Yves Raeber zur Übersetzung von «Terres déclives» (deutsch: «Schieflage») von Thierry Raboud

Ich begann so, wie ich es bei meinen Prosaübersetzungen zu tun pflege, und hackte meine ersten Versuche in den Computer, löschte und überschrieb alles, wieder und wieder, verlor mich in meinen unzähligen Varianten. Und wurde stutzig. Etwas stimmte nicht. Terres déclives ist keine Prosa! Und es war meine erste Lyrikübersetzung.

«und alles finge von vorne an» 

Ich musste anders arbeiten und griff zum Kugelschreiber, kritzelte wild drauflos, füllte dutzende Heftseiten – ein bisschen so, als wäre ich selbst der Poet. Das fühlte sich zwar im ersten Moment besser an, doch das Ergebnis blieb meist Makulatur. Nachsichtig entzifferte ich meine Hieroglyphen, schaute grosszügig über gedankliche Schludrigkeiten hinweg, begnügte mich mit ein paar wenigen Zufallstreffern und kam wieder nicht weiter. Ich wurde erneut zum digitalen Worthandwerker, setzte mich vor den Bildschirm und arbeitete mich Silbe um Silbe, Wort um Wort, Zeile um Zeile vor. Doch wenn ich nach einer Pause wieder auf den Bildschirm starrte, erschrak ich: Wie schwerfällig und verschwurbelt meine deutsche Übersetzung doch war, kein Vergleich mit dem elegant dahinfliessenden, dabei komplexen Original. Ich musste genauer arbeiten! Noch besser erfassen, noch präziser begreifen, was das Gedicht wirklich erzählt. Ich fuhr zu Thierry Raboud, und wir arbeiteten das Original von Anfang bis Ende durch. Oft blieben wir an einer Stelle hängen, kamen nicht weiter, verloren uns im Dschungel der Assoziationen. 

parmi les collections
estampes pressées par le temps
lavis pâles sous la paume 
de notre oubli

bei den sammlungen
vom lauf der zeit 
plattgewalzter drucke 
unter der hand des vergessens 
vergilbter tusche 

Meinte Raboud mit «par le temps» entweder im Lauf der Zeit oder eher vom Lauf der Zeit, oder vielleicht beides oder noch etwas anderes? Wie konnte ich ihm auf Französisch den Unterschied zwischen den deutschen Präpositionen im und vom oder der in diesem Kontext schwerfälligen Variante durch erklären? Raboud hatte auf die meisten Fragen eine Antwort, und selbstverständlich wusste er, warum er ein Bild, eine Metapher, eine Assoziation, eine Assonanz, einen Zeilensprung, einen Reim gewählt oder was ihn dazu inspiriert hatte. Aber nicht immer. Manchmal war etwas einfach «entstanden». Bei den Dichtern ist das so. Wieder an meinem Schreibtisch stellte ich fest, dass seine Erläuterungen mir die Arbeit nicht nur erleichterten, sondern stellenweise auch erschwerten. Ich verstand zwar genauer, was in der einen oder anderen Zeile mitschwang, war aber noch immer von einem befriedigenden Resultat meilenweit entfernt. Verklumpt, verschwurbelt, verkopft erschien mir meine Übersetzung, die Lektüre würde abschrecken.

Also fing ich wieder von vorn an, und ich fand immer besser in die Spur. Mit Geduld – und, wie könnte es anders sein, ein bisschen Demut. 

je contourne les statues penchées
dont les visages s’effarent
et dévisagent sans plus de fierté
le vide des sentiers 
qui derrière les portes du musée 
s’ouvre 

ich meide die unsteten statuen
ihren kleinmütigen blick
aus blutleeren augen
auf die weglose ödnis 
hinter dem klaffenden
museumstor. 

Thierry Raboud «Schieflage», die Brotsuppe, aus dem Französischen von Yves Raeber, 2025, 72 Seiten, CHF ca. 26.00, ISBN 978-3-03867-105-3

Aber nicht immer nahm das Gedicht meine Übersetzungsvorschläge widerstandslos an. Es entwickelte ein eigenes Selbstbewusstsein und verbat sich, wenn es ihm gegen den Strich ging, etwas in sich aufzunehmen, was ich mir ausgedacht und doch so gut «gepasst» hätte. Ich musste, stellte ich fest, nicht nur in Rabouds Originaltext hineinhorchen, sondern auch auf die Übersetzung hören, mit ihr in Dialog treten und, wenn es hart auf hart käme, ihr ein Zugeständnis abringen. Gebundene Sprache lässt sich nicht auf jede Bindung ein.

Immer klarer wurde mir auch, dass die «Beziehung», die ich mit Terres déclives einging, anders geartet war, als ich es von einer Prosaübersetzung her kenne: Lasse ich mich bei der Arbeit an einem Roman gerne von der Handlung, der Thematik, von einem Schicksal oder der Stimmung eines Texts berühren, so war es hier das Wort, das mich leitete, mir Räume öffnete oder verschloss, die Wucht der Wörter, die in mir Frohlocken oder Verzweiflung auslösten. 

Nicht immer konnte ich die Komplexität eines Sprachbilds übertragen: 

les tableaux seuls
ont gardé leur aplomb
leur horizon en droit-fil
cisaille le ciel et la terre
de rectitude insolente
alors que
tout penche 

nur die bilder
bleiben im lot
dreister schnitt
zwischen himmel und erde
ein rechthaberischer horizont
wo doch
alles wankt.

«en droit-fil» ist ein Begriff aus dem Textilwesen und bezeichnet den Schnitt quer durch den vertikalen Fadenlauf eines Stoffs. «cisailler» heisst zerschneiden, durchtrennen. Raboud beschreibt damit den Schnitt oder Riss zwischen Himmel und Erde. Im Deutschen ist das in knappen Silben nicht zu übersetzen. Ich entschied mich deshalb für «dreister schnitt/zwischen himmel und erde», was sich zwar vom Original entfernt, aber dafür den aggressiven Charakter der französischen Zeile wiedergibt. Im Netz fand ich dazu ein Zitat aus einem diplomatischen Gespräch, in dem der Ausdruck im Sinne von «korrekt, aber rücksichtslos» verwendet wurde, was zu meiner Entscheidung beitrug.

Manchmal erschwerte ich mir die Arbeit auch unnötigerweise. Für «éclairs pâteux» hatte ich lange pastose Erleuchtung stehen, ein schwerfälliger, sich aus der Polysemie des Originals erklärender Neologismus: Bei Raboud stehen die «éclairs» sowohl für Blitze auf einem Ölgemälde wie auch, leicht ironisch, für geistige Erleuchtung. Das Adjektiv «pâteux» bedeutet teigig, dickflüssig, träge; «avoir la langue pâteuse» bezeichnet eine nach übermässigem Alkoholkonsum schwere Zunge. Irgendwann war ich bei gelallten Züngeleien, und damit völlig im Abseits. Als ich mich kurz vor der Textabgabe für das Einfachste und Naheliegendste, für die wörtliche Übersetzung pastose Blitze zurückentschied, atmete auch der Verleger auf. 

Ein Jahr später erschien das Buch, und ich erinnerte mich an die Titelsuche. Schieflage war mir früh eingefallen, doch ich fand es zu journalistisch, eine Überschrift allenfalls für eine Zeitungskolumne. Ich versuchte es mit Erde, mit Plan, Terrain oder Ebene. Auch Hanglage kam nicht infrage, falsches Bild und anderweitig besetzt. Abschüssiges war mundartlich konnotiert, und als auch der Verleger nicht weiterkam, holte ich die Schieflage wieder aus der Versenkung und wusste gleich: Der Titel passt. Er leistet genau das, was ich brauche, er löst das Gedicht aus der «hohen leiste der letzten zuflucht» und verlagert es in eine schnörkellose Sachlichkeit. 

