Eindrücke und Statements vom 16. Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Das 16. Wortlaut St. Galler Literaturfestival war ein voller Erfolg. Für drei Tage war die Ostschweizer Metropole das Mekka der Literatur. 40 Gäste aus dem In- und Ausland beglückten Literaturinteressierte mit Lesungen, Performances, Gesprächen und Musik und boten spannende Impulse zum Festivalmotto «Hoffen und Bangen».

Ein sehr schönes Festival in St. Gallen, tolles Publikum, spannende Gäste, perfekte Organisation, gutes Essen. Vielen Dank dafür. Peter Stamm

© Timona Furrer
Dank an Ariane Novel, Gallus Frei und das ganze Festivalteam für Frühlingstage in St.Gallen – an Peter Stamm für die Einladung zum Carte Blanche am Sonntagmittag… und ein großer Dank an ein tolles Publikum: Schön war’s! Judith Hermann
 
© Timon Furrer
Ich durfte als Stadtrat die Begrüssungsrede halten. Ein kleiner Auszug davon: «Das Motto hat mich sehr bewegt und zugleich herausgefordert. Herausgefordert hat es mich in den vergangenen Tagen, wenn nicht Wochen, im Hinblick auf den vom OK an mich gestellten Auftrag, nämliche eine «Kleine Ansprache» zum Motto «Hoffen und Bangen» zu halten. Ich habe gehadert. Den Anstoss gegeben hat mir dann letzten Endes der Artikel im Tagblatt vom vergangenen Mittwoch, in dem Gallus Frei zitiert wird, dass ‘Texte etwas auslösen müssen – sei es Begeisterung, Faszination oder Verunsicherung’; ein Text dürfe nicht kalt lassen.» Persönliche Schicksale können und sollen im Literaturbereich verarbeitet werden. Das ist einem Publikum zuzumuten, meine ich. Danke, lieber Gallus, liebes OK für die Möglichkeit! Mathias Gabathuler, Stadtrat
 
© chrispix

«Lieber Gallus Frei, dieses Festival ist ein ganz besonderes Erlebnis gewesen. Vielen lieben Dank für die großartige Organisation und den schönen Leseort. Es war ein großes Vergnügen, vor dem Schweizer Publikum lesen sowie Rede und Antwort stehen zu dürfen. Ich freue mich auf ein Wiedersehen!» Ewald Arenz

© Timon Furrer

«Quand on va de Genève à Saint-Gall, c’est comme traverser en un jour un immense pays. Et quand on arrive à la poste de Saint-Gall et qu’on est accueilli avec tant de sympathie, on se dit que ça valait vraiment le voyage. En merci, cher Gallus, de m’avoir laissé parler en public d’Un dimanche à la montagne, c’était une première en Suisse. Amicalement.» Daniel de Roulet

© Timon Furrer

«Was für ein schöner Sonntagmorgen! Die Matinee-Gäste, das Wetter und dir Betreuung vom Wortlaut-Team: alles wunderfrühlingsherrlichschön. Vielen Dank für die Einladung zu Wortlaut!» Michèle Minelli

© Sandra Kottonau

«Es war so erfreulich, wieder beim literarischen St. Galler Heimspiel mit dabei sein zu dürfen! Ich hatte – auch dank der tollen Moderatorin Cornelia Mechler – einen wunderbaren Anlass. Ein Heimspiel eben. Danke Wortlaut!» Christoph Keller

© Sandra Kottonau

«Es hat Freude gemacht, die grosse Bibliothek wie verzaubert zu sehen und immer wieder Leute zu beobachten, die Räume suchend herumeilten, um die nächste Lesung nicht zu verpassen, während andere in Sesseln sassen und lasen. Hoffen und bangen – beides Verben, die sich auf die Zukunft beziehen. Und auch ein Anlass, zu bemerken, dass sich in der Gegenwart Dinge erfüllen, die man sich gewünscht und nach denen man sich gesehnt hat!» Judith Keller

«Was erst als Notvariante erschien, entpuppte sich bei dem schlechten Wetter als goldrichtig: ein prallvolles Bibliotheks Café mit interessiertem Publikum. Die Sofabank als improvisierte Bühne gewährte zumindest einen Hauch von Strassentheater. Vielen Dank ans gesamte sehr engagierte Wortlaut Team.» Marcus Schäfer

Daniela Koch (Atlantis), Jo Lendle (Hanser), Bettina Spoerri (Geparden) und Moderator Jürg Ackermann (Tagblatt) © Philipp Neff
«Liebe Ariane und lieber Gallus, es war mir eine Freude, bei eurem schönen Festival dabei zu sein. Das Podiumsgespräch (Zukunft des Buches) war für mich sehr anregend und schlug klar Richtung «Hoffen» aus. Die Branche ist unter Druck, ja, aber sie ist auch stark und entwickelt immer wieder gute Ideen. Was man nicht zuletzt bei einem Festival wie Wortlaut in St. Gallen spüren kann!» Daniela Koch
 
Laura Vogt und Theres Roth-Hunkeler © Sandra Kottonau

«Ich trage das Wortlaut-Bändchen noch immer am Arm, damit die Erinnerungen an die Begegnungen mit Texten und Menschen, die der Literatur gewogen sind, immer wieder aufwallen. Ein grossartiges Festial habt ihr uns geschenkt. Vielfältiges Programm, tolle Moderator:innen, schöne Räumlichkeiten und heitere Atmosphäre. Ja, hoffen, hoffen, hoffen – das Bangen ist eh immer präsent. Grossen Dank für eure riesige Arbeit.» Theres Roth-Hunkeler

© Philipp Neff

«Grosses Dankeschön an das gesamte Wortlaut-Team. Dank Gallus Initiative durften wir im Café San Gall die Kurzlesungen geben. Eine riesen Chance und einmalige Erfahrung für uns Neulinge. Es war ein unvergessliches Erlebnis, an das ich gerne zurückdenke. Ich freue mich jetzt schon auf nächstes Jahr, wenn St. Gallen sich wieder von seiner literarischen Seite zeigt.» Noreen

© Sandra Kottonau

«Danke dem ganzen Wortlautteam, allen Helfenden für die Gastfreundschaft, eure umsichtige Planung, ihr habt selbst an so viele Kleinigkeiten gedacht, die es so angenehm gemacht habe. Auch mir war es eine wirklich Freude dabei sein zu dürfen. Danke für das Vertrauen in unsere Arbeit. Dieser Dank gilt auch meinen beiden Gesprächspartnern Frédérik Zwicker und Ewald Arenz, es waren sehr persönliche und spannende Einblicke in ihre Geschichten.» Judith Zwick

© Philipp Neff

«Ein riesengrosser Dank an Ariane und das ganze Wortlaut-Team, dass ihr die «Lücke» so rasch, umsichtig und mit so unendlich grossem Engagement füllen konntet. Der Tag war rundum gelungen, meine Moderationen waren mir eine Ehre und Freude zugleich. Schön war auch, dass genügend Zeit zum Austausch blieb.» Cornelia Mechler

© Timon Furrer

«Vielen Dank für die schöne Einladung zum Wortlaut-Festival, es war mir eine Freude und Ehre, bei der Eröffnung mitzuwirken.» Svenja Flasspöhler

© Timon Furrer

«Es war wunderbar, Teil des Wortlaut Festivals zu sein und zu erleben, wie sich Menschen begeistern lassen für Texte, Gedanken, das gesprochene Wort.» Barbara Bleisch

© Timon Furrer

«Perfekt aufgegleist, deshalb – und dank rasanter Reorganisation des restlichen Teams – reibungslos über die Bühne gegangen. Es war uns eine Ehre, den Eröffnungsabend mit Hekto Super musikalisch zu begleiten. Und auch meine Lesung aus Carlas Scherben – wunderbar moderiert von Judith Zwick vor vollem Saal – war eine Freude. Herzlichen Dank Ariane, Diana, Rebecca, Karsten, Gallus und allen anderen für alles!» Frédéric Zwicker

