Alain Claude Sulzer «Auf dem Balkon», Plattform Gegenzauber

Sie stand auf dem Balkon des Theaters, der nichts weiter als ein fussbreiter Mauervorsprung mit einem Sicherheitsgeländer war, und sah auf die Königsallee hinunter, als Dariusz sie anrief und ihr erzählte, er habe von einem Haus in Teheran geträumt, in dem er nie gewesen war, er kannte weder die Stadt noch das Land und also auch kein Haus, aber er träumte in letzter Zeit oft davon, erzählte er ihr. sie hatte zu tun, aber sie hörte ihm zu. Um die anderen nicht zu stören, hatte sie das Gespräch auf dem «Balkon» entgegengenommen, der bloß ein Austritt war. Die Straße, auf die sie sah, war belebt, viele Autos, wenige Fußgänger, ein Hund, der wie wild an der Leine zog und seine Besitzerin fast umgeworfen hätte.

In einem steinernen Garten mit vier Säulen sei er gestanden, in dem es keine Blumen gab, erzählte er ihr. Überall seltsame Tiere, die sich blitzschnell in Ritzen und Spalten unsichtbar machten und nicht mehr auftauchten; er hätte sie gern gesehen und identifiziert. Neuerdings träumte er öfter von Orten, an denen er nie gewesen war: Ein Brunnen unter verkrüppelten Bäumen in einem weissen Innenhof, über den sich ein luftiges Zeltdach spannte. Es ging ein frischer Wind, der wie eine ausgestreckte Hand unter das Zeltdach fuhr. Wie schon als Kind erzählte er ihr auch als Erwachsener Dinge, die andere ihren Müttern verschwiegen hätten, Wichtiges und Unwichtiges. Dariusz, ihr Erstgeborener, war sechsunddreissig und arbeitete in seiner eigenen Anwaltskanzlei. Er hatte eine Frau, zwei Kinder, er kannte die Welt, nur Teheran kannte er nicht.

Seltsame Vögel, bunt und laut, hatte er erzählt. Er erzählte gern farbig und ausführlich. Bücher, die sich in einer Ecke stapelten, religiöse Schriften, vermutete er, in Teheran las man sicher nicht Philip Roth. Er war allein. Welches Teheran war das? Das von damals, das er nicht kannte, oder das von heute, das er auch nicht kannte, das aber bruchstückhaft hin und wieder, wenn irgendetwas passiert war, in den Nachrichten, auf seinem Handy, im Radio, im Fernsehen, in den Zeitungen, auf den News-Bildschirmen der U-Bahn auftauchte?

Wie seine Schwester Jasmin beherrschte Darius nur die paar Sätze Farsi, die er aufgeschnappt hatte, wenn seine Mutter mit ihren Verwandten in Teheran, Los Angeles oder in Köln telefonierte, während sie am Boden saßen und zu ihr aufblickten. Den Sinn dieser Sätze hatte er – wie Jasmin – nur halbwegs oder gar nicht verstanden, doch irgendwann begannen sie wie Blutkörperchen in seinen Blutbahnen zu schweben.

(Romanauszug, in Arbeit)

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, u.a. Ein perfekter Kellner, Zur falschen Zeit, Aus den Fugen und zuletzt Doppelleben. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel. Alain Claude Sulzer lebt in Basel, Vieux Ferrette und Berlin

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(D)eine Weihnachtsgeschichte

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Adventsgeschichten 2024

Adventsgeschichten 2023

Adventsgeschichten 2022

Eva Schmidt «Neben Fremden», Jung und Jung

Was bleibt von einem Leben? War es das, was man sich erhoffte? Welcher Rest davon ist geblieben? Eva Schmidt ist eine Autorin der kleinen Gesten. Umso eindringlicher ist die Geschichte von Rosa, die sich am Schluss ihres Lebens, das ganz dem Helfen gewidmet war, vor einem Scherbenhaufen sieht.

Vielleicht ist es genau das, was ich so sehr an den Büchern dieser Autorin mag; das Unspektakuläre. Eva Schmidt erzählt keine wilden Geschichten, sondern das Leben, oder zumindest das, was davon übriggeblieben ist. Ihre Romane schäumen nicht über und sind schon gar nicht plottorientiert. Es ist, als würde Eva Schmidt ein Buch lang eine Tür öffnen, um mich an femdem Leben teilhaben zu lassen, ganz nah, ganz direkt, ungeschönt und unverklärt. Für mich fremdes Leben, für die Autorin ganz vertrautes Leben. Nicht weil ich Autobiographisches vermuten würde, sondern weil ich der Autorin, seit sie schreibt, ein hohes Mass an Empathie zuschreibe.

„Neben Fremden“ ist nicht nur Titel, sondern Programm dieses Romans. Wir leben immer enger beieinander. „Dichtestress“ ist zu einem Schlagwort geworden. Gleichzeitig steigt die Vereinsamung, die Anonymität und die Wahrscheinlichkeit, dass man unbemerkt tot in seiner Wohnung vergessen geht, weil alle Verbindungen gekappt sind. Ich kenne meine Nachbarn nicht einmal mit Namen. Und wenn man sich mit ihnen beschäftigt, dann nur, wenn es zu laut ist oder der Geruch von Zigarettenrauch durch die gekippten Fenster schleicht. Und was man Jahrhunderte lang als die Idealform des Zusammenlebens propagierte, was die Politik nur zu gern als kleinste Zelle einer funktionierenden Gesellschaft propagiert, die Familie, wird immer mehr zerrieben zwischen idealisiertem Wunschtraum und vermintem Krisengebiet.

Eva Schmidt «Neben Fremden», Jung und Jung, 2025, 192 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99027-426-2

Rosa war Krankenpflegerin. Jetzt ist sie pensioniert. Der Mann, mit dem sie ein Stück Leben teilte, mit einer anderen verheiratet und erst kürzlich gestorben. Von ihrem Sohn hat sie schon ein halbes Leben ausser ein paar wenigen Ansichtskarten, nichts mehr gehört. Und ihr alter Hund wird es auch nicht mehr lange machen. Ihre Mutter ist schwierig, voller ungestillter Erwartungen, muss ins Altenheim, weil es im Haus nicht mehr funktioniert. Mit ihrer einzigen Freundin, wenn sie denn wirklich ihre Freundin ist, trifft sie sich nicht wirklich gerne und in der Nachbarwohnung unter ihr fliegen die Fetzen. Die einzige, mit der sie sich wirklich versteht, ist die Tochter dieser Nachbarn. Eine Jugendliche, die ganz ähnlich einsam und abgeschlagen zu sein scheint wie sie. Eine, die manchmal bei ihr in der Küche sitzt , eine Omlette von ihr isst und erzählt.

Aber seit dem Tod jenes Mannes, ihres Ex, steht ein Camper vor ihrem Haus. Er hatte ihn ihr gekauft. Ohne sie zu fragen. Rosa sieht in dem Wohnmobil eine Chance, eine Tür, aus ihrem festgefahrenen Leben auszubrechen, etwas zu wagen, all die Zwänge, Verstrickungen und Verwachsungen hinter sich zu lassen, wenn auch nur eine Reise lang. Sie packt ihre Sachen und fährt zur Probe zusammen mit ihrem immer kränklicher werdenden Hund in die Berge, auf einen stillen Campingplatz. Dort lernt sie eine Holländerin kennen, die sich an sie hängt, mit ihrem Hund Unn und einem bettlägerigen Mann im Camper. Eine Frau, für die Rosa einmal mehr zum Strohhalm wird. Bis die Holländerin eines Morgens mit ihrem Camper verschwunden ist. Aber Unn bleibt an Rosas Camper angebunden.

Rosas Leben ist wie eingeschweisst. So sehr sie sich bemüht, Fenster und Türen aufzureissen, so sehr wird sie von Umständen zurückgebunden. Aber Rosa bewahrt sich das letzte Stück Kraft. Jenes ganz eigene, das ihr niemand nehmen kann. Hoffnung. Hoffnung, dass auch sie es dereinst sein wird, der sich ein kleines Stück Glück auftut. Hoffnung, dass sie ihren Sohn zurückgewinnen kann, wenn auch nur die Gewissheit, dass es ihm gut geht. Eva Schmidts Roman ist derart zärtlich geschrieben, dass ich nach der Lektüre mir selbst Zeit geben musste. Eva Schmidt erzählt wahrhaftig, ganz in der Realität und feinem Gespür für die wirklich wichtigen Dinge des Lebens.