«et tout recommencerait»

Thierry Raboud, 1987 in Martigny geboren, gehört zur Nachwuchsgeneration der Lyriker in der Westschweiz. Seine erste Gedichtsammlung, «Crever l’écran» (Ed. Empreintes), wurde mit dem Prix Pierrette Micheloud gewürdigt. Als Literaturkritiker und Musiker ist er auch im Bereich Performance und Installation tätig. Im Jahr 2023 war er Preisträger eines Kulturstipendiums der Fondation Leenaards. Seine Gedichte wurden auch ins Italienische übersetzt (Ed. Valigie Rosse).

Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und literarischer Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. Für die Übersetzung von «Die Panzerung» («Béton Armé») von Philippe Rahmy wurde ihm 2019 von der Stadt Zürich eine literarische Auszeichnung verliehen.

Rezension von Daniel Graf in der Republik

Lizzie Doron «Wir spielen Alltag. Leben in Israel seit dem 7. Oktober», dtv

Am 7. Oktober griffen palästinensische Terroristen gezielt jüdische Zivilisten an und ermordeten so auf israelischem Staatsgebiet weit mehr als 100 Menschen. Ein Tag und seine Folgen, die zu einer prägenden Zäsur im Nahen Osten wurden und mit einem Mal ein sowieso schon fragiles Nebeneinander eskalieren liessen. Lizzie Doron wagt sich als Schriftstellerin und Jüdin an ein Stück Gegenwartsbewältigung, das man kaum in Worte fassen kann.

Wie schreibt man über ein Massaker, bei dem unter den Opfern Menschen sind, die einem nahe standen? Wie schreibt man über einen Flächenbrand, der unkontrolliert bis ins Jetzt wirkt? Wo sind die Grenzen zwischen Tätern und Opfern? Wie kann man schildern, was kaum in Sprache zu fassen ist, bei dem es einem die Sprache verschlägt, die Angst einem die Kehle verschnürt, jedes Wort ein falschen werden kann, jede Äusserung als Stellungnahme interpretiert wird, selbst wenn es „nur“ um Empfindungen und Gefühle geht.

Völlig unerwartet griffen Bewaffnete der Hamas und des islamischen Jihads an jenem Dienstag ein Open-Air-Musikfestival und verschiedene israelische Siedlungen im Grenzland zum Gazastreifen an. Weit über 1000 Unschuldige wurden ermordet, vergewaltigt und verschleppt. In der Folge startete das israelische Militär einen Angriff, eine Geisel-Befreiungsaktion, die sich mehr als deutlich zu einem grausamen Krieg gegen ein Terrorregime entwickelte, das sich schamlos hinter einer leidenden Bevölkerung versteckt. Ein Flächenbrand, der ein ganzes Land in Schutt und Asche legte und Wunden schnitt, die sich auch mit einem Waffenstillstand auf Generationen hinaus nicht befrieden lassen werden.

Ein Installateur kann verstopfte Abflüsse beheben, der Elektriker hilft bei Kurzschlüssen, und ein Arzt heilt Wunden. Aber womit kann ich helfen, eine Schriftstellerin? Nicht einmal Worte habe ich.

Lizzie Dorn «Wir spielen Alltag. Leben in Israel seit dem 7. Oktober», dtv, aus dem Hebräischen von Markus Lemke, 2025, CHF ca. 32.90, 160 Seiten, ISBN: 978-3-423-28453-0
aus dem Hebräischen von Markus Lemke

Lizzie Doron versucht das Unmögliche. Sie, die sich auch in den Jahren zuvor immer wieder mit der politischen Gegenwart auseinandersetzte. Sie, deren Grosseltern selbst Opfer während des Holocausts waren. Sie, die das Trauma schon seit Generationen mit sich trägt. Sie versucht nicht zu verstehen, ein unmögliches Unterfangen, aber sie versucht, jenen Sturm in ihrem Innern zu ordnen, die Druckwellen all jener Geschehnisse, für die es als Betroffene kaum Erklärungen gibt.

Über Jahrzehnte lebten die Bewohner Israels im festen Glauben daran, in einem mehr oder minder sicheren Land zu leben. Die Geschehnisse des 7. Oktobers haben diesen Glauben tief erschüttert. Krieg ist seit mehr als einem Jahr für Israelis und Palästinenser Alltag; Sirenen, die aus dem Leben reissen, Stunden und Nächte in Luftschutzkellern, Bomben und Raketen, Soldaten auf den Strassen, Ruinen und ausgebrannte Autos, Blut und Elend.

Was an dem Buch von Lizzie Doron beeindruckt, ist nicht ihre Betroffenheit, auch nicht ihr Schmerz, ihre Angst. Bemerkenswert ist ihre Position des Schreibens. Obwohl Lizzie Doron eine Betroffene ist, eine Trauernde, eine Traumatisierte, eine zu tiefst Verängstigte, klagt sie mit keinem Satz an. Nicht einmal die Verursacher dieser epochalen Misere, die Unbeweglichkeit, die dauernden Schuldzuweisungen, all die Politiker, die permanent Öl ins Feuer giessen.

Ein Krieg wie eine Naturkatastrophe, der zur Routine unseres Lebens geworden ist. Doch in Wahrheit ist es eine uns um den Verstand bringende, menschengemachte Tragödie.

Ich bin neugierig, ob man Lizzie Doron beim Besuch in Solothurn schützen muss. Ausgerechnet sie, die doch eigentlich nur um Verständnis, Empathie bemüht ist. Ob die Anwesenheit der Autorin zu einem Dialog wird und es nicht bloss bei einer Alibiübung bleibt. Wer sich in irgendeiner Weise zu den Geschehnissen zwischen Israel und den Palästinenser*innen äussert, riskiert den Zorn anderer, die Wut der einen oder anderen Seite. Selbst Besonnenheit und Zeichen der Mässigung können die Wut der Extremen entfachen. Alibiübungen braucht es in Solothurn keine, aber tatsächlichen Dialog!
Wie ich mich auf die Begegnung mit der Autorin freue!

Lizzie Doron, 1953 in Tel Aviv geboren, wurde durch ihre Romane über die zweite Generation nach der Schoah bekannt. Mit «Who the Fuck Is Kafka» – eine der wichtigsten literarischen Verarbeitungen des Nahostkonflikts – und «Sweet Occupation» wandte sie sich politischen Themen zu. Lizzie Doron wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung. Sie lebt in Tel Aviv und Berlin.

Markus Lemke lebt als freier Übersetzer und Dolmetscher aus dem Hebräischen und Arabischen in Hamburg. Er überträgt u. a. Werke von Eshkol Nevo und Dror Mishani. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2019 mit dem Deutsch-Hebräischen Übersetzerpreis und 2021 mit dem Hamburger Literaturpreis.

Beitragsbild © Dirk Skiba

Martin Prinz «Die letzten Tage», Jung und Jung

Das Tausendjährige Reich bäumt sich in einem Tal in den Ostalpen zum letzten Mal auf – mit all seiner Grausamkeit. Mit «Die letzten Tage» gelingt Martin Prinz ein Stück literarischer Vergangenheitsbewältigung der ganz besonderen Art. Ein dokumentarischer Roman, der mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.

In den letzten Tagen des Tausenjährigen Reiches, Wien steht kurz vor dem Fall, die rote Armee wartet in einer Talöffnung nicht weit von St. Pölten auf den letzten Schlag, errichtet Kreisleiter Braun ein letztes Standgericht. „Politisch Unzuverlässige“ werden hingerichtet. Nach dem Krieg, zwei Jahre später werden die Verantwortlichen vor ein Volksgericht geführt. Wieder werden Todesurteile vollstreckt, um danach für Jahrzehnte einen Mantel des Schweigens über die Geschehnisse in den letzten Tagen vor dem Zusammenbruch des Naziregimes zu legen. Erst durch die akribische Aufarbeitung der Geschehnisse damals durch den Autor Alois Kermer, den glücklichen Zufall, dass diese Aufzeichnungen nicht verloren gingen und zehn Jahre Recherchearbeit durch Martin Prinz gerät Frischluft in den modrigen Untergrund. Geschehnisse, die beispielhaft sind für die letzten Tage eines schrecklichen Krieges, eines ebenso schrecklichen Machtapparates, die Martin Prinz zu einem Buch formt, das einem gleich mehrfach in die Knochen fährt.

