Kühn © Lukas Mathis

Literaturhäuser sind weit mehr als Veranstaltungsorte, wenn man ihnen denn die Chance gibt, das zu werden, was in vielen Literaturhäusern geboten wird. So wie Festivals schon längst gemerkt haben, dass da mehr passieren muss als traditionelle „Wasserglaslesungen“, so werden solche Häuser das, was in Politik und Gesellschaft mehr und mehr zum diffizilen Minenfeld wird, zu einem Hort des Dialogs, des Austauschs, einem Ort der Kontemplation und Muse, einem Ort, wo sich die Künste treffen, weit über die Literatur hinaus.

allerlei lindernde Texte

Für mich als St. Galler der lebendige Beweis dafür, was ein Bewusstsein weit über den Zahlen erschliessen kann. Dass es die Buchstadt St. Gallen nicht schafft, Kulturinteressierten ein solches Haus zu bieten, erschliesst sich mir in keiner Weise. Dass es der kleine Kanton Thurgau seit einem Vierteljahrhundert möglich macht und der grosse Nachbarkanton nicht, eine Universitätsstadt nicht, der Ort einer der bedeutendsten Bibliotheken nicht, macht mich traurig. Klar, es gibt das Literaturhaus St. Gallen. Aber nur als vagabundierender, chronisch unterbesetzter Veranstalter. Was die Leitung des Literaturhauses St. Gallen an Veranstaltungen organisiert, ist erstaunlich und von hoher Qualität. Nichtsdestotrotz fehlt der physische Ort, der Hort, die Wiege, der Palast.

Die erste Veranstaltung anlässlich der Eröffnung mit Hengameh Yaghoobifarah, Nando von Arb und Raphaela Edelbauer © Lukas Mathis

Hohenems hat Jahrzehnte gebraucht. Eine lange Geschichte mit vielen glücklichen Wendungen. Noch ist von jenen Wendungen in St. Gallen nichts zu spüren. Und dabei liegen die Ursachen nicht nur in der Politik.

Webseite Literaturhaus Vorarlberg

«Es ist nicht leicht, Mensch zu sein» über «Wiederholung» von Vigdis Hjorth, S. Fischer (19)

Lieber Bär

„Die Zeit heilt Wunden“, sagt man und versucht zu trösten, sehr oft sich selbst. Aber gibt es Heilung, oder ist das, was wir unter Heilung verstehen, das Akzeptieren einer Verwundung, eine bleibende Narbe, die einem immer wieder einmal in Erinnerung ruft, was da einmal geschah. Du bist Arzt und weisst viel besser als ich, was Verletzungen mit uns machen. Dass sich solche Wunden, solche Verletzungen, die sich vielleicht nur oberflächlich schliessen, Jahrzehnte später wieder aufbrechen können, manchmal gar über Generationen.

Die Erzählerin, Vigdis Hjorth lässt in ihren Romanen keinen Zweifel darüber, ob es nicht doch Fiktion sein könnte, zieht sich in eine einsame Hütte in Nordamerika zurück und muss feststellen, dass ausgerechnet in dieser selbst gewählten Einsamkeit, die ihr doch eigentlich Erholung schenken sollte, etwas aufbricht, was Jahrzehnte in der Seele unter Verschluss war. Etwas, was mit Sicherheit in jedes Stück Gegenwart miteinwirkte.

Was damals geschah, als sie sechzehn war und an einem Tag im November jenen Tiefpunkt erreichte, der die Beziehung zu ihren Eltern unwiderruflich zu einem Alp machte, musste in diesem Buch niedergeschrieben werden. Ein junges Mädchen spürt, dass es an einem Wendepunkt in ihrem Leben ist. Dort, wo das Eine, Entscheidende endlich geschehen und aus ihr eine Erwachsene, eine Eingeweihte machen soll. Sie spürt es, weil es in der Schule, überall dort, wo sie mit Gleichaltrigen zusammentrifft, wie das Tor zu einer anderen Welt über allem schimmert, eine Art Sternentor. Etwas, das aus ihr etwas Ganzes macht, das ihr zeigt, wie sich wirkliches Leben anfühlen soll.

Aber ihr Elternhaus, allen voran ihre Mutter, begegnet diesem Drängen, dieser Sehnsucht, dieser ganz natürlichen Regung mit maximaler Angst, mit Misstrauen, mit der Furcht, dass das, was da geschehen könnte, auf sie und ihre Familie einbrechen könnte. Eine Mutter, die wie ein Geier über das Leben ihrer Tochter wacht, die in jeder Regung den Untergang, das Verkommene, das Unwiederbringliche sieht. Zwischen Mutter und Tochter reisst ein unüberwindbarer Graben auf, ein Graben aus Lügen, Verdächtigungen und Angst.

Vigdis Hjorth «Wiederholung», S. Fischer, 2025, aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs, 160 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-10-397690-8

Dabei hat die junge Frau doch nur den einen Wunsch; jenes Geheimnis zu lüften, das in ihrer Welt, unter ihren Freundinnen, dann, wenn sie sich mit den Jungs aus dem Ort in irgend einer Wohnung treffen, Musik hören, tanzen, Bier trinken, rauchen und knutschen als wilder Drang ankündigt. Dieser eine Moment, wenn sie der eine Junge, der schon etwas älter als sie ist, an der Hand nimmt, in ein Zimmer im Obergeschoss führt und tut, wovon sie weiss, dass es der grosse Anfang sein muss, das, wofür sie in ihrem Tagebuch den einen freien Platz reserviert hat.