Eva Schmidt debütierte 1985 mit Erzählungen («Ein Vergleich mit dem Leben», Residenz Verlag), der erste Roman folgte erst zwölf Jahre später unter dem Titel «Zwischen der Zeit» (1997). Nach einer Unterbrechung von fast zwanzig Jahren erschienen die beiden gefeierten Romane «Ein langes Jahr» (2016) und «Die untalentierte Lügnerin» (2019), mit beiden war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zuletzt veröffentlichte sie einen Band mit Prosastücken («Sonne in einem leeren Zimmer», Golden Luft Verlag) und Erzählungen unter dem Titel «Die Welt gegenüber» (2021).

Beitragsbild © Klaudia Longo

Nelio Biedermann «Lázár», Rowohlt #SchweizerBuchpreis 25/03

Nelio Biedermann, der Shootingstar der CH-Literaturszene, schrieb einen gross angelegten Familien-, Geschichts- und Epochenroman, der an die grossen Vorbilder der Deutschen Literatur erinnert. Ein wagemutiges Buch, das ambitioniert geschrieben ist, mich aber enttäuscht zurücklässt – nicht zuletzt, weil es zum Schweizer Buchpreis nominiert ist.

Der Niedergang einer ungarischen Adelsfamilie vor 100 Jahren. Ein oppulentes Sittengemälde einer Epoche des Umbruchs, eines Reichs, das in seinem Selbstverständnis für die Ewigkeit eingeschrieben schien, einer Familie, die sich aller Selbstverständlichkeiten beraubt sieht, von Familienmitgliedern, die straucheln und stolpern, einer Zeit, die mit den Wirren von Revolution und Krieg erodierte.

Nelio Biedermanns Roman „Lázár“ ist auch seine Geschichte, die Geschichte seiner Familie, seiner ungarischen Wurzeln, fast 60 Jahre, von der Jahrhundertwende bis zum Ungarnaufstand 1956. Warum sollte man als ehrgeiziger Schriftsteller diesen ungeheuren Schatz an Geschichte und Geschichten nicht anzapfen. Vielleicht hätte ich bei der Lektüre auch viel mehr Bewunderung gezeigt, wenn der Roman nicht in der Liste der besten Bücher der Schweiz zu finden gewesen wäre. Vielleicht hätte ich anerkennend genickt, in der Überzeugung, dass sich da ein Schriftsteller voller Mut und Selbstbewusstsein an einen grossen Stoff wagt und in einer Art und Weise schreibt, die an grosse Vorbilder erinnert.

Aber mit der Brille eines Kommentators zum Schweizer Buchpreis, mit dem Anspruch, hier eines der besten Bücher des Jahres zu lesen, mit dem Wissen, dass ich da einen Roman lese, der zeitgleich in 20 Sprachen übersetzt in den Buchhandlungen überall zu finden ist, wurde die Lektüre schwierig, manchmal fast unerträglich. Und wenn ich mich dann noch hinreissen lasse, all die Kritiken und Rezensionen in den Medien zu diesem Buch zu lesen, dann zweifle ich nicht nur am Geschmack all jener, die mit hymnischen Expertisen den Roman lasen, dann zweifle ich auch an mir.

Neil Biedermann «Lásár», Rowohlt, 2025, 336 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN ISBN: 978-3-7371-0226-1

Schon auf den ersten Seiten erschlägt mich der Roman mit der Fülle an Adjektiven. Ich habe nichts gegen behutsam eingesetzte Adjektive, vor allem dann nicht, wenn sie unvermeidbar sind, wenn sie Eindrücke verstärken, die nicht ohne eben dieses Adjektiv auskommen. Aber ich will, dass das Geschriebene nicht wie mit Ausmalfarben beschrieben wird. Ich will, dass meine Eindrücke durch passende Beschreibungen, oder auch Auslassungen evoziert werden. Zu viele Adjektive lassen Szenen und Beschreibungen grell, überladen erscheinen, stören mehr, als dass sie helfen würden. Für mich unerklärlich, dass ein sogfältiges Lektorat da nicht eingegriffen hat.

Ich liebe Romane, die in „cineastisch“, wie auf Breitlandwand erzählt sind, ausufernd, die in Bildern baden, Geschichte ausbreiten. Aber dann muss jedes Detail stimmen. Ich darf nicht das Gefühl haben, dass da etwas in den Text hineinfliesst, das nicht in die Zeit gehört – oder noch viel schlimmer, das mir zu verstehen geben will, dass der Text auch etwas mit der Gegenwart zu tun hat. Warum ritzt sich eine der Protagonistinnen? Kann sein, dass es das früher schon gab. Aber wenn ein Roman erzählt wird, als wäre der Erzähler aus den 30ern, dann ist „Ritzen“ kein Thema, auch wenn es das damals in Kreisen des Adels vielleicht schon gab.
Nelio Biedermann ist 22 Jahre alt. Wenn jemand so jung ist, dann will ich gerade eben diesen jungen Blick sehen, dieses Unverbrauchte, Ungehemmte. Aber die einzigen Szenen, in denen sich der junge Mann ungehemmt zeigt, sind Sexszenen, die so gar keine Erotik verströmen. 

Warum macht Rowohlt aus Nelio Biedermanns Roman einen Bestseller in der Art und Weise? Hilft man dem jungen Autor, in dem man ihn derart pusht? Oder wird man Nelio Biedermann bei allem, was er in Zukunft schreiben wird, an „Lázár“ messen? Ich gönne dem Autor und dem Verlag den Erfolg, jedes Buch, das über den Ladentisch geht, die vollen Säle, wenn Nelio Biedermann liest. Aber ich hoffe auch, dass Nelio Biedermann die Bodenhaftung nicht verliert, die Nähe zu seinem Publikum, auf das er als Schriftsteller auch in Zukunft angewiesen sein wird.

Nelio Biedermann hat viel gewagt. Der Verlag vielleicht noch mehr. Ich kann auch gut nachvollziehen, dass man sich in einem Verlag sehr gut überlegt, in welches Buch, in welche Autorin, welchen Autor man investieren will, zumal ein gut verkauftes Buch auch viele andere Bücher mitträgt, die aus was für Gründen auch immer von uns LeserInnen nicht goutiert werden. Aber Nelio Biedermann ist ein ungeschliffener Diamant. Und als eben dieser schlecht zu vergleichen mit denen, die sich schon über Jahrzehnte an der Zeit geschliffen haben.

Toll, wenn „Lázár“ gelesen und geliebt wird. Für meine Liebe reicht es nicht.

Nelio Biedermann, geboren 2003, ist am Zürichsee aufgewachsen. Seine Familie stammt väterlicherseits aus ungarischem Adel, seine Grosseltern flohen in den 1950er Jahren in die Schweiz. Biedermann studiert Germanistik und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. 2023 debütierte er im Aris Verlag mit «Anton will bleiben». Sein Roman «Lázár» erschien in mehr als zwanzig Ländern.

Webseite des Autors

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Azizullah Ima und Andreas Neeser «Morgengrauengewässer», Rotpunkt

Der afghanische Exilautor Azizullah Ima und der Schweizer Schriftsteller Andreas Neeser schickten sich Textminiaturen (maximal 14 Zeilen) und ertasteten literarisch, was Bilder auslösen und weitertragen. Azizullah in seinem Schmerz über eine verlorene Heimat, Andreas Neeser auf der Suche nach dem Kern.

Azizullah Ima floh 33jährig aus Afghanistan, nachdem zwei Jahre zuvor die Taliban die Kontrolle über das von Machtkämpfen geschundene Land übernommen hatten. Drei Jahre später kam der Pädagoge, Journalist und Dichter als Flüchtling in die Schweiz, im Herzen eine Sehnsucht, die seit dem Rückzug ausländischer Soldaten aus seinem Heimatland und der uneingeschränkten Macht der Taliban, ungestillt zum Schreiben zwingt. Andreas Neesers Sehnsucht ist jene nach dem perfekten Satz, dem perfekten Poem, eine Sehnsucht, die sich nur vordergründig von seinem Dichterfreund Azizullah Ima unterscheidet. Sie beide suchen nach Sprache, eine ultimative Suche, eine existenzielle Suche. Sie beide ringen mit der Sprache und mit ihr an der Welt. 

Sie beide ringen mit der Welt, Azizullah Ima mit dem Schmerz, der lähmenden Erkenntnis, unsäglicher Trauer und dem Wissen, dass Morden, Foltern, Einsperren und Sterben, die Willkür und Unterdrückung unkontrolliert weitergehen: 
Wenn ich nicht mehr an dich denke 
und an die unebenen Wege, die mich zu dir führen,
wenn die bittersten Lieder, die von Trennung handeln,
kein Gefühl mehr in mir auslösen, weiss ich, ich bin am Ende angekommen –
dort wo kein Schmerz mehr ist.