Wie irrgig zu glauben, ein Krieg sei mit der Kapitulation der einen Seite oder mit dem Erfolg von „Friedensverhandlungen“ zu Ende. Erst recht dann, wenn ein solcher Krieg über Jahre wütet und tiefe Wunden in ganze Landstriche gerissen hat. Wenn Generationen traumatisiert sind, die Gegend von Gräbern überzogen ist und jene, die damals an den Hebeln der Macht waren, noch immer da sind. Wie naiv zu glauben, Kriege wären an einem bestimmt Datum zu Ende. Was Kriege vor Jahrhunderten anrichteten, spürt man in den Ländern des Balkans. Wie tief man sich in der Rolle des Opfers sieht, das nie mehr ohne Gegenwehr Gewalt erdulden will, zeigt die Situation im Nahen Osten. Es scheint, als würde sich der Gräuel des Krieges, der Folter und Misshandlung ins Erbmaterial der Betroffenen fressen, zu einem genetischen Code werden, der von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Martin Prinz «Die letzten Tage», Jung und Jung, 2025, 272 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99027-415-6

Was bei Kriegsende in der Heimatgegend des Autors geschah, zeigt viel über menschliche Mechanismen, über die man lieber nicht nachdenken und reflektieren will. „Die letzten Tage“ ist ein Buch über Macht, über die Maschinerie von Hirarchien, über blinden Gehorsam und bodenlose Willkür. Über Blindheit und das Bedürfnis der meisten, Gras über Dinge wachsen zu lassen, die nie aufgearbeitet wurden, über die nie umfassenend reflektiert wurde. Über die Sehnsucht, durch das Vergessen jene Harmonie zu schaffen, die glauben macht, neu beginnen zu können.

Martin Prinz, der sich schon mit anderen Büchern durch seine akribische Recherchearbeit einen Namen machte und sich dabei auch schon ins Abseits manörvrierte, wagte mit „Die letzten Tage“ etwas, was nicht den gängigen Mustern literarisierter Vergangenheitsbewältigung entspricht. Martin Prinz erzählt nicht einfach eine Geschichte nach, füllt historische Fakten mit fiktionalen Zwischenräumen. „Die letzten Tage“ bleibt ganz nah an den Fakten, an Protokollen, Zeitdokumenten. Ob „Die letzten Tage“ ein Roman ist, bezweifle ich, lässt sich aber als Buch so bestimmt viel erfolgreicher verkaufen. Martin Prinz sind die Mechanismen von damals, das Psychogramm einer Gegend, die sich in einer Endzeit sieht, die Psychologie der Verdrängung, die Wirkungen von Macht und militärischem Gehorsam viel zu wichtig, als dass er das alles durch Fiktion verwässern, dramatisieren und verfremden will.

Reine Willkür gepaart mit militäischer Blindheit, fatalistischer Hyperaktivität und bodenloser Kälte machte möglich, dass Menschen von der Strasse weg eingesperrt, gefoltert, durch ein Standgericht im Hauruckverfahren abgeurteilt und erschossen wurden. Man schleifte sie durch den Ort und hängte sie mit Schmähtafeln um den Hals auf. Allen im Ort sollte unmissverständlich klar sein, dass man in den regionalen Machtzentralen noch immer an den Endsieg glaubt.

Aktendeckel © Wiener Stadt- und Landesarchiv, Volksgericht

Dass man auch Jahrzehnte nach dem Krieg nicht bereit war, die Geschehnisse von damals publik zu machen, zeigt das Schicksal der Aufzeichnungen jenes Mannes, mit dessen Recherchematerial Marin Prinz dieses Buch verfasste. Man ersuchte Alois Kermer 1993 Nachforschungen anzustellen. Nach fast einem Jahrzehnt Recherchearbeit übergab Kermer seine Aufzeichnungen der Gemeinde, die dann monatelang schwieg und erst nach mehrfacher Nachfrage erklärte, dass nun nicht mehr an die versprochene Veröffentlichung gedacht werden könne. Kermer starb 2006. Und nur weil ein Exemplar seiner Aufzeichnungen in die Hände eines Standesamtsleiters fiel und unter dem Titel „Erinnerungen aus dem Schwarzatal in schwerster Zeit“ veröffentlicht wurde und eines dieser Bücher Martin Prinz übergab, ist es zu verdanken, dass mit „Die letzten Tage“ ein ganz eigenes Mahnmal über menschliche Verwerfungen geschrieben wurde.

Es gibt sie, die Bücher, die sich nicht scheuen, in tiefsitzende Eiterbeulen zu schneiden, man lese die Bücher von Hanna Sukare oder den Roman „Dunkelblum“ von Eva Manesse. Aber niemand hat den protokollarischen Klang des Grauens besser zwischen zwei Buchdeckel gebracht wie Martin Prinz.

Interview

Keine einfache Lektüre. Sie setzt Leser*innen voraus, die gewillt sind, sich nicht nur mit einem schweren Stoff zu befassen. Man muss sich auch auf die Sprache, ihrem Willen, so nahe an den Protokollen zu bleiben, einlassen. Die Schriftstellerin Hanna Sukare ist in ihrem Schreiben mit Sicherheit von ganz ähnlicher Motivation getragen wie Sie. Und trotzdem sind ihre Romane ein Eintauchen in Bilder, ein Nacherzählen, eine Kombination von Fakten und Fiktion. Was hat Sie dazu bewogen, nicht einach eine Geschichte nachzuerzählen?

Prozessberichterstattung, Urteile © ANNO/Österreichische Nationalbibliothek, Weltpresse, 25.05.1947

Was in der Gegend zwischen Rax und Schneeberg in den letzten fünfeinhalb Wochen vor Kriegsende geschah, gerät aufgrund der speziellen Situation der stillstehenden russischen Frontlinie wie zu einem Kondensationskern nationalsozialistischen Alltags. Eine ganze Gesellschaft, von den NS-Führern, den SS-Männern, den HJ-Jungen, bis zu den kleinen Gendarmen und blossen Nachbarn, alle machen mit. Und niemand gehorcht nur, fast alle lassen dem Bösen auf alltäglichste Weise freien Lauf, sie übererfüllen sogar. Das ist kein Terror von oben, das ist Terror, der aus der Gesellschaft selbst kam. 

Es ist so geschehen, die Fakten lassen sich nicht leugnen, und dennoch bleibt es unvorstellbar. Und das Wort „unvorstellbar“, das immer und immer benutzt wird, es gilt es ernstzunehmen. Ob Einfühlung, Fiktion oder Eintauchen, eine solche Wirklichkeit muss in ihrer Unförmigkeit erzählt werden. Und in ihrer Unvorstellbarkeit. Hier hielte ich es für Anmassung, so zu tun, als könnte ich mir das vorstellen, als könnte ich es erzählerisch auf der Einfühlungsebene weitergeben. Das ist eine Illusion, und sie ist gefährlich, denn am Ende verharmlost sie, auch wenn sie das durch Moralisieren vielleicht zu überdecken versucht. 

Was also bleibt? Wo gibt es dennoch einen Ansatz des Erzählens? Dort, wo ihn die Täter selbst bieten, und das in ihrer Feigheit sogar bereitwillig, nämlich in ihrem Wegducken, ihrem Ausweichen, ihrem Verallgemeinern, nämlich in ihrer Sprache. Womit wir an der Werkbank jeden Erzählens selbst sind.

Im Nachwort zu Ihrem Roman erzählen Sie vom Weg, den der Stoff zu Ihnen benötigt hatte. Sie erzählen vom Autor Alois Kermer und dem Standesamtsleiter Hermann Scherzer. So wie die mit dem Buch den Geschehnissen von damals eine Mahnmal wider das Vergessen setzen, so setzen Sie jenen beiden Männern ein Denkmal, denen man das Erinnern verdanken muss. Sie sind dort, in jener Gegend aufgewachsen und interessieren sich schon immer für verborgene Wahrheiten. Ist in Ihrer Heimat nicht von viel früher der eine oder andere Modergeruch des Verborgenen an die Oberfläche geraten?