Verletzungen geschehen unweigerlich, auch in Familien, in der Erziehung. Etwas vom schlimmsten an solchen Verletzungen, ist das Schweigen darüber, das Zudecken, das So-tun-als-ob, die Unfähigkeit, über den eigenen Schatten zu springen. Vigdis Hjorth Roman ist keine leicht verdauliche Kost, obwohl sich das Buch scheinbar leicht lesen lässt. Das liegt an der Sprache der Autorin, dem Umstand, dass da eine Frau aus jahrzehntelanger Distanz erzählt und zu ordnen versucht. Denn was damals geschah, hat ihr offenbart, was Sprache auszulösen vermag.

Ich begegnete der Autorin bei einem Literaturfestival in Österreich, lernte sie erst im Vorfeld dieses Festivals als Autorin kennen. Eine überaus streitbare Autorin, die mit ihren Romanen in Norwegen grosse Wellen warf, nicht zuletzt darum, weil sie ihre Familie zu ihrer Bühne machte.

Wie ist es Dir bei der Lektüre ergangen?

Liebgruss
Gallus

***

Lieber Gallus

Dieses Buch, der Tipp von dir ist ein literarisches Meisterstück, existentiell, beklemmend und tiefbohrend. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die durch ein unausgesprochenes Geheimnis ihrer Familie gezwungen wird, alles allein schweigend zu tragen. Es geht um die Macht des Erinnerns und die Suche nach Wahrheit, darum, was Angst- und Schuldgefühle bewirken, wenn eine Aussprache nicht möglich ist.

Alles, was du vergessen willst, kehrt zu dir zurück, es sucht dich heim, so wahrhaftig, dass du das Gefühl hast, es noch einmal zu durchleben. Wiederholung ist der Ernst des Lebens.

Der sechzehnjährigen Frau gelingt es nur durch Alkohol, der ängstlichen Kontrolle ihrer Mutter kurz zu entkommen. Diese steht am Fenster, wenn sie heimkommt, sie will genau wissen, mit wem sie sich getroffen hat, ob geraucht oder Alkohol getrunken wurde. Dies übt so viel Druck aus, dass die Protagonistin zur «Bombe» wird, die genau das sucht, was die Eltern verhindern wollen. Eine Aussprache wird durch Angst- und Schuldgefühle verunmöglicht. Die Tochter kann ihr Tagebuch, das die Mutter eines Tages liest, nicht besprechen, beiderseits wird schweigend in Vermutungen gelebt, Hass entsteht. «Es ist nicht leicht, Mensch zu sein», wie der Vater geheimnisvoll ausspricht, nachdem er sich erstmals betrunken hat. Die Eltern haben ihrerseits eine Schuld, die nicht genau ausgesprochen wird, Missbrauch? 

Deshalb kam ich nicht auf die Idee, weder damals noch in den Jahren danach, Mutter Vorwürfe zu machen, weil sie mein Tagebuch gelesen hatte. Denn darum ging es nicht, nicht das war das Verbrechen, das Verbrechen war ein anderes, eines, mit dem keine von uns in Berührung kommen durfte, und ich war schon im Voraus schuldig. Ich verspürte starke Schuld.

Es gelingt Viridis Hjorth einzigartig, menschliches Verhalten atmosphärisch dicht und leidenschaftlich in Sprache umzusetzen. Spannend und tief berührend! Existentiell!

Ich wünsche diesem Buch viele Leserinnen und Leser.

Herzlich Bär

Vigdis Hjorth, 1959 in Oslo geboren, ist eine der meistrezipierten Gegenwartsautorinnen Norwegens. Sie ist vielfache Bestsellerautorin, wurde für ihr Werk unter anderem mit dem norwegischen Kritikerprisen und dem Bokhandlerprisen ausgezeichnet und war für den Literaturpreis des Nordischen Rates, den National Book Award sowie den International Booker Prize nominiert. 2023 erschien «Die Wahrheiten meiner Mutter», im Frühjahr 2024 der Roman «Ein falsches Wort». Nach Stationen in Kopenhagen, Bergen, in der Schweiz und in Frankreich lebt Vigdis Hjorth heute in Oslo.

Gabriele Haefs, geboren 1953, studierte Sprachwissenschaft in Bonn und Hamburg. Sie übersetzt aus dem Norwegischen, Dänischen, Schwedischen, Englischen, Niederländischen und Gälischen, u.a. Werke von Jostein Gaarder, Håkan Nesser und Anne Holt. 

Beitragsbild © Agnete Brun

Matteo B. Bianchi «Von dem, der bleibt», dtv

Vielleicht ist der Schmerz des Zurückgelassenseins einer der heftigsten, wenn sich Schmerzen überhaupt vergleichen lassen. Und doch gibt es den Schmerz, der vergeht, der sich relativiert. Und es gibt jenen, der sich über Jahrzehnte durch die Seele frisst.

Matteo B. Bianci erzählt in „Von dem, der bleibt“ von seiner grossen Liebe zu A. Und von seinem unendlichen Schmerz darüber, dass A. seinem Leben ein Ende setzte und ihn zurückliess. Ein ungemein persönliches Buch, das darum nicht scheitert, weil sich die Erzählstimme direkt an mich wendet, weil sich da einer auftut, weil jemand seinen Schmerz erklären will, um mir mit meinem Schmerz zu helfen. Und doch kein Selbsthilfebuch. Auch kein Protokoll der Selbstzerfleischung.

Matteo B. Bianci schrieb dieses Buch über Jahrzehnte und veröffentlichte es mehr als zwanzig Jahre nach dem Tod seiner damaligen Liebe. Ein Buch, das geschrieben werden musste, um Ordnung zu schaffen, um Zeugnis davon abzulegen, dass ein solcher Schmerz trotz allem umgewandelt werden kann. Ein Buch, das von einem unsäglich langen Prozess erzählt, bis zur Entscheidung, ob man sein Leben ganz diesem Schmerz widmen oder über ihn hinaussteigen will.