Andreas Neeser mit dem Wissen, dass sich unter der geschönten Oberfläche, den geflissentlich bewahrten Oberflächlichkeiten Tiefen auftun: 
Ich schaufle und grabe und baue, ich lege die Gänge zur Mitte hin – Platz schaffen, Raum für den einzigen Satz, den es irgendwo gäbe und irgendwann gibt, denn ich wühle gewissenhaft, heiter, und immer im Wissen, ich glaube mir kein Wort.

Azizullah Ima, Andreas Neeser «Morgengrauengewässer», Rotpunkt, 2025, aus dem Persischen von Sarah Rauchfuß, Vorwort von Manfred Papst, Nachwort von Sarah Rauchfuß, 144 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN SBN 978-3-03973-068-1

„Morgengrauengewässer“ nennt sich das gemeinsame Buch der beiden aussergewöhnlichen Dichter. Literarische Miniaturen, Sprachbilder, die die beiden hin- und herschickten, ohne sich dabei Antworten geben zu müssen, weil die wirklich wichtigen Fragen letztlich unbeantwortet bleiben. Azizullah Ima und Andreas Neeser sind Dichter, denen das ewige Suchen längst zum Leben geworden ist, denen die Sprache Selbstvergewisserung, Fragestellung genug ist. Es ist tatsächlich so, als sässen sie beide im Morgengrauen am Ufer eines stillen Sees, in der Hoffnung, ein weiterer Tag würde sie einen Schritt weiter, einen Schritt näher bringen. Der Morgen als Start in einen Tag, von dem sie Ernücherung erahnen und Klarheit erhoffen.

In den Texten der beiden steckt der Blick zurück und jener hinaus. In beiden steckt der Stachel des Schmerzes, wenn auch mit Voraussetzungen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Aber wahrscheinlich macht genau das den Reiz dieses ungewöhnlichen Dialogs aus. Was in diesem Buch auf literarische Art und Weise geschieht, wäre Beispiel genug, wie man sich über Kulturen hinaus begegnen und verständigen könnte. Beiden geht es nicht um Konfrontation, sondern um Bilder, die sich ergänzen, die sich spiegeln. Sie hören sich zu, nehmen Fäden auf, lassen sich locken und leiten, führen und wagen.

Interview mit Andreas Neeser

Wie brachte „Weiterschreiben Schweiz“ euch beide zusammen?
Weiterschreiben Schweiz versucht Exil-Autor/-innen in die hiesige Literaturszene zu integrieren. Zum Beispiel, indem Sie arrivierte CH-Autor/-innen anfragen, ob sie sich ein sogenanntes Tandem mit einem Exilautor bzw. einer Exilautorin vorstellen könnten. Mir wurde Azizullah vorgeschlagen, wir trafen uns und waren uns sofort einig, dass das was wird mit uns. Dank der persischen Übersetzung von «Zwischen zwei Wassern» konnte Aziz sich auch der Qualität meiner Arbeit vergewissern.

War von Beginn weg klar, dass aus dem Experiment ein Buch werden würde? Oder war es gar kein Experiment?
Einige Tandems treffen sich sporadisch und besuchen Veranstaltungen, oder sie schreiben sich Briefe oder sie reden über Literatur. Für Aziz und mich war von Anfang an klar, wir wollen Literatur MACHEN. Und zwar jeder für sich, aber dennoch zu zweit. Das war die Idee des Gesprächs; etwas, was es so praktisch nicht gibt. Und Miniaturen, damit der Gesprächscharakter, der Schreiberwechsel, auch zum Tragen kommt. Und dass wir unser Gespräch für die Öffentlichkeit führen, war auch von Anfang an klar. Literarische Texte brauchen Öffentlichkeit; so ergibt sich dann auch ein Gespräch mit den Lesenden…
Ich habe dann mehrere Verlage angeschrieben …  Es ist dem Rotpunkt Verlag hoch anzurechnen, dass er sich auf dieses Experiment eingelassen hat, mit dem sicher kein Geld zu verdienen sein wird.

Ihr kommt aus ganz verschiedenen Leben, Geschichten und Kulturen. Mir scheint, dass es deutliche Unterschiede gibt, nicht nur bei den Themen, der Bildsprache, auch im Sound, der Sprachmusik. Wie sehr war es ein Herantasten? Was passierte zumindest bei dir, wenn du einen Text von Azizullah erhalten hast?
Ein Herantasten war nicht möglich. Wir mussten ja jeweils einfach antworten auf einen Text. Und wir haben NIE über unsere Texte gesprochen. Keine Verständnisrückfragen, keine Änderungsanträge – das würde man ja auch nicht tun in einem normalen Gespräch. Ich sage ja nicht: «Könntest du den Satz, den du eben gesagt hast, noch einmal sagen, aber anders?».
Der Clash of cultures war krass: Krieg, Schwert, Tyrannen etc. – was soll ich dazu sagen? Ich war komplett zurückgeworfen auf mich selbst und die Sprache. (Beides ja durchaus zweifelhaft) Es wäre lächerlich gewesen, etwas über den Krieg oder die Taliban zu schreiben. Also musste ich ganz in meiner Welt bleiben und bei meiner Existenz. Das ist aus meiner Sicht auch ein Gewinn für das Buch. Jeder spricht mit dem anderen, findet Berührungspunkte, und bleibt doch in seiner Welt – egal, was für Themen angeschnitten werden. Für Aziz ist das übrigens genauso. Und so hat er mit dem Gedicht «Reisesymphonie» einen Weg zu anderen Themen gefunden – Reisen, Sprache, Träumen, Kinder.
Für Aziz, den orientalischen Geschichtenerzähler, war es übrigens auch spannend, mit europäischer Lyrik, die ganz Gedanke, Bild und Sprache ist, konfrontiert zu werden.

Zwischen der gegenseitigen literarischen Auseinandersetzung liegt die Übersetzung. Mit jeder Übersetzung verändert sich ein Text, wahrscheinlich umso mehr, je weiter die Sprachen voneinander „entfernt“ sind. Wie weit musste die Übersetzerin Sarah Rauchfuss in die Auseinandersetzung miteinbezogen werden?

Meine Texte gingen auf Deutsch zu Aziz; seine gingen nach Berlin zu Sarah Rauchfuss, dann zu mir.
So verging immer sehr viel Zeit (ca. 1 Monat) von einem Text zum nächsten. So kam natürlich nie so richtig ein Dialoggefühl auf. Vor allem Aziz hat das zugesetzt, weil er jede seiner Antworten innert Stunden nach dem Eingang meines Textes verfasst hat. Ich hingegen brauchte immer viel länger.
Die Übersetzungen habe ich nie hinterfragt, zumal Aziz immer mit Sarah in Verbindung stand und da und dort auch intervenierte.
Für mich wurden die Übersetzungen erst beim Lektorat wichtig. Wir lektorierten erst die deutschen Texte, fragten bei Sarah nach, ob die Korrekturen – alles stilistische Kleinigkeiten – eine Änderung des Originals erforderten. Falls ja, klärte das Sarah mit Aziz.

Azizullah Ima und Andreas Neeser sind mit «Morgengrauengewässer» gemeinsam unterwegs. Unter anderem am 1. November in Weinfelden anlässlich der Weinfelder Buchtage und am 15. November in Frauenfeld in der Kantonsbibliothek.

Azizullah Ima, 1963 geboren, studierte Pädagogik in Kabul und war Chefredakteur der Tageszeitung Dariz. Als 1996 die Taliban die Macht übernahmen, musste er Afghanistan verlassen. Seit 1999 lebt er in der Schweiz. Er hat auf Persisch zahlreiche Romane, Erzählungen und Gedichte publiziert.

Weiterschreiben Schweiz

Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik in Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses, danach Tätigkeit als Deutschlehrer. Sein umfangreiches literarisches Schaffen wurde vielfach ausgezeichnet.

Sarah Rauchfuß stammt aus Niedersachsen und lebt heute in Berlin. Nach einem ersten Studium der Iranistik und Philosophie studierte sie Zentralasienwissenschaften. Seit 2019 übersetzt sie persische Literatur ins Deutsche. 

