Michael Fehr «super light», Der gesunde Menschenversand

Michael Fehr ist ein Phänomen. Da sitzt einer gleich neben mir an einem kleinen Tischchen, ein Glas Wasser, ein kleines schwarzes Büchlein und ein Mobilphone mit einer Tastatur auf dem Display. Er stampft und klatscht, gibt den Rhythmus mit Luft, die durch die Lippen schiesst, singt und gibt den Bass, ein einziges vielfältiges Instrument von der Sohle bis zum Scheitel. Mensch gewordenes Lebensgefühl!

Besucht man die Webseite von Michael Fehr, springt einem der Schriftsteller und Dichter nicht gleich entgegen. Auf den ersten Blick könnte er auch ein Musiker sein. Vielleicht ein Saxophonist, einer, der mit seinem rauen Spiel die Szene aufmischt. Vielleicht ist dieser erste Eindruck ja auch gar nicht falsch. Vielleicht ist Michael Fehr einmal Musiker, einmal Dichter, ein Stimm- und Wortmusiker, oder alles in einer Person. Einer, der mit seiner eigenwilligen Kunst schwer einzuordnen ist, es tunlichst vermeidet, einer Schulbade zuzugehören. Michael Fehr ist Schriftsteller, Dichter, Performer, Sänger. Jedes seiner Bücher ist eine Überraschung, so wie man davon ausgehen kann, dass sein im Frühling erscheinendes Buch „Hotel der Zuversicht“ auch zu einem Sprach- und Leseexperiment wird. Vielleicht ist Michael Fehr so etwas wie der Tom Waits der Schweizer Literatur, ein bisschen «lonsome Cowboy».

Michael Fehr «super light», Der gesunde Menschenversand, 2021, 45 Seiten, CHF 15.00, direkt beim Verlag zu beziehen

Das sind für die Charakterisierung eines Künstlers vielleicht ein bisschen viele «Vielleicht“. Wer „super light“ auf der Bühne lauscht, den entführt Michael Fehr in eine ungefähre Zwischenwelt. Ein Vielleicht. Das mag mit der Entstehung seiner Texte zusammenhängen, da sie viel näher am Klang, am Sound, an der Akustik sind, als bei den meisten anderen Wortkünstlern, bei denen die noch stumme Schrift vorausgeht. Das mag an der Konzentration seiner Sprache liegen, an der Verdichtung der Bilder, einer Szenerie der Verknappung. Michael Fehr Erzählminiaturen öffnen Räume, erst recht, wenn er sie selber liest, noch viel mehr, wenn er sie in einen Rhythmus setzt, sein ganzer Körper mitgeht, wenn er singt, wenn er seine Augen schliesst und seine Arme in der Luft seinem Gesang Richtung geben.

Michael Fehr gab an diesem Abend sehr viel von sich, seinen Arbeiten, seinem Ringen um Sprache, seinem Denken und Nachdenken preis. Gedanken, die in seine Texte fliessen, von denen er durchdrungen ist, die durch seine Performance ein Ventil finden. Vielleicht auch, um sich angesichts der vielen Ungerechtigkeiten Luft zu machen.

Das Literaturhaus Thurgau dankt Michael Fehr und im Speziellen der Zeitschrift ERNST für die Zusammenarbeit!

Die Redaktion des Magazins ERNST, einem Schweizer Magazin, das sich sehr ambitioniert mit den verschiedensten Themen auseinandersetzt, nicht zuletzt literarisch, beabsichtigte schon lange eine Nummer zur Literatur, zum Buch. Nun wurde es gar eine Doppelnummer zum Thema „Manuskript“. Angefragt wurden Schreibende, sich zu ihren ganz verschiedenen Arten des Schreibens zu äussern. Darunter Gianna Molinari, Paul Nixon und Michael Fehr. Mehr Informationen zum ERNST.

Michael Fehr