Ein Anruf von A. ins Büro: „Wenn du wiederkommst, bin ich schon nicht mehr da.“ Sie hatten sich nach sieben Jahren Beziehung vor wenigen Monaten getrennt. A. lebte noch immer phasenweise in der einstmals gemeinsamen Wohnung. Sie trugen Auseinandersetzungen aus, aber nichts hätte darauf hingewiesen, dass es in einer Katastrophe ausarten würde. Als Matteo am Abend nach Hause kam, hing A. an einem Rohr in der Wohnung. Die denkbar schlimmste Katastrophe, ein nicht enden wollender Schmerz, nagende Fragen und das äzende Gefühl des Zurückgelassenseins. Auch wenn da Menschen sind, die zu verstehen und zu trösten versuchen.

Eine solche Tat schwebt wie ein böser Geist über dem Leben der Zurückgelassenen, kocht ein glutroter Topf voller Schuldgefühle. Warum habe ich nicht erkannt, was vielleicht zu vermeiden gewesen wäre? Hätte ich verhindern können, was geschah? Wie soll ich mit der offenen Wunde weiterleben? Gibt es ein Leben, gibt es ein Lachen, gibt es Ausgelassenheit, Freude danach? Schliesst sich irgendwann die Wunde? Hört der Schmerz zu pochen auf.

Matteo B. Bianchi «Vom dem, der bleibt», dtv, 2024, aus dem Italienischen von Amelie Thoma, 304 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-423-28419-6

Noch immer ist Suizid ein Tabuthema. Noch immer scheint es kaum Hilfe zu geben für jene, die zurückgelassen werden. Suizid wird zum Stigma der Zurückgelassenen. Lieber den Schmerz der Zurückgelassenen ignorieren, als diesen zum Gespächsthema werden zu lassen. Der Erzähler spürt, wie er zum funktionierenden Monster wird, ein Monster, dass am allerwenigsten sich selber verzeiht. Dabei war die Liebe zwischen den beiden über Jahre die Erfüllung aller Wünsche, ein gewonnenes Paradies, auch wenn die beiden aus gänzlich verschiedenen Welten zueinander fanden. Aber genau das war das Geschenk. 

Und dann geschieht das Unvorstellbare. Und weil die beiden nicht gesetzlich verheiratet waren, beginnt eine Maschinerie, die das Ausgeschlossensein nur noch verstärkt. Nicht einmal das Foto auf dem Kreuz auf dem Friedhof entspricht der gemeinsam gelebten Wahrheit. 

Gute Ratschläge gibt es zu Hauf. Zieh um, verreise, mach Urlaub, eine Therapie, lass dir Medikamente verschreiben. Und weil nichts und niemand den Schmerz zu stillen vermag, greift man nach jedem Strohhalm, mal in die schummrige Stube einer Hellseherin, mal in Selbsthilfegruppen. Ein Kampf gegen den Schmerz des Verlusts, des Verlorenseins, gegen das Nagen einer sich aufdrängenden Schuld. 

„Von dem, der bleibt“ ist lesbar, weil sich der Blick des Erzählers wandelt, weil ich als Leser spüre, dass er sich selbst mehr und mehr eine Chance gibt, weil die Sprache eine poetische ist, zugleich reduziert und ehrlich. „Von dem, der bleibt“ ist ein wichtiger Beitrag zu einer Kultur des Schweigens und ein Manifest für Respekt und Aufrichtigkeit.

Matteo B. Bianchi wurde 1966 in Mailand geboren. Autor zahlreicher Romane und einer Biografie über Yoko Ono, schreibt auch Drehbücher. Gründer und Herausgeber der unabhängigen Literaturzeitschrift tina. Er lebt in Mailand. Der vorliegende Roman wurde ausgezeichnet mit dem Premio Stresa und dem Premio Orbetello.

Amelie Thoma, geboren 1970 in Stuttgart, studierte Romanistik und Kulturwissenschaften in Berlin und arbeitete als Lektorin, ehe sie die Übersetzerlaufbahn einschlug. Sie übertrug u.a. Leïla Slimani, Marc Levy, Françoise Sagan und Simone de Beauvoir ins Deutsche.

Beitragsbild © Claudio Sforza

Wolfgang Klein «stumm – gedanke an e.h.», Plattform Gegenzauber

bi ba bum was geht da herum
di da dum es geht schon wieder `rum
es geht im kopf herum
qui qua quum

es läuft springt beißt
bis es mir den kopf zerreißt
zi za zum es rüttelt herum
ti ta tum

ri ra rum es springt es bricht
si sa sum es fließt und sticht
es tickt im kopf herum
qui qua quum

die bilder werden stumm
wer kümmert sich drum
jetzt taubt es im kopf herum
bssssss…

vi va vum auch das herz wird stumm
wi wa wum jemand sagt gib ruh
niemand fragt wozu
ich frag nicht warum
di da dum

bi ba bum wieder summts herum
si sa sum und sticht und fließt
stärker wird der strom
zi za zum

die bilder werden stumm
wer kümmert sich drum
lange taubt es im kopf herum
bssssss…

bi ba bum es summt leis herum
ich bleib stumm nicht dumm
alle freu‘n sich über ihre ruh‘
schi scha schu
bssssssssss…

ps

vater schlägt auch mutter krumm
alle bleiben stumm

(2022, zur Elektroschocktherapie an Ernst Herbeck, inspiriert vom Ö1-Feature 20220517)

Erwin Ginner, Laaben (Stollberg), NÖ / „Mein Schatten wartet“ – Tusche auf Papier

Wolfgang Klein, geboren 1958 in Wien, aufgewachsen in Niederösterreich, Abschluss der HTL Wien für heute bereits antiquierte Nachrichtentechnik (Wahlscheibentelefon, 1 Computer für alle Wiener Schulen,…), lebt seit 2004 mit Familie (Ehefrau, Husky- & Mischlingshündinnen) im Wienerwald. Autodidakte künstlerische Tätigkeiten: mit Schrift kombinierte Malversuche, auch Keramiken, vorwiegend jedoch schreibend: Dramulette, Kurzgeschichten, Lieder, Poesie, Lyrik.

