Jonas Hassen Khemiri «Die Schwestern», Rowohlt – ein Keil aus dem Norden (2)

Mit seinem neuen Roman „Die Schwestern“ schreibt sich der aus Schweden stammende Romancier Jonas Hassen Khemiri in die erste Liga der Europäischen Autoren.

Popcorn im Haar
Gastrezension von Frank Keil

Es gibt diese Bücher, dieses eine Buch. Man schlägt es auf, fängt an zu lesen und es ist um einen geschehen. Ein Satz, den man selbst nie hinschreiben würde, zu kitschig, zu pathetisch, wahrscheinlich auch falsch, wann ist es schon um einen geschehen. Und doch: Eine Welt hat sich aufgetan, und man ist ganz in ihr versunken. Es gab für einige Tage nur dieses Buch, nur dieses eine. Deswegen hat man einst mit dem Lesen angefangen. Und deshalb hat man damit nicht wieder aufgehört, und deshalb wird man dabei bleiben.

Und worum es geht? Um drei Schwestern, die auf die Namen Ina, Evelyn und Anastasia hören und die englisch miteinander sprechen, die Mikkola-Schwestern, sobald sie die Straße betreten und durch die Siedlung gehen, was natürlich besonders ist und auffällt und es sonst niemand in ihrem Umfeld macht (da spricht man Schwedisch, da spricht man vielleicht einen wirren junge-Leute-Slang, zu Hause sprechen die Eltern oftmals Arabisch). Es geht daher um das Aufwachsen und dann Leben in der migrantischen Community der großen Städte Schwedens, wo man gleichermaßen dazugehört und nicht dazugehört und man also nichts falsch und nichts richtig machen kann, und das hat natürlich Folgen, über die zu erzählen ist; Stoff, um daraus Geschichten zu entwickeln, ergibt es sowieso genug. Es geht um verlorengegangene Väter, die zuweilen wieder auftauchen und die auch im zweiten oder dritten Anlauf keinen Platz in ihren Familien finden (was sie ehrlich schmerzt, was aber dennoch nicht dazu führt, dass sie mal ins Denken kommen, traditionell-verspannte Männer, die sie sind und rechthaberisch und eigenbrötlerisch dazu, das wird nichts). Es geht entsprechend um Mütter, die versuchen ihre immer wieder aufs Neue auseinanderfliegenden Familien zusammenzuhalten, was sie selbst an die Grenzen ihrer Kräfte kommen und zuweilen auch seltsam werden lässt (die Mutter der drei Schwestern etwa springt zwischendurch aus dem Fenster, das geht einigermaßen glimpflich aus, trotzdem bleibt das Verhältnis zwischen den drei Töchtern und ihr – sagen wir mal – schwierig). Es geht in einem zweiten, immer wieder kreuzenden und sich abwechselnden Erzählstrang um einen Jungen, der den drei Schwestern immer wieder über den Weg läuft, sich mal mit der, mal mit der befreundet, und der Junge heißt Jonas Hassen Khemiri, was Zufall sein mag und der heranwächst und nach diversen Irrungen und Wirrungen am Ende Schriftsteller wird, was ja vorkommen kann. Es geht um einen Zeitraum von 30 Jahren und was da alles passieren kann, an einem kalten Januartag im Jahr 1994, im Sommer 1997, im Jahr 2003, während eines Auslandssemesters in Paris; was möglich ist, was scheitert, was noch dazwischen schwankt, darum geht es.

Jonas Hassen Khemiri «Die Schwestern», Rowohlt, 2025, aus dem Schwedischen von Ursel Allenstein, 732 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-498-00497-2

Es geht um einen Fluch, der auf den drei Schwestern lastet oder lasten soll und ihnen das Leben schwer macht (kann man da nichts machen, sich von jemanden entfluchen lassen, etwa?). Es geht um Partys in hippen Büroetagen, in denen alle alles auf einer Karte setzen, wo der Alkohol fließt und es auch nicht an anderen Drogen fehlt und wo bullige Türsteher den Einlass kontrollieren, so dass man, steht man wie die drei Schwestern nicht auf der Gästeliste, heimlich durchs Fenster hineinklettern muss und ebenso heimlich wieder hinaus und dazwischen ist viel passiert. Es geht um das Aufwachen mit Popcorn im Haar. Es geht um Basketball, um einen Alley oop, um einen Dunk, wie man einen harten Press-Defence über das ganze Feld spielt, vielleicht wird man ein Basketballstar oder wenigstens ein Profi, das wäre doch eine Option, großgewachsen und gelenkig, wie Anastasia und Jonas nun mal sind, und um ihren sagenumwobenen Trainer aus der amerikanischen NBA-Liga geht es, der tatsächlich dort nur einmal für ein Spiel eingesetzt worden war, um nicht einen Punkt zu erzielen, nicht einen Rebound, nicht einen Block, nicht mal einen Freiwurf, und alles fällt wie ein Soufflee in sich zusammen, aber da spielen die beiden schon kein Basketball mehr, sie googlen nur mal kurz im Nachhinein, wer ihr Trainer eigentlich gewesen war.

Es geht also auch um Wahrhaftigkeit, es geht um Illusionen und um Träume und ob das, was man sich vorstellt, irgendeine Chance auf Verwirklichung hat und wenn, was dann. Es geht um die Bewerbung auf eine angesagte Schauspielschule, jedes Jahr bewerben sich um die 3.000 bis 4.000 junge Leute, dort und zu zehn von ihnen werden angenommen, und auch Evelyn und ihre beste Freundin Cecilia versuchen es, und das ist nur begrenzt eine gute Idee, man sollte nicht alles teilen wollen. Es geht um eine Verlagsgründung, der Schlachthaus Verlag will nur Bücher verlegen, an die sich sonst kein Verleger herantraut und wenn das kein Geld einbringt, dann ist es umso besser. Es geht um Liebe und um Ehen und um eine Beerdigung in Tunesien auf einem entsprechenden staubigen Friedhof, aber vorher muss der Leichnam noch aus dem Krankenhaus abgeholt werden, und also besticht man zwei Krankenwagenfahrer, man kann den toten Körper ja schlecht im Kofferraum seines eigenen Wagens mitnehmen, was, wenn einen die Polizei anhält, was sagt man dann. Und es geht um diesen einen Moment beim Lesen, womit man plötzlich geradezu erschreckt versteht, wie das alles, was einem aus so vielen Winkeln und an so vielen Orten über viele Seiten hinweg so überaus packend und komplex erzählt wurde, mit einem mal zusammenhängt („Ach, so!“, ruft man laut aus, in seinem Lesesessel), und dann werden die Erzählfäden wieder lockergelassen und man fällt zurück in das weich-warme Rätseln und sich Treiben lassen und muss gar nicht wissen, ob man tatsächlich richtig liegt mit seiner Vermutung oder ob man etwas nur nicht richtig verstanden hat: Es warten ja noch so viele Seiten auf einen, zum Glück.

Und es geht immer wieder um die Frage: Was ist eine Geschichte? Was erzählen wir uns, wenn wir erzählen; erzählen wir, um dem Leben einen Sinn zu geben und was wäre das für einer oder wollen wir anderen Leuten schlichtweg nur gefallen? Und was ist erst, wenn wir Erzähltes aufschreiben? Wenn wir versuchen, Leben in Schreiben zu verwandeln und dann Geschriebenes vor uns liegt und lebendig wird …

Das alles ist schon spannend genug, reicht locker aus, dieses Buch bedingungslos zu empfehlen. Aber dann ist da noch dieser Sound, dieser Jonas-Hassen-Khemiri-Beat, der vom ersten Satz an auf eine sich durchziehende Bass-Line und auf Tempo und auf Tempowechsel und auf Dichte und auf Unterströmungen aller Arten setzt und der dabei zugleich so kunstvoll schreibt, so entspannt und sicher auch, dass jeder Satz (der zuweilen locker über eine Buchseite mäandert und noch ein paar Zeilen mehr, wenn es nötig ist) in den am Ende 137 Kapiteln je genau an dem Ort steht, an dem er zu stehen hat und an keinem anderen. Was also für ein Buch! Wirklich! Und ja, es gibt viele gute Bücher, auch viele sehr gute – aber dieser Roman ist dann doch noch mal – besonders. Ach, also einzigartig. Richtig toll ist er. Und wunderbar noch dazu.

Jonas Hassen Khemiri, geb. 1978 in Stockholm, ist einer der renommiertesten Autoren Skandinaviens. Seine sechs Romane wurden in über dreissig Sprachen übersetzt, und seine Dramen werden in der ganzen Welt inszeniert. Er wurde mit zahlreichen schwedischen und internationalen Preisen ausgezeichnet, darunter der Per-Olov-Enquist-Preis, der Augustpreis und der Prix Médicis Étranger. Sein Roman «Die Vaterklausel» war für den National Book Award nominiert. Seit 2021 lebt Khemiri in New York, wo er Kreatives Schreiben unterrichtet.

Ursel Allenstein, 1978 geboren, übersetzt u.a. Sara Stridsberg, Johan Harstad und Tove Ditlevsen. 2011 und 2020 erhielt sie den Hamburger Förderpreis, 2013 den Förderpreis der Kunststiftung NRW und 2019 den Jane-Scatcherd-Preis für ihre Übersetzungen aus den skandinavischen Sprachen.