Zwar bin ich einige Berge und Täler davon entfernt aufgewachsen, doch den Moder gab es überall. Was in Reichenau und Umgebung geschah, war aufgrund des Rückzugs der NS-Spitzen in diese von Bergen und den russischen Linien erzeugten Inselsituation eine besondere Lage, in der sich ganz am Ende alles, was auch in den Jahren davor bereits Alltag war, noch einmal zuspitzte. Angesichts des von Kermer und Scherzer recherchierten Materials, angesichts der von mir durchgesehenen Akten des Volksgerichtsprozesses gegen die Täter wird klar, wir befinden uns buchstäblich in einem Labor der NS-Zeit selbst. Womit wiederum all das umso greifbarer wurde, das ich als Kind in den 70er-Jahren auch aus meinem Heimatort noch ansatzweise erfahren hatte.

Die Baracken des Reichsarbeitsdienstlagers (kurz RAD-Lager) © Stadtarchiv Neunkirchen

Die Sprache ihres Erzählens in diesem Roman ist eine ganz eigene. Eine, die die Grausamkeit unter scheinbarer Sachlichkeit verbirgt. Die Sprache von Ämtern, von Gerichten. Eine Sprache, die sich auch heute diametral von der Umgangssprache oder der Literatur unterscheidet. Sprachen, die nur wenig Berührungspunkte aufweisen. War es Faszination oder Respekt, der Sie so erzählen liess?

Respekt und Notwendigkeit.

Dass sich im letzten Aufbäumen vor dem Untergang unter Menschen eine ganz eigene Psychologie entwickelt, beobachtet man immer wieder. Eine Mischung aus Fatalismus, Anarchie und totaler Ergebenheit. Etwas, was auch in der Gegenwart zu beobachten ist. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ähnliche Mechanismen eingesetzt haben hinsichtlich der globalen Klimasituation. Einfach menschliche Regungen oder mehr?

Würde ich das wissen! Aber ich weiss es nicht.  – Und vermutlich ist das nur eine Schutzbehauptung meinerseits, denn ich lese gerade József Debreczenis Bericht „Kaltes Krematorium. Bericht aus dem Land namens Auschwitz“. Der einzige Schluss daraus kann nur die Anweisung sein, dass wir uns in Wirklichkeit weit mehr vor uns fürchten müssten.

Was mich fast am meisten erschütterte, waren die Berichte über die noch nicht volljährigen Burschen der Hitlerjugend, die damals an den Exekutionen und Zurschaustellungen der geschändeten Leichen teilnahmen. Die Vorstellung, dass sich jene Jugendlichen damals ein Leben lang mit diesen Bildern, mit ihrem Tun vor sich selbst zu verantworten hatten, lässt mich erschaudern. Schon allein das wäre Stoff für einen Roman. Was passiert mit dem Stoff in Ihnen, der sich so lange und so intensiv damit beschäftigte?

Ich habe nach dem Schreiben des Romans noch wochenlang von meinem Erhängen und Erschiessen geträumt. 

Martin Prinz, geboren 1973, aufgewachsen in Lilienfeld A, lebt als Schriftsteller in Wien. Er schreibt Reisegeschichten, Drehbücher und Romane (u.a. »Der Räuber« und »Die letzte Prinzessin«). Zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Drehbuch-Preis des Filmfestivals in Gijon.

Rezension «Die unsichtbaren Seiten» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Lukas Beck

Sofie Morin und Ulrike Titelbach «Nachtschatten im Frauenhaarmoos», Edition Melos

Sie haben mich eingerankt und ein bisschen eingewildert auch, die beiden österreichischen Lyrikerinnen Sofie Morin und Ulrike Titelbach mit ihrem im März 2025 in der Edition Melos (Wien) erschienen «Nachtschatten im Frauenhaarmoos».

Gastbeitrag von Christine Zureich

Als Phytopoetische Dialoge werden die aufeinander bezogenen Texte im Untertitel angekündigt und schon das Cover mit dem Gemälde «Flora» von Bartolomeo Veneto deutet auf eine mögliche weitere passende Wortneuschöpfung mit vegetabilem Präfix hin: Phytoerotik. Neben dem vermeintlich unschuldigen Blumensträusschen geht es in dem Band um Körper, um Geschlecht, um «Artigkeit»: Wer ist hier die Pflanze, frage man sich beim Lesen an mancher Stelle? Und vielleicht ist das Fragezeichen ein eingerolltes Farnblatt: 

«Nur diesen einen Augenblick entfernt vom Ausbreiten der Arme. Doch noch ist alles Ornament.» Tracheophyta/Farn

Pflanzen (und Tiere) haben in den vergangenen Jahren einen guten Boden gefunden, sich auszuwildern aus der Fachliteratur und Rosamunde Pilcher hinein in die Literatur und Lyrik, so etwa auch Morins Lyrikdebüt «Liebeleien mit Wuchsformen, eine translibidinöse Pflanzenkunde» (2024 bei Edition Arthof). Das Besondere am vorliegenden Band ist, dass er von Anfang an in Zusammenarbeit entstanden ist, jeder Text von vornherein bezugnehmend auf einen anderen, auf die zweite Autorin. Hier bereitet die eine Schreibende den Boden für die andere, nährt sie, gibt Rankhilfe. Stutzt vielleicht an mancher Stelle. Nein, diese Sprache ist zu gärtnerisch, zu hierarchisch: die Texte existieren in einer Symbiose, die eine Autorin macht die Texte der anderen möglich. 

Jedes der 28 Gedichte ist eine Pflanze. Botanischer Name und gebräuchlicher deutscher Name als Titel vorangestellt und danach das Zusammen (mehrständig) der beiden Schreibenden. Die Autorinnenschaft der einzelnen Teilabschnitte einer Pflanze ist je mit dem hintenan gestellten Vornamen dezent markiert.

Verbunden sind die Abschnitte jeweils nicht nur über den gemeinsamen Gegenstand, auch die explizit in Dialog tretenden Lyrischen Ichs und Dus weben den Zusammenhalt. Wobei dieses Du in einigen Fällen nicht die andere meint, sondern die Pflanze selbst angerufen wird, was die Pflanzen menscheln lässt und umgekehrt, der anwesenden Anderen (auch der/dem Lesenden) etwas Pflanzliches zukommen lässt, und es zuweilen keine Dialoge sondern mindestens Trialoge sind, die sich da verwurzeln. Auch ist das «Ich» kein konsistentes, mal scheint es ein zeitgenössisches, durch popkulturelle, musikalische Referenzen nahelgelegt, etwa wenn in Chenopodium bonus-henricus/Guter Heinrich auf Depeched Mode verwiesen wird (Master and Slave, natürlich: Heinrich, der Wagen bricht…), oder Bob Dylan (Löwenzahn). Dann wieder scheint es ein in Kriegszeiten darbendes (Cichorim intybus/Wegwarte). Echte Wechselbälger, sind diese Ichs und Dus, wie das Zweiblättrige Schattenblümchen (Maianthemum bifolium) S. 52: 

«ein Wechselbalg, ist den Farben untreu, das wohl – doch niemals der Erde, die alles Wachstum trägt.»

Sofie Morin, Ulrike Titelbach  «Nachtschatten im Frauenhaarmoos. Phytopoetische Dialoge», Edition Melos, 96 Seiten, CHF ca. 42.00, ISBN 978-3-9505758-0-4

Ein wenig erinnert diese Sammlung an die Blumenkunden früherer Zeiten, in denen jeder Pflanze eine eigene Botschaft zugesprochen wurde, eine weithin verstandene Bedeutung (nicht nur in der Kunstwissenschaft auch in der breiten Bevölkerung: Sag es durch die Blume…). Heute kaum vorstellbar, dass es Zeiten gab, in der alle erstens die Pflanzen und zweitens ihre Bedeutung wiedererkannten. Einen Strauss lesen, den sie bekamen, Schlüsselblümchen entschlüsseln, nicht nur rote Rosen.