Das 16. Sankt Galler Literaturfestival Wortlaut zieht eine deutlich positive Bilanz

Nach drei bestens besuchten Festivaltagen in der Bibliothek Hauptpost, der Lokremise und der Grabenhalle endete am Sonntagabend die 16. Ausgabe des Sankt Galler Literaturfestivals Wortlaut. Das Publikum strömte in die zahlreichen Veranstaltungen, viele waren ausverkauft, die Stimmung ausgezeichnet.

von Karsten Redmann, Medienverantwortlicher im OK Wortlaut

Die Zahl der Besucher:innen konnte erfreulicherweise im Rahmen der 16. Auflage des Festivals deutlich gesteigert werden. Die Einnahmen durch Eintritte lagen über den Erwartungen. Das neue Leitungsduo Gallus Frei und Ariane Novel zeigte sich nach drei vollen Tagen Literatur überaus zufrieden und zieht eine deutlich positive Festivalbilanz:

„Wir sind geradezu überwältigt von den vielen positiven Rückmeldungen der Besucherinnen und Besucher. Viele unserer Veranstaltungen waren komplett ausverkauft und die Stimmung im Team und unter den Gästen hätte nicht besser sein können. Wir fühlen uns in Konzept und Umsetzung bestätigt und haben erneut feststellen können wie gross die Nachfrage nach einem Festival wie Wortlaut in Stadt und Region ist. Besser hätte es nicht laufen können.“

Bereits die Eröffnungsfeier am vergangenen Freitag war bestens besucht. Der Veranstaltungsraum in der Lokremise war bis auf den letzten Platz besetzt. Dem Publikum bot sich eine interessante Mischung aus Musik der Band Hekto Super und einem hochinteressanten Gespräch der Philosophinnen Barbara Bleisch und Svenja Flasspöhler über das Thema „Streiten“. Das vorgeschaltete Grusswort von Stadtrat Mathias Gabathuler war unterhaltsam, originell und tiefgründig zugleich.

Wie die Jahre zuvor gab es auch in diesem Jahr einhelliges Lob für die Zusammenstellung des Veranstaltungsprogramms, darunter etwa Lesungen mit weithin bekannten Autor:innen wie Leon de Winter, Julia Schoch, Barbara Bleisch, Ewald Arenz, Svenja Flasspöhler, aber auch mit Autor:innen aus der Region wie Laura Vogt, Tabea Steiner, Christoph Keller, Jan Heller Levi und der Thurgauerin Michélle Minelli.

Zwar musste der Gassenhauer mit Diana Dengler und Marcus Schäfer wegen des Regens im Café St.Gall durchgeführt werden, doch der Andrang war selbst im Café riesengross, die Stimmung ausgelassen.

Die kleineren Gesprächsformate wurden vom Publikum ebenfalls sehr gut angenommen – Turmzimmer und Lesungsraum in der Bibliothek Hauptpost stellten sich als ideale Orte dafür heraus. Am Literaturspaziergang durch die Stadt nahmen insgesamt 100 Leute teil. Der Poetry Slam in der Grabenhalle war mit rund 250 Besucher:innen sehr gut besucht.

Zur Veranstaltung mit Peter Stamm und Judith Hermann im Raum für Literatur strömten ebenfalls viele literaturinteressierte Gäste. Selbst zur letzten Lesung am Sonntag um 17 Uhr kamen mehr als 50 Besucherinnen und Besucher und lauschten den spannenden Ausführungen des Schweizer Autors Daniel de Roulet.

Rebekka Salm & Markus Kirchhofer «Salmhofer» 4/6

Rebekka Salm und Markus Kirchhofer arbeiten seit 2022 zusammen. Und zwar so: Sie oder er macht per WhatsApp zwei Vorschläge für den Oberstollen. Das Gegenüber wählt einen aus, fügt den Unterstollen an und schickt das fertige Gedicht per Postkarte zurück. Für das nächste Tan-Renga wechseln die Rollen.

 

der gittermastkran
überspannt den alpenkranz
milane kreisen

Dem Deckenventilator
im Neubau fehlt ein Flügel

markus kirchhofer / Rebekka Salm  Salmhofer 4/6

 

Auf dem Wäscheberg
bei laufendem Staubsauger
schläft tief der Kater

du ganz ohr auf meinem bauch
die verdauungsgeräusche

Rebekka Salm / markus kirchhofer  Salmhofer 3

 

zartblauer himmel
wolken wie wattebäusche
der geruch von heu

Dort, wo der Holunder blüht
liegt das totgemähte Kitz

markus kirchhofer / Rebekka Salm  Salmhofer 2

 

Im dunklen Geäst
streiten sich Rabenvögel
Um das Stück Goldmond

geturtel am caquelon
gabelgefecht im käse

Rebekka Salm / markus kirchhofer  Salmhofer 1

 

Was ist ein Tan-Renga?
Ein Tan-Renga besteht aus zwei Teilen: eine Autorin / ein Autor gibt den Oberstollen vor, ein anderer Autor / eine andere Autorin ergänzt mit dem Unterstollen zum fertigen Gedicht. Tan-Renga haben keine Titel und keine Reime. Üblicherweise wird zwischen dem Ober- und Unterstollen ein Abstand gesetzt und die Namen der Verfasser werden unter dem Gedicht vermerkt.
Zentral im Tan-Renga ist die Verbindung zwischen dem Ober- und Unterstollen. Meist wird im zweiten Teil ein Wort aus dem ersten Teil aufgegriffen, ohne dieses zu wiederholen. Der Oberstollen besteht aus drei Zeilen mit der Silbenfolge 5 – 7 – 5, der Unterstollen aus zwei Zeilen mit nochmals je 7 Silben.
Tan-Renga halten Augenblicke in der Gegenwart fest, möglichst konkret, bildhaft und offen.