Beitragsbild © Xenia Zezzi

Biedermann und die Lobstifter #SchweizerBuchpreis 25/02

Alle Zeitungen, die Tagesschau, der Literaturclub und die Sendung «Zwei mit Buch» berichten mit Begeisterung. Von Daniel Kehlman liest man auf dem Umschlag Ein wirklich grosser Schriftsteller betritt die Bühne! Vergleiche mit Thomas Manns Buddenbrocks machen die Runde! Ich, skeptisch ob so viel Lob, frage mich: Muss oder will ich ein solches Buch lesen?

Lieber Gallus

Die Neugier hat gesiegt und ich habe «Lázár» gelesen. Leicht lesbar und unterhaltsam geschrieben erfahre ich vom Schicksal dreier Generationen einer ungarischen Adelsfamilie in den Weltkriegen und in der Sowjetzeit. Sehr romantisch, farbenprächtig und gelegentlich kitschig geschrieben begegne ich dem Werk eines jungen, fantasievollen Erzählers. Was ich vermisse, sind Entwicklungen der Charaktere, Fragestellungen und die Suche nach Antworten, Reflexionen. Mir fehlt eine persönliche Auseinandersetzung des Autors mit seinen Protagonisten, der Geschichte. Nach Weglegen des Buches klingt wenig nach, vergesse ich rasch.

Sie hatte von ihnen geträumt, und tatsächlich waren die Störche zurückgekehrt, reckten ihre weissen Hälse aus den Klatschmohnfeldern, die das Städtchen umgaben, während sie am Fenster verharrte und den milchigblauen  Morgenhimmel, den blütengelben Horizont, die weichen Hügel in der Ferne, den schlichten Kirchturm und das satte Rot der Felder ansah, als wäre bereits alles eine Erinnerung, als wären Sehen und Erinnern dasselbe, sie schloss das Fenster und ging ins Bad,…schminkte sich die Lippen klatschmohnrot, steckte die Perlohrringe, die einst Sandors Mutter gehört hatten, in die Ohrlöcher, öffnete das geflochtene Haar, das wie dunkles Wasser über den weissen Stoff des Nachthemds, ihre schmalen Schultern glitt, stand auf und holte die dunkelblaue Strickjacke aus dem Schrank…

Vor ihnen lag Zürich, der See, die weissen Schwäne und verschneiten Berge.

Neil Biedermann «Lásár», Rowohlt, 2025, 336 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN ISBN: 978-3-7371-0226-1

Ein Wunderkind!? Mir tut dieser begabte junge Autor im Kreuzfeuer dieser Medien-Begeisterung leid. Aus einem Interview erfahre ich, dass er gut mit seinem frühen Ruhm umgehen kann, viel liest und diszipliniert täglich schreibt. So hoffe ich, dass er seine literarischen Fähigkeiten trotz Rummel weiter entwickeln kann. Mit «Lázár» hat Nelio Biedermann gegenüber seinem Erstling «Anton muss bleiben» bereits einen grossen Schritt getan. 

Die grosse Medienpräsenz dieses Autors lässt mich auch unseren Literaturbetrieb hinterfragen. Warum reissen sich die Verlage um dieses Buch und sind die geplanten Übersetzungen in 20 Sprachen dauernd erwähnt. Was ist gute Literatur, wer bekommt einen Preis, wer wird beachtet und gefördert? Eine schwierige Frage bei der riesigen Anzahl von Autorinnen und Autoren. Du, Gallus, hast einen besseren Überblick über die Literaturszene: Was denkst du darüber?

Zufällig ist mir unmittelbar anschliessend der schmale Band «Großmütter» von Melana Mvogdobo in die Hand gekommen. Welch grosser Kontrast! In einer äusserst knappen, ausdrucksstarken Sprache, sorgfältig in zwei verschiedenen Farben gedruckt, erzählen zwei Grossmütter ihr Leben. Eine aus einer armen Schweizer Bauernfamilie, eine aus einer wohlhabenden Familie in Kamerun. Als Grossmütter befreien sie sich nach Demütigungen und Erleiden von seelischer und körperlicher Gewalt von ihren Männern. Wie sie das mit Hilfe ihrer Enkelinnen machen, ist beeindruckend. Ein kluges Buch mit Tiefgang! Mit Nachhall!

Ich muss nachdenken. Ich will verstehen, wieso mein Leben so ist, wie es ist. Und noch viel wichtiger: Weshalb ich nicht in der Lage war, mein Schicksal einfach anzunehmen, wie so viele andere Frauen.

Interessant, dass beide für den Schweizer Buchpreis 2025 nominiert sind. 

Herzlich

Bär

***

Lieber Bär

Danke für deine Einschätzungen, die ich eigentlich nur teile, auch wenn ich bisher nur über Melara Mvagdobos Roman «Großmütter» gelesen habe. Vor ein paar Tagen bekam ich vom Transit Verlag, bei dem ihr Roman erschienen ist, eine Mail, man könne mir den Roman erst in einigen Tagen zusenden, da man nachdrucken müsse. Eine gute und schlechte Nachricht zugleich. Zum einen zeigt die Situation des Verlags, wie sehr man von dieser Nomination überrascht war und wie gut in der Folge das Buch verkauft wurde, was übrigens auch bei «Die Holländerrinnen» von Dorothee Elmiger geschah, drohte doch eine Lesung in der Ostschweiz ohne Büchertisch mit dem angesagten Titel, was schlussendlich verhindert werden konnte, weil in der Not die eine Buchhandlung der andern aushalf. Ein guter Buchverkauf des einen Buches hilft vielen anderen Büchern des gleichen Verlags, denen es nicht gelingt, die Brieftaschen von LeserInnen aus welchen Gründen auch immer zu öffnen. Zum andern kann der Hunger ausgerechnet in Momenten des grössten Appetits nicht gestillt werden.

Melara Mvogdobo «Großmütter», Transit, 2025, 128 Seiten, CHF ca. 26.90, ISBN 978-3-88747-416-4

Aber nur schon dein kleiner Teaser lockt und steigert die Vorfreude auf «Großmütter», ist doch das Thema «Geschlechterspezifische Gewalt gegen Frauen» aktueller denn je in Zeiten, in denen «Männlichkeit» von politischen Parteien zum Kampfwort gemacht wird, Männerbünde in Medien mit Reichtum und kruden Ansichten protzen, Statistiken über Gewalt gegen Frauen mehr als besorgniserregend aussehen und Errungenschaften wachsender Emanzipation und Akzeptanz gegenüber einem LGBTQ-Bewusstsein offensichtlich immer stärker in Bedrängnis geraten.

Hier die Begründung der Jury des Schweizer Buchpreises für den Roman «Großmütter»: Der Roman handelt von zwei Grossmüttern, die in ganz unterschiedlichen Welten leben und die doch viel gemeinsam haben … Als junge Frauen haben sie Träume. Sie heiraten, werden gedemütigt und spüren die engen Grenzen, die das Patriarchat ihnen setzt. Doch irgendwann setzen sie sich zur Wehr. In einer überraschenden Parallelführung zweier Leben zeigt Mvogdobo das, was Frauen über Kulturen und Kontinente hinweg verbindet. Das Buch besticht durch die knappe, messerscharfe und zugleich bewegende Sprache ebenso wie durch seine Milieuschilderungen.

Ich freue mich auf das Buch!

Und «Lázár»? Wenn der hochdekorierte Grossmeister der Deutschen Literatur Daniel Kehlmann, der sich mit «Die Vermessung der Welt» ins kollektive Bewusstsein einer ganzen Lesegeneration einschrieb, sich zu einer solchen Einschätzung hinreissen lässt und dem Verlag die Erlaubnis gibt, dieses Zitat zu Werbezwecken aufs Buchcover zu drucken, dann muss doch etwas dran sein. Wenn sich Veranstalter um Nelio Biedermann reissen, wenn das Buch eines 22jährigen in mehr als 20 Sprachen gedruckt wird und in Buchhandlungen mit glänzenden Augen um die Wette gestrahlt wird?

Die Frage, was denn gute Literatur sei, treibt mich immer wieder um. Letzthin las ich ein Zitat des Schriftstellers Martin R. Dean: Die Literatur muss am Lack des schönen Scheins kratzen. In einer Zeit, in der Filterblasen und Echoräume sich wie unsichtbare Scheuklappen auf das Subjekt legen, ist der Blick darüber hinaus von grösstem Wert. (aus «In den Echokammern des Fremden» von Martin R. Dean).

Ich habe «Lázár» gelesen und werde mich später differenzierter dazu äussern. Vielleicht sehen wir uns ja wieder an der Preisverleihung des Schweizer Buchpreises im Foyer Theater Basel, 11.00 Uhr, am Sonntag, den 16. November.