Im Garten (oder besser: der ankultivierten Wildnis) den Morin und Titelbach für uns anlegen, breiten sich rhizomatisch neben Kinderpflanzen, also solchen «die mir von der Wiege ans Herz gelegt» (Vergissmeinnicht), Gänseblümchen, Löwenzahn, auch solche aus, für die mir das Bild fehlt, die ich nicht sogleich erkenne, und ich ertappe mich dabei googlen und mehr wissen zu wollen, auch vielleicht um den beiden Autorinnen auf die Schliche zu kommen. Es ist ein neckendes Spiel: wieviel der Geschichten, der Bedeutungen, der Kontexte und Zuschreibungen ist erfunden?

«Es ist alles nicht wahr und traut sich doch keine Lüge zu.» (14)

Und es ist gut, sind keine Bilder dabei, denn die hier erschriebenen Exemplare ihrer Art entfalten ein ausgeprägtes Eigenleben, nicht unbedingt klar ist, ob es sich noch um Pflanzen handelt, oder Figuren, anthropomorphes Gedichtpersonal und wo verläuft überhaupt die Grenze? Und braucht es diese Grenze überhaupt? Viele der Texte greifen die Nonbinarität der Pflanzen auf und ich meine auch ein Infragestellen der Artengrenzen zu lesen, eine umfassende Queerness vielleicht, die bei vielen Texten mitschwingt, ein Widerwille, alles einzukasteln. 

«Möchte das Fürwort wählen und auch finden, das jetzt und heute für sie spricht. Doch ist es steter Wandlung unterworfen.» (Arisaema franchetianum/Feuerkolben)

Und so gesellt sich neben botanisch präziser Sprache – Morin ist studierte Biologin – ornamental Poetisches, das sich gegen die Taxonomie auflehnt, die Schubladen gerade so wieder aufbricht.

Viel Analogiezauber ist drin in diesen Texten, der zwischen äusserlich ähnlichen Dingen eine Verbindung behauptet, wenn das Rot der Pflanzen für Blut steht und Pflanzenteile menschliche Geschlechtsteile suggerieren. Ein making kin (Donna Haraway) ist das auch. Sich vertraut machen, in Austausch gehen, das andere werden, eine Symbiose von Lebewesen unterschiedlichster Arten. Vielleicht sogar ein bisschen plant porn (könnte das ein neues Genre sein? Und das griffe hier doch viel zu kurz, obwohl ein bisschen davon in einer campy Spielart anklingt.) 

«Nachtschatten im Frauenhaarmoos» jedenfalls entfaltet ein Gegenprogramm zum othering, diesem Entmenschlichen, dem Entwesentlichen eines Gegenübers, um es mit Gewalt sich untertan machen zu können. Stattdessen höre ich den poetischen Aufruf, alles Wachsende und Seiende samt unterirdischer, gefährlicher Teile zu umschliessen. Das Veränderliche, den Wandel. Dass ständig alles anders ist. Nicht leicht zu klassifizieren und in Umkehr zum landläufig Gedachten. Wie auch in diesem Zitat, mit dem ich hier abschliessen möchte. Eine Pflanze ist nicht immer immobil im Gegensatz zum Menschen:

«Morgen wirst du dir die Flughaut deiner Ahnen wachsen lassen und ich bleibe staunend zurück mit geerdeten Sohlen.» (Astrantia maxima/Sterndolde)

Sofie Morin, geboren 1972 in Wien, lebt bei Heidelberg. Studienabschlüsse in tierischer Verhaltensforschung und menschlicher Philosophie an der Universität Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen von Lyrik und Kurzprosa in Literaturzeitschriften und Anthologien. 2022 drei Arbeitsstipendien für Literatur der österreichischen Bundesregierung.

Ulrike Titelbach, geboren 1971, lebt, forscht und arbeitet in Wien. Sie ist Autorin, Herausgeberin sowie promovierte Germanistin und lehrt am Institut für Deutsche Philologie der Universität Wien (unter anderem Literatur und Kreatives Schreiben). 2021 erschien ihr erster Lyrikband »Fragile Umarmungen«. Für ihre literarische Arbeit erhielt sie verschiedene Preise und Stipendien, unter anderem 2023 das Arbeitsstipendium für Literatur der Stadt Wien sowie den Publikumspreis beim Feldkircher Lyrikpreis.

Volkmar Mühleis «Die Augenweide», Plattform Gegenzauber

Naumburg

Aus dem Stadtpark klingt leise Reggae-Musik
verhaltenes Lebenszeichen
in dämmriger Stille

wer wollte hier schlafende Hunde wecken
sie scheinen alle begraben

versprengte Passanten schleichen durch die Gassen,
in einer Kampfsportschule beginnt der Unterricht,
morgen ist wieder Theater,
dann geht es nahtlos weiter
über Kopfsteinpflaster im Tänzelschritt
Arm in Arm

Nietzsche erhebt sich von seinem Denkmal
spricht mit Blei im Mund
vom dionysischen Glück

dreht die Musik auf!
würde er rufen, 
mit an der Pfeife ziehen
und den Mond anheulen

wollt ihr denn alle begraben sein?
und aus den Fenstern schauten die Neugierigen,
ein Jurist des Gerichts stürmte herbei
den morgigen Tag schon jetzt zu vergessen

sich selbst nicht mehr fremd sein,
ob unter Gestrandeten im Park
oder vor Ort Versandeten –

In deinen tränenfeuchten
Augen ruht ein Blick,
der schmerzlich, herzlich
dir und mir verwehte Leiden,
verlorne Stunden und zerronnen Glück
zurückrief beiden. –

 

Tiergarten

Sie alle bleiben vor der Magnolie stehen
sie ist die einzige Attraktion
zwischen Pariser und Potsdamer Platz,
Schloss Bellevue und Schöneberg

im Halbrund der hohen Eichen
blüht sie zum Ostergruß
dem japanischen Paar wie
einer Gruppe dänischer Radfahrer,
die hier posieren
für ihr Souvenir
und sie bedanken sich bei mir
für das Bild

von der Luiseninsel
klägliches Hundegewinsel
eine schrille Stimme keifert und schreit

ich schaue in mein Buch
lese den Stummfilm
aus schwarz-weißen Zeichen
ein stiller Souffleur vor dem Halbmond der Eichen
ins eigene Spiel vertieft

ein Specht hämmert zur Pause
mitten im ersten Akt,
ein Rapper seines Fachs:
drei schnabelschnelle Schläge
BAUM BEAT BOX
       unermüdlicher Rave
unter freiem Himmel

hunderte rosaweißlicher Blütenkelche
applaudieren im Licht, leuchten auf 
im milde lächelnden Wind

der Souffleur verlässt die Bühne
drei englische Damen suchen nach dem Weg,
im Trippelschritt nie stehender Jogger

eine gescheckte Elsterkrähe
trippelt in ihre Nähe
doch nichts fällt für sie ab
der Nächste kommt und bleibt vor der Magnolie stehen

wie ein Baum, der das Zittern nicht kennt
denkt er sich
Wurzeln, eine Aufenthaltsgenehmigung
unter der Erde,
Vorfahren, die einem das Leben schenken –
nicht weiter denken

auf der Krim sind Freunde von ihm stationiert
die Verteidigung seiner Doktorarbeit steht kurz bevor
und dann geht es zurück in die Heimat, in ihren
neuen
      unausweichlichen                          
                              Grenzen

 

Die Augenweide
nannte sie ihr Geschäft
eine Mischung aus Café
und Buchhandlung

wir kannten uns beim Namen
sie verkleinerte ihren Laden
blieb in Bücher gekleidet,
eine stille Augenweide

der letzte Lehrling
wurde ihr Nachfolger,
ließ das Schaufenster aufblühen,
die Wände streichen

sie selbst zog sich zurück,
verschenkte ihre Bücher

heute ist sie mir auf der Straße begegnet
und erkannte mich nicht


wie in der Verpuppung erstarrt,
spannte sich ihr Anorak zur Hülle,
hielt sie die Plastiktüte fest

ich lief nicht hinter ihr her,
blieb in der Vergangenheit
und sah ihrer Gegenwart nach,
mit unsicherem Schritt
über die Gleise