In diesem lyrischen Pingpong sind bisher gegen 50 «Salmhofer» entstanden, von denen 16 im Lyrikband silbensee (Knapp Verlag, 2024) erschienen sind.

Rebekka Salm wohnt in Olten. 2022 erschien ihr vielbesprochener Debüt-Roman «Die Dinge beim Namen». Zwei Jahre später folgte «Wie der Hase läuft» (beide Romane im Knapp Verlag). 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur sowie von der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung den Förderpreis Dreitannen. Ihre nächsten beiden Romane erscheinen im Ullstein Verlag. 

Markus Kirchhofer (1963) lebt mit seiner Frau in Oberkulm. Seit 2013 ist er freier Schriftsteller. Gedichte sind die Basis seines vielfältigen Schreibens, das mit Werkbeiträgen für Lyrik, Prosa und Interdisziplinäres ausgezeichnet wurde. 2024 erschien seine 17. Publikation, der Lyrikband silbensee. Das Vorwort verfasste sein Primarlehrer Jannis Zinniker, unter dessen Anleitung Markus Kirchhofer seine ersten Gedichte schrieb.

 

Angelika Overath «Engadinerinnen – Frauenleben in einem hohen Tal», Limmat

Intensive Mutmach-Geschichten! Wenn Frauen aus dem Hochtal Engadin im schweizerischen Graubünden ihre Geschichten preisgeben. Angelika Overath porträtiert 18 Frauen und daraus ist ein lesenswertes Buch entstanden.

Gastbeitrag von
Urs Heinz Aerni

Urs Heinz Aerni: Frau Overath, Sie erzählen Geschichten von 18 Frauen aus dem Engadin, die wunderbar unterschiedlich sind. Wie haben Sie sie gefunden und sagten alle sofort zu?

Angelika Overath: Begonnen habe ich mit meiner Freundin Franziska Barta. Sie führt eine Landarztpraxis in Zuoz im Oberengadin. Als Mädchen war sie mit ihrer Mutter von Ostberlin nach Westberlin geflohen. Die zweite «Engadinerin» war eine Nachbarin, die Kindergärtnerin Tina Puorger aus Sent im Unterengadin. Es war mir wichtig, eine Mischung von Frauen zu haben, die im Tal aufgewachsen sind, und solchen, die hier erst später eine Heimat fanden. Ich wollte auch verschiedene Berufe abbilden. Manche der Frauen kannte ich, andere wurden mir empfohlen. Bis auf zwei haben alle zugesagt.

Aerni: Mit welchen Infos haben Sie die Frauen für das Buch angefragt?

Overath: Die Spielregeln waren klar: Für ein Interview kam ich zu den Frauen nach Hause oder an den Arbeitsplatz. Dann schickte ich meinen Text-Vorschlag. Die Frauen sagten, was ich falsch verstanden hatte, was fehlte und vor allem, was raus sollte.

Aerni: Aha, das kam anscheinend oft vor?

Overath: Oft erzählt man etwas am Küchentisch, das man dann nicht unbedingt öffentlich lesen möchte.

Aerni: Faires Vorgehen…

Overath: Es war mir wichtig, dass die Frauen mit ihrem Portrait einverstanden waren. So habe ich zwar einige «Spitzen» verloren. Aber das Material, das ich hatte, war immer noch kostbar genug. Während der Interviews ließ ich kein Aufnahmegerät laufen. Ich wollte, dass die Konzentration der Frau, die erzählt, der Konzentration der Frau, die mitschreibt, entspricht. Jedes Interview war eine einmalige intime Situation. Es sind, glaube ich, intensive Mutmach-Geschichten entstanden; alle Frauen waren auf eine besondere Weise tapfer.

Aerni: Sie porträtieren Frauen zwischen dem Alter von 25 bis 83 Jahren. Machten Sie doch für alle einen weiteren gemeinsamen Nenner aus?

Overath: Es ging um Leidenschaft. Ich suchte Frauen, die das, was sie taten, mit Begeisterung leisteten, die Ideen hatten, die etwas wollten. Dabei ergab sich eine gelebte Alltagsgeschichte des Engadins. Verschiedene Generationen, verschiedene Berufe, verschiedene Hoffnungen.

Aerni: Ob Hüttenwartin, Sterbebegleiterin oder Reinigungskraft, das Engadiner Frauenleben zeigt eine große Vielfältigkeit. Sie selber wohnen ja auch schon seit fast 20 Jahren in Sent. Wie würden Sie das typische Leben im Engadin für sich zusammenfassen?

Angelika Overath «Engadinerinnen – Frauenleben in einem hohen Tal», Limmat, 200 Seiten, 36 Farbfotos, CHF 34.00, ISBN 978-3-03926-067-6

Overath: Wir leben in einer grandiosen Landschaft, in einem besonderen, schon südlichen Licht. Das Engadin ist eines der höchsten bewohnten Täler Europas. Seit die Engländer gegen Ende des 19. Jahrhunderts in St. Moritz den Wintersport erfunden haben, ist das Tal geprägt vom Tourismus. Und schon vorher gab es, allerdings in kleinerem Rahmen, die Bäderkultur um die Mineralquellen. Durch die Geschichte der Zuckerbäcker, die aus dem Tal in die Fremde zogen – zunächst nach Venedig, bald nach ganz Europa – und die in den Sommern, wie die Schwalben («Randulins») in ihrer Heimatdörfer zurückkamen, mischten sich im Tal bäuerliche Lebensweisen mit Stadtkulturen. Im Engadin gehört das Fremde zum Eigenen. Im Tal wohnen viele italienische und portugiesische Familien, die übrigens das bedrohte Rätoromanisch neu beleben. Es ist für sie leichter zu lernen als Bündnerdeutsch.