In Freundschaft

Gallus 

Melara Mvogdobo wurde 1972 in Luzern geboren. Nach ­einem Pädagogik-Studium und der Geburt von drei Söhnen lebte sie in der Dominikanischen Republik, in Kamerun und wieder in der Schweiz. 2022 zog sie mit ihrer Familie nach Andalusien. 2023 erschien  im Verlag Edition 8 ihr erster Roman «Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden».

Nelio Biedermann, geboren 2003, ist am Zürichsee aufgewachsen. Seine Familie stammt väterlicherseits aus ungarischem Adel, seine Grosseltern flohen in den 1950er Jahren in die Schweiz. Biedermann studiert Germanistik und Filmwissenschaft an der Universität Zürich. 2023 debütierte er im Aris Verlag mit «Anton will bleiben». Sein Roman «Lázár» erschien in mehr als zwanzig Ländern.

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Annie Ernaux «Die Besessenheit», Bibliothek Suhrkamp

Wahrscheinlich kennen sie das Phänomen der Eifersucht. Aber wenn sich Eifersucht mit Besessenheit paart, wenn sich ein ganzes Leben nur noch um das eine dreht, wenn sich der Blick mehr und mehr verengt – wie viel braucht es dann noch, dass Besessenheit zur Katastrophe wird?

Den einen Vorwurf kann man Annie Ernaux nicht machen; jenen fehlender Authentizität. Im Gegenteil. Authentizität ist zum Markenzeichen der Autorin geworden. Sie ist so sehr zu ihrem „Ding“ geworden, dass sich das Thema auf eine fast schon unheimliche Art wieder versachlicht hat. Annie Ernaux schreibt masslos ehrlich, so schonungslos, dass die Autorin selbst fast wieder hinter ihren Schilderungen, ihrem Nachdenken über sich selbt zu verschwinden scheint. Ich sah die Autorin noch nie live. Aber wenn ich ihr bei Interviews ins Gesicht schaue, wenn ich ihr zuhöre, dann ist da eine Frau, die über eine Frau erzählt, die über eine Frau schreibt. Annie Ernaux projiziert beim Schreiben auf Folien, macht ihr Tun, ihr Handeln, ihr Denken zu einem Ding. Sie mischt minimal mit Emotionen, betrachtet sich selbst auf eine manchmal fast befremdlich scheinende Art und Weise sachlich. Gleichzeitig schützt sie sich vor Entblössung, gar vor Scham, nicht zuletzt bei jener ihrer Leser*innen. Annie Ernaux schreibt über das, was jeder kennt. Über Ängste, Manien, über das, was Emotionen anrichten. Es ist kein innerer Blick, keine Perspektive aus dem Auge des Sturms, sondern eine ungemein nüchterne Schilderung dessen, was die meisten Menschen ein Leben lang nicht in Worte fassen können, wo den meisten die Sprache fehlt, wo sich sonst all die Verhärtungen und Knoten bilden, von denen sich ein Grossteil des Gesundheitssystems nährt.

Ich habe schon immer schreiben wollen, als wäre ich bei Erscheinen des Textes nicht mehr da. Schreiben, als würde ich bald sterben, und es gäbe dann niemanden mehr, der urteilt.

Annie Ernaux «Die Besessenheit», Bibliothek Suhrkamp, aus dem Französischen von Sonja Finck, 66 Seiten, CHF ca. 30.90, ISBN 978-3-518-22562-2

Was Annie Ernaux schreibt, ist Konzentrat. Das manifestiert sich nicht nur in der Anzahl Seiten, die das schmale Büchlein zusammenbringt. Nichts an diesem Buch ist aufgeblasen, aufgehübscht und breitgeschlagen. Annie Ernaux bleibt ganz nah an dem, was sie losschreiben will. „Die Besessenheit“ ist ein verschriftlichter Loslösungsprozess, der Bodensatz einer Auseinandersetzung mit sich selbst in einem Tagebuch. Und doch ist das Buch kein therapeutisches Selbstheilungsprotokoll. Annie Ernaux setzt sich mit Annie Ernaux auseinander, mit einer Person, die von ihren Gefühlen ebenso besessen ist, wie von der Person, der Frau, die ihren Ex unter die Nägel gerissen hat. Jene Frau, die mit jenem Mann zusammen ist, mit dem sie sechs Jahre zusammen war, von dem sie sich trennte, weil sie damals ihre Freiheit zurückgewinnen wollte. Besessen vom Wunsch, den Mann zurückzugewinnen. Besessen vom Wunsch, zu wissen, wer diese Frau ist. Was es ist, das an jener besser sein muss als an ihr. Besessen vom Durst nach Klarheit. Besessen vom Durst nach einem Sieg über ihre vermeindliche Kontrahentin.

Zu dem Zeitpunkt frage ich mich nicht, ob mein Verhalten oder meine Wünsche richtig oder falsch waren, genauso wenig, wie ich es mir hier beim Schreiben frage. Manchmal denke ich, dass man durch diesen Verzicht am sichersten zur Wahrheit vordringt.

Und nicht zuletzt liegt diese Besessenheit auch in ihrem Prozess der Auseinandersetzung, des Nachdenkens, des Schreibens. Das Schreiben ist wahrscheinlich ihre einzige Waffe gegen den Schritt über die Besessenheit hinaus, wissen wir doch, was passieren kann, wenn Besessenheit zur Tat schreitet. Ihre Tat ist das Schreiben. Und weil ich ihr Buch lese, beginnt meine Reflexion, nicht zuletzt jene, ob ich nicht auch solcher Gefühle fähig wäre. Wahrscheinlich ist die Besessenheit in der Eifersucht gar nicht weit von dem entfernt, was sich jemand antut, der ein Buch schreibt. Wie kann man schreiben ohne Besessenheit? Was ist Verliebtheit anderes als Besessenheit?

Schreiben ist im Prinzip nichts anderes als eine Eifersucht auf die Wirklichkeit.

Im 2002 erschienenen Original heisst das Buch „L’occupation“, was der deutschen Übersetzung eine ganz andere Färbung gibt. Annie Ernaux beschreibt eine „besetzte“ Frau. Eine Frau, die unfähig ist, sich auf einem Gedankenkarussel, einem Gedankensog herauszubegeben. Die sich aber auch nicht gegen diesen Zustand zur Wehr setzt, weil sie spürt, dass er Leben bedeutet, dass er Kraft hat, dass er sie bewegt, so sehr, dass sie zu schreiben beginnt.

Schwer beeindruckend!

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als «Ethnologin ihrer selbst». Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermassen gefeiert worden. Annie Ernaux hat für ihr Werk zahlreiche Auszeichnungen erhalten, 2022 den Nobelpreis für Literatur.

Sonja Finck übersetzt aus dem Französischen und Englischen, darunter Bücher von Jocelyne Saucier, Kamel Daoud, Chinelo Okparanta und Wajdi Mouawad. Für ihre Ernaux-Übersetzungen wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

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Beitragsbild © Heike Steinweg

Veronika Sutter «Ohne mich wäre hier Urwald», Plattform Gegenzauber

Kümpel ist tot, ich hoffe, dass ihr alle da sein werdet. Ort. Datum. Zeit. Mehr braucht es nicht, sie werden kommen.

Ein Ball, der gegen ein Garagentor donnert. Eine leerschwingende Schaukel. Das Spulen einer Kassette in einem Recorder. Schwarze Haare auf muskulösen Schenkeln. Sich windende Pfahlwurzeln. Eine Wanduhr, ticktack, ticktack … 
… und ich bin da. Warte in einer milden Abendluft des Junis 1973 bei der Teppichstange auf die anderen. Aus einem offenen Fenster Scheppern von Geschirr und My sweet Lord. Ich bin weggegangen, ohne dass es jemand bemerkt hat, die Rechenaufgaben wie einen Schweif hinter mir herziehend. Etwas fällt klirrend zu Boden, ein Kind fängt an zu weinen, das Hare Rama wird abgeklemmt, das Fenster mit Nachdruck geschlossen. Eine Amsel fliegt auf. Ich warte auf die anderen.

Wir haben alle einen Makel, Sigi schäumt aus dem Mund, Toni hat eine verrückte Mutter, Ramon keinen Vater, Sonja ist schwer von Begriff und ich versuche, ohne Lügen durch den Tag zu kommen. Was ausserhalbder Siedlung liegt, ist eine Welt voller Rätsel. Verwundert linsen wir in Küchen, wo frisierte Frauen Brote streichen, staunen hinein in diese aufgeräumten Puppenhäuser, wo jemand auf die Uhr schaut und sagt, wann es Zeit ist. Wir schämen uns, dass es unseren Eltern egal ist, wenn wir zu spät kommen, und sind oft mit Ausreden beschäftigt. Ausserhalb der Siedlung fühlen wir uns verdorben und gehen einander aus dem Weg. In unserer Strasse aber sind wir ein starkes Geflecht. Wir sind die Bornstrassenkinder.