Beitragsbild © Max Burkhalter

Jon Fosse «Trilogie», Rowohlt

Jon Fosses „Trilogie“, die drei Erzählungen „Schlaflos“, „Olavs Träume“ und „Abendmattigkeit“ zeigen die Meisterhaftigkeit des stillen Norwegers. Nichts an den Geschichten, an seiner Sprache ist effekthaschend, aufgeblasen und um irgend etwas bemüht. Jon Fosses Kunst ist seine Schlichtheit, seine Ehrlichkeit, seine Einfachheit.

Schlaflos

Asle und Alida sind noch jung. Und doch trägt Alida ein Kind in ihrem Bauch. Asle hat seine Eltern verloren, seinen Vater an das Meer (ein bei Fosse mehrfach erscheinendes Bild), seine Mutter an eine Krankheit, an Auszehrung. Das einzige, was ihm geblieben ist, ist die Fiedel seines Vaters und die Kunst sie zu spielen. Alidas Mutter lebt noch, auch wenn Alida von ihr nicht geliebt wird, ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester. Alida sei wie ihr nichtsnutziger Vater, schimpft sie ihre Mutter. Und dass Alida ein Kind erwartet, passt für die strenge Mutter ins Bild der liderlichen Tochter.

Asle und Alida entfliehen der Enge. Asle nimmt ein Boot, Alida zwei Netze voll mit Vorräten und das Geld der Mutter aus ihrem Versteck. Es kommt zum Konflikt mit der Mutter, die die beiden in der Küche erwischt. Ihr Weggehen, ihr Wegfahren mit dem gestohlenen Boot wird zur Flucht. Hinaus aufs Meer bis nach Bjørgvin, in den Stadthafen, wo Asle das kleine Boot verkauft und sich in der Stadt einen Neuanfang, eine Herberge, eine Arbeit verspricht.

Aber die beiden finden keine Unterkunft, obwohl es regnet und mit zunehmender Dunkelheit immer kälter wird. Man will sie nicht, zeigt ihnen die kalte Schulter, gibt ihnen trotz der Schwangerschaft mehr als deutlich zu verstehen, dass man für Fremde kein Bett, keinen trockenen Platz hat. Bis ihnen eine alte Frau begegnet, bei der sich die beiden gegen den Widerstand der Frau Zutritt ins Haus verschaffen. Asla und Alida verfallen in Kälte und Hunger immer mehr in einen traumatischen Zustand, in dem sich Bilder aus der Vergangenheit mit den Wünschen der Gegenwart kreuzen. Das Kind kommt zur Welt, nachdem man eine Hebamme gefunden hatte, eine Hebamme, die sich mehr als befremdet darüber zeigt, dass die beiden Zugang ins Haus der weisen Frau erhielten, einer Hebamme.

Olavs Träume

Asle heisst jetzt Olav, Alida Åsta, Olav und Åsta Vik mit dem kleinen Sigvald. Noch immer leben sie in dem kleinen Häuschen von der Hebamme, die scheinbar spurlos verschwunden ist. Asle, oder jetzt Olav, hält es aber nicht lange aus in dem kleinen Häuschen. Besorgungen müsse er machen, in der Stadt, in Bjørgvin. Er geht alleine. Aber kaum in den Gassen der Stadt wird Olav von einem älteren Mann verfolgt. Von einem, der ihn unverfroren anspricht, wissen will, wie er heisst, woher er komme, wisse er doch ganz genau, wer er sei. Er sei doch Asle aus Dylgja, nicht weit von hier. Dort wären schlimme Verbrechen passiert. Olav versucht, den älteren Mann abzuschütteln, was ihm nicht gelingen will. Bis sie in ein Gasthaus gelangen und sich die Schlinge immer enger um Olav zieht, die Situation immer auswegloser wird, will er doch nur seine Besorgungen machen, einen Ring für Alsa, für Åsta kaufen, so, dass sie wenigstens wie vermählt aussehen. Er flieht aus dem Gasthaus, kauft keinen Ring, sondern einen mit schönen Steinen verzierten Armreif für den er fast sein ganzes Geld ausgibt, hat er doch sogar seine Fiedel verkauft.

Jon Fosse «Trilogie», Rowohlt, 2016, aus dem Norwegischen vonHinrich Schmidt-Henkel, 208 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-498-02065-1

Aber der alte Mann ist nicht der einzige, der Olav bedrängt. Eine junge, blonde Frau bezirzt ihn in den Strassen der Stadt, zieht ihn in eine der vielen engen Gassen, reibt ihre Brüste an der seinigen, gibt mehr als deutlich zu verstehen, was sie will und was sie sich verspricht. Olav reisst sich los, flieht auch vor der jungen Frau, bis er in einem Haus ein Zimmer für eine Nacht findet, bis er merkt, dass die Alte die Mutter der jungen Blonden ist und der Alte der Mann, der ihn durch die Strassen verfolgte und ihm seine Taten um die Ohren schlägt.

Olavs Alptraum wird Wirklichkeit. Nichts von dem, was er glaubte, zurücklassen zu können, bleibt verborgen. Irgendwann wird ihm ein Sack über den Kopf gestülpt und eine Schlinge um den Hals gelegt, obwohl Alida so nah ist, obwohl Alida damals, als Asle das Haus verliess, mit jeder Faser spürt, dass sie den Vater von Sigvald, ihren Mann nie mehr wiedersehen wird. So wie damals ihren Vater, den das Meer nahm.

Abendmattigkeit

So wie damals Asle, wird nun Alida bedrängt. Wieder von diesem älteren Mann, der sie vor Hunger und Obdachlosigkeit bewahren will, mindestens so tut, als wäre er der grosse Wohltäter. Er lädt sie gar zu einem ausgibigen Essen ein, tischt ihr Dinge auf, die sie noch nie oder schon lange nicht mehr gegessen hat, zieht ihr ein Leben durch den Mund, das Alida mit Asle verloren glaubt. Er habe unten ein Schiff, mit dem er sie mitnehmen könne in sein grosses Haus. Er brauche Hilfe bei sich zuhause, wohne allein in dem grossen Haus direkt am Fjord. Sie brauche nur einzusteigen, könne ihr armseeliges Leben hier zurücklassen, sie und ihr kleiner Sohn. Ihr Mann habe sie doch einfach sitzenlassen.

Alida, die ihren Mann mit dem dumpfen Gefühl, ihn nie wieder zu sehen, gehen liess, braucht für sich und ihren kleinen Sohn ein Dach über dem Kopf. Und dieser eigenartige ältere Mann verspricht ihr einen Neuanfang, wenn auch nur als Dienstmagd. Alida wird auch durch die Anspielungen des Mannes nicht misstrauisch, der ihr immer wieder von einem Asle erzählt, der ein Mörder sei. Alida steigt ein ins Schiff, lasst sich wegfahren, zurück an den Ort, wo alles begann, zurück nach Dylgja, wo Asle und sie doch einst nur weg wollten.

Als ihr der Mann aber erzählt, ihre Mutter sei gestorben, einem Verbrechen zum Opfer gefallen, steigt Alida ins Schiff, vorbei am Galgenhügel, wo ihr der Mann erzählt, dort sei ein Mörder erhängt worden.

Alle drei Erzählungen sind in ein seltsames Licht getaucht, einmal ganz real, einmal in ein eigenartiges Traumlicht. Zeitebenen springen. In allen drei Erzählungen springt die Handlung von der Zukunft zurück in die Vergangenheit, als hätte die Zeit eine untergeordnete Rolle. „Trilogie“ sind drei Geschichten, die von Liebe und Verrat erzählen, von Lüge und Wahrheit, von der Sehnsucht, einem unguten Leben entfliehen zu können und der Ernüchterung, dass nichts und niemand hinter sich gelassen werden kann. Davon, wie leicht Menschen mit Hunger im Bauch und der Sehnsucht nach einem Dach über dem Kopf zu manipulieren sind. Jon Fosse tut das sprachlich auf eine derart unnachahmliche Art, dass er mir als Leser glauben macht, es sei nichts leichter als Sprache. Umwerfend und zeitlos schön!

Jon Fosse, 1959 in der norwegischen Küstenstadt Haugesund geboren und am Hardangerfjord aufgewachsen, gilt als einer der bedeutendsten europäischen Schriftsteller unserer Zeit. 2023 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.  Internationale Bekanntheit erlangte Fosse zunächst als Dramatiker. Seine mehr als dreissig Theaterstücke werden weltweit aufgeführt und brachten ihm zahlreiche Preise ein. Seit 2011 geniesst er lebenslanges Wohnrecht in der «Grotte», einer Ehrenwohnung des norwegischen Königs am Osloer Schlosspark, und lebt mitunter auch in Hainburg an der Donau/Österreich oder in Frekhaug/Norwegen. Seit 2022 ist er Mitglied der Akademie der Künste in Berlin.

Hinrich Schmidt-Henkel, geboren 1959, lebt in Berlin. Er übersetzt u.a. auch Jean Echenoz, Édouard Louis, Jon Fosse, Tomas Espedal und Tarjei Vesaas. Ausgezeichnet wurde er z. B. mit dem Jane Scatcherd-Preis, dem Paul-Celan-Preis des Deutschen Literaturfonds und dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW (zusammen mit Frank Heibert).