Aerni: Eine der porträtierten Frauen, Birgit Kohl, sagt: «Da, wo ich bin, ist es gut.» Sie selber stammen aus Karlsruhe. Sind Sie auch definitiv angekommen oder flammen ab und zu doch noch Wünsche nach Neuem auf?

Overath: Ich mag meine badische Geburtsstadt Karlsruhe sehr, auch wegen der Nähe zu Frankreich. Auch hier mischen sich Kulturen. Dann lebten wir lange im schwäbischen Tübingen und drei Jahre in Griechenland, Thessaloniki. Ich reise gerne. Ich liebe das Meer. Aber Sent ist mein Dorf, in dem ich zu Hause sein darf. Sent ist ein sehr offenens Dorf. Seine rund 900 Einwohner kommen aus sieben Nationen. Ich spüre hier eine Toleranz und eine Empathie, die mir gefällt. Man schaut zu einander, hilft sich. Vielleicht ist das naiv, aber ich glaube, uns verbindet auch die Dankbarkeit, hier leben zu dürfen. Dankbarkeit macht freundlich.

Aerni: Sie publizieren nicht nur schöne Bücher und preisgekrönte Literatur, sondern vermitteln auch anderen das Schreiben. Was kann das eigene Schreiben für das Leben bedeuten?

Overath: Schreiben ist immer eine Intensivierung von Erfahrung. Für manche Menschen, zum Beispiel für mich, ist es eine Notwendigkeit.

Aerni: Warum?

Overath: Ich schaffe mir einen Raum, der mir gehört, in dem ich etwas ausprobieren kann. Und wenn ich literarische Reportagen oder Portraits schreibe, dann nehme ich Teil an der Welt. Und bin wie eine Kamera, die Momente der Wirklichkeit zeigt. Schon als 5-jähriges Mädchen wollte ich Tagebuch führen. Aber ich konnte noch nicht schreiben. Ich bat meine Großmutter, die bei uns lebte, ob sie für mich aufschreiben würde, was ich ihr sagte. Sie meinte, sie könne nicht so gut schreiben, aber sie wolle es versuchen. Das Projekt scheiterte daran, dass meine Mutter kein Papier herausrückte. Da fällt mir ein: Meine Mutter und meine Großmutter waren Flüchtlinge aus dem Sudetenland. Das hat meine Vorstellung von «Heimat» sicher geprägt. Ich habe darüber in meinem Debüt-Roman «Nahe Tage» geschrieben.

Aerni: Nebst dem Mut, drauflos zu schreiben, gäbe es noch andere Voraussetzungen, die Sie empfehlen würden?

Overath: Ich empfehle nicht, drauflos zu schreiben. Wir arbeiten in der Schreibschule Sent mit Aufgaben und Spielen, die weiterführen. Formale oder auch inhaltliche Vorgaben sind Geländer, an denen Schreibende sicher weiterkommen. Nichts ist so wenig inspirierend wie ein leeres Blatt. Natürlich geht es um Freiheit, aber kreativ ist Freiheit nur innerhalb einer Form. Sonst wird es beliebig und uferlos. Wir üben uns in den Strategien der Aufmerksamkeit. Wichtig ist die Genauigkeit der Sprache wie dem Empfinden gegenüber. Und wie Diebe lesen wir klassische Texte und beobachten, wie es die Meisterinnen und Meister der Literatur gemacht haben.

Aerni: Sie leben im Dorf Sent auf 1450 m.ü.M. Doch das bunte Literaturgeschehen spielt sich in Literaturhäusern, großen Buchhandlungen und an Buchmessen in den Städten ab. Tut dieser geografische Abstand gut?

Overath: Sicher, wenn ich in Berlin leben würde, wäre ich mehr im Geschehen. Auf dem literarischen Markt funktioniert sehr vieles über Netzwerke. Aber wie viel Erfolg brauche ich denn?

Aerni: Gute Frage.

Overath: Wie viel meiner Energie bin ich bereit, in meine Vermarktung zu investieren? Ich glaube, man muss aufpassen, dass man beim Wirbeln um Aufmerksamkeit nicht seine Substanz verliert. Wenn ich nicht mehr spüre, warum ich schreibe, bin ich verloren. Ich bin auch kaum in den sozialen Medien unterwegs. Ich schreibe meine Bücher, sorgfältig. Gehe auf Lesungen, wenn ich eingeladen werde. Und führe zusammen mit meinem Mann jetzt im fünften Jahr die Schreibschule Sent. Sie hat sich zu einer Art literarischem Salon entwickelt. Es kommen interessante Menschen zu uns. Unsere öffentlichen Jahresabschlusslesungen, jeweils am 1. Sonntag im März, sind wunderbare Treffen, bei dem sich Autorinnen und Autoren, Einheimische, Feriengäste treffen und nach der Lesung bei einem Apéro noch lange diskutieren. Vielleicht kann ich, in Anlehnung an Birgit Kohl, sagen: Da, wo wir sind, ist Sprache. Und Gemeinschaft.

Aerni: Welche Veränderungen in Ihrer Region beobachten Sie vielleicht auch mit Sorge?

Overath: Die Zahl der Zweitwohnungen nimmt zu. Wenn junge einheimische Familien sich die Miete im Engadin nicht mehr leisten können und das Tal verlassen, ändert sich der Charakter der Dörfer rasant. Viele Menschen aus Zürich, Basel oder Mailand arbeiten im Home-Office im Engadin. Sie können teure Wohnungen bezahlen. Sie sind nur sporadisch da. Sie sprechen kein Rätoromanisch und nehmen nicht am Dorfleben teil. Das Engadin ist ja nicht nur eine Landschaft, sondern auch eine besondere Lebenskultur der Bräuche, der Feste, der Chöre. Landschaft und Gemeinschaft sind bedroht. Auch davon erzählen «meine» Engadinerinnen.