 

Straßenfest

Der Baum schmiegt sich ans Haus
                      die Wärme seiner Steine
                                     Blütenäste greifen aus
              durch die gespannte Leine
                                     quer über den Asphalt
                                           flattern bunte Tücher
                       zwischen den Ballons

    ein Kind hält das andere fest,
                                        sie drehen sich im Kreis,
                                              kreiselkreideweiß

 
                  während die anderen hüpfen
                    drei vor und zwei zurück,
                       mit oder ohne Gummi
                        ein Tanztheaterstück

      „Jetzt bist du dran!“
            zeigt ein Mädchen auf mich
                   und alle lachen –
                         auch ich

 

Februarmorgen am Rhein

Schillernde Schieferschatten,
fließende Furchen

vom Grau des abziehenden Regens getränkt,
wälzen sich unter der Last der Kähne
Stromschnellen und -wellen
durch die Tiefe des Tals

Ausläufer der Schmelze in den Bergen
von Schnee und Gletschereis
ausblutende Wunden
immer schärferen Lichts

wie es von neuem durch die Wolken bricht
blendend grell den Blick verengt,
über den Flussteppich tanzt
in Silberschleifen

als wären die Schiffe
  ohne Schwere und Kraft,
       nur behäbige Masse
              unbändiger Energie,
                      Luftspiegelungen
                          im Funkenschlag –

               die Augen schließen
                  vor dieser Wirklichkeit

                in sich
                  vor Anker gehen

 

Interview zum Gedichtband

Volkmar Mühleis, geboren 1972 in Berchtesgaden, lebt und arbeitet in Brüssel, wo er an der Kunsthochschule LUCA School of Arts Philosophie und Ästhetik unterrichtet. Zu seinen literarischen Buchveröffentlichungen gehören die Gedichtbände «Fête de la Musique» und «Gesichtsverlusterkennung» sowie das «Tagebuch eines Windreisenden» und die Novelle «Wasserzeichen».

Webseite des Autors

Kristine Bilkau «Halbinsel», Luchterhand

Was passiert, wenn ein Leben aus dem Tritt gerät. Wenn Lebenspläne abbrechen, der Ehemann beim Joggen stirbt, die Tochter zusammenbricht, das eigene Selbstverständnis ins Wanken gerät. «Halbinsel» ist ein Roman über die Nöte der Gegenwart. Halbinsel ist durchaus metaphorisch zu verstehen – wenn der Zugang zum Festland immer schmaler wird!

Annett erhält einen Anruf aus einem Spital, ihre Tochter habe einen Schwächeanfall erlitten, nichts Schlimmes, aber man behalte sie für weitere Abklärungen in der Klinik. Annett parkiert Bo, ihren Hund, bei Nachbarn und fährt hin, mit bangen Gefühlen. Annett ist mehr als verunsichert. Hätte sie merken sollen, dass es Zeichen gab? Mit einem Mal schwebt dieses Gefühl wieder über ihr, nicht genügt, zu wenig getan, die Zeichen nicht richtig gelesen zu haben. Wie damals, vor zwei Jahrzehnten, als Johan, ihr Mann, bei einer Runde Joggen nicht nach Hause kam, Annett mit dem Fahrrad verzweifelt zu suchen begann und Johan zusammengebrochen am Strassenrand fand. Damals starb ihr Mann und mit ihm das Vertrauen darauf, es würde sich schon alles zum Guten wenden.

Weil Annett spürt, dass Linn, ihre Tochter, Ruhe braucht, nimmt sie die junge Frau nach Hause, in das kleine Haus nicht weit vom Meer. In ein Zuhause, in das Annett sich in den letzten Jahren immer mehr zurückgezogen hatte, in ein beschauliches Leben mit Bo ihrem Hund, der Arbeit als Bibliothekarin in der nahen Kleinstadt – ein geparktes Leben. Dass Linn vorübergehend wieder in ihr altes, unverändertes Kinderzimmer zieht, verunsichert und berührt Annett gleichermassen. Nicht zuletzt darum, weil Annett nicht klar ist, was Linn aus ihrem Leben herausgerissen hat. Sie, die studierte, die sich mit Feuer der Natur verschrieben hatte, sich in als Umweltvolontärin für die Wälder in Schweden und Rumänien einsetzte, die ein eigenes Leben geführt hatte.

Was ist mit ihrer Tochter los, die in den ersten gemeinsamen Tagen im Haus das Bett kaum verlässt, keine Anrufe entgegennimmt und ihrer Mutter irgendwann verkündet, sie habe ihre Stelle noch vor Ende der Probezeit gekündigt und suche für ihre Wohnung Nachmieter? Wie soll sie reagieren, wenn ihre Tochter kaum Zeichen gibt, jede Frage zum Bumerang werden kann? Annett wird vom Hotel, wo es zum Zusammenbruch kam, informiert, man schicke ihr die Rechnung für Instandsetzungsarbeiten und die Restaurierung eines beschädigten Bildes. Was passierte an jenem Tag, von dem Linn in Bruchstücken erzählte, sie habe einen Vortrag gehalten, aber nicht das erzählt, was man hören wollte?

Kristine Bilkau «Halbinsel», Luchterhand, 2025, 224 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-630-87730-3

Annett macht sich auf den Weg. Weil ihre Tochter sie nur bruchstückweise an ihrem zum Stehen gekommenen Leben teilhaben lässt und sich das so ruhig gewordene Leben einer Witwe mehr und mehr in Schräglage sieht, braucht Annett eigene Antworten. Sie sucht in den Kisten und Schachteln, die sie im Keller ihres Hauses verschlossen glaubte. Sie sucht in abgebrochenen Spuren, im Hotel, in dem Linns Zusammenbruch stattfand, in der Wohnung, die aufgelöst wird. Langsam nähern sich zwei Leben an, zwei Leben, die sich nach dem Aufbruch Linns in ein eigenes Leben, voneinander entfernten und auseinanderdrifteten. Linns Leben in überschäumendem Aktionismus, Annetts Leben im unfreiwilligen Stillstand.

Kristine Bilkaus Roman ist nicht nur sprachlich überzeugend, sondern auch in der Vielfalt seiner Themen, ohne je überladen und konstruiert zu wirken. So viel Leidenschaft, so viel Verständnis und Empathie. Nicht nur für die Generation derer, die sich von der Lage der Welt zum Kampf aufgefordert fühlen und zu resignieren drohen, sondern für all jene, die sich einer permanenten Selbstbefragung ausgesetzt sehen. Einer Suche nach Antworten, die letztlich immer eine alleinige Suche bleibt. „Halbinsel“ erzählt viele Geschichten übereinander und ineinander; die Geschichte von Frauen, die ihre Rollen neu definieren, finden müssen, die Geschichte einer Mutter und Ehefrau, die Geschichte eines scheinbaren Friedens, der auf sandigem Grund gebaut ist, die Geschichte über den Zustand der Welt.

Jurybegründung der des Preises der Leipziger Buchmesse: «Leicht nacherzählbar scheint dieses Buch zunächst, doch das ist eine Täuschung. Kristine Bilkau trägt sukzessive Schichten von Fragen ab, die verunsichern. Das unerwartet zusammengeführte Duo aus Mutter und erwachsener Tochter braucht mehr als guten Willen für ein neues Lebensmodell. «Halbinsel» ist ein sensibel gebauter Roman über emotionale Altlasten, über Grosszügigkeit und über das Geschäft mit dem Klima-Gewissen.»

