«Er glaubt, dass sein vergangenes und sein gegenwärtiges Leben lediglich aus den wenigen Metern zwischen der Einschlagstelle der Granate und dem Baumstamm bestehen. Ein kurzes Leben, ein vollkommenes, ausreichend, um hier zu enden. Und als er spürt, dass diese verbleibenden Meter das komplette, ihm verbliebene Leben darstellen, fragt er sich, was er hier macht. Und gegen wen er kämpft. Und für wen.»
Gastbeitrag von Urs Abt
Die syrische Autorin, die seit 2011 im Exil lebt, hat eine wunderbare poetische, universelle Geschichte mit grosser Tiefe geschrieben. Das Buch ist dieses Jahr auf Deutsch im Unionsverlag erschienen und hat mich an den diesjährigen Weihnachtstagen vor dem Hintergrund der vielen Kriege auf dieser Welt bereichert.

Ein von einem Bombenangriff verletzter junger Soldat liegt auf einem Berg neben einem Baum. Zwischen seinem Leben und Sterben, zwischen Traum und Realität, zwischen Gegenwart und Vergangenheit erleben wir schwebend in Erinnerungsfetzen von Ali wie nebenbei die Schrecken des Assad Regimes nach der Revolution. Der verwundete Körper ist von Schmutz und Laub bedeckt, schmerzhaft und unbeweglich auf der Erde fixiert und in wechselndem Bewusstseinszustand. Wind, Mond, Bäume und die Morgendämmerung bereichern die Szenen.
«Würde der Baum doch zu ihm kommen! Aber Bäume stehen fest, es sind die Menschen, die gehen müssen, um zu ihnen zu gelangen. Aber er kann nicht gehen.»
«Sie wussten, welche Strafe jene erwartete, die sich ihm und seiner Macht entgegenstellten, hier oder in der Hauptstadt. Die Angst war Teil ihres Lebens, eine komplizierte und komplexe Angst, die er nicht verstand. Aber an diesem Tag sollte er sie kennenlernen.»
Aus dem arabischen von Larissa Bender ausgezeichnet übersetzt beeindruckt die poetische, klare und traumartige Sprache, die trotz des traurigen Geschehens Hoffnung zulässt.
Die Kraft der Poesie bezwingt die Sprachlosigkeit des Kriegs. Ein unbedingt lesenswertes Buch dieser engagierten syrischen Autorin.
Samar Yazbek, geb. 1970 in Syrien, studierte arabische Literatur, engagiert sich für Bürgerrechte und arbeitet als Fernsehreporterin, Journalistin und Schriftstellerin. 2011 floh sie zusammen mit ihrer Tochter aus Damaskus und lebt seither in Paris. Für ihr Werk erhielt Yazbek mehrere Auszeichnungen, darunter den PEN Pinter Preis, den Tucholsky Preis, den PEN Oxfam Novib Preis und den Prix du Meilleur Livre Étranger. Ihre Romane waren außerdem nominiert für den Prix Médicis, den Prix Femina und den National Book Award 2021.
Larissa Bender (1958) studierte Islamwissenschaft, Ethnologie, Kunstgeschichte und Soziologie in Köln und Berlin sowie Arabisch in Damaskus. Sie ist Literaturübersetzerin, Journalistin und Dozentin für Arabisch und hat zwei Anthologien über Syrien herausgebracht. Bender ist Moderatorin und berät Verlage und Kulturveranstalter. Zu den von ihr übersetzten Autor:innen gehören Abdalrachman Munif, Mustafa Khalifa, Dima Wannous und Khaled Khalifa. 2018 erhielt sie für ihr Engagement als Brückenbauerin in die arabische Welt das Bundesverdienstkreuz.
Beitragsbild © Astrid di Crollalanza