Rezension «Das ist Alice» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Tom A.Kolstad / Det Norske Samlaget

Hier ist immer Gewalt. Hier ist immer Kampf … über «Die Nulllinie» von Szczepan Twardoch (21)

Lieber Gallus

Du hast mir gesagt, dass du das Buch «Nulllinie» nach Beginn der Lektüre weggelegt hast, dass es dich nicht angesprochen habe. Da mich dieses Buch mit seiner Aktualität nicht loslässt und nachhaltig verfolgt, möchte ich trotzdem darauf zurückkommen. Kann man, soll man vom Krieg schreiben? In meinem Kopf klingt gleichzeitig die Klagenfurter Rede 2023 der ukrainischen Autorin Tanja Maljartschuk an: Ich betrachte mich selbst als gebrochene Autorin, eine ehemalige Autorin, eine Autorin, die ihr Vertrauen in die Literatur und – schlimmer noch – in die Sprache verloren hat. Die Sprache, die schönste Gedichte hervorbringt, kann auch dazu dienen, Befehle kundzutun, zum Abschuss von Raketen, die Zivilisten töten, oder zum Vorrücken von Panzern.

Szczepan Twardoch «Die Nulllinie», Rowohlt, 2025, aus dem Polnischen von Olaf Kühn, 256 Seiten, CHF. ca. 35.90, ISBN 978-3-7371-0209-4

Der polnische Schriftsteller Twardoch war mehrmals mit Hilfsgütern an der Front und hat die Nulllinie hautnah unter Lebensgefahr miterlebt. Bei Twardoch wird Krieg als Grenzsituation des Mensch-Seins erfahrbar durch gekonnt in Sprache umgesetzte Handlungen, Dialoge und Reflexionen der Soldaten. An der Front gelten andere Werte bei Schlamm, Kälte, ständiger Bedrohung des Lebens in Gräben und feuchten Unterständen und Isolation. Weit weg, fast nicht mehr erinnerbar, ist das Leben der Kämpfer vor dem Krieg. Die Sprache ist grob, aber sehr treffend und verstärkt die Absurdität des Geschehens. Literarisch gelingt es dem Autor einzigartig darzustellen, was ein Krieg mit uns Menschen macht.

Menschenleben sind nur in der hübschen Theorie gleich viel wert, in der Praxis hat jedes Menschenleben seinen eigenen Wert. Der Wert deines Lebens, Koń, ist sehr gesunken, noch nie in deinem fünfundvierzigjährigen Leben warst du so wenig wert wie heute.

Aber vielleicht, denkst du, bauen wir ja auf, indem wir zerstören? Kann man überhaupt etwas aufbauen, indem man tötet? Warum bin ich überhaupt hier, fragst du dich, während du das Nachtsichtgerät am Helm montierst. Was hat bewirkt, dass ich in meinem völlig ausgebrannten Ich die Energie fand, hierherzukommen und dann den Vertrag zu unterschreiben – doch nicht etwa der Wunsch zu zerstören, der Wunsch zu töten?

Mitleid hattest du nicht mit denen, die du getötet hast, aber Hass auf sie empfandest du auch selten. Wenn du jemanden verloren hast, der dir nahestand, Koń, dann empfandest du Hass, doch er war nicht gegen einen konkreten Menschen gerichtet, eher gegen ein Kollektiv, dieses Ganze, Russland, das mehr ist als die Summe aller Russländer, nur deshalb wolltest du die Letzteren töten.

Ich verstehe sehr wohl, dass der mehrjährige und intensiv andauernde Krieg die Sprache beeinträchtigt, verunmöglicht, tötet und verstummen lässt. Andererseits bin ich dankbar um «Nulllinie», dass ich nachvollziehen kann, was an der Front abgeht, wie heute mit Einsatz moderner Waffen Krieg geführt wird. Fasziniert und aufgewühlt nehme ich das Buch wieder in die Hand und versuche, das Unbegreifliche zu verstehen.

Hoffen wir, dass das Unwetter bald vorbei ist und die Blüte am Ast wirken kann, wie Tanja Maljartschuk in ihrer Rede auch sagt: Ich verdanke alles in meinem Leben der Literatur, die ich mir als Blüte am Ast eines Baumes vorstelle. Einerseits ermöglicht sie die Fortpflanzung der Ideen und doch fällt sie bei einem Unwetter als erste ab.

Kannst du mir mitteilen, was dich am Weiterlesen von «Nulllinie» gehindert hat? Warum du das Buch weggelegt hast? Ist es die rohe Sprache?

Herzlich

Bär

***

Lieber Bär

Wahrscheinlich ist die Antwort auf Deine unbequeme Frage eine ganz banale. Ich legte das Buch wohl aus Feigheit weg. Ich hatte genug von den Schilderungen all der Gewalt, des Krieges, der Ungleichheiten, der Ungerechtigkeiten, den Schimpftriaden, dem Dreck des Krieges. Ich war feige, weil nichts mehr geblieben war, von der Neugier, der Lust, immer mehr zu erfahren, einen Einblick zu gewinnen. Weil es ein Durchbeissen geworden wäre. Ich war feige, weil ich es nicht mehr ertragen konnte, an der imaginären Seite von Koń in den Krieg zu ziehen, einen Krieg, der in seiner Brutalität und Banalität alles verloren hat, was heroische Gefühle auslösen, meinen Glauben bestärken könnte, es gäbe eine gute Seite und eine schlechte Seite.

Szczepan Twardoch, der selber ukrainische Wurzeln hat, hat nichts erfunden, auch wenn er nicht wie sein Protagonist in den hoffnungslosen Schützengräben kämpfte. Twardoch war da, konnte aber im Gegensatz zu den Soldaten das Schlachtfeld jederzeit verlassen. Was er in seinem Roman schreibt, lehnt sich so nah an das wirkliche Geschehen, dass es im Kontrast zu all der geschilderten Technik schmerzhaft grotesk wirkt. Kriege sind technische Machtdemonstrationen, bei denen Soldaten zum Schmiermittel werden. Ich war zu feige, um mir das 250 Seiten lang um die Ohren schlagen zu lassen.

Ich schätze Szczepan Twardoch sehr, sowohl als Mensch wie als Schriftsteller. Ich liebe seine Romane, die wie alles, was er schreibt, weit über die Schmerzgrenze hinausgehen. Ich bewundere ihn für seinen Mut, einen Mut, bei dem es nicht um schriftstellerisches Säbelrasseln geht, sondern um das, was man als Schriftsteller*in tun kann, angesichts eines solchen Krieges; mit Sprache kämpfen.

Vor nicht allzu langer Zeit las ich von Serhij Zhadan „Himmel über Charkiw. Nachrichten vom Überleben im Krieg“. „Himmel über Charkiw“ will keine «Literatur» sein, sondern Zeugnis. Eine Stimme aus dem Innern des unverschuldeten Höllenfeuers, eine Stimme des Trotzes, eine Stimme, die um keinen Preis dieses eine verlieren will; die Hoffnung, dass dereinst der Krieg vorbeisein wird, dass die Gerechtigkeit siegen wird. Begriffe wie „Sieg“, „Helden“, die der Autor vor dem Einmarsch, selbst nach der Annexion der Krim, nie in den Mund, schon gar nicht ins Netz geschickt hätte. Ein Facebook-Tagebuch des offenen Widerstands.


Auch wenn ich «Nulllinie» weggelegt habe, sagt das nichts über die Qualität des Buches, sondern nur etwas über mich selbst. Bücher wie «Nulllinie» sind wichtig, weil die Literatur in uns Bilder erzeugt, die hängen bleiben, während wir die Bilder aus den Medien, die Bilder von brennenden Autos, zerbombten Städten, Leichen auf den Strassen und weinenden Kindern längst schlucken können wie bittere Pillen. Niemand stumpf ab, weil er/sie liest. 

In einem Interview mit rbb sagt Szczepan Twardoch: Dieser Krieg ist so nah an meinem Zuhause. Er ist so nah an der Grenze meines Landes. Er betrifft mich so sehr, dass ich ihn nicht ignorieren konnte. Ich verspürte diesen Drang zu helfen, zumindest auf diese bescheidene Art und Weise, die mir möglich ist, zum Beispiel durch Spendensammeln, den Kauf von Ausrüstung wie Autos, Drohnen, Zielfernrohren für Gewehre und so weiter. Einfach um bei diesem grossartigen und zugleich edlen Bemühen zu helfen, Menschen zu verteidigen, die so leben wollen, wie sie leben wollen, und nicht auf eine Art und Weise, die ihnen aufgezwungen werden soll.

Lieber Bär, vielleicht nehme ich «Nulllinie» doch noch einmal zur Hand.

Bis bald

Gallus

© Jacek Poremba

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Seine Romane sind in zahlreiche Sprachen übersetzt, zum Teil verfilmt. «Morphin» (2012) wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet. Für den Roman «Drach» wurden der Autor und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumił-Linde-Preis, 2025 den Usedomer Literaturpreis. Zuletzt erschienen die hochgelobten Romane «Der Boxer» und «Kälte«. Er lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.

Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitete lange Jahre als Osteuropareferent für die Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Lukas Maisel «Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete», Rowohlt

Am 26. September 1983 schrammte die Welt einem nuklearen Desaster vorbei. Nur weil Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow, ein sowjetischer Offizier in der Kommandozentrale der Satellitenüberwachung, den scheinbaren Anflug nuklearer Interkontinentalraketen als Fehlalarm interpretierte, verhinderte der Mann den Tod von Millionen.

Alles an dieser Erzählung ist wahr. Was Lukas Maisel an Fiktion beifügt, ist das, was im Innenleben jenes Offiziers geschah, genau das, was uns damals rettete, denn wäre Stanislaw Petrow der eigenständigen Entscheidung nicht fähig gewesen, hätte nichts einen nuklearen Krieg aufhalten können. Nur weil dieser Mann damals in den 17 Minuten zwischen Alarmierung durch ein empfindliches und anfälliges Raketenabwehrsystem und dem Moment der Entwarnung zum eigenen Denken fähig war, durch logisches Entschlüsseln einer falalen Kette von scheinbar gesicherten Informationen Panik relativierte und Vernunft über die Angst siegen liess, blieben sowjetische Nuklearraketen am Boden.