Ich schlafe in der Stube, weil alle anderen Zimmer belegt sind und ich das jüngste Kind bin. Im grössten Zimmer schlafen meine Eltern. Zahnlos. Ihre Gebisse liegen nachts in Gläsern, die auf dem Spiegelschrank im Badezimmer stehen, manchmal grinsend, manchmal fletschend. Oft liegen sie auch ohne jeden Ausdruck in ihrem Nachtwasser, lächerlich vergrössert.

Mein Bett gehört mir nur in der Nacht. Tagsüber trägt es eine maisgelbe Decke, die beiden Kissen, das braune und das tannengrüne, und meinen Vater beim Mittagsschlaf. Auch meine Mutter, wenn nach dem Abwasch noch Zeit ist. Seitlich liegend haben beide Elternleiber auf dem Bett Platz. Sofort fallen sie in Schlaf, auf die Minute genau sind sie wieder auf den Füssen, zehn nach eins. Mit rankenden Blumen auf den Gesichtern schlürfen sie den Nescafé und setzen sich wieder in ihren R4. Ohne Worte.

Zwischen mir und den Kaninchen, die sie hinter dem Betriebsgebäude halten, machen meine Eltern keinen grossen Unterschied. Früher packte mich mein Vater manchmal im Genick, schüttelte mich und sagte knurrend, ein richtiger Chüngelbraten sei ich. Dann fragte ich mich, ob er imstande wäre, mich zu essen.

Am Kopfende meines Bettes steht ein kleiner Schrank. Darin lagere ich meine Schulsachen, Haarspangen, Nastücher und das Tagebuch. Nachts liegt auf dem Tagebuch ein Armband aus farbigem Garn. Ein Geschenk von Sylvie, die auf der anderen Seite des Mattenbaches wohnt. Ich sehe sie nicht mehr oft. Sie muss lernen, und zwar mehr als das Nötigste. Wir in der Siedlung müssen nichts, wir haben Zeit, die wir verplempern können.

Ich habe deine Mutter gesehen, füdliblutt. 
Ramon kickt den Ball an ein Garagentor, einmal, zweimal, erst dann hebt er langsam den Kopf.
Was?
Sie hatte nichts an …, Sigi hält sich die Hand vorden Mund, ich habe ihre Haare gesehen, da unten, ein dunkler Busch.
Ramon stoppt den Ball mit dem linken Fuss.
Wo soll denn das gewesen sein.
In eurer Wohnung. Kann nichts dafür, wenn sie die Vorhänge offen lässt. Hätte jeder sehen können.
Vom Weg aus?, denke ich.
Wie der Urwald?, fragt Sonja.
Und da ist noch jemand gewesen, Sigi schaut kurz zu mir und gleich wieder weg, ein Mann. Vor Sigis Lippen haben sich knisternde Blasen gebildet. Auf dem Sofa, nur mit Unterhemd, und zwischen seinen Beinen war so ein … so ein, wieder fährt sich Sigi mit dem Handrücken über den Mund, ein Speichelfaden glitzert in der Sonne.
Sigi, bitte, sagt Toni.
Ramon wuchtet den Ball auf die mittlere Garage, dreht sich um, geht weg, der Ball schnellt an uns vorbei, schlägt auf, verschwindet im Gebüsch.
So ein weisses Ding, Plastik oder so, schreit Sigi Ramon hinterher.
Hast du ihn gekannt? Den Mann?, will Sonja wissen.
Ja. Wieder wirft Sigi einen Blick in meine Richtung.
Wer
Sigi zuckt mit den Schultern und schaut zu Boden.
Mach dich nicht wichtig, Sigi, sage ich. Und übrigens, das war ein Pariser, noch nie davon gehört?

Es ist nicht diese Episode, die alles verändert, aber vielleicht ist sie ein Vorzeichen, eine vage Ankündigung. Noch leben wir wie Pflanzen, was wir brauchen, bekommen wir, Erde, Wasser, Luft, Licht. Die einen begnügen sich damit, ihre Köpfe nach der Sonne zu wenden, andere schiessen ungehemmt in die Höhe, schicken Triebe in den Himmel oder verlegen sich darauf, unter Boden Wurzeln zu verbreiten. Selbstausläufer. Die Erdbeere, lateinisch Fragaria, ist in der Lage, Ableger zu bilden, aus denen neue Pflänzchen wachsen, das sind sozusagen Klone der Mutterpflanze. Wenn mein Vater doziert, hört niemand zu, aber als er von der Vermehrungsweise der Fragaria spricht, will ich wissen, was Klone sind.

Es kommt vor, dass Einzelne von uns etwas Schönes hervorbringen, eine auffallende Blüte. Wie Toni, die plötzlich so gut Rollschuh fahren kann, dass sie in eine Showtruppe aufgenommen wird. In weissen Stiefelchen und einem glitzernden Röckchen wirbelt sie überbdie Bühne, bis den Glotzenden schwindlig wird. Aber auch bei ihr wird wie bei uns allen bald etwas passieren, das dem Pflanzendasein ein Ende setzt. Es zeigt sich unterschiedlich. Bei Toni beginnt es mit dem Moment, als sie dem Kastenwagen nachschaut, der ihre Mutter wegbringt. Bei Ramon ist es die Spucke auf dem Rasen und bei mir …, bei mir sind es verschiedene Dinge. Nach der Sache mit Kümpel ist es definitiv vorbei mit der Unschuld, für uns alle.

Die Siedlung klebt an der dunklen Flanke einer Bergkette, an die sich unser Tal drückt, in Löffelstellung, wie meine Eltern beim Mittagsschlaf. Über den Grat des Berges wandern Menschen, die Freizeit haben, Leute aus der Stadt. Sie schauen hinunter in das schattige Tal, auf das Dorf, auf die Wohnblöcke und sind froh, dass nicht sie es sind, die hier wohnen. Berg ist ein zu grosses Wort, auch Tal ist ein zu grosses Wort, alle Wörter sind zu gross für diesen Ort, nichts ist so, wie es sich anhört. Wir sagen Tal, aber es ist nichts als eine Schnellstrasse und parallel dazu Bahngeleise; was wir Dorf nennen, ist ein Platz mit Abfalleimern und betonierten Sitzbänken, einem Bahnhofskiosk und ein paar alten Häusern, die stur verharren, während andere längst das Feld geräumt haben. Für die Migros, das Bankgebäude, die neue Gemeindeverwaltung. Ein bescheidener Fluss folgt demütig den Schienen und der Strasse, obwohl er lange vor ihnen da war. Kraftlos krümmt er sich an Reihen von Wohnblöcken vorbei, die sich ins Land gefressen haben. Der Zug fährt zwischen zwei Sackbahnhöfen hin und her, Tal hinauf, Tal hinunter. Nur die Schnellstrasse führt weiter, sie will möglichst rasch weg von hier.
Hinter der reformierten Kirche liegt der Friedhof und oberhalb der katholischen, fast am Waldrand oben, verläuft die Bornstrasse. Da steht unsere Siedlung. Der Friedhof ist für alle, die Siedlung für die Angestellten der Papierfabrik. Hier wachsen wir vor uns hin, ohne dass es jemanden kümmert, Ramon, Toni, ich und die anderen.

An der Hinterseite der Wohnblöcke, die dem Wald am nächsten sind, wuchert scharfkantiges Unkraut; Flechten und Moose kriechen am feuchten Gemäuer empor, und nur weil Kümpel regelmässig mit tödlichem Wasserstrahl auf sie losgeht, nehmen sie nicht überhand. Ohne mich wäre hier Urwald, hören wir ihn zischen, wenn er seine Gerätschaften hinter sich herzerrt, in den Boden rammt, mit schweissglänzendem Hals, auf dem sich die Sehnen spannen.
Ohne Kümpel wäre hier Urwald, wären die geduckten, länglichen Gebäude überwuchert von Blacke, Geissfuss, Ackerwinden, wellige Hügel in der Landschaft, wie früher, vor Tausenden von Jahren, nur dass wir darunter leben würden.
Ohne mich wäre hier Urwald, hören wir Kümpel fauchen, murmelnd wiederholen wir es hinter seinem Rücken.