Kristine Bilkau, 1974 geboren, zählt zu den wichtigen Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur. Sie studierte Geschichte und Amerikanistik in Hamburg und New Orleans. Bereits ihr Romandebüt «Die Glücklichen» fand ein begeistertes Medienecho, wurde mit dem Franz-Tumler-Preis, dem Klaus-Michael-Kühne-Preis und dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Mit «Nebenan» stand sie auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Ihr neuer Roman «Halbinsel» wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse 2025 ausgezeichnet. Kristine Bilkau lebt mit ihrer Familie in Hamburg.

Beitragsbild © Thorsten Kirves

Wolfgang Hermann «Herr Faustini und die Glatze der Welt», Milena

Herr Faustini ist das, was man einen Müssiggänger nennen kann. Ein Mann der Sorte Mensch, der sich nicht hetzen lässt, der weder getrieben noch geschoben wird von all den Errungenschaften der Neuzeit. Ein überaus sympathisches Fossil. Ein überaus sympathisches Buch!

Nicht dass ich die Bezeichnung „Fossil“ im Zusammenhang mit dem Wesen und der Erscheinung Herr Faustinis als Schimpf verstehe. Wie gerne würde ich mir von diesem feinsinnigen Mann die eine oder andere Scheibe abschneiden. Weil er ein Suchender ist, der sein Leben nie der Suche verschreibt, weil er mit offenen Sinnen und fast kindlichem Wesen durch eine Welt geht, die so ganz anders funktioniert, sieht und findet er die kleinen und grossen Paradiese des Seins. Auch wenn dieser schmale Roman kein Märchen ist und alles auf dem Boden der Realität bleibt, hat die Geschichte etwas Märchenhaftes. Es ist eine Suchwanderung, die Geschichte eines Mannes, der sich auf Begegnungen einlässt, die ihn auf seltsame Weise immer weiter bis zu seinem Glück führen.

Ich traf mich mit dem Autor vor einiger Zeit in Wien, der Stadt, in der er wohnt und schreibt. Er führte mich in ein Restaurant hoch über den Dächern der Stadt, wo wir bei einem Glas Wein von unseren Leben erzählten. So wie Wolfgang Hermann in seinem Roman über Herr Faustini. So wie der Autor ist Faustini im Vorarlbergischen am Bodensee aufgewachsen und in Wien hängen geblieben. Herr Faustini ist passionierter Spaziergänger und Beizensitzer. Unterschiede zwischen Hermann und Faustini gibt es viele, Gemeinsamkeiten bestimmt auch. Faustini trinkt mit Vorliebe Hagebuttentee in Gasthäusern, in denen meist Bier oder billiger Wein getrunken wird.

Wolfgang Hermann «Herr Faustini und die Glatze der Welt», Milena, 2025, 120 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-903460-38-6

In einem solchen Gasthaus trifft Herr Faustini den Mann mit der Glatze, Martin, der ihm seine Geschichte erzählt. Martin und Luther. Luther, ein Eichhörnchen, das er stets mit sich trägt. Die Geschichte wie er noch als Junge in ein Irrenhaus in Wien abgeschoben wurde, unverstanden weggesperrt. Wie er in jenen kalten Mauern seine Liebe fand, eine junge Frau, etwas älter als er. Wie man sie erwischte und auseinanderriss. Wie man ihnen verbot, Kontakt miteinander aufzunehmen. Wie er sie verloren habe und die Erinnerungen  keinen Tag in seinem öden Leben verblassen. Er bittet Faustini, ihn nach Wien zu begleiten, jene Orte aufzusuchen in der leisen Hoffnung, vielleicht doch noch Spuren seiner grossen Liebe zu finden.

Und weil Herr Faustini Herr Faustini ist, sitzen sie schon am nächsten Tag im Zug unterwegs in die grosse Stadt am anderen Ende des Landes. Dorthin, wo Faustini einst mit seiner grossen Schwester und ihrem damaligen Freund seine erste grosse Reise machte, später noch weiter, auf die andere Seite des eisernen Vorhangs, wo die Städte im Russ beinahe erstickten. Beide Männer kehren auf ihre Weise in die grosse Stadt zurück, eine Stadt, in der nichts mehr ist, wie es einmal war. In eine kleine Pension, in der sich die beiden unterschiedlichen Männer wieder verlieren und Faustinis Reise über Wiens Gruselkabinett zu seinem Glück ein fulminantes Ende findet.

„Herr Faustini und die Glatze der Welt“ ist der sechste Faustini-Roman. Wer einmal dem Charme dieses schrulligen Einzelgängers erlegen ist, freut sich unweigerlich auf ein neues Kapitel in der seltsam abgerückten Welt des Herrn Faustinis. Wolfgang Hermann Faustini-Romane sind etwas Eigenständiges. Seine Art des Sehens, des Begegnens mit Dingen und Menschen führt Faustini an Orte, in Zonen, die den Gehetzten und Geschobenen verborgen, verschlossen bleiben. Faustini, ein Menschenfreund durch und durch, von kindlicher Ehrlichkeit, durchdrungen von Vorsicht und Respekt, ist ein Mann, der unerschrocken an das Gute glaubt, auch wenn er hinsichtlich der Zukunft mit der Dummheit der Menschen nur schlecht zurecht kommt. Ein Mann, der Ordnung in der Welt sucht. Ein Mann, der schon als Kind Herr Faustini gewesen sein muss, ein Aussenseiter, der sich nicht darum schert, einer zu sein.

Wolfgang Hermann (1961) wuchs in Vorarlberg auf, studierte Philosophie in Wien, wo er nach langen Auslandsaufenthalten wieder lebt. Sein erstes Buch „Das schöne Leben“ (Hanser 1988) wurde mit dem Jürgen Ponto Preis ausgezeichnet. Zuletzt erschienen: „Herr Faustini bekommt Besuch“, „Insel im Sommer“, „Bildnis meiner Mutter“, „Der Garten der Zeit“ mit Zeichnungen von Timna Brauer, „Beduinen in Wien“. Übersetzungen in zahlreiche Sprachen.

mehr über die Bücher von Wolfgang Hermann auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Gallus Frei (mit Wolfgang Hermann über den Dächern der Stadt Wien)

Herzliche Grüsse aus Shkodër, Albanien III

Lieber Gallus,

unterdessen habe ich Albanien erreicht:

Nichts weiter als einen halbwegs ungenutzten Quadratmeter auf dem Bürgersteig hat sie nötig, und sie arbeitet ohne je zu murren, ohne jede Pause: die Waage. Auf den Bürgersteigen Shkodërs, die immer auch Verkaufsfläche, Parkplatz und geselliger Treffpunkt sind, finden sich unzählige mit Münzen dekorierte Waagen. In der Regel steht neben der Waage ein Stuhl, die Einrichtung insgesamt kommt aber ohne Personal, ohne Erklärungen aus.

Wer sich wägen lassen will, stellt seine Tasche, welcher damit die Unannehmlichkeit erspart bleibt, den womöglich schmutzigen Boden zu berühren, auf den Stuhl, legt eine Münze auf die Waage und stellt sich – neben oder auf das versammelte Kleingeld – auf die vorgesehene Fläche und lässt die Schwerkraft ihre leichte Arbeit verrichten.

Wer mit der vorerst unbestechlich bleibenden Angabe des Gewichts nicht zufrieden ist, kann sich sowohl sogleich wie auch im weiteren Verlauf des Tages gemäss den eigenen Bedürfnissen mit der Einbildung verbrüdern, welche besagt, dass all das auf der Waage liegende Kleingeld sicher richtig schwer sei.

Thierry / Urs

Urs Mannhart, 1975 geboren, lebt als Schriftsteller, Reporter und Biolandwirt in La Chaux-de-Fonds. Zuletzt erschien bei Secession „Gschwind oder Das mutmaßlich zweckfreie Zirpen der Grillen“ und bei Matthes und Seitz „Lentille. Aus dem Leben einer Kuh“.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Urs Mannhart

„Jenny Erpenbeck über Christine Lavant“, Kiwi

Es gibt Dichter*innen und solche, die Gedichte schreiben. Christine Lavant war Dichterin, durch und durch. Hätte man ihr das Dichten genommen, wäre sie noch viel früher aus einer Welt entschwunden, in der es keinen Platz für sie zu geben schien, nie, nicht einmal nachdem man ihr den Österreichischen Staatspreis für Literatur verliehen hatte.