Weil sich das damalige System keine Blösse geben wollte, weil die Sowjets auf jeden Fall ihr Gesicht wahren wollten, das Gesicht der perfekten Abschreckung, wurde Offizier Stanislaw Petrow weder befördert noch bestraft. Man verschwieg den Zwischenfall genauso systematisch wie die Ursachen, die dazu führten; Sonnenreflexionen auf Wolken. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, in Petrows letzten Jahren in Moskau, erfuhr der ausgemusterte Offizier Ehrungen im In- und Ausland. Nach der Kontaktaufnahme eines deutschen Unternehmers noch zu Lebzeiten Petrows wurde in Oberhausen, dem Heimatort jenes Geschäftsmannes, zum zweiten Todestag des Retters eine Gedenktafel eingeweiht: „Wäre er den Computermeldungen gefolgt, wäre der sofortige atomare Gegenschlag erfolgt und damit der Tod von Millionen Menschen in den USA, in Europa und Russland die Folge gewesen.“

Lukas Maisel «Wei ein Mann nichts tat und so die Welt rettete», Rowohlt, 2025, 128 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-498-00730-0

Lukas Maisel konzentriert sich in seiner Erzählung auf diesen einen Tag, diese 17 Minuten und die drei Tage, die Stanislaw Petrow in der Folge noch in der Kommandozentrale ausharren musste, bis sich die Wogen nach dem Zwischenfall glätteten. Lukas Maisel fokussiert sich auf einen Mann, der in diesen 17 Minuten ganz auf sich gestellt war, der wusste, dass jede Entscheidung, die er fällen würde, existenzielle Folgen nach sich ziehen würde, dass das, was nach der Entwarnung die Schwächen des Systems aufzeigte, nie und nimmer an die Öffentlichkeit dringen durfte, nicht einmal zur Erzählung in seiner Familie. Stanislaw Petrow wurde zum Bauernopfer einer Beinahekatastrophe. 

Lukas Maisel beschreibt die klaustrophobische Situation in jenem Bunker, in dem während ewig lange scheinender Minuten das Schicksal von Millionen in der Schwebe stand, in der jede weitere Reaktion auf die Interpretation eines einzelnen Mannes reduziert war, alles in einem Schrecken ohne Ende hätte ausarten können. Die Geschichte eines Mannes an einem geheimen Ort, einer geheimen Stadt. Die Geschichte eines Mannes, der eigentlich bloss für einen kranken Kollegen eingesprungen war, eine Geschichte, die ohne die klaren Gedanken eines Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow mit Sicherheit ganz anders geendet hätte.

„Wie ein Mann nichts tat und so die Welt rettete“ ist zum einen ein Denkmal für einen Mann, der sich in den Zwängen von Macht und Hierarchie von Vernunft leiten liess, etwas, was in der Gegenwart nicht minder wichtig wäre.  Zum andern ist die Geschichte ein Exempel dafür, das Zurückhaltung, ein Zögern unendliches Leid verhindern kann, erst recht in einer Zeit, in der „Hauruckgehabe“ Politik wird und in der Wirtschaft zur Handlungsmaxime.

Lukas Maisels kleines literarisches Husarenstück liest sich in einem Zug, hoch spannend und mit dem Bewusstsein, wie oft das Glück des Menschen an einem seidenen Faden hängt. Unbedingt lesenswert!

Interview

Der Stoff für ein Buch lag offensichtlich jahrzehntelang da. Erstaunlich, dass die Geschichte im deutschsprachigen Raum nicht schon viel früher literarisch umgesetzt wurde. Was entschied, dass Sie einen so konzentrierten Roman daraus schufen und nicht mit grösserer Geste erzählten, zum Beispiel aus der Sicht des alt gewordenen Stanislaw Petrow?
Ich weiss nicht, ob man sich frei aussuchen kann, wie man einen Stoff erzählt. Beim Schreiben folge ich meinem Instinkt, es fühlte sich einfach richtig an, den Stoff in dieser Kürze zu erzählen, ihn nicht unnötig zu strecken. Ich kann im Nachhinein vermeintlich rationale Gründe suchen, warum ich das so und nicht anders geschrieben habe, aber es bleibt Instinkt. 

Der Mann schleppte das Geheimnis jenes 26. Septembers 1983 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion als Staatageheimnis mit sich herum. Es ist anzunehmen, dass er nicht einmal seiner Frau von den tatsächlichen Ereignissen erzählen konnte. Die Dramaturgie dieser 17 Minuten in diesem Kommandobunker ist nicht zu überbieten, genauso die Dramaturgie in Stanislaw Petrows Innenleben. Er wusste haargenau, was die Folgen einer falschen Entscheidung sein werden. In all den Kriegen, ob in der Ukraine, im Kongo oder im Sudan. Es ist nur zu hoffen, dass Menschen sich in kollektiv lebensbedrohlichen Situationen nicht instrumentalisieren lassen. Ist das letztlich nicht ein frommer Wunsch?
Natürlich, aber was bleibt uns denn anderes übrig als die Hoffnung? Am Ende wird die Geschichte von den Entscheidungen einzelner Menschen vorangetrieben, die Frage ist, wieviel Macht diese Menschen besitzen. Stanislaw Petrow wollte keine Macht haben, sie fiel ihm zu. Glücklicherweise konnte er klar sehen, sein Blick war nicht von einer Ideologie verzerrt. Er war ein Mann der Wissenschaft und vertraute ihren Methoden, damit war er sicherlich ein schlechter Kommunist.

Sie beschreiben sehr intensiv, was in Stanislaw Petrow passiert, jener Teil der Geschichte, die Fiktion braucht. Ich fiebere mit ihm. Ich spüre, wie sich die Minuten zu Unendlichkeiten ausdehnen. Ich spüre den Kampf, den der Mann in sich austrägt, wie sich alles auf diesen einen Moment einbrennt. Ich fühle seine Verzweiflung, den unsäglichen Druck, den realen Alp. Der Titel ihres Buches meint nicht, dass Stanislaw Petrow nichts tat. Die Weigerung, das Abwarten, der Zweifel, das Nachdenken ist viel mehr als Nichtstun. Was bedeutet die Geschichte von Stanislaw Petrow für sie ganz persönlich?
Wahrscheinlich sprach mich der Stoff an, weil ich mich fragte, ob ich das könnte; abwarten wie Petrow. Ich und die meisten Menschen wollen durch ihre Handlungen möglichst rasch ein Ergebnis herbeiführen, wir halten die Ungewissheit nicht aus. Auch Petrow hält sie fast nicht aus, zum Glück dauert sie nur siebzehn Minuten, die ihm aber wie eine Ewigkeit vorkommen.

Es war nicht das einzige Mal, dass die Welt an einem kriegerischen Nuklearschlag vorbeischrammte. Zwei Jahrzehnte zuvor hätte es während der Kubakrise nicht viel mehr gebraucht, um den Konflikt atomar eskalien zu lassen. Heute wird am russischen Fernsehen ganz offen und hemmungslos mit der Atombombe gedroht, allen voran der TV-Moderator, Scharfmacher und Putin-Propagandist Wladimir Solowjow. Atomsprengköpfe dienen nicht mehr der Abschreckung, sondern der ganz direkten Drohung. Macht ihnen das nicht Angst?
Mein Vater war ein Kind, als die Kubakrise passierte, er war noch zu klein, um das verstandesmässig begreifen zu können, aber die allgegenwärtige Furcht hat er gespürt. Jedenfalls erzählte er, dass damals viele glaubten, der Dritte Weltkrieg stünde bevor. Die stationierten Mittelstreckenraketen waren eine unmissverständliche Drohung, heutzutage ist es schwieriger einzuschätzen. Würde Putin für seine Ziele wirklich Atomwaffen einsetzen? Er ist nicht durchgeknallt, er hat bestimmte Ziele und kalkuliert mit Angst. Ich würde ihm den Besuch des Museums in Hiroshima empfehlen, dort sieht man, durch welche Hölle die Menschen damals gegangen sind.

Nach dem Tod seiner Frau 1997 und dem Auszug seiner Kinder lebte Stanislaw Petrow mit einer Rente von 1000 Rubel. Ein Betrag mit dem man sich in einem schicken Moskauer Café gerade mal 10 Tassen Kaffee hätte leisten können. Ist das das Wesen eines wahren Helden? Dass er das, was er tut nicht der Heldentat wegen tut?
Es würde wohl keine Helden geben, wenn sie nach Anerkennung von aussen streben würden, sie haben innere Motive. Stanislaw Petrow sah sich nicht als Held, er habe einfach seine Arbeit erledigt, betonte er immer wieder. Das ist ja ein Topos, der Held, der einfach nur tut, was er für das Richtige hält.

Lesung im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben

Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker, bevor er am Literaturinstitut in Biel studierte. 2020 debütierte er mit seinem Roman «Buch der geträumten Inseln«, für das er einen Werkbeitrag des Kantons Aargau erhielt sowie mit dem Förderpreis des Kantons Solothurn und dem Terra-nova-Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet wurde. 2021 las er bei den 45. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, 2022 erschien seine von der Kritik gefeierte Novelle «Tanners Erde«.