© Sandra Kottonau

„Das Festival war super. Dass es in einer geöffneten, öffentlichen Biblothek stattfand, gab der Sache einen besonderen Charme. Vielen Dank für die super Organisition!“ Steven Wyss

© Philipp Neff

«Die Wortlautausgabe 2025 hatte ein sehr tolles Programm mit vielen guten wichtigen Frauenstimmen. Meinen eigenen Talk hab ich sehr genossen! Es war so erfrischend, voll inspirierend und ungeheuer ermutigend, mich mit den drei jungen Frauen Léa, Phoebe und Vera auszutauschen.» Lika Nüssli

© Timon Furrer

«Das Gespräch von meinen Maturandinnen Lara Hofstetter und Julia Mülli mit den american poets Jan Heller Levi und Jan Herman war berührend, tiefsinnig und von gegenseitigem Respekt getragen. Ich bin dankbar, dass ich es anregen durfte.» Florian Vetsch

© Sandra Kottonau

«Merci beaucoup pour l’invitation à St Gallen, c’était une joie de participer au festival!» Douna Loup

© Philipp Neff

«Dem ganzen Wortlaut-Team ein grosses Dankeschön für die Einladung und Möglichkeit, an diesem wunderbaren Literaturfestival eine Kurzlesung zu halten. Eine tolle Stimmung, anregende Gespräche und schöne literarische Momente. Ein grosses Merci.» Raphael Schweighauser

16. Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Michèle Minelli «Wie es endet», lectorbooks – Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Endlich macht Thierry mit Vanessa und ihrer gemeinsamen Tochter Evie Urlaub. Sogar die Katze Pizza ist dabei. Ein Urlaub ohne Pizza geht nicht. Ein Urlaub in einem Luxusressort in den Bergen. Ein Urlaub, der sich letztlich aber gar nicht als das entpuppt, was er zuerst zu sein scheint.

Thierry arbeitet mit seinem Chef und Freund an einem Film. „Theorie von allem“. Ein Film, der sich mit der Formel des Lebens beschäftigt, der klären soll. Selbst jetzt in seinen Familienferien kann er nicht von dem lassen, was ihn schon seit langem einnimmt und beschäftigt, einlullt und nicht mehr loslässt. Ob wir die Dinge in Einklang bringen können. Warum scheint alles im Chaos zu enden? Wann beginnt das Chaos? Thierry hat seinen Computer nicht zuhause gelassen, auch sein Mobilphone nicht. Es meldet sich immer wieder.

„Ich habe in diesem Augenblick das Gefühl, dass ich auf etwas zuhalte, dem ich nicht ausweichen kann.“

Michèle Minelli «Wie es endet», lectorbooks, 2024, 144 Seiten, CHF. ca. 32.90, ISBN 978-3-906913-46-9

Während sich in dem mit allem Luxus ausgestatteten Chalet in den verschneiten Bergen, mit beeindruckender Aussicht, auch nachts auf einen kolossalen Sternenhimmel, mit einer Jurte und einem Jakuzzi vor dem Haus, überfreundlichen jungen Frauen an der Rezeption im Hotel, die jede Konversation mit der Frage, ob sie noch etwas Gutes für sie tun können, anfangen oder enden, langsam etwas wie Alltag zu entfalten beginnt, häufen sich Zeichen, dass etwas zu kippen droht. Thierry weiss, wie brüchig sein Leben geworden ist, wie nahe die Familie am Auseinanderbrechen war und ist. Erst recht, als man ihm mitteilt, dass eine drohende Lawine ganz in der Nähe nicht ungefährlich sein könnte. Und noch viel mehr, als die Katze in einem Moment der Unaufmerksamkeit durch ein Fenster nach draussen entwischt.

«Ich rede weiter von Dingen, die nicht mehr zueinanderfinden, die auseinanderbröseln, expandieren.»

Äussere Anzeichen der Bedrohung. Ein Mobilphone, dass sich dauernd meldet, Telefonate, die man an der Rezeption ausrichtet und ihn um Rückruf bittet. Und eine Ehefrau mit Kind, die sich zwar im gleichen Gebäude befinden, aber abgekoppelt von ihm die Stunden verbringen. Vanessa ist erfolgreiche Schauspielerin. Während sie mit ihrer Tochter den Urlaub zu geniessen scheint, verschiebt sich Thierrys Wahrnehmung immer mehr in einen Zustand der Entrücktheit. Thierry versucht alles, um die Kontrolle über ein Leben in zunehmender Schieflage zurückzugewinnen.

„Wie es endet“ überrascht mit einer subtilen Dramaturgie. Was im ersten Teil des Romans wie ein Rettungsversuch eines Mannes aussieht, der nun endlich eingesehen hat, dass das Leben nicht nur aus Arbeit besteht, dass eine Familie Zeit und Zuwendung braucht, Inseln, die nur ihnen gehören, erfahre ich als Leser, wie sich das Schlingern des Schiffes immer mehr aus Thierrys Wahrnehmung entfernt. Je länger ich lese, umso mehr erahne und erfahre ich, dass die drohende Katastrophe längst Realität geworden ist. Dass sie Lawine draussen Thierrys klaren Blick längst zugedeckt hat. Kursiv gedruckte Sätze zerschlagen scheinbare Realität, lassen erahnen, dass Thierrys Welt längst bloss noch ein verzweifelter Versuch ist, Normalität zu spielen.

«Menschen dringen in die Herzen von Atomen ein und erforschen die Tiefen des Weltalls, aber ihre eigenen Herzen bleiben ihnen verschlossen.»

„Wie es endet“ ist das Psychodrama eines Verlorenen. Ein Mann, der sich aus eigener Kraft längst nicht mehr zu retten weiss. Ein Mann, dessen Wahrnehmung nach seinen Maximen funktioniert, der alles auszublenden weiss, was nicht in sein Selbstverständnis passt. „Wie es endet“ taugt nicht als Strandlektüre. Nicht einmal als In-den-Schlaf-Begleitung. Man spürt, dass die Schriftstellerin weiss, wie filmisches Erzählen funktioniert. „Wie es endet“ ist ein Psychotripp, ein Alp. – Und nicht zuletzt ziemlich singulär in der Literaturlandschaft! Ein Roman mit grossen amerikanischen Paten!

Michèle Minelli, geboren 1968. Schriftstellerin und Filmschaffende. Koordinatorin der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran, Vorstandsmitglied Deutschschweizer PEN-Zentrum. Seit 2000 sechs Sachbücher und sieben Romane mit Übersetzungen ins Französische, Chinesische und Albanische. Die Arbeit an »Kapitulation« wurde mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung des Kantons Thurgau gefördert. Minelli lebt und arbeitet auf dem Iselisberg.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Anne Bürgisser

(1700. Beitrag)

Michèle Minelli «All das Schöne», Saatgut

Elisa und Jakob lernten sich erst spät kennen und lieben. Elisa, von einer geschiedenen Ehe verwundet, zieht in das Haus, in dem Jakob hoch über dem Tal seit Jahrzehnten lebt, in ein Haus, in dem die Welt in Ordnung ist, alles seinen Platz hat, auch die späte Liebe zwischen Elisa und Jakob. Bis Jakob stirbt.

„All das Schöne. Die Geschichte von Jakob und Elisa“ ist eine Liebesgeschichte, auch wenn der Tod etwas Grosses wegbrechen liess. Dieser Roman ist eine Liebeserklärung an einen Mann, von dem Elisa erst nach viel Schmerz und Verwundungen neues Vertrauen schöpfte und zu ihm in das Haus über dem Tal zog. In ein Haus mit Weitsicht, ein Haus, das sich über die Jahrzehnte wie eine erweiterte Seelenlandschaft um diesen einen Mann ordnete. Die Liebeserklärung an ein Lieben zu zweit in gegenseitigem Respekt, ohne diese permanente Angst, betrogen und enttäuscht zu werden. Die Liebeserklärung an einen Garten, eine kleine, intakte Welt, voller Leben und Gegenstände, die alle in einer Ordnung zueinander stehen. Die Liebe an ein Leben in Ruhe und Beständigkeit, in dem plötzlich aufbrechen kann, was über lange Zeit blockiert war.