Beim Kehrplatz vor den Garagen endet die Strasse. Hier ist der Ort der Männer. Hier waschen sie am Samstag ihre Autos, betrachten Motoren, klopfen Schultern. Daneben die Burschen auf ihren Töffs, sie rauchen und reden über die Autos, die sie später kaufen würden. Von unserem Platz bei der Teppichstange hören wir sie lachen, rufen, fluchen. Und immer dudelt Musik, manchmal fremdländisch ab Kassette, manchmal aus dem Radio. Akropolis adieu, Immer wieder sonntags, Am Tag, als Conny Kramer starb. Keine Frauen bei den Garagen. Für sie gibt es die Spielplätze mit den Sandkästen, den viel zu kurzen Rutschbahnen und den zwei Betonröhren, durch die niemand kriechen will.

Es gibt Unterschiede. Die Autos. Die Marke der Autos.Die Sprache, die daheim geredet wird. Wie es beim Kochen riecht. Ob beim Essen das Radio läuft oder der Fernseher. Ob man im Sommer zu den Verwandten fährt. Oder überhaupt wegfährt. Das Alter der Autos. Die PS der Autos. Ob man in die Kirche geht und in welche. Die Namen.
Über die Gemeinsamkeiten reden wir nicht. Dass für uns keine Geburtstagspartys veranstaltet werden und wir selten zu welchen eingeladen sind, dass wir nach dem Mittagessen die Zähne nicht putzen, dass wir diejenigen verachten, die ein fixes Taschengeld haben, aber Mittel und Wege kennen, um an Geld zu kommen. Dass wir es lächerlich finden, von den Eltern für gute Noten belohnt zu werden. Dass von uns erwartet wird, keine Probleme zu machen. Dass etwas Rechtes aus uns werden soll.

Kümpel ist gut für Mutproben. Ihm in die Augen schauen. Ihm frech kommen. Ihm nicht gehorchen, tun, als ob man ihn nicht gehört hätte. All dies heizt unsere Träume an, wenn sie kühn sind. Wir verstecken uns auf unseren Balkonen hinter Geranien, Petunien, Fleissigen Lieschen und beäugen Kümpels Wege durch die Siedlung. Sie sind rätselhaft, scheinen einem festgelegten Plan zu folgen, variieren ständig und sind doch immer die gleichen. Kümpel geht stets eilig, vorgebeugt, Kopf vorne, Ellbogen hinten. Graue Mantelschürze mit langen Ärmeln, grobe Arbeitshose, die Stösse in die Stiefel gesteckt. Kümpel hat einen Sinn für alles, was nicht in Ordnung ist, herumliegende Velos, trockene Wäsche, die nicht abgenommen wurde, Himmel und Hölle auf der Strasse.
Niemand weiss, wer Kümpel ist, woher er kam und was sein Auftrag ist. Wenn Kümpel sich nähert, gehen die Frauen schneller, die Männer beginnen zu pfeifen oder etwas an ihren Autos zu untersuchen. Niemand ist je in Kümpels Wohnung gewesen und niemand redet freiwillig mit ihm. Aber alle wissen, dass Kümpel zu akzeptieren ist. Es gibt Dinge, die sich nicht ändern lassen.
Für uns gebraucht er eigene Namen: Pfosten, Totsch, Kleiner Scheisser. Alle zusammen sind wir Gjät. Er bellt uns an, wenn wir abends auf dem Kehrplatz gummitwisten oder Bälle an die Garagentore kicken. Bälle bringen ihn aus dem Gleichgewicht. Wir lassen sie ihm vor die Füsse rollen, um zu sehen, wie sein Schritt aus dem Takt gerät, wie er versucht, dem Ball auszuweichen, als wäre eine Berührung tödlich. Die einen behaupten, Kümpel sei früher Fussballer gewesen, habe beim FCZ gespielt, aber genauso möglich ist, dass er ein Bankräuber war, jahrelang im Gefängnis. Manchmal taucht Kümpel unvermittelt vor einem auf. Es heisst, zwischen den Kellerräumen gebe es Tunnels, die Kümpel erlaubten, überall gleichzeitig zu sein. Aber kein Mensch hat je einen Zugang gefunden.
Eigentlich ein netter Mann, sagt meine Mutter, aber auch sie versucht, seine komplizierten Routen nicht zu durchkreuzen. Auch sie überlegt, was sie falsch gemacht haben könnte, wenn Kümpel in der Nähe ist.
Wir finden nicht heraus, wie er es macht. Warum er weiss, was wir treiben. Niemand von den Eltern will etwas mit dem kleinen schwarzen Buch zu tun haben, das er in seiner Schürzentasche mit sich trägt, einige behaupteten, dieses Büchlein existiere nur in unserer Fantasie.
Kümpel ist der Teufel. Ich weiss es.

(Auszug aus «Mein Bett gehört mir nur in der Nacht», mit freundlicher Genehmigung der Autorin)

Veronika Sutter, geb. 1958, aufgewachsen im Sihltal, veröffentlichte in früheren Jahren ein paar Kurzgeschichten. Beruflich arbeitete sie unter anderem als Buchhändlerin, Kulturveranstalterin und als Journalistin, studierte Kommunikationsmanagement und war für NGOs und soziale Institutionen tätig. Ihr Erzählband «Grösser als du«, der 2021 in der edition 8 erschien, wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert. Im Herbst 2025 erscheint ihr neuer Roman «Mein Bett gehört mir nur in der Nacht». Veronika Sutter lebt mit ihrem Partner in Zürich.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Tabea Vogel

Echte Perlen? #SchweizerBuchpreis 25/01

Schweizer Buchpreis 2025 – das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk von Schweizer:innen oder seit mindestens zwei Jahren in der Schweiz lebenden Autori:nnen. Ist das möglich? Kann das eine Jury bestimmen? Gibt es das eine, beste Buch? Was sind die Kriterien für das beste Buch?

Ich bin mir sicher, dass die Jury mit Tim Felchlin, Literaturredaktor und Kulturjournalist, Martina Läubli, Kulturjournalistin, Simone Nuber, Master of Science, Isabelle Vonlanthen, stellvertretende Leiterin des Literaturhauses Zürich und Manuela Waeber, freie Lektorin alles daran setzen, die Nominierungen und die Wahl zum Schweizer Buchpreises möglichst objektiv aussehen zu lassen, würden doch deutliche Fehlentscheidungen die Glaubwürdigkeit eines solchen Prädikats „bestes Buch“ noch mehr in Frage stellen. Aber das beste Buch gibt es nicht. Die Frage scheitert an mehreren Punkten. Auch wenn es Leute aus dem Literaturbetrieb gibt, die der Überzeugung sind, dass es unauslöschliche Kriterien für gute Literatur gibt. Gute Literatur zeichnet sich durch ihre Fähigkeit aus, tiefgründige Wahrheiten über die menschliche Erfahrung zu vermitteln, starke emotionale Reaktionen hervorzurufen und die Zeit zu überdauern. Sie zeichnet sich durch gut entwickelte Charaktere, fesselnde Handlungen und eine reiche, nuancierte Sprache aus. Aber wer bestimmt, was tiefgründig ist? Ist es nicht so, dass emotionale Reaktionen ganz unterschiedlich ausfallen können, nicht nur in der Kunst. Was ist „nuancierte“ Sprache? Wülstig mit Sicherheit nicht. Schon gar nicht sichtbar durch die Anzahl von Adjektiven.

Vielleicht muss ich ganz persönlich auf die Frage antworten, was gute Literatur zumindest für mich sein kann: Sie muss mich fesseln. Sie muss mich überraschen. Sie muss mich in irgend einer Form provozieren. Sie muss in mir einen Nachhall erzeugen, muss sich in mir festhaken. Der Sound muss musikalisch sein. Ich soll bewegt werden… Ich könnte die Liste noch weiterführen, ohne je den Anspruch zu haben, eine solche Liste habe Allgemeingültigkeit. Robert Walser wurde wie Franz Kafka zu Lebzeiten nur von wenigen beachtet und geschätzt, am wenigsten vom Buchmarkt. Oder umgekehrt; Kennen sie John Knittel? Der Schweizer Schriftsteller war zu Lebzeiten sehr erfolgreich, starb 1970. Heute kennt ihn kaum mehr jemand. Vergessen. Kennen sie Ruth Blum? Die Schaffhauserin starb 1975. Ich kaufte alle ihre Bücher in Antiquariaten und war hell begeistert. Vergessen. Noch so eine lange Liste.