Erzählung «Ewiger Wanderer» auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Christina Brun

Colum McCann «Twist», Rowohlt

Missionschef Conway an Bord eines Reparaturschiffes für Kabelbrüche neben Anthony Fennell, der sich für eine Reportage auf diesem Schiff dem unnahbaren Missionsleiter und seiner Aufgabe annähern will. Ein Roman wie «Moby Dick». Ein Kampf zwischen einem Ahab und einer Macht, die den stillen Kämpfer in die Tiefen der Gegenwart zieht.

Man kann „Twist“ als spannenden Thriller lesen. Oder als abgeklärte Schelte gegen eine Gegenwart, die sich zumüllen lässt, sowohl mit handfestem Müll, wie mit Informationsmüll. Oder als Anklage an eine Welt, die mit jedem Tag verwundbarer wird und blind auf den letzten Abgrund zurast. Oder über einen Mann, der mit journalistischem Eifer zu verstehen versucht. „Twist“ ist aber vor allem eine unerhört gut erzählte Geschichte mit einem Twist, einer nicht vorhersehbaren Wendung, die alles zuvor in Frage stellt. 

Wir haben keine Ahnung, auf welches Chaos wir da zusteuern.

Anthony Fennell ist ein müde gewordener Journalist. Nicht nur müde in seinem Schreiben, auch müde in seinem Leben. Einem Leben, das aus dem Trott gekommen ist, von dem Fennell genau weiss, dass es einen Twist braucht, nicht zuletzt einen Sturm, um wieder auf Kurs zu kommen. Im Auftrag der Financial Times überredet er den Missionsleiter eines Reparaturschiffs für Kabelbrüche bei einer kommenden Mission mitfahren zu dürfen, nicht zuletzt darum, weil durch solche Kabelbrüche auf dem Grund des Ozeans immer und immer wieder ganze Landstriche vom digitalen Informationsnetz abgeschnitten werden und dadurch nicht nur grosse Verunsicherungen ausgelöst werden, sondern internationale Sicherheit und ein weltumfassendes Wirtschaftssystem horrenden Schaden erleiden. Solche Reparaturschiffe lauern wie die Feuerwehr auf den Alarm, um im Notfall jene Orte in den Weiten der Ozeane aufzuspüren, an denen das hochsensible Nervensystem der Welt unterbrochen ist. Von Metalldrähten und in Kunststoff eingeschweisste Glasfaserkabel, durch die alles fliesst, was an der Erdoberfläche unentbehrlich erscheint. Es sind nicht die Satellitenverbindungen, die die Informationsflüsse am Laufen halten, sondern ein viel kostengünstigeres Kabelsystem, nicht nur an Land, sondern auch durch die Tiefen des Ozeans, aber genauso verletzlich.

Ich fühle mich manchmal, als würde ich im Schneckentempo zu einem Grossbrand fahren.

Colum McCann «Twist», Rowohlt, 2025, aus dem Englischen von Thomas Überhoff, 416 Seiten, CHF ca. 39.90, ISBN 978-3-498-00385-2

Für Fennell kommt die Reportage zum genau richtigen Zeitpunkt. Sein Leben droht auseinanderzufallen, nicht zuletzt durch seinen Alkoholkonsum. Eine zeitlich ungewisse Reise mit einem Schiff, auf dem er der einzige sein wird, der als Teil der Crew nicht funktionieren muss. Eine geführte Flucht vor dem, was er geworden ist. Eine Mission, bei der es nicht zuletzt um Zeit geht, darum, möglichst schnell die Nadel im Heuhaufen zu finden, die losen Enden wieder zusammenzufügen, den Twist in Ordnung zu bringen, die unterbrochene Informationsflüsse auslösen. Fennell wird Zeuge des Chaoses, das ein solcher Kabelriss auslöst.

Wir flicken die Enden, damit sich die Menschen weiter zugrunde richten können.

Conway lässt sich von Fennell nur ungern in die Karten schauen. Und Fennell ist sich nicht sicher, ob das, was ihm Conway an Fassade zeigt, dem entspricht, was er mit sich trägt. Während der Fahrt auf dem Ozean teilt man der Crew mit, dass auf die Lebenspartnerin von Conway ein Säureanschlag verübt wurde. Zanele ist Schauspielerin und Mutter zweier Kinder. Während Fennell immer klarer wird, dass Conway mehr als ein Geheimnis mit sich herumträgt, kappt Conway Fennells private Netzverbindungen. Und als Conway bei der letzten Aktion der Georges Lecointe völlig unerwartet spurlos vom Schiff verschwindet, man von einem Unglück ausgeht, verstrickt sich Fennell immer mehr in seinen Recherchen um einen Mann, der vordergründig vorgibt, ein Retter zu sein, einer der das zusammenflickt, was die Welt aus den Fugen zu reissen droht.

Colum McCann spinnt ein feines Netz um zwei in ihren Tiefen verletzte Männer, um eine Gesellschaft, die sich im Netz aus Informationen über die eigentlichen Probleme dieser Erde hinwegtäuscht, um eine Erde, die aus dem Gleichgewicht gekommen ist, einen Planeten, bei dem der Dreck bis in die entferntesten, dunkelsten Ecken vorgedrungen ist. Colum McCann gelingt es mit seiner äusserst suptilen Erzählstrategie, mich als Leser zu verunsichern, den Spiegel vorzuhalten. Unter all den Oberflächen ticken Bomben.

Was ich lese, ist ein Bericht. Conway ist tot. Ein Tauchgang in Abgründe.

Colum McCann mit Moderatorin Jennifer Khakshouri und Vorleser Thomas Sarbacher an der Lesung des Literaturhauses Zürich vom 11. März 2025

Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren. Er arbeitete als Journalist, Farmarbeiter und Lehrer und unternahm lange Reisen durch Asien, Europa und Amerika. Für seine Romane und Erzählungen erhielt McCann zahlreiche Literaturpreise, unter anderem den Hennessy Award und den Rooney Prize for Irish Literature. Zum internationalen Bestsellerautor wurde er mit den Romanen «Der Tänzer und Zoli». Für den Roman «Die grosse Welt» erhielt er 2009 den National Book Award. Er ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in New York.

Thomas Überhoff studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik und arbeitete lange als Lektor und Programmleiter Belletristik beim Rowohlt Verlag. Er übersetzte unter anderem Sheila Heti, Nell Zink, Jack Kerouac und Denis Johnson.

Webseite des Autors

Beitragsbild © P. Matsas/Opale/Leemage/laif 

Petra Pellini «Der Bademeister ohne Himmel», Rowohlt

Romane über Demenz oder Alzheimer sind kein leichtes Terrain. Und doch gelingt es der Literatur immer wieder, dieser Erkrankung nicht nur mit viel Verständnis und Respekt zu begegnen, sondern auch mit Humor. Der Vorarlbergerin Petra Pellini gelingt es ausnehmend gut, mit Humor über einen Zustand zu berichten, der den Schrecken nicht nimmt, aber so viel Empathie zeigt, dass man sich vor dem Feingefühl der Schriftstellerin verbeugt.

Linda, das Mädchen, das erzählt, ist fünfzehn. Schon auf der ersten Seite des Romans droht sie, sich vor ein fahrendes Auto zu werfen. Linda braucht Hilfe. Und Linda bekommt Hilfe. Nur nicht von dort, wo Hilfe herkommen müsste. Nicht von ihrer Mutter, schon gar nicht von deren neuem Freund Jürgen, dem Bestatter, und auch nicht von ihren Freundinnen. Aber von Hubert und Kevin. Hubert ist ihr Nachbar, pensionierter Bademeister aber in fortgeschrittenem Stadium an Demenz erkrankt. Dass ihm in den vierzig Jahren Bademeister nicht einmal ein Kind ertrunken ist, trägt Hubert wie einen Orden mit sich. Aber dass seine Frau Rosalie vor fast zehn Jahren gestorben ist und vom Einkaufen nicht mehr nach Hause kommt, das hat Hubert vergessen.

Linda hat sich von Huberts Tochter überreden lassen, dreimal die Woche auf Hubert aufzupassen, nachbarschaftliche Hilfe. Huberts Tochter hat dafür keine Zeit, wohnt zu weit weg. Auch zur Entlastung der polnischen Haushaltshilfe Ewa, die das Tun und Lassen ihres Patienten immer wieder mit Skepsis und einer ordentlichen Portion Unverstand kommentiert, zwar tatkräftig zupackt, aber lieber die Augen verschliesst, wenn Hubert von seiner Krankheit ins Abseits gestellt wird. Wenn er Karotten toastet und sich mit der Zahnbürste die Haare kämmen will. Linda begegnet Hubert unvoreingenommen. Hubert ist nicht jener, der er einmal war, wie für seine Tochter. Hubert ist für Linda der, der er ist.

Aus mir soll etwas werden, dabei interessiert niemanden, wer ich wirklich bin.

Petra Pellini «Der Bademeister ohne Himmel», Kindler, 2024, 320 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN: 978-3-463-00068-8

Kevin, mit dem sie sich manchmal trifft, ist wie Linda des öftern in seiner Ausweglosigkeit gefangen. Nicht nur, dass er als Nerd viel lieber in seiner abgedunkelten Höhle zuhause vor seinen Bildschirmen sitzt. Kevin sieht wenig Hoffnung für eine Welt, die längst aus den Fügen geraten ist, die irgendwann droht, die Menschheit dafür zu bestrafen. Hubert, Linda und Kevin, ein Dreigespann, dass sich lieber nicht allzu sehr mit der Zukunft beschäftigt, das genug mit sich selbst zu tun hat, das alleine gelassen wird.