Bis Jakobs Husten, seine Krankheit das Leben im Haus über dem Tal mehr und mehr einnimmt und selbst Jokobs Schwester mit ihrer Hilfe nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass die Zweisamkeit in diesem kleinen Paradies endlich ist. Jakob stirbt und Elisa bleibt alleine in dem Haus mit Garten und Katzen zurück. Elisa muss sich neu finden. Da ist die Trauer, die Lähmung, der Schmerz und die Sehnsucht. Aber in und um dieses Haus erinnert alles an ein gemeinsames Leben, ist alles durchsetzt von Jakobs Ordnung, seiner sanften Kraft an Garten, Haus und Tieren, der Wärme, die sein Tun und Sein begleitete. Mit einem Mal werden Gemeinsamkeiten zu Erinnerungen, das, was sie wie einen Schatz in sich trägt, wie ein Garten, für dessen Früchte man etwas tun muss.

„Trauer verläuft nicht in geregelten Bahnen. Trauer kennt keinen Massstab und kein Mass.“

Michèle Minelli «All das Schöne. Die Geschichte von Jakob und Elisa», Saatgut, 2024, mit 11 Schwarz-Weiss-Illustrationen von Janine Grünenwald, 96 Seiten, CHF ca. 28.00, ISBN 978-3-9525244-8-0

Elisas Leben ist an einem Wendepunkt. Kann aus Trauer neuer Mut wachsen? Wie viel stirbt mit? Elisa lebte einst in der Stadt, schälte sich aus einem Leben, mit dem sie sich in den Jahren zusammen mit Jakob versöhnen konnte, das sie besiegte, das zusammen mit Jakob so viel möglich werden liess, dass Elisa sogar für eine Familie bereit gewesen wäre. Jakob war der Mann, der ihr Sicherheit gegeben hatte, sie auch jetzt, nach seinem Tod, noch immer gibt. Selbst in jenen Zeiten, als sich keimendes Familienglück dann doch nicht einstellte und es wieder Jakob war, der sie vor dem Wegsinken rettete.

„All das Schöne“ spielt über vier Jahreszeiten, spiegelt ein Leben, das sich von einem Winter, in dem der Tod sie aus ihrem Glück riss bis in den Winter danach hangelt, in dem Elisa neuen Mut findet, über ein Jahr in Haus und Garten, das ein langes Abschiednehmen ist. „All das Schöne“ ist ein ungeheuer zärtliches Buch, das nie in Rührseligkeit abdriftet, eine buchlange Liebeserklärung an ein Leben, einen Plan, eine Ordnung, ein Sein, das von gegenseitigem Respekt getragen ist. Aber „All das Schöne“ ist auch ein Trauerbuch, ein Abschiedsbuch, ein Buch der Selbstvergewisserung. Ein Buch von einer Frau, die mit einem Mal auf sich selbst zurückgeworfen ist, die mit jedem Schritt in eine neue Ordnung ihr Leben zurückgewinnen muss.

„In dem ein Leben mit einer Geburt beginnt und mit dem Tod endet, wird es zu einer Geschichte. Alles was mit dir und durch dich war, ist nun zu einer Geschichte geworden. Jakob, mit einem fest verfugten Anfang. Und einem Ende. Auf dieser Wiese vor mir. Ich ziehe die Jacke enger.“

Ein Buch, das wärmt!

Michèle Minelli, Schriftstellerin und Filmschaffende, lebt und arbeitet auf dem Iselisberg. Koordinatorin der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran, Vorstandsmitglied Deutschschweizer PEN-Zentrum. Seit 2000 sechs Sachbücher und acht Romane mit Übersetzungen ins Französische, Chinesische und Albanische. Minelli ist verheiratet mit dem Schriftsteller Peter Höner.

Janine Grünenwald malte schon als Kind im Architekturbüro ihres Vaters stundenlang. Seit 2015 illustriert sie eigene Comics, Postkarten, Kalender u.a. im Hasenbureaux.ch. Sie lebt und arbeitet in Zürich. All das Schöne ist der erste Roman, den sie illustriert.

«Passiert es heute? Passiert es jetzt?», Rezension auf literaturblatt.ch

«Chaos im Kopf», Rezension mit Interview auf literaturblatt.ch

«Kapitulation», Rezension auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Anne Bürgisser

Buchtaufe von «Kapitulation» von und mit Michèle Minelli

Auf der Bühne des Literaturhauses leuchteten Blumen und durch das offene Fenster hörte man Vögel pfeifen. Von Idylle erzählt Michèle Minellis neuer Roman «Kapitulation» nicht. Viel mehr von den Kollateralschäden eines nicht enden wollenden Geschlechterkampfs, mehr oder minder gescheiterter Lebensentwürfe und permanenter Missverständnisse, wie sich Wirklichkeit abbilden sollte.

Eine Handvoll Frauen, die sich nach vielen Jahren wieder treffen sollen, lebten damals für einige Wochen zusammen auf der Mittelmeerinsel Krk, eingeladen von einer Stiftung, sie alle voller Perspektiven und Hoffnungen auf ein Leben als Künstlerinnen. Die Initiatiantin von damals will die Frauen noch einmal zusammenkommen lassen, in Zürich, hergeholt aus ganz verschiedenen Lebensumständen.
Damals glaubten alle auf Krk an eine grosse Zukunft, alles sei offen. Um jetzt, nicht einmal zwei Jahrzehnte später, festzustellen, dass man kapituliert hatte, kapitulieren musste.

In den ersten 200 Seiten begleitet man die Protagonistinnen durch die zwei Tage vor dem ominösen Treffen in Zürich. Michèle Minelli webt einen dichten szenischen Teppich, bis sie sich treffen und aus dem kammerspielartigen Treffen bei gedämmtem Licht eine Katastrophe zu werden droht.

In einem Gespräch, das Adrienne Rytz-Bonnet, die ehemalige Präsidentin der Stiftung führt, fällt der Satz „Wenn eine Frau will, kann sie heute alles erreichen.“ Was sich ein grosser Teil der Gesellschaft wie ein Mantra vorsagt, widerspricht sich ausgerechnet in der Kulturszene, in der es  «Gockel» zuhauf gibt.

„Ich habe keine Kraft mehr, neben Männern funktionieren zu müssen, die menschlich Sosse sind.“

Blumen für zwei Bücher: «Kapitulation» und «Chaos im Kopf»

Mag sein, dass die Lektüre für den einen oder anderen (Mann) als Kampfschrift liest. «Kapitulation» ist aber alles andere als eine Abrechnung, sondern eine schonungslose Analyse dessen, was sich nicht leugnen lässt.

«Im Mai 2012 schlugen einst Blicke auf dem Gallusplatz in St.Gallen Brücken. Diese tragen heute noch. Herzlichen Dank für deine Einladung ins Literaturhaus – zum Glück verstecken die Masken nur die Münder!»
Michèle Minelli

Rezension von «Kapitulation» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Chaos im Kopf» auf literaturblatt.ch

Das weitere Programm im Literaturhaus Thurgau

Beitragsbilder © Lauro Zanabria

Michèle Minelli «Kapitulation», lektorbooks

Eine Handvoll Frauen treffen sich nach vielen Jahren wieder. Damals ermöglichte ihnen ein internationales Kunststipendium einen längeren Aufenthalt auf der Mittelmeerinsel Krk in der Villa de Artium. Eine Handvoll Frauen damals vor achtzehn Jahren, voller Verheissungen, Versprechen für die Zukunft.