(Interview erschien bereits in der «Bündner Woche»)

Angelika Overath wurde 1957 in Karlsruhe geboren und heute als Schriftstellerin, Journalistin, Lyrikerin und Dozentin in Sent im Unterengadin. Zuletzt erschienen «Krautwelten» (Suhrkamp Insel, 2021), eine Hommage an die Kohlpflanzen, der zweisprachige Gedichtband in Vallader und Deutsch «Schwarzhandel mit dem Himmel / Marchà nair cul azur» (Telegramme, 2022) und der Roman «Unschärfen der Liebe» (Luchterhand, 2023). Angelika Overath wurde mehrfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Egon-Erwin-Kisch-Preis für literarische Reportage und dem Bündner Literaturpreis. Zusammen mit ihrem Mann, dem Literaturwissenschaftler und Essayisten Manfred Koch, führt sie eine Schreibschule in Sent.

Beitragsbild © Franziska Barta

Lukas Maisel «Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete», Rowohlt

Am 26. September 1983 schrammte die Welt einem nuklearen Desaster vorbei. Nur weil Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow, ein sowjetischer Offizier in der Kommandozentrale der Satellitenüberwachung, den scheinbaren Anflug nuklearer Interkontinentalraketen als Fehlalarm interpretierte, verhinderte der Mann den Tod von Millionen.

Alles an dieser Erzählung ist wahr. Was Lukas Maisel an Fiktion beifügt, ist das, was im Innenleben jenes Offiziers geschah, genau das, was uns damals rettete, denn wäre Stanislaw Petrow der eigenständigen Entscheidung nicht fähig gewesen, hätte nichts einen nuklearen Krieg aufhalten können. Nur weil dieser Mann damals in den 17 Minuten zwischen Alarmierung durch ein empfindliches und anfälliges Raketenabwehrsystem und dem Moment der Entwarnung zum eigenen Denken fähig war, durch logisches Entschlüsseln einer falalen Kette von scheinbar gesicherten Informationen Panik relativierte und Vernunft über die Angst siegen liess, blieben sowjetische Nuklearraketen am Boden.

Weil sich das damalige System keine Blösse geben wollte, weil die Sowjets auf jeden Fall ihr Gesicht wahren wollten, das Gesicht der perfekten Abschreckung, wurde Offizier Stanislaw Petrow weder befördert noch bestraft. Man verschwieg den Zwischenfall genauso systematisch wie die Ursachen, die dazu führten; Sonnenreflexionen auf Wolken. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, in Petrows letzten Jahren in Moskau, erfuhr der ausgemusterte Offizier Ehrungen im In- und Ausland. Nach der Kontaktaufnahme eines deutschen Unternehmers noch zu Lebzeiten Petrows wurde in Oberhausen, dem Heimatort jenes Geschäftsmannes, zum zweiten Todestag des Retters eine Gedenktafel eingeweiht: „Wäre er den Computermeldungen gefolgt, wäre der sofortige atomare Gegenschlag erfolgt und damit der Tod von Millionen Menschen in den USA, in Europa und Russland die Folge gewesen.“

Lukas Maisel «Wei ein Mann nichts tat und so die Welt rettete», Rowohlt, 2025, 128 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-498-00730-0

Lukas Maisel konzentriert sich in seiner Erzählung auf diesen einen Tag, diese 17 Minuten und die drei Tage, die Stanislaw Petrow in der Folge noch in der Kommandozentrale ausharren musste, bis sich die Wogen nach dem Zwischenfall glätteten. Lukas Maisel fokussiert sich auf einen Mann, der in diesen 17 Minuten ganz auf sich gestellt war, der wusste, dass jede Entscheidung, die er fällen würde, existenzielle Folgen nach sich ziehen würde, dass das, was nach der Entwarnung die Schwächen des Systems aufzeigte, nie und nimmer an die Öffentlichkeit dringen durfte, nicht einmal zur Erzählung in seiner Familie. Stanislaw Petrow wurde zum Bauernopfer einer Beinahekatastrophe. 

Lukas Maisel beschreibt die klaustrophobische Situation in jenem Bunker, in dem während ewig lange scheinender Minuten das Schicksal von Millionen in der Schwebe stand, in der jede weitere Reaktion auf die Interpretation eines einzelnen Mannes reduziert war, alles in einem Schrecken ohne Ende hätte ausarten können. Die Geschichte eines Mannes an einem geheimen Ort, einer geheimen Stadt. Die Geschichte eines Mannes, der eigentlich bloss für einen kranken Kollegen eingesprungen war, eine Geschichte, die ohne die klaren Gedanken eines Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow mit Sicherheit ganz anders geendet hätte.

„Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete“ ist zum einen ein Denkmal für einen Mann, der sich in den Zwängen von Macht und Hierarchie von Vernunft leiten liess, etwas, was in der Gegenwart nicht minder wichtig wäre.  Zum andern ist die Geschichte ein Exempel dafür, das Zurückhaltung, ein Zögern unendliches Leid verhindern kann, erst recht in einer Zeit, in der „Hauruckgehabe“ Politik wird und in der Wirtschaft zur Handlungsmaxime.

Lukas Maisels kleines literarisches Husarenstück liest sich in einem Zug, hoch spannend und mit dem Bewusstsein, wie oft das Glück des Menschen an einem seidenen Faden hängt. Unbedingt lesenswert!