Zwischen Hubert und Linda entwickelt sich eine ganz eigene Freundschaft, eine Beziehung, in der man sich weniger offenbart als in seinem Gegenüber vertraut fühlt. Zusammen mit Ewa, zu der Linda viel leichter einen Zugang findet als zu ihrer eigenen Mutter oder gar zu ihrem neuen Freund, einem weiteren in einer langen Reihe, helfen sie Hubert, sich zurechtzufinden, sei es durch den Duft aus der Küche oder ganz eigene „Spiele“, die Linda für Hubert inszeniert, Spiele, die für Hubert zu seiner Welt werden. 

Nicht nur weil Ewa für ein paar Tage weg muss und eine hygienebesessene Aushilfe Huberts Pflege übernehmen soll, beginnen sich die Ereignisse um Hubert zu überstürzen. Linda spürt, dass etwas unwiederbringlich verloren geht, dass sich eine Vertrautheit und ein Stück Zuhause mit zunehmender Demenz verabschiedet.

«Hubert bist du zuhause?“, frage ich ihn und klopfe ihm auf die Schulter.

Nicht nur dass Petra Pellini als Pflegefachfrau genau weiss, wovon sie schreibt und was fortschreitende Demenz für alle Betroffenen bedeutet, die Autorin erzählt mit ungeheurer Leichtigkeit und grösstmöglichem Einfühlungsvermögen. Nicht dass sie der Krankheit den Schrecken nimmt, aber durch die Erzählperspektive einer 15jährigen, die in einer Mischung aus kindlicher Naivität und erwachsener Fürsoge instinktiv zu verstehen scheint, was ein alter Mann, der sich in seiner alten Welt mehr und mehr verliert, sucht und braucht. Gleichzeitig liegt in ihrem Erzählen so viel Leichtigkeit, Witz, Humor und Lebensweisheit, dass man sich mit der Lektüre bis zur letzten Seite diesem schleichenden Schrecken gerne aussetzt.

Petra Pellini, geboren 1970 in Vorarlberg, lebt und arbeitet in Bregenz. Sie war lange in der Pflege demenzkranker Menschen tätig. Für einen Auszug aus ihrem Roman «Der Bademeister ohne Himmel» wurde sie 2021 mit dem Vorarlberger Literaturpreis ausgezeichnet.

Petra Pellini liest am 15. Januar im Literaturhaus St. Gallen und am 16. Januar im Literaturhaus Thurgau!

Beitragsbild © Nina Bröll

«Ich – ein Mensch? War ich je Mensch?» – Szczepan Twardochs «Kälte» (15)

Lieber Gallus

Dieses Buch, mein erstes dieses Autors, hat mich tief bewegt, verunsichert, begeistert und verwirrt. Ist es ein gutes, lesenswertes Buch? Warum schreibt Twardoch oft so brutal, müssen die Szenen von Folter und Vergewaltigung so genüsslich-sinnlich dargestellt werden? Manchmal war es für mich zu viel des Schrecklichen. Insgesamt bin ich aber sehr beeindruckt und habe neben dem ungemein spannenden Abenteuer von Konrad Widuch im Packeis viel vom Kriegsgeschehen der Zeit der Russischen Revolution und des zweiten Weltkriegs mitbekommen, auch mit einem beeindruckenden Einblick in das damalige Leben der nordsibirischen Völker. Der Überlebenskampf gegen die eisige unwirtliche Natur und die Auseinandersetzung mit anderen Völkern des Polarkreises lassen keine «Wohlfühlpassagen» zu. Auch die oft grobe Sprache unterstreicht dies literarisch, lässt mich in Abgründe blicken.

Ich – ein Mensch? War ich je Mensch?

Sczcepan Twardoch «Kälte», Rowohlt, 2024, aus dem Polnischen von Olaf Kühl, 432 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-7371-0188-2

So beginnt das Notizbuch des Konrad Widuch, des Protagonisten, und eine einfache Antwort ist auch nach 400 Seiten nicht gegeben. Das Mitschwingen dieser Frage im Hintergrund macht die Tiefe und die Bedeutung dieses Werks aus. Scharfe Dissonanzen und wilde Rhythmen finden nur selten in Dur-Tonart ein wenig Trost, am ehesten in der Erinnerung an seine verlassene Sonja mit den Töchtern Wilena und Linel, von denen er sich aus strategischen Gründen getrennt hat. Die Erinnerung an sie geben dem Protagonisten Halt. Der ehemals fanatische Bolschewist macht eine tiefe Wandlung durch und sucht seinen Weg, was nicht ohne Mord und Totschlag, ohne Entbehrung und Verzicht geht. Oft in Eis erstarrte Einsamkeit ohne Lichtblick. Die Menschlichkeit schimmert neben dem Tierischen immer wieder durch, oft geht es aber ums pure Überleben, wo selbst Kannibalismus ins Spiel kommt.

Denn wenn Russland kommt, dann kommt hier jemand her wie der, der ich einmal war, er wird euren Dejwas stürzen und wird euch sagen, was ihr zu tun habt, und jeder von euch wird Sklave sein.

Leider ist dies aktueller denn je!
Klug verwoben ist die Geschichte mit dem Segelturn des Erzählers von Svalberg gegen Osten. Eigentlich wollte er dem eintönigen Alltag entfliehen und Einsamkeit erleben auf den Spitzbergen. Dort trifft er auf eine Frau mit Segelboot, kommt so zur Lektüre der Notizen des ebenso aus Schlesien stammenden Konrad Widuchs. Rätselhafter Zufall?

Das wunderschön gestaltete Literaturblatt No 67 hat mich wahrlich in eine abenteuerliche «Kälte» geführt, die ich trotz der manchmal kaum zu ertragenden Schrecken nicht missen möchte.

Herzlich
Bär

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Lieber Bär

Wie ich mich freue, dass ich Dich mit meinen Lesetipps zur Lektüre von Szczepan Twardochs Roman verführen konnte. Und wie sehr ich mich freue, dass Du meine selbst gezeichneten und von Hand geschriebenen Literaturblätter gar in Deiner feinen Bibliothek aufhängst. Was für eine Ehre.

«Kälte» ist ein grosser Schlüsselroman zur Gegenwart, eine Reise durchs kollektive Unbewusste Europas … Es ist Weltliteratur, aus familienbiografischen Ereignissen gespeist, stand in der NZZ. In diesem kollektiven Unbewusstsein schlummern und modern seit Jahrtausenden all die Menschheitskatastrophen, die einzig die Gattung Mensch verursachte. Katastrophen, die sich in den Code des Menschseins unauslöschlich eingegraben haben. 

Aufgabe der Kunst, der Literatur ist es, sich diesen Katastrophen zu stellen, sich mit ihnen direkt zu konfrontieren, seien dies die kleinen Katastrophen oder die ganz grossen. Vielleicht ist genau das eines der Unterscheidungsmerkmale von guten und schlechten Büchern. Echte Literatur konfrontiert. Alles andere deckt bloss zu, spielt mit einer glatten Oberfläche, täuscht und gaukelt vor. Nicht dass es reine Unterhaltung nicht geben soll, aber echte Literatur, gute Bücher sollen und müssen reiben, sollen und müssen etwas von der wirklichen Welt spürbar und sichtbar machen.

Jonathan Littell «Die Wohlgesinnten», Piper, 2009, übersetzt von Hainer Kober, 1392 Seiten, CHF. ca. 31.90, ISBN 978-3-8333-0628-0

Vor einigen Jahren las ist mit tiefer Bestürzung und unsäglicher Betroffenheit den Roman «Die Wohlgesinnten» von Jonathan Littell, den fiktiven Lebensbericht eines hohen SS-Offiziers, eines Unbelehrbaren, Uneinsichtigen. Ein bizarres Epos, das ein detailliertes und nur schwer ertragbares Bild des Zweiten Weltkriegs und der Verfolgung und Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten zeichnet. Nichts an diesem Protagonisten ruft nur einen Funken Sympathie hervor. Wer dieses Buch liest, steigt in die dunkelsten Höhlen menschlicher Abgründe. Wer sich beim Lesen nach einem Protagonisten sehnt, mit dem man sich solidarisieren, dem man wenigstens Mitgefühl entgegenbringen kann, wird gnadenlos enttäuscht. Und doch; der Roman konfrontiert mit der Wahrheit, einem Stück Mensch, dem wir uns ganz offensichtlich nur schwer stellen können.

«Kälte» konfrontiert. „Kälte“ ist die Hinterlassenschaft eines Hoffnungslosen. Nichts an dieser Geschichte, ausser einer atemberaubenden Kulisse, erinnert an Helden- und Abenteuergeschichten. Konrad Widuch ist kein Held. Er überlebt nur deshalb, weil er sich selbst der Nächste ist, einer der sich in seinen Reflexionen immer wieder vor die Frage gestellt sieht: Bin ich noch ein Mensch? Konrad Widuch erzählt ohne Schalldämpfer, ohne Filter. Seine endlos scheinende Flucht ins Nirgendwo ist ein irriger Überlebenskampf an den Rändern des Erträglichen, sowohl für ihn wie für mich als Leser.

Vielleicht ist das der grosse Wandel in der Kunst. Es genügt nicht mehr, Schönes zu schaffen, weder in der Bildenden Kunst noch in der Musik. Es muss reiben. Szczepan Twardoch tut es in allen seinen Romanen. Und deshalb zählt er mit Recht zu den ganz Grossen der Weltliteratur.