© Internationale Christine Lavant Gesellschaft

Dass Christine Lavant nicht vergessen ist, verdanken wir Verlagen, die sich durch Gedichte nicht abschrecken lassen, Freundschaften der Dichterin weit über ihren Tod 1973 hinaus und der Wirkung, die Texte und Person bis heute ausstrahlen. Sehnsuchtsgedichte, Liebesgedichte, schwärmerisch, aber nie entrückt, verklärt durch einen Blick, der weit mehr als die Oberfläche erfasst, Gedichte in vollendeter Rhythmik, als wären sie stille Lieder. Gedichte, die, wenn man sie laut liest, zu Musik werden. Gedichte, die ihrem Schmerz eine Stimme, eine Spur geben. Gedichte, die in Verbindung mit Fotos ihrer Person, Bildern und Holzschnitten des Künstlers Werner Berg in ein ganz eigenes Licht getaucht werden.

Ich lernte die Dichterin in einer kleinen Buchhandlung in Südkärnten, in Völkermarkt, kennen, der Buchhandlung und Galerie Magnet. Dort gibt es ein Regal mit Kärntner Dichter*innen; u. a. Peter Handke, Maja Haderlap, Florjan Lipuš. Wäre in einer Buchhandlung in meiner Wohngegend etwas von «Dichter*innen aus dem Thurgau» auf einem Regal zu finden? Es war „Die Schöne im Mohnkleid“, eine Erzählung über ihre eigene Herkunft und Geschichte, über Armut und Entbehrung. Eine Erzählung, die mich damals nicht zum ersten Mal nach Bleiburg nahe der slowenischen Grenze führte. Dort, in einem Museum zum Werk des Künstlers Werner Berg, fielen mir schon zuvor die Bilder einer ausgezehrten Frau mit grossen Augen und Kopftuch auf. Werner Berg malte sie immer und immer wieder. Zwischen den beiden musste etwas gewesen sein, dass viel mehr war als Maler und Modell.

Jenny Erpenbeck «Jenny Erpenbeck über Christine Lavant», Kiepenheuer & Witsch, herausgegeben von Volker Weidenmann, 2023, 160 Seiten, CHF. ca. 29.90, ISBN 978-3-462-00468-7

Sie beide, die Dichterin Christine Lavant und der Maler Werner Berg waren Künstler, die sich fern ab der Szene ihrer Arbeit verschrieben hatten. Beide mit einem ganz eigenen Blick auf die Welt. In Gedichten, Texten und Briefen wird deutlich, dass zwischen den beiden mehr war als Freundschaft. Eine Form des Verstandenseins, die sie nur in dieser einen Beziehung fanden. Eine Liebe, die nicht sein durfte, weil beide verheiratet waren, Christine Lavant mit dem glück- und erfolglosen Landschaftsmaler Josef Habernig, 36 Jahre älter als sie. Eine Heirat wohl auch aus einer Not heraus, denn kurz vor jener Heirat musste sie nach dem Tod ihrer Eltern die gemeinsame Wohnung verlassen.

Christine Lavants Kindheit war eine schwierige. Als Jüngste einer armen Familie, oftmals krank, immer wieder mit Lungenentzündungen knapp am Tod vorbeischrammend, verdiente die Dichterin ihren kleinen Beitrag zum Lebensunterhalt mit Handarbeiten. Erst in den letzten Jahren ihres entbehrungsreichen Lebens kam Christine Lavant durch Preise und Ehrungen zu etwas Geld, mit dem sie aber nicht sich selbst, sondern ihre Familie unterstützte. Sie selbst war sich nie die nächste, auch in ihrer Dichtung.

Immer wieder liegen Bücher der Dichterin auf meinem Nachttisch. Nicht nur weil ich einen persönlichen Bezug zur Herkunft der Schriftstellerin habe, sondern weil ihr Schreiben in ihrer Sprache zeitlos und von grösster Musikalität ist, weil Lavants Sprache sowohl in Lyrik wie in Prosa kompromisslos, leidenschaftlich und ehrlich ist. Dass ihre Dichtung auch mit religiösen Bildern durchsetzt ist, befremdet höchstens dann, wenn man keine Ahnung von der Herkunft der Dichterin hat, sowohl geographisch wie gesellschaftlich.

Aber warum beschäftigt sich die hochdekorierte Schriftstellerin Jenny Erpenbeck mit der grossen Unbekannten Christine Lavant? Ist es die Faszination einer Künstlerin, die es im Gegensatz zu Jenny Erpenbeck nie schaffte, sich im
Literaturbetrieb zu etablieren? Weil Christine Lavant dichtete, weil es ihre einzige Möglichkeit war, nicht zu verkümmern? Weil da jemand trotz aller Widrigkeiten in ihre Schreibmaschine hämmerte, mit der permanenten Angst, das Klappern könnte stören? Weil Christine Lavants Dichtkunst funkelt wie ein dunkler Kristall! Weil die Dichterin beweist, was Sprachleidenschaft entstehen lassen kann! Weil Jenny Erpenbeck mit aller möglichen Ernsthaftigkeit einer Dichterin begegnet, die damals in Kontakt mit den ganz Grossen war und doch nie einen Platz an der Sonne bekam.

Christine Lavant ist immer ein Geschenk, eine Offenbarung und ihr Leben ein Denkmal dafür, was Entschlossenheit bedeuten kann.
Lesen und geniessen!

Christine Lavant (1915-1973), geb. als Christine Thonhauser in St. Stefan im Lavanttal (Kärnten) als neuntes Kind eines Bergmanns, war Lyrikerin und Erzählerin. Ihre Schulbildung musste sie aus gesundheitlichen Gründen früh abbrechen. Jahrzehntelang bestritt sie den Familienunterhalt als Strickerin. Sie erhielt u. a. den Georg-Trakl-Preis (1954 und 1964) und den Großen Österreichischen Staatspreis (1970). Seit 2014 erscheint eine Werkausgabe von Christine Lavant im Wallstein Verlag.

© privat

Jenny Erpenbeck, geboren 1967 in Ost-Berlin, ist die Autorin zahlreicher Romane, Erzählungen und Essays. Ihre Werke sind in 30 Sprachen übersetzt und wurden im In- und Ausland vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Independent Foreign Fiction Prize, dem Thomas-Mann-Preis, dem Premio Strega Europeo und dem Internationalen Stefan-Heym-Preis. Zuletzt erschienenen die Romane »Gehen, ging, gegangen«, »Kairos« und ihr Buch über Christina Lavant. 2024 gewann sie als erste deutsche Autorin den International Booker Prize.

Webseite über Christine Lavant

Beitragsbild © Ernst Peter Prokop (Christine Lavant, 1963 in ihrer Wohnung in St. Stefan im Lavanttal)

Herzliche Grüsse aus Bileća, Bosnien-Herzegowina II

Liegt hinter einem Wald ein Wald, der an einen Wald grenzt, welcher, aufgelockert durch eine silbern schimmernd unter einem unangestrengt bewölkten Himmel liegenden Karstebene, auf unnachahmliche Weise einen Wald umgibt – dann handelt es sich womöglich um den Süden Bosnien-Herzegowinas. In der frühmorgens noch tief schlafenden Kleinstadt Bileća sitzen zwei Dutzend Männer, die sich kennen und folglich nicht reden müssen, hinter ihren Tassen und im dichten Rauch ihrer Zigaretten, darauf wartend, dass sich Geträumtes verflüchtigt. Ich sitze an der Bar, hole mein Gemüsemesser hervor, schneide mit Sorgfalt einen Apfel in acht Stücke und nehme so, Schnitz um
Schnitz, mein Frühstück ein.
Einige verwunderte Blicke durchqueren den Nikotinnebel und berühren mich, aber ich denke, es ist hier alles sehr in Ordnung: Ich rauche bloss einen Apfel.

Herzlich grüsst Dich

Thierry