Interview

Der Stoff für ein Buch lag offensichtlich jahrzehntelang da. Erstaunlich, dass die Geschichte im deutschsprachigen Raum nicht schon viel früher literarisch umgesetzt wurde. Was entschied, dass Sie einen so konzentrierten Roman daraus schufen und nicht mit grösserer Geste erzählten, zum Beispiel aus der Sicht des alt gewordenen Stanislaw Petrow?
Ich weiss nicht, ob man sich frei aussuchen kann, wie man einen Stoff erzählt. Beim Schreiben folge ich meinem Instinkt, es fühlte sich einfach richtig an, den Stoff in dieser Kürze zu erzählen, ihn nicht unnötig zu strecken. Ich kann im Nachhinein vermeintlich rationale Gründe suchen, warum ich das so und nicht anders geschrieben habe, aber es bleibt Instinkt. 

Der Mann schleppte das Geheimnis jenes 26. Septembers 1983 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion als Staatageheimnis mit sich herum. Es ist anzunehmen, dass er nicht einmal seiner Frau von den tatsächlichen Ereignissen erzählen konnte. Die Dramaturgie dieser 17 Minuten in diesem Kommandobunker ist nicht zu überbieten, genauso die Dramaturgie in Stanislaw Petrows Innenleben. Er wusste haargenau, was die Folgen einer falschen Entscheidung sein werden. In all den Kriegen, ob in der Ukraine, im Kongo oder im Sudan. Es ist nur zu hoffen, dass Menschen sich in kollektiv lebensbedrohlichen Situationen nicht instrumentalisieren lassen. Ist das letztlich nicht ein frommer Wunsch?
Natürlich, aber was bleibt uns denn anderes übrig als die Hoffnung? Am Ende wird die Geschichte von den Entscheidungen einzelner Menschen vorangetrieben, die Frage ist, wieviel Macht diese Menschen besitzen. Stanislaw Petrow wollte keine Macht haben, sie fiel ihm zu. Glücklicherweise konnte er klar sehen, sein Blick war nicht von einer Ideologie verzerrt. Er war ein Mann der Wissenschaft und vertraute ihren Methoden, damit war er sicherlich ein schlechter Kommunist.

Sie beschreiben sehr intensiv, was in Stanislaw Petrow passiert, jener Teil der Geschichte, die Fiktion braucht. Ich fiebere mit ihm. Ich spüre, wie sich die Minuten zu Unendlichkeiten ausdehnen. Ich spüre den Kampf, den der Mann in sich austrägt, wie sich alles auf diesen einen Moment einbrennt. Ich fühle seine Verzweiflung, den unsäglichen Druck, den realen Alp. Der Titel ihres Buches meint nicht, dass Stanislaw Petrow nichts tat. Die Weigerung, das Abwarten, der Zweifel, das Nachdenken ist viel mehr als Nichtstun. Was bedeutet die Geschichte von Stanislaw Petrow für sie ganz persönlich?
Wahrscheinlich sprach mich der Stoff an, weil ich mich fragte, ob ich das könnte; abwarten wie Petrow. Ich und die meisten Menschen wollen durch ihre Handlungen möglichst rasch ein Ergebnis herbeiführen, wir halten die Ungewissheit nicht aus. Auch Petrow hält sie fast nicht aus, zum Glück dauert sie nur siebzehn Minuten, die ihm aber wie eine Ewigkeit vorkommen.

Es war nicht das einzige Mal, dass die Welt an einem kriegerischen Nuklearschlag vorbeischrammte. Zwei Jahrzehnte zuvor hätte es während der Kubakrise nicht viel mehr gebraucht, um den Konflikt atomar eskalien zu lassen. Heute wird am russischen Fernsehen ganz offen und hemmungslos mit der Atombombe gedroht, allen voran der TV-Moderator, Scharfmacher und Putin-Propagandist Wladimir Solowjow. Atomsprengköpfe dienen nicht mehr der Abschreckung, sondern der ganz direkten Drohung. Macht ihnen das nicht Angst?
Mein Vater war ein Kind, als die Kubakrise passierte, er war noch zu klein, um das verstandesmässig begreifen zu können, aber die allgegenwärtige Furcht hat er gespürt. Jedenfalls erzählte er, dass damals viele glaubten, der Dritte Weltkrieg stünde bevor. Die stationierten Mittelstreckenraketen waren eine unmissverständliche Drohung, heutzutage ist es schwieriger einzuschätzen. Würde Putin für seine Ziele wirklich Atomwaffen einsetzen? Er ist nicht durchgeknallt, er hat bestimmte Ziele und kalkuliert mit Angst. Ich würde ihm den Besuch des Museums in Hiroshima empfehlen, dort sieht man, durch welche Hölle die Menschen damals gegangen sind.

Nach dem Tod seiner Frau 1997 und dem Auszug seiner Kinder lebte Stanislaw Petrow mit einer Rente von 1000 Rubel. Ein Betrag mit dem man sich in einem schicken Moskauer Café gerade mal 10 Tassen Kaffee hätte leisten können. Ist das das Wesen eines wahren Helden? Dass er das, was er tut nicht der Heldentat wegen tut?
Es würde wohl keine Helden geben, wenn sie nach Anerkennung von aussen streben würden, sie haben innere Motive. Stanislaw Petrow sah sich nicht als Held, er habe einfach seine Arbeit erledigt, betonte er immer wieder. Das ist ja ein Topos, der Held, der einfach nur tut, was er für das Richtige hält.

Lesung im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker, bevor er am Literaturinstitut in Biel studierte. 2020 debütierte er mit seinem Roman «Buch der geträumten Inseln«, für das er einen Werkbeitrag des Kantons Aargau erhielt sowie mit dem Förderpreis des Kantons Solothurn und dem Terra-nova-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet wurde. 2021 las er bei den 45. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, 2022 erschien seine von der Kritik gefeierte Novelle «Tanners Erde«.

Erzählung «Ewiger Wanderer» auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Christina Brun