Liebe Grüsse

Gallus

Rezension von «Kälte» auf literaturblatt.ch

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preisausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer», das Tagebuch «Wale und Nachtfalter» und der Roman «Demut», den die NZZ als «Höhepunkt seines Schreibens» bezeichnete. Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.

Hiroko Oyamada «Das Loch», Rowohlt – Sprachsalz Kufstein

Die japanische Schriftstellerin Hiroko Oyamada, deren zweiter Roman „Das Loch“ in Japan schon 2014 erschien, ist eine Spezialistin der Zwischenwelten, eingetaucht in Fantastisches und Traumhaftes. So realistisch der Roman „Das Loch“, die Geschichte einer jungen Frau, die in der Langeweile ertrinkt, beginnt, so bizarr und unerklärlich werden die Ereignisse.

Asa ist noch nicht lange verheiratet und zieht mit ihrem Mann, der innerhalb seiner Firma versetzt wurde, von der Stadt aufs Land. Es ist ihr ganz recht, dass sie ihre Arbeit kündigen kann, zum einen, weil sie die Arbeit wohl müde machte aber nie erfüllte, zum andern, weil ihre Schwiegereltern ihnen das Haus neben dem ihrigen mietfrei überlassen und mit einem Mal der ganze Stress des Alltag von ihr abfällt. Ein Neubeginn, auch für die noch junge Ehe. Aber weil ihr Mann mit dem Auto zur Arbeit pendelt und es auf dem Land auf die Schnelle keinen neuen Job zu finden gibt, beginnt sich Asa mehr und mehr treiben zu lassen. Ihr Mann, der am Morgen früh das Haus verlässt und erst spät abends nach Hause kommt und dann sein Handy kaum aus der Hand legt, spürt die Einsamkeit seiner Frau nicht. Und die Schwiegereltern im Haus daneben sind so sehr in ihren Alltag eingebunden, sind beide kaum zuhause und die Schwiegermutter, wenn doch, mit guten Ratschlägen und altklugen Kommentaren. Auch der seltsame Grossvater ihres Mannes, der mit seinem Grinsen bloss seine Zähne zeigt und zu jeder Tages- und Nachtzeit den Garten giesst, auch wenn es regnet, wird ihr kein Gegenüber.

Hiroko Oyamada «Das Loch», Rowohlt, aus dem Japanischen von Nora Bierich, 2024, 128 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-498-00486-6

Es ist heiss, heisser als in den Sommern zuvor. Nach dem bisschen Haushalt macht Asa Spaziergänge ums Haus, an den wenigen Häusern vorbei bis zum Fluss. Die einzigen, die sich ihr zuzuwenden scheinen, sind die Zikaden. Bis sie im Gebüsch ein schwarzes Tier zu sehen glaubt, ein Tier, weder Hund noch Wolf. Asa folgt dem Rascheln im Gebüsch und stürzt dabei in ein Loch, brusttief gefangen, bis sie eine Nachbarin, die sie bis jetzt nicht kennenlernte, aus der misslichen Lage befreit. Aber warum ein Loch? Warum hatte sie das Gefühl, auf etwas Weichem zu stehen? Fortan scheint nichts mehr so zu sein, wie es im Einerlei der heissen Sommertage war.

Asa lernt hinter ihrem Haus und dem Haus ihrer Schwiegereltern einen noch jungen Mann kennen. Er behauptet, der Bruder ihres Mannes zu sein, obwohl Asa bisher der Überzeugung war, ihr Mann sei Einzelkind. Es war nie die Rede von einem Bruder. Er wohne in dem kleinen Schuppen im Garten, habe sich schon lange von der Welt zurückgezogen und selbst mit seinen Eltern schon lange keinen Kontakte mehr. Ein Hikikimori. Er stellt Fragen, die sie sich nicht einmal selbst gestellt hätte. Und warum weiss sie von diesem Bruder nichts? Warum ein solches Geheimnis? Asa rutscht immer tiefer in die Gegenwart unwirklich scheinender Personen. Eine Nachbarin schenkt ihr seltsame Früchte und auf einem Spaziergang zum Fluss, bei dem sie wieder von diesem seltsam unsichtbaren, schwarzen Tier begleitet wird, trifft sie werneut auf ihren Schwager und eine ganze Meute Kinder, die sich ins Wasser werfen, herumtoben und sich um den Schwager scharen.

Asa traut sich nicht, ihren Mann darauf anzusprechen, schon gar nicht ihre Schwiegereltern. Und als der seltsame Grossvater nach einem Spaziergang viel zu weit weg von seinem Haus an einer Lungenentzündung stirb und man sich im Haus der Schwiegereltern vom Toten verabschiedet, verliert sich Asa mehr und mehr in einer Welt zwischen Sein und Schein.

Hiroko Oyamada erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die in den Traditionen und Konventionen ihrer Heimat gefangen ist. Asa fällt in ein Loch. Und Hiroko Oyamada macht dieses Loch zu einem traumhaften Tripp in ein seltsames Zwischenreich. Asa, die in sich und der Situation gefesslt ist, fällt durch eine Art schwarzes Loch in eine andere Welt, die sich immer und immer wieder als Traumwelt entpuppt. Asa lässt sich treiben, weil es die einzige Möglichkeit ist, dem Zustand der Lethargie und Langeweile zu entfliehen.

„Das Loch“ ist ein vielfach seltsamer Roman. Ein Roman, der mich schwindlig und in meinem Zwang nach Ordnung ratlos macht. Ein seltsames Abenteuer in flirrender Hitze.

Hiroko Oyamada, 1983 in Hiroshima, Japan, geboren, studierte Japanische Sprache und Literatur. Nach ihrem Abschluss arbeitete sie in wechselnden Jobs, u. a. als Aushilfskraft bei einem Autohersteller. Diese Erfahrung diente ihr als Inspiration für ihren Debütoman «Kōjō» (2013; deutsch: «Die Fabrik»), der mit dem Shinchō Prize for New Writers und dem Oda Sakunosuke Prize ausgezeichnet wurde. Für ihren zweiten Roman «Ana» (2013; deutsch: «Das Loch») erhielt sie den Akutagawa-Preis, den wichtigsten Literaturpreis Japans. Ihre Werke wurden bereits in mehrere Sprachen übersetzt, u.a. ins Englische. Hiroko Oyamada lebt mit ihrer Familie in Hiroshima.

Nora Bierich, geboren 1958, hat Philosophie und Japanologie in Berlin und Tokio studiert. Aus dem Japanischen übersetzte sie u. a. Werke von Ōe Kenzaburō und Mishima Yukio. 2019 erhielt sie den japanischen Noma Award for the Translation of Japanese Literature.

Beitragsbild © Shinchosha

Jörg Hartmann «Der Lärm des Lebens», Rowohlt

Schauspielerinnen und Schauspieler, die irgendwann mit dem Schreiben beginnen, gibt es viele. Aber nur ganz selten genügt das Buch auch einem literarischen Anspruch. Auch wenn der überaus erfolgreiche Schauspieler Jörg Hartmann „noch mitten im Leben steht“, ist sein Romandebüt „Der Lärm des Lebens“ zum einen ein Resümee, zum andern eine durchaus pointierte Auseinandersetzung mit den letzten fünf Jahrzehnten deutscher Geschichte.

Mitten in der endlosen Diskussion darüber, wie sehr sich in der Literatur die Fiktion der Geschichte, den (scheinbaren) Fakten bedienen kann, ist eine Auseinandersetzung eines Mannes mit seinem Leben, seinen Nächsten, ganz erfrischend. Auch wenn da im Schreiben ganz unweigerlich die eine oder andere Portion Fiktion in sein Buch hineinrutscht (Das tun alle, wenn sie ihre Geschichte nacherzählen), dreht sich der Roman ganz persönlich um die Frage, was denn wirklich wichtig ist im Leben. Bin ich der, der ich sein soll? Bin ich so, wie ich sein soll? Und bin ich dort, wo ich sein soll?

Jörg Hartmann wächst im Ruhrpott auf, in der Kleinstadt Herdecke, unweit von Dortmund. Und genau davon erzählt Jörg Hartmann in seinem Buch. Ursprung seines Schreibens war die Demenz und der Tod seines Vaters. Das erlebte Wissen darum, wie viele Erinnerungen mit dem Tod eines Menschen unwiederbringlich verloren gehen. Nicht nur jene des Vaters, sondern all jene in der langen Kette davor. Was man alles versäumt hat oder hätte anders machen müssen oder sollen. „Der Lärm des Lebens“ ist eine Reise, jene durch die Kindheit des Erzählers, vom drängenden Wunsch, Schauspieler zu werden, von den vielen Versuchen, sich als Schauspielschüler genau dorthin zu begeben, wo die Epizentren des deutschen Schauspiels zu erobern sind, von den Unzulänglichkeiten und Schwierigkeiten, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen, stets dort zu fehlen, wo es als Mann, Vater oder Sohn nötig wäre, wirklich da zu sein.

Jörg Hartmann «Der Lärm des Lebens», Rowohlt, 2024, 304 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-7371-0198-1

Man rät ihm, dem Schauspieler: „Tu immer nur das, was du verantworten kannst.“ Ein Rat, der ihm in der Art und Weise seines künstlerischen Schaffens zur Maxime wird. Ein Rat, der ihm in seinem Familienleben seine Grenzen zeigt. Eine Tatsache, die all jene kennen, die ihre Lebenszeit an mehrere Pflichten aufzuteilen haben; Familie, Ehe, Beruf, Gesellschaftliches.