Das beste Buch! Warum ist unter den Nominierten nicht „Sommerschatten“ von Urs Faes? Oder „Walzer für niemand“ von Sophie Hunger? Oder „Sechzehn Monate“ von Fabia Andina? Hört die Schweiz an den Sprachgrenzen auf?Schweizer Buchpreis? Oder „die spinne“ von Eva Maria Leuenberger? Warum nicht einmal Lyrik in der Liste der Nominierten? Weil man der Lyrik kein Scheinwerferlicht zutraut? Weil sich damit keine Verkaufszahlen generieren? (Hut ab vor allen Verlagen, die sich noch immer tapfer trauen, Lyrik zu drucken!) Die Liste jener Bücher, die es auch verdient hätten, wird mit der Intensität des Lesens nicht kürzer. Auch das Unverständnis über diese Versäumnisse. Zudem muss man wissen, dass sich etliche Grössen der hiesigen Literatur durch ihre Verlage gar nicht mehr zur Wahl stellen wollen.

Immerhin stehen für einmal keine Debüts in der Liste. Wie soll ein Debüt eine Chance haben neben einem Buch eines literarischen Schwergewichts? Und Schwergewichte sind in der Liste der Nominierten sehr wohl vertreten: Mit Sicherheit die erst 40jährige Dorothee Elmiger, die mit ihrem Roman „Die Holländerinnen“ auch in der Shortlist zum Deutschen Buchpreis steht. Und zweifelsohne Jonas Lüscher. Meral Kureyshi schaffte es mit ihrem Debüt „Elefanten im Garten“ vor 10 Jahren auf die Liste der Nominierten und gilt seither als wichtige Stimme der CH-Literatur. Von Melara Mvogdobo las ich vor ein paar Jahren ihr Debüt „Von den fünf Schwestern, die auszogen, ihren Vater zu ermorden“ und konnte mich nicht wirklich begeistern lassen, genauso wie vom Debüt „Anton will bleiben“ von Nelio Biedermann. Dass ihre Folgeromane von ganz anderer Qualität sind, darüber lässt sich streiten, zumal „Lásár“ in einer Weise gehypt wurde und wird, die jede Verhältnismässigkeit vermissen lässt.

Meine Meinung war ziemlich schnell gemacht.

Illustrationen © Lea Le / literaturblatt.ch

Ayelet Gundar-Goshen «Ungebetene Gäste», Kein & Aber

Ayelet Gundar-Goshen kümmert sich als Traumapsychologin um geschundene Seelen. Als Schriftstellerin erzählt sie von dem, was sich hinter den menschlichen Fassaden abspielt, wenn der Mensch sich dem nicht stellt, was nach traumatischen Erlebnissen Seele in Schmerz verwandelt. Und als israelische Schriftstellerin und Therapeutin sticht sie mitten in die eiternde Beule einer in sich geschlossenen Gesellschaft.

Schon erstaunlich, dass Ayelet Gundar-Goshen so ehrlich und ungeschönt ein Stück „Krankengeschichte“ ihres Landes erzählt, ohne dass man ihr deshalb bedrohlich nahe kommt. Was in Israel momentan geschieht ist zwar nicht die Kulisse des Romans, aber sehr wohl Teil der Geschichte. Die Unfähigkeit der israelischen Politik alles stets in hier und dort einzuteilen, die eigene Gesellschaft von der arabischen Welt abzukoppeln, sich im kollektiven Trauma aus jahrhundertelanger Verfolgung, Massenvernichtung und Emigration während der Nazizeit und globalem antisemitischen Aufflammen auf Abwehr, Einigelung in „präventive“ Gewalt einzuschiessen, lässt viele Israelit*innen und Juden zu Eingeschlossenen werden. Ein kollektiver Mix aus Angst, Misstrauen und Vorurteilen lähmt viele, am meisten jene, die in der Politik Macht nicht als Verantwortung sehen, auch für den Schwächeren, sondern in der Demonstration von Potenz.

Was Ayelet Gundar-Goshen in ihrem beklemmenden Roman erzählt, liest sich wie eine Analyse der geschundenen Seele Israels. Nur mit dem Unterschied, dass sich diese Seele nicht auf die Couche legen will, um in der Reflexion darüber, was sich in den Verwachsungen des Seelenlebens verheddert hat, verträgliche Lösungen zu finden.

Ayelet Gundar-Goshen «Ungebetene Gäste», Kein & Aber, 2025, aus demHebräischen von Ruth Achlama, 320 Seiten, CHF ca. 31.00, ISBN 978-3-0369-5063-1

Ein junges Paar, Naomi und Juval, leben mit ihrem kleinen Uri in einem mehrstöckigen Haus mitten in Tel Aviv. Während sich Naomi in ihrem Zuhause und auf Spaziergängen zum Spielplatz mit aller Liebe und Fürsorge um ihren kleinen Jungen kümmert, der noch immer von ihr gestillt wird, aber schon laufen kann, ordert Juval einen arabischen Handwerker, um in seiner Abwesenheit die Balkonbalustrade auszubessern. Eine Eingangszene im Buch, die symtomatisch zeigt, wie tief das Misstrauen vieler Israelis gegenüber Arabern sitzt. Man ist zwar auf ihre Arbeit angewiesen, aber mit ihnen alleine in einem Raum zu sein, wird zur Pein. Während der Handwerker kurz die Toilette benutzt und Naomi sich bereits eine Generalreinigung der Toilette vornimmt, macht sich der kleine Uri am Handwerkszeug zu schaffen und lässt einen Hammer über die Balkonbrüstung fallen. Der Hammer wird zum Auslöser einer Kette von Katastrophen. Der Hammer tötet einen jungen Mann auf der Strasse. Naomi schweigt über das, was auf sie zurückfallen könnte. Der arabische Handwerker wird verhaftet und eines terroristischen Verbrechens bezichtigt. Und weil Noemi drei Tage lang schweigt, sich trotz schlechtem Gewissen nicht durchringen kann, der Polizei die Wahrheit zu sagen, bringt sie für die Familie des unschuldig Verhafteten einen Stein ins Rollen, der alles mitzureissen droht.

Obwohl der Verhaftete dann doch freikommt und man Naomi in einem aufwändigen und kostspieligen Prozess von jeder Verantwortung freispricht, nimmt Juval eine lukrative Stelle in der nigerianischen Hauptstadt Lagos an. Die Flucht soll ein Neubeginn werden. Aber während sich Juval mehr und mehr in einer alten Liebesbeziehung verstrickt und Naomi sich nur in der abgeschotteten und bewachten Siedlung unter ihresgleichen bewegen kann, wird mehr und mehr deutlich, dass sich beide erst dann in ihrem Leben als Familie finden können, wenn sie sich dem stellen, was sie von innen und aussen bedroht, wenn sie den eigenen Ängsten entgegentreten, wenn sie bereit sind, nicht nur sich selbst und dem Partner gegenüber ehrlich zu sein, sondern der Realität um sie herum. Aber statt sich aufzutun, drohen sich die beiden mehr und mehr zu verlieren.

Ayelet Gundar-Goshens Roman fesselt ungemein, auch wenn die Spannung nicht im Kampf der Protagonist*innen mit sich selbst liegt, sondern wie es die Familie schafft aus den Verstrickungen von Lügen, Verdrängung und Ignoranz einen Ausweg zu finden, zurück zum Familienglück. Schon der Titel „Ungebetene Gäste“ lässt sich vieldeutig lesen! Für mich war die Handlung zu vielfädig. Ich hätte mir von der Psychologin Ayelet Gundar-Goshen mehr Nähe zu den Leidenden gewünscht, nicht zuletzt zu jenen, die in der Kette der Katastrophen die tatsächlichen Opfer sind. Nichts desto trotz ein spannendes, aufschlussreiches Lesevergnügen.

Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte Psychologie in Tel Aviv, später Film und Drehbuch in Jerusalem. Für ihre Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet. Ihrem ersten Roman «Eine Nacht, Markowitz» (2013) wurde der renommierte Sapir-Preis für das beste Debüt Israels zugesprochen, 2015 folgte der Bestseller «Löwen wecken», für den, genauso wie für «Lügnerin» (2017), eine Filmadaption in Planung ist. Zuletzt erschien bei Kein & Aber «Wo der Wolf lauert» (2021). Ayelet Gundar-Goshen lebt in Tel Aviv.

Ruth Achlama, geboren 1945 in Quedlinburg, studierte Rechtswissenschaft in Heidelberg und Bibliothekswissenschaft in Jerusalem. Heute ist sie hauptberuflich als freie Übersetzerin tätig und lebt in Tel Aviv.

Beitragsbild © Katharina Luetscher