Sie treffen sich in Zürich wieder, weil Adrienne Rytz-Bonnet, die ehemalige Präsidentin dieser Stiftung, zu einer Réunion einlädt, die erste Runde von damals, weil Adrienne spürt, dass ihre Krankheit sie schwinden lässt, weil es an der Zeit ist, die Kraft für einen letzten Kampf zu bündeln.

„Kapitulation“
Buchtaufe im Literaturhaus Thurgau,
Donnerstag 29. April 2021, 19:30 Uhr.
Wir bitte Sie um Anmeldung unter diesem Link.

Aina, kasachisch-schweizerische Actionskünstlerin, die im Kunsthaus zur Aufseherin geworden ist, wenn auch mit subversiven Zügen. Kirsty, die mit einem sehr persönlichen Forschungsprojekt über ihre schreibende Grossmutter einmal mehr bei einer Preisverleihung abblitzt. Brigitte, die einst alles auf ihre Bratsche setzte und nun den Primaten im Zoo spielt. Cloé, mittlerweile längst dem Alter eines Shootingstars entwachsen und im Permastreit mit ihrem Verleger, der sich schlankere Manuskripte wünscht, Zeug, das sich besser verkauft. Und Yvonne und Nomi. Yvonne, Adriennes Privatmasseurin und Nomi, Adriennes Tochter.

Sie alle sind Versehrte. Irgendwann kam es zu Kapitulation. Einmal mehr, einmal weniger. Sie alle mussten klein beigeben; den Umständen, dem Misserfolg, den Männern, den Erwartungen, dem Kampf. Sie alle haben ihren Preis bezahlt, ihre Narben einkassiert. Schon möglich, dass es Berufsgattungen und Gesellschaftsschichten gibt, in denen sich die Gleichberechtigung dem Ideal gar nicht mehr so weit weg zeigt. Aber wenn es einen Bereich in der Gesellschaft gibt, in dem es noch immer viel zu viele männerdominierte Plattformen gibt, dann in der Kultur. Michèle Minelli zeigt dies in einer Art und Weise, die bei der Lektüre beinahe schmerzt. Michèle Minelli schneidet ohne Narkose. Die eitrigen Geschwüre ergiessen sich über den üppig angerichteten Tisch eines opulenten Bilderschmauses. Die Autorin breitet die Schilderung der verschiedenen Welten, in denen sich die Frauen in den beiden Tagen vor ihrem Treffen in Zürich bewegen und aus denen sie sich schälen, in einem eigentliches Erzählmosaik aus,  ein Blitzlicht hier, eine Spot da. Lichter, die sich in die Tiefe bohren, die nicht chronologisch ausleuchten, sondern in verschiedensten Tiefen erzählen, wie das Leben mit ihnen spielt. Dass das zuweilen für mich als Leser verwirrlich ist, für den genauen Leser, ist ein Preis, den man gerne zahlt angesichts der Kraft und wörtlichen Leidenschaft, die der Roman ausstrahlt.

Michèle Minelli «Kapitulation», lectorbooks, 2021, 320 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-906913-25-4

Michèle Minelli hat viel gewagt. Den Roman aber mit den ersten Sätzen schon zu schubladisieren, wird dem nicht gerecht, was der Roman will. Würde man den Roman als „Frauenroman“ titulieren, gäbe man den Männern einen Grund ihn nicht zu lesen. „Kapitulation“ ist ein kämpferischer Gesellschaftroman, der aber nicht aus sicherer Distanz erzählt, sondern mitten aus dem Kampfgebiet von Gleichberechtigung und jahrhundertelanger Immunisierung substanzieller Veränderungen. Mag sein, dass es Stimmen gibt, die mahnen, was Frauen in der Gegenwart im Vergleich zur Vergangenheit alles können, dürfen und tun. Aber die Stimmen vermögen immer weniger zu kaschieren, dass es immer noch ein Kampf ist und bleibt. Ein Kampf, der viele Opfer fordert, Opfer die eine scheinbar moderne und aufgeschlossene Gesellschaft so einfach hinnimmt und akzepiert. Dass dieser Kampf noch lange nicht ausgestanden ist und dass es viele Männer noch immer hinnehmen, dass männliche Privilegien Selbstverständlichkeit bleiben, dass die Welt in der wir leben, in vielem durch ein männliches Okular gesehen wird.

„Kapitulation“ will viel mehr als bloss unterhalten, viel mehr als bloss eine Geschichte erzählen, auch wenn es die Geschichte der Frauen im Europa der Gegenwart ist. Dass Michèle Minelli im letzten Kapitel eine der Frauen in ihrer Verzweiflung über all die Lähmungen und Zurückweisungen das Letzte riskiert und dabei in ihrer letzten Kapitulation wieder nur verlieren kann, ist pessimistische Konsequenz. „Kapitulation“ ist schwere Kost, fordert von mir als Leser alles – ganz sicher mehr als bloss Reflexion. «Kapitulation» ist kämpferisch, durchflutet von starken Bildern und Dialogen. Eine Breitseite literarischer Wucht!

Michèle Minelli, geboren 1968. Schriftstellerin und Filmschaffende. Koordinatorin der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran, Vorstandsmitglied Deutschschweizer PEN-Zentrum. Seit 2000 sechs Sachbücher und sieben Romane mit Übersetzungen ins Französische, Chinesische und Albanische. Die Arbeit an »Kapitulation« wurde mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung des Kantons Thurgau gefördert. Minelli lebt und arbeitet auf dem Iselisberg.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © leafrei.com

Michèle Minelli «Chaos im Kopf», Jungbrunnen

Michèle Minelli hat schon mit ihrem ersten Jugendroman „Passiert es heute? Passiert es jetzt“ keinen Wohlfühlroman, kein Geschichtchen geschrieben. Als Roman mitten aus dem Kampfgebiet Familie zeichnete die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur „Passiert es heute? Passiert es jetzt“ als „Buch des Monats Oktober 2018“ aus. Ihr neuer Roman „Chaos im Kopf“ steht dem Vorgänger in nichts nach!

Das Fenster meines Arbeitsplatzes öffnet sich direkt zum Eingang meines Schulhauses. Und selbst wenn das Fenster geschlossen ist, kann ich den Gesprächen der Jugendlichen unter meinem Fenster zuhören. Die Nische unter diesem Fenster ist abends und an Wochenenden zu einem regelrechten Treffpunkt geworden. Manchmal sind die Gespräche und Brunftlaute derart deutlich und penetrant, dass das Zuhören unvermeidlich wird und mich von meiner Arbeit wegreisst. Dann sitze ich da und höre nur mehr zu, staune darüber, wie weit ich mich von der Welt der Jugendlichen entfernt habe, obwohl ich mit Kindern arbeite, kippe weg in Erinnerungsfetzen meiner eigenen Jugend, um unsicher darüber zu werden, ob damals wirklich alles so ganz anders war.

Zu glauben, dass die Welt von Jugendlichen noch weit weg vom Ernst des Lebens sei, ist fatal. In so unsicheren Zeiten wie diesen noch viel mehr, wo Jugendliche schlicht nicht mehr wissen, wie und wo sie sich austesten sollen. Wie sehr das Leben einer Jugendlichen bedrohlich werden kann, beschreibt Michèle Minelli in ihrem neuen Jugendroman „Chaos im Kopf“. Doch „Jugendroman“ ist ein Etikett. „Chaos im Kopf“ ist ein Fenster in eine Welt, die allzu leicht und allzu schnell unterschätzt und mit Vorurteilen verzerrt wird. Umso wichtiger und hilfreicher, dass es Autorinnen wie Michèle Minelli gibt, die mit derart viel Empathie und Unmittelbarkeit eine Welt eröffnen können, die sich in der eigenen Erinnerung verklärt. 

Michèle Minelli «Chaos im Kopf, Antonia – vierzehn-dreiviertel», Jungbrunnen, 2021, 220 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-7026-5954-7

Antonia ist vierzehn-dreiviertel, noch eintausendeinhundertsiebzig Tage, bis sie sich volljährig aus den Fesseln ihrer Mutter, ihrer Familie, ihrer Rolle losreissen kann. Angi, ihre Mutter, demonstriert ein ganz eigenes Verständnis von Fürsorge, Mutterpflichten und Nestwärme. Ihre Mutter versetzt Antonias Reitstiefel zu Geld und öffnet einem neuen Lover die Wohnung. Man macht ihr die Schule zum Spiessrutenlauf mit der wiederholten Aufforderung endlich ernst mit der Suche nach Schnupperstellen. Charlie, der Neue ihrer Mutter, rückt ihr mit unmissverständlichen Unzweideutigkeiten auf die Pelle und ihre Freundin Emmi wendet sich als mutierte Streberin mit einem Mal von ihr ab. Alles wankt. Alles droht in einem endlos scheinenden Chaos zu versinken. Dabei will sie nur das eine; ihren Platz in einer Familie, die sie trägt und eine Perspektive für ihren grossen Traum. Antonia möchte Filmregisseurin werden. 

Aber wer Filmregisseurin werden will, braucht das Gymnasium, gute Noten, Lehrpersonen, die daran glauben und, wenn es den Papa nur als Erinnerung gibt, wenigstens eine Mutter, die mitträgt. Aber Angi hat ganz anderes im Kopf, als die fürsorgliche Mutter zu spielen, weder für Antonia noch für ihre beiden Schwestern, schon gar nicht für ihre kleine Schwester Pippa. Antonias Mutter ist eine notorische Leugnerin und Lügnerin, die alles nach ihrer Fasson drückt, die Vergangenheit und wenn nötig auch die Zukunft. Sie ist von sich als Künstlerin überzeugt, wenn nicht an Resultaten gemessen, dann ganz sicher als Lebenskünstlerin. Dass sich ihre Kinder nach der Pflichtschulzeit aus den Fängen des Staates lösen sollen, ist Maxime. Und seit Charlie, der Neue, in der Familie mitmischt, ist der Gang durch die Zeit erst recht hochexplosiv.

Irgendwann sitzt Antonia auf dem Dach einer alten Ziegelei, restlos verzweifelt, von ihren Ängsten umzingelt. Mit fast fünfzehn erwartet die Welt einen Plan. Aber selbst wenn man einen solchen hat und man noch eine Ewigkeit von der Volljährigkeit entfernt den Kampf ganz alleine ausfechten soll, braucht man Beistand, Zuneigung, ganz wörtlich verstanden. Michèle Minelli beschreibt einen Kampf, den Kampf mit jenen Ängsten, die einem zu lähmen drohen, die einem in Situationen zu treiben vermögen, die keinen gangbaren Ausweg mehr andeuten. Antonia merkt, dass sie ausbrechen muss. Dass dieser Ausbruch nicht ohne Konsequenzen bleiben kann. Dass es ein Kampf um viel mehr ist, als eine geregelte Ausbildung und einen festen Platz in der Welt.

Interview

Erwachsene bilden sich sehr oft ein, dass ihre Probleme viel die schwergewichtigeren seien als die von Kindern und Jugendlichen. Nicht zuletzt darum, weil viele vergessen und verdrängen, was sie einst so sehr beschäftigte, weil sich der Mantel der Verklärung über die Kindheit legt, je älter man wird. Probleme, die die Existenz bedrohen, können nie miteinander verglichen werden. Warum tun wir es doch?

Das aktuellste Problem ist immer das schwerste. Das gilt bei Erwachsenen wie bei Kindern oder Jugendlichen gleich. Aber nicht nur neue Probleme stellen uns vor Rätsel, auch Probleme, die andauern. Und so geht es Antonia in dieser Geschichte: Zu ihrem andauernden Problem – der Lernfeindlichkeit in ihrem Elternhaus – gesellen sich neue Probleme dazu. Bis es ihr zu viel wird. Weshalb wir Probleme miteinander vergleichen, weiss ich nicht sicher. Meine Vermutung ist, dass in einem ernsthaften Vergleich der Versuch liegen könnte, eine Art Ordnung zu schaffen. Und was in einer irgendwie gearteten Ordnung seinen Platz findet, lässt sich bestimmt auch lösen; Ordnung ist der erste verheissungsvolle Schritt zur Lösung hin. Wenn da aber nur Chaos ist, wie bei Antonia, schwindet der Glaube an Lösung.

Was muss man sich als Schriftstellerin oder Schriftsteller bewahren, um mit Büchern wie dem deinigen so punktgenau den Nerv der Zeit zu treffen, zumal dein Blick aus deinem Arbeitszimmer alles bietet, was es zur Idealisierung braucht?

Um Antonias Geschichte schreiben zu können, musste ich mir die Erlaubnis geben, den Kontakt zu meinem eigenen Lebensgefühl als Jugendliche wieder aufzunehmen. Es war gewissermassen eine Tür, die ich aufgestossen habe, zurück zu einer jugendlichen Intensität des Fühlens. Dieses jugendliche Fühlen war bei mir geprägt von Impulsivität und einem unbedingten Drang, mein Leben zu gestalten. Wenn ich heute in einem von mir gestalteten Leben angekommen bin, birgt das auch die Gefahr der Verklärung – und die führt immer in Kraftlosigkeit. Insofern muss ich mir als Schriftstellerin meine Ambiguitätstoleranz bewahren, auch mir selber gegenüber – und diese ständig weiterentwickeln.

Warum hat es Kinder- und Jugendliteratur so schwer, sich neben der Erwachsenenliteratur zu etablieren, zu emanzipieren? Müssten wir nicht aufhören, in Kategorien zu denken, weil gute Literatur sich nicht vom Adressaten unterscheidet?

Frauenfelder Woche März 2021

Die Ansprüche, die von aussen an Kinder- und Jugendliteratur gestellt werden, sind immens. Es scheint, als haben viele scheinbar gescheite Erwachsene einst ein Korsett geschnürt, in das die Literatur für junge Menschen unbedingt zu passen habe. Sie muss pädagogisch wertvoll sein, eine Lehre oder Moral vermitteln, politisch korrekt sein, sprachlich gut aber nicht zu schwierig sein … – alles antiquierte Vorstellungen, denen ich mich in ihrem totalitären Anspruch nicht unterwerfen mag. Die Frage könnte man also auch so stellen: Warum haben es Kinder und Jugendliche so schwer, sich neben Erwachsenen zu etablieren und zu emanzipieren? 

Dein Roman ist eine latente Familientragödie; drei Töchter, eine alleinerziehende Mutter, ein mehr oder weniger übergriffiger Liebhaber der Mutter, Schule, die mehr fordert als fördert – und alles gekoppelt mit viel Angst. Eine Kindheit lang versucht man die Kinder vor aller Angst zu bewahren, um sie dann als Jugendliche mit ihren Ängsten vielfach alleine zu lassen. Wäre Angst an sich nicht ein guter Schutzmechanismus?

Angst ist eine überlebenswichtige Gefährtin. Aber sie darf nicht zur Anführerin werden und ausschliesslich allein entscheiden. Gegen sie zu kämpfen wäre falsch. Sie als Teil eines inneren Teams wahrzunehmen, ihr ein Mitspracherecht und eine Zuhörfähigkeit zu geben, würde schon viel helfen. Die Angst der Eltern, von den Problemen der Kinder überwältigt zu werden, braucht ebenso ihren Platz wie das Zutrauen, es gemeinsam zu schaffen und das Vertrauen, dass die Kinder ihre Schritte, wenn selbstgewählt, auch verkraften.

Antonia kann sich in keinem Moment auf ihre Mutter verlassen. Antonia sagt über ihre Mutter: „Sie lügt, sie betrügt, und sie verschluckt die Wahrheit wie ein schwarzes Loch die Sterne.“ Sie hasst ihre Mutter. Ist dann der Kampf nicht aussichtslos? Wenn man immer wieder beschwört, wie wichtig die Familie sei – gibt es einen Weg zurück? 

Ich glaube nicht, dass Antonia ihre Mutter hasst, aber sie hasst das, was die Mutter tut: Lügen. In den wenigen Momenten, in denen sich Antonias Mutter selbst schutzlos zeigt, finden die beiden zu einer unmittelbaren Nähe zu einander. Diese Nähe und das Verständnis füreinander ist wie ein Raum, der immer da ist, der aber leer bleibt, wenn sich die beiden nicht trauen, sich gewissermassen nackt zu zeigen, eben so, wie sie sind: unvollkommen, ängstlich, suchend – und dem Anderen im Innersten eben doch das Beste wünschend.

Gab es in unmittelbarer Vergangenheit ein Buch, das dich nicht losgelassen hat? Und warum?

Ich lese sehr viel und meist zwei Bücher parallel. Ein fast physisches Erlebnis boten mir die Geschichten von Clarice Lispectors Erzählband «Aber es wird regnen» (Penguin), und in seiner erzählerischer Konsequenz gefangen nahm mich «Die Parade» von Dave Eggers (Kiwi). Und ein freies, umwerfendes und psychologisch ehrliches Kinderbuch ist für mich «Betti Kettenhemd»,  von Albert Wendt (Jungbrunnen) – ein Buch, das ich am liebsten immer bei mir tragen wollte.

Michèle Minelli wurde 1968 in Zürich geboren und arbeitete zuerst als Filmschaffende, später als freie Schriftstellerin. Sie schreibt Romane, Sachbücher und probiert gerne verschiedene Textformen aus. Mit vierzig absolvierte sie das Eidgenössische Diplom als Ausbildungsleiterin und unterrichtet seither regelmäßig „Kreatives Schreiben“ und andere Themen in literarischen Lehrgängen.

Bei lector books erscheint fast zeitgleich Michèle Minelli Roman «Kapitulation»: Fünf kunstschaffende Frauen, die einst überzeugt waren, dass sie alles erreichen können, wenn sie nur wollen. Heute sind sie auf dem Boden der Realität angekommen: Sie können, sie wollen, sie werden übersehen und gehen vergessen. Bei einem Wiedersehen nach 18 Jahren loten die fünf ihre Möglichkeiten aus, reden über verpasste Chancen, lachen und trinken. Bis in dieser entspannten Runde die Idee aufkommt, einen Flashmob zu veranstalten, bei dem sich alle Frauen in Luft auflösen. Was vier der Frauen wieder vergessen, nimmt eine von ihnen todernst.
Buchtaufe mit «Kapitulation» (und einem Seitenblick auf «Chaos im Kopf») im Literaturhaus Thurgau am 29. April 2021! Moderation: Gallus Frei

Rezension zu «Passiert es heute? Passiert es jetzt?» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Anne Bürgisser

Michèle Minelli «Passiert es heute? Passiert es jetzt?», Jungbrunnen

Wolfgang wird von der Polizei in die geschlossenene Jugendpsychiatrie gebracht. Seine kleine Schwester Leonie muss zu den Grosseltern und von der Mutter ist kaum mehr die Rede. Nicht erst die Katastrophe hat die Familie zerrissen und ein Trümmerfeld hinterlassen. Was mit einem lauten Knall ein Ende mit Schrecken fand, die dünne Fassade einer Familie pulverisierte, zerstörte das Letzte, was von dem geblieben war, was ein gnadenloser Vater über Jahre durch Herzlosigkeit und Willkür in seinen Grundfesten vernichtete.

Michèle Minelli, die mit «Passiert es heute? Passiert es jetzt?» ihren ersten Jugendroman schrieb, hat sich mit ihrem Roman keine leichte Aufgabe gestellt. Eine Aufgabe, bei der es viele Möglichkeiten des Scheiterns gäbe, die nur dann funktioren kann, wenn der Grad an Nähe und Distanz sowohl zu den Protagonisten wie zur Katastrophe nicht in Trvialität kippt. Nicht nur die Themen, mit denen sie konfrontiert, sondern auch die Perspektiven des Erzählens, die Art (Kunst), wie sie sich mitten ins Geschehen setzt, sind explosiv.

Eine Geschichte, die unter die Haut geht, weil sie die Schrecken einer in sich eingeschlossenen Familie genauso spiegelt wie die Unmöglichkeit, eine sich anbahnende Katastrophe in diesem eingeschlossenen Kosmos vorauszusehen oder sie gar abzuwenden. So sehr die Familie als «Keimzelle der Gesellschaft» bezeichnet wird, so sehr schliessen sich Konflikte in ihr ein. Kinder werden zu Gefangenen, zu Eingesperrten, Eingeschlossenen, hilflos der «elterlichen Gewalt» ausgesetzt.

Wolfgang ist sechzehn. Nicht einmal sein Geburtstag ist Grund zur Hoffnung oder Freude. Wolfgang hat längst resigniert, den väterlichen Terror zur Selbstverständlichkeit erklärt. So sehr er die blauen Flecken seiner Mutter, ihr stundenlanges Beten im Bügelzimmer, seine permanete Angst und Verunsicherung, seinen blinden Gang auf dem Minenfeld hinnehmen muss, so sehr wird er zum Beschützer seiner kleinen Schwester Leonie, deren Auflehnung gegen ihren Vater irgendwann in der Katastrophe enden muss.

Wolfgang nennt seinen Vater im Stillen «Möchtegernvater». Einer der sich zum Vater erklärt, einer, der seine Position erkaufen, erzwingen und zurechtschlagen muss. Sein Vater nennt ihn ganz offen «Jammerlappen» oder «Murks», weil er nichts zustande bringe, nichts tauge. Ein Vater, dem die Liebe längst abhanden kam, wo man nicht einmal den Fotos aus der Vergangenheit traut, der die Liebe durch Drill, bodenlose Strenge, Verachtung und Gewalt ersetzte, dessen Unberechenbarkeit alles Vertrauen längst zerstörte.

Bis an einem Donnerstag das eskaliert, was längst zu einem unaufhaltsamen, zerstörerischen Höllensturz wurde. Wolfgang reisst für einen kurzen Augenblick die Macht an sich, um die zerstörerische Dynamik von seiner Schwester und seiner Mutter weg auf ihn selbst, seinen Vater zu richten.
Mit einem Mal sitzt Wolfgang an einem Ort, wo Türen und Fenster geschlossen sing, die Böden beim Gehen fiepsen und die Erwachsenen Fragen ohne Fallen stellen. An einem Ort, wo nicht nur er mit einem schrecklichen Geheimnis, das mit einem Knall durch ihn hindurch gegangen war und nicht hängen blieb, sondern auch andere Jugendliche auf Antworten warten, die sie sich ohne Hilfe nicht geben können, die sich in der Vergangenheit verbergen.

Michèle Minelli sticht mitten hinein. Sie schrieb eine Geschichte, die ihr zu Herzen ging, die erzählt werden musste. Beispielhaft für all die Familientyranneien, die nie nach aussen gelangen. Kein Protokoll, kein Bericht. Michèle Minelli setzt sich als Erzählerin unter die Haut eines Sechzehnjährigen, ganz nah, unmittelbar. Sie schildert, was in den Tagen nach der Katastrophe passiert und nicht passiert, was mit einem Jungen geschieht, der nicht realisieren kann, was Not und Affekt mit ihm machten. Die Geschichte geht unter die Haut und wird es überall dort tun, wo man ihr in ihrer Dringlichkeit Zutritt gewährt. Ein Buch, das abverlangt und stehen lässt.

Michèle Minelli wurde 1968 in Zürich geboren und arbeitete zuerst als Filmschaffende, später als freie Schriftstellerin. Sie schreibt Romane, Sachbücher und probiert gerne verschiedene Textformen aus. Mit vierzig absolvierte sie das Eidgenössische Diplom als Ausbildungsleiterin und unterrichtet seither regelmäßig „Kreatives Schreiben“ und andere Themen in literarischen Lehrgängen.
„Schon als Kind fand ich schreiben einfacher als reden. Mit Fremden sprechen war das Allerschlimmste; noch mit zwölf heulte ich, wenn mich meine Mutter einkaufen schickte. So wurde das Schreiben zu dem Ort, an dem ich mich wohl und aufgehoben fühle und von wo aus ich am besten mit der Welt in Kontakt treten kann. Dass ich heute auch für Jugendliche schreibe, bedeutet für mich, dass sich der Kreis nun schließt.“

Von Michèle Minelli erscheint im Salis Verlag der Roman «Der Garten der anderen».

Webseite der Autorin

André David Winter „Immer heim“, edition bücherlese

Bilder, die sich einbrannten. Zu einen das grossformatige Bild „Die Lebensmüden“ von Ferdinand Hodler in der Pinakothek in München. Zum andern die Schlussszenen im Film „Das gefrorene Herz“ mit dem Schauspieler Sigfrid Steiner, der als Korber in Schnee und Eis seine Ruhe findet. André David Winter schrieb mit seinem Roman „Immer heim“ eine Geschichte aus der Vergangenheit, über alte Menschen, „Verwärchete“, die ihren Platz in der Gesellschaft verloren haben.

Dem Roman vorangestellt ist ein Zitat von Novalis „Wohin gehen wir? Immer heim.“ und auf den letzten Seiten angefügt: „Ein grosser Dank geht an Otto S. und René F. für ihre wertvollen Erinnerungen. „Immer heim ist ein Buch der Erinnerungen. Zurückgesetzt in eine Zeit, die längst vergangen scheint, von Menschen, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts gross wurden. Ein Erinnerungsbuch an Schicksale, die noch viel fester mit der Natur und den Mühen der Arbeit verflochten waren, ein Erinnerungsbuch zwischen dem verklärten Blick eines Ankerbildes und der entblössenden Strenge eines Ferdinand Hodlers.

Joseph Bitzi wird nach einem Leben als Knecht vom Hof der Mugglis gegen seinen Willen ins Heim geschickt. Dem Jungbauer war der knorrige, eigenwillige Knecht mehr Last als Kraft und so schnell entsorgt. Aber was tut ein Mann, der ein Leben lang mit seinen Händen anpackte mit einem verordneten Leben im Ruhestand? Unter all den anderen Alten, die nur noch warten, auf das nächste Essen, die Schwester, den Besuch, die Nacht, den Schlaf, den Tod? Einer von denen werden, die sich abgefunden haben und vor sich hin dämmern?

Joseph bäumt sich auf. Er hat einen Plan. Nachdem er ein Leben lang einstecken musste, soll das letzte Stück nach seinem Sinn verlaufen. Er, den man nicht erst jetzt nicht mehr will, bäumt sich auf, stellt sich quer.

“Manchmal fragte er sich, ob nicht alle, die hier wohnten, weggeworfen worden waren wie er.“

Aus dem Aufbäumen des ausrangierten Knechts wird eine richtige Bewegung. Der stumme Alfred, sein Zimmergenosse, den Parapluie, der einst als Schirmflicker von Haus zu Haus hausierte, die böse Anni, die uralt noch immer nachts im Traum schreit aus Angst, ihr Mann komme sie holen, oder Rottannli, den ehemaligen Knecht und Melker, der von Stimmen heimgesucht wird und am liebsten sein Leben mit Feuer löschen würde. Sie alle wachen noch einmal auf, ergeben sich nicht.

“Ihr müsst uns beschäftigen, sonst beschäftigen wir euch.“

Auch Geld hilft ihm, Geld, von dem er wusste, das nie gebraucht wurde, das versteckt auf dem dahinsiechenden Hof liegt, auf dem er zur Welt kam, Geld, das ihm Kraft und Macht geben würde, auch über die Lästerer im Gasthaus im Dorf, die nur darauf warteten, ihn noch einmal und noch einmal mit ihrem Lachen durch den Dreck zu ziehen.

Joseph, dem es in seinen unglücklichen Liebesgeschichten nie gelang, sich als der zu zeigen, der er war, der als Knecht immer Knecht blieb, mischt als „Verwärcherter“ ein Altenheim auf. Mag sein, dass die Szenerie manchmal hart an der Grenze zur Glaubwürdigkeit schrammt. Aber genau das darf Literatur. Literatur muss nicht abbilden, darf Geschichten erzählen. Und André David Winter tut dies mit kräftigen Farben und klaren Strichen.

André David Winter liest am 30. November 2018 an einer „Ofenlesung“ im Haus der Schriftstellerpaars Michèle Minelli und Peter Höner in Iselisberg bei Frauenfeld TG. Weitere Informationen folgen!

André David Winter, geboren 1962 in der Schweiz. Seine Kindheit verbrachte er bis zum achten Lebensjahr in Berlin. Mit vierzehn verlor er seine Mutter. Nach Abbruch einer Lehre arbeitete er auf Bauernhöfen in der Schweiz und in Italien. Es folgten die Ausbildung in der Psychiatrie und die Arbeit in der Notschlafstelle und in einem rumänischen Kinderheim. 2008 erschien sein Roman „Die Hansens“ im Bilger Verlag, 2012 folgte „Bleib wie du wirst. Deine Demenz, unser Leben“. In der edition bücherlese erschien 2015 der Roman „Jasmins Brief“.

Titelbild: „Die Lebensmüden“, 1892, Ferdinand Hodler, Ausschnitt

„Die Magie des ersten Satzes“ – eine Matinee

Eine literarische Matinee mit acht Autorinnen und Autoren. Kuratiert von Peter Höner und Michèle Minelli.

Die Magie des ersten Satzes. Welches Geheimnis verbirgt er? Wann wird ein Anfang zu einer guten Geschichte? Womit weckt eine Figur vom ersten Auftritt an Interesse? Wie entstehen aus Worten Welten?

Tobias Bonderer, Veronika Bucher, Heike Felber, Hansjürg Geiger, Diana Krüger, Manuela Müller, Johannes Nolte und Roli Trümpi wagen den Sprung ins leere Blatt.

Eine literarische Matinee, die den Anfang ins Zentrum rückt. Lesungen, Intermezzi, Gespräche kuratiert von Peter Höner und Michèle Minelli, Schreibwerk Ost.

Sonntag, 18. Februar, von 10.30 bis 13 Uhr im Bodman-Literaturhaus in Gottlieben TG!

www.schreibwerk-ost.ch

Michèle Minelli & Peter Höner „Aufs Land gezogen“

Dialoge

1 Aufs Land gezogen

Grauenhaft, dieses Wetter. Hochnebel, Regen, ein eisiger Wind. Und das schon den dritten Tag.
Stinklaune?
Ach, was. Stinklaune, Stinklaune. Mir fällt die Decke auf den Kopf.
Kino? – Wir könnten ins Kino gehen. Ins „Luna“ kann man immer, die zeigen nur gute Filme.
Ach ja?
Wir waren schon Ewigkeiten nicht mehr im Kino.
Kino. – Und nachher liegt Schnee, und die Strassen sind vereist.
Seit wann hast du Angst vor dem Winter?
Hab ich nicht. Trotzdem. Das geht nicht.
Warum nicht?
Sommerreifen.
Was, Sommerreifen?
Sommerreifen. Und dann kommen wir hier nicht mehr hoch.
Du wirst doch nicht, ich meine… Du fährst immer noch mit Sommerreifen? Bist du blöd, vor einem Monat habe ich dir gesagt, du sollst die Reifen wechseln…
Nun schrei hier nicht rum. Letzten Winter gab es nicht einen Tag, an dem wir Winterreifen gebraucht hätten.
Dann nehmen wir den Bus.
Nach dem Kino kannst du fast zwei Stunden warten, in einer Beiz neben dem Bahnhof, Soldaten und Besoffene, Rentner mit ihren Geschichten, die kaum auszuhalten sind, Ausländer …
Du solltest dich einmal hören…
Was sollte ich?
Ja, du solltest dir einmal zuhören müssen, was für einen Stuss du daher schwafelst. Hock dich an einen Stammtisch, im Frohsinn, in der Traube, im Hecht. Vom Wetter zu den Ausländern! Da bist du zumindest in Gesellschaft.
Du weisst genau, dass wir mit Sommerreifen… Das Risiko ist einfach zu gross. Und: Einen ganzen Abend unter Leuten ohne ein Bier, ein Glas Wein, ohne einen Schnaps, das hält man doch gar nicht aus.
Man?
Und dann stehen wir da kurz vor Mitternacht an der Abzweige und haben noch einmal eine halbe Stunde, bis wir zu Hause sind. Ich meine, damit wird das ganze Elend ja geradezu auf die Spitze getrieben. Im Kino friert man, weil es schlecht besucht ist, und sie an Heizung sparen, oder man sitzt neben jemanden, der ohne Schirm durch den Regen gelaufen ist. Und dann immer diese Pause, entweder soll ich ein Eis fressen oder ihren billigen Wein trinken, das hat doch keine Atmosphäre, auf jeden Fall, nachdem sie diesen schrecklichen Neubau gleich nebenan hochgezogen haben. Und immer kennt man jemanden, mit dem man reden sollte. Ich will doch nicht reden müssen, wenn ich nichts zu sagen habe. Übers Wetter? Über den Film? Sicher nicht. Dass sie nichts verstehen, merkt man ja schon an ihren Reaktionen, wo und warum die Leute immer lachen, das möchte ich auch gerne einmal wissen. Ich meine, dieses ländliche Publikum. Die lachen doch immer an den falschen Stellen. Wenn überhaupt. Wo sie nichts verstehen, über Dinge, von denen sie keine Ahnung haben. Dafür umso lauter. Als müsste ihr Lachen Verstärkung einfordern. Es gibt eben keine Filme über Traktoren, Düngemittel und Zuckerrüben. Gibt es nicht. Und die Stadt. Wie, wo oder was? Was ist eine Stadt? Einmal im Jahr Konstanz und einmal Winterthur. Bertheli habe ich gefragt, wann sie das letzte Mal in Zürich war? Zürich? Hat sie gefragt? Was soll ich denn in Zürich? – Haben wir eigentlich noch Schokolade?
Schokolade? Hast du vergessen, dass wir einen Garten haben?
Ich kann doch nicht, immer nur Quitten… Roh gelten sie sowieso für ungeniessbar. – Was ist jetzt? Gehen wir jetzt ins Kino, oder willst du hier versauern?
In ein Auto ohne Winterreifen? Ohne mich, da setz‘ ich mich nicht rein. – Überhaupt hast du das Wasser abgestellt, die Leitungen geleert, sind die Dachfenster zu? Das letzte Mal hat es voll in meine alte Schallplattensammlung geregnet. Ist der Sonnenschirm im Haus, die Gartenstühle? Die neuen Tulpenzwiebeln sind auch noch nicht im Boden. Und hast du nun endlich meinen Löwenzahnstecher gefunden. Ein Glück gibt es dieses Jahr keine Nüsse…
Kino, Sommerreifen, Wintergemüse! Vergiss es. Los komm! Annis Rinder sind wieder einmal durch den Hag in unseren Garten gebrochen.

2 Besuch

Wie schön ihr es hier habt! So ein prächtiger Garten! Und dann diese Aussicht!
Naja, das Restaurant ist öfter geschlossen als offen.
Wie meinst du?
Das Restaurant. Die Aussicht. Sie ist nur an knapp drei Tagen die Woche geöffnet.
Aber ihr ernährt euch doch ohnehin aus dem eigenen Garten? Also wenn ich einen solchen Garten hätte – schau nur, das Werk lobt seinen Schöpfer!
Ist das ein Zitat?
Wie du willst. – Ich habe noch nie so dralle Tomaten gesehen. Und das im November. Ein Wunder.
Ah, die Tomaten. Das war ein Kampf, sag ich dir, zuerst die Rinder, die durch den Zaun brechen, und dann die Braunfäule…
Oh, und diese Feigen! Da nehme ich mir gleich zwei, gell, ich darf mich doch bedienen? Feigen, das ist ja das reinste Paradies hier!
… hat fast alles befallen.
Was seh ich da: Letzte Himbeeren! In dieser Jahreszeit!
Ja. Himbeeren im November.
Das wäre doch ein wunderhübscher Buchtitel? Himbeeren im November. – Hier oben schreibt sich bestimmt ganz herrlich. All die kleinen Plätzchen…
Die gejätet werden müssen.
… die ihr habt. Die hat alle Peter gemacht, ja? Die Trockenmäuerchen, die lauschigen Eckchen, die poetischen Nischen?
Äh, nein, ich werkle da…
Ein Multitalent!
… wacker mit.
Wo man hinblickt, ist Idylle. So, so schön, dass du es so schön hier hast, Michèle, macht mich ganz froh. Du schreibst bestimmt in einem Mordstempo an deinem nächsten Roman, das kann ich gut verstehen, bei dieser Lage, dieser Stimmung, da kommt man unweigerlich in den Flow, das flutscht doch nur so hier, sieh nur, dort drüben das Abendrot, nein, wie schön aber auch, einfach nur schön, sag ich.
Hm, schön schon, ja.
Wann bist du fertig?
Womit? Dem Abräumen im…
Deinem Roman, womit denn sonst?
… Garten?
Garten? Einen Gartenroman! Wie schön, wann feierst du Vernissage, wann kann ich es lesen?
Lesen? Ich weiss nicht.
Wie, du weißt nicht? Wie heisst es denn, das neue Werk?
Hm. Lass mich überlegen.
So schön hier!
Vielleicht nenne ich es….
Gell, ich darf doch noch einmal, die schmecken alle so köstlich!
… Himbeeren im November.

3 Sonntag früh im Bett

Komm, machen wir das Fenster auf.
Hmm?
Hörst du den Regen?
Wmkissen?
Küssen?
Wo ist mein Kissen?
Warte, ich werde dein Kissen sein. So. Liegst du gut?
Hmm.
Hörst du wie er prasselt?
Ichhrnero.
Hm?
Ich höre nur Nero.
Ach der. Lass doch den Stier.
Sinddkatzndrn?
Hm?
Sind die Katzen drin?
Hm, hab sie vorhin gesehen, als ich aufs Klo ging. Alle drei.
Wmstduheute?
Hm?
Was machst du heute?
Heute?
Schreibst du?
Jetzt liege ich erst noch ein bisschen.
Schrbnleben.
Hm?
Wir wollten doch fürs Schreiben leben?
Ja, schon, aber… Hörst du, wie schön der Regen prasselt?
Michèle Minelli, geb. 1968 in Zürich, freischaffende Schriftstellerin, lebt und arbeitet auf dem Iselisberg. Verschiedene Auszeichnungen und Stipendien. Zuletzt erschienen „Die Verlorene“, ein historischer Roman über das Leben der Thurgauerin Frieda Keller, Aufbau Verlag 2015. 2017 erscheint die Publikation „Schreiblexikon, das:“, für das Minelli zusammen mit Peter Höner als Herausgeber zeichnet.
Peter Höner, aus Winterthur, geboren 1947 in Eupen/Belgien, freischaffender Schriftsteller, Schauspieler und Regisseur, lebt und arbeitet auf dem Iselisberg im Kanton Thurgau. 2017 erscheint im Limmat Verlag der fünfte und letzte Kriminalroman Kenia Leaks mit den beiden Ermittlern Mettler und Tetu. Und der Schelmenroman Der seltsame Ausflug des Salvador Patrick Fischer in die analoge Welt.