Der Erzähler wächst im biederen kleinstädtischen Deutschland auf, geprägt von einem Vater, der als Handballer eine Karriere hinter sich hat, fest verankert im gesellschaftlichen Leben der Kleinstadt ist und nichts mehr erhofft, als dass der Sohn in seine (sportlichen) Fussstapfen tritt. Ein väterlicher Wunsch, den der Sohn durchaus zu erfüllen versucht, aber schon in seinen Anfängen kläglich scheitert. Es muss eine andere Rolle sein, am liebsten die Rolle eines Schauspielers. Und diese Rolle findet der Erzähler nicht in seiner kleinen Stadt. Eine Reise beginnt, eine Reise, in der er sich aber auch von seinem Ursprung entfernt. Auch eine Reise weg von seiner Familie.

Jörg Hartmann nimmt die gesellschaftlichen und politischen Beben Deutschlands mit in seinen Roman; vom Mauerfall bis zur Pandemie. „Der Lärm des Lebens“ ist mit Nichten ein sentimentaler Blick auf die Vergangenheit, ganz im Gegenteil. Jörg Hartmanns Blick ist ein kritischer, zuweilen emotional auch ein ziemlich aufgeladener. Der Blick auf ein lärmiges Leben, dessen Takt mit zunehmendem Alter immer weniger dem eigenen entspricht.

Jörg Hartmann gehört zu den bedeutendsten deutschen Charakterdarstellern. 1969 geboren, wuchs er in Herdecke, im Ruhrpott, auf. Nach seiner Schauspielausbildung und verschiedenen Theaterengagements wurde er 1999 Ensemblemitglied der Berliner Schaubühne. Fernsehproduktionen wie «Weissensee» oder der Dortmund-Tatort, in dem er Kommissar Faber spielt, machten ihn einem breiten Publikum bekannt; im Kino war er etwa in «Wilde Maus» oder zuletzt in «Sonne und Beton» zu sehen. Jörg Hartmann wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Deutschen Fernsehpreis, der Goldenen Kamera und dem Grimme-Preis. Für den Tatort «Du bleibst hier» (2023) schrieb er das Drehbuch. Er hat drei Kinder und lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Beitragsbild © Silvia Medina

Szczepan Twardoch «Kälte», Rowohlt

Seit seinem Roman „Morphin“ (2012) gehört Szczepan Twardoch zu den ganz grossen und eigenwilligen Schriftstellern der Gegenwart. In seinen düsteren, beinah apokalyptischen Romanen, die nichts beschönigen und die Abgründe menschlichen Seins mit Tiefenbohrungen bis ins Rückenmark sondieren, keimt wenig Hoffnung. Und gerade deshalb sind Bücher wie sein neuer Roman „Kälte“ existenziell.

„Kälte“ ist nichts für zarte Seelen, keine Erbauungsliteratur, schon gar keine Nachttischlektüre. „Kälte“ fasziniert und schreckt ab, pulverisiert Illusionen, zeigt mit letzter Konsequenz, dass sich Menschsein schlussendlich nur noch auf den letzten Drang zu überleben reduzieren kann – koste es, was es wolle. „Kälte“ ist grosse Literatur, die sich um die grossen Fragen des Lebens dreht: Was bleibt, wenn nichts mehr hält? Was macht Menschsein aus? Gibt es Hoffnung? „Kälte“ ist ein Roman, der in die Knochen fährt, der während des Lesens die Haut erschaudern lässt und zeigt, worin die Kraft der Literatur liegt; in der Berührung.

Konrad Widuch, aus dem schlesischen Polen, reist in den Wirren der russichen Revolution nach Osten, schliesst sich den Trotzkisten an und gründet mit der Revolutionärin Sofie eine Familie, überzeugt davon, Teil einer neuen Weltordnung zu werden. Aber in den Wirren verschiedener Auffassungen von Revolution und dem uneingeschränkten Machtanspruch Stalins zwingt die Zeit Sofie mit den Kindern zur Flucht und Widuch in ein riesiges sibirisches Gulag, einen Ort, über den ich nicht schreiben und dessen Namen ich nicht erwähnen will (Dalstroi). Widuch gelingt mit zwei düsteren Gefährten die Flucht, nicht weil er an eine Rückkehr nach Hause glaubt, aber weil es die einzige Chance ist auf einen letzten Rest Freiheit.

Sczcepan Twardoch «Kälte», Rowohlt, 2024, aus dem Polnischen von Olaf Kühl, 432 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-7371-0188-2

Nichts an seiner endlos lange werdenden Flucht ist ein Ankommen. Neben der arktischen Kälte und den Wintermonaten in absoluter Dunkelheit, gepeinigt von Hunger und Krankheiten, findet Widuch mit seinen beiden Gefährten Schutz bei einem weitgehend autark lebenden Taigavolk, wo man ihnen in einer Mischung aus traditioneller Gastfreundschaft und Misstrauen begegnet, sie leben lässt, bis ein Flugzeug aus der Zivilisation die Bedrohung nicht zu Widuch und seinen Gefährten bringt, sondern zur ganzen Siedlung, die abgeschottet vom Weltgeschehen lebt, in einer Ordnung, die einer neuen Weltordnung viel näher kommt als der russische Kommunismus. Nach einem weiteren Blutbad ist Widuch erneut auf der Flucht, am Schluss nur noch auf sich selbst gestellt, bis er im Eis eingeschlossen die Invincible findet, ein Schiff aufs Eis gedrückt und zwei Männer, die auf den Sommer und die Weiterfahrt auf dem Weg zur arktischen Nordostpassage warten. Irgendwann ist Widuch auch auf diesem Schiff allein, wo er mit den Aufzeichnungen seiner langen Reise nach Nirgendwo beginnt, einem Monolog gegen die Einsamkeit, gegen den Wahn.

Jahrzehnte später gelangen diese Aufzeichnungen zu Borghild Moen, die im Sommer 2019 mit ihrer Jacht Isbjørn im Hafen von Pyramiden, einem ehemals sowjetischen Bergbaudörfchen auf Spitzbergen dem Schriftsteller Szczepan Twardoch begegnet, der sich dort eigentlich hätte zurückziehen wollen. Raus aus der Schlinge des Lebens. Borghild gibt Twardoch die Aufzeichnungen zu lesen, nicht nur in der Hoffnung, einen geeigneten Adressaten zu finden, denn Borghild ist unheilbar krank. Die Aufzeichnungen von Konrad Widuch sind die ihres Vaters.

„Kälte“ ist die Hinterlassenschaft eines Hoffnungslosen. Nichts an dieser Geschichte, ausser einer atemberaubenden Kulisse, erinnert an Helden- und Abenteuergeschichten. Konrad Widuch ist kein Held. Er überlebt nur deshalb, weil er sich selbst der Nächste ist, einer der sich in seinen Reflexionen immer wieder vor die Frage gestellt sieht: Bin ich noch ein Mensch? Konrad Widuch erzählt ohne Schalldämpfer, ohne Filter. Seine endlos scheinende Flucht ins Nirgendwo ist ein irriger Überlebenskampf an den Rändern des Erträglichen, sowohl für ihn wie für mich als Leser.

Auch kein Zufall, dass der 2022 in Polen erschienene Roman zeitgleich mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine auf der Bühne erschien. „Kälte“ ist auch eine Abrechnung mit dem Argessor Russland, einem Ungeheuer, das alles frisst und schluckt. Eingebaut in den Roman sind regelrechte Schimpftriaden, in den Mund eines Mannes gelegt, dem jede Hoffnung genommen wurde, der ganz auf sich selbst, sein Überleben zurückgeworfen ist. Geschrieben von einem Schriftsteller, der es nicht scheut, bitter notwendiges Kriegsgerät aus eigener Initiative an die Front zu schicken. Ihr wisst nicht, wie Russland kommt, wenn es kommt. Russland, wenn es kommt, kommt groß, obwohl seine Menschen elend, schwach sind, aber es kommt groß und ist nicht imstande, etwas neben sich zu dulden, was nicht Russland ist, deshalb verwandelt es alles in Russland, versteht ihr, in Russland, das heißt in Scheiße. Damit alles genau solche Scheiße wird wie es selbst.

In seiner ganz eigenen Kraft strotzend!

Szczepan Twardoch, geboren 1979, ist einer der herausragenden Autoren der Gegenwartsliteratur. Mit «Morphin» (2012) gelang ihm der Durchbruch, das Buch wurde mit dem Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet, Kritik und Leser waren begeistert. Für den Roman «Drach» wurden Twardoch und sein Übersetzer Olaf Kühl 2016 mit dem Brücke Berlin Preis geehrt, 2019 erhielt Twardoch den Samuel-Bogumil-Linde-Preis. Zuletzt erschienen der hochgelobte Roman «Der Boxer», das Tagebuch «Wale und Nachtfalter» und der Roman «Demut», den die NZZ als «Höhepunkt seines Schreibens» bezeichnete. Szczepan Twardoch lebt mit seiner Familie in Pilchowice/Schlesien.

Olaf Kühl, 1955 geboren, studierte Slawistik, Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte und arbeitete lange Jahre als Osteuropareferent für die Regierenden Bürgermeister von Berlin. Er ist Autor und einer der wichtigsten Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, u.a. wurde er mit dem Karl-Dedecius-Preis und dem Brücke Berlin-Preis ausgezeichnet. Sein zweiter Roman, «Der wahre Sohn», war 2013 für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Rezension von «Das schwarze Königreich» von Szczepan Twardoch auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Paweł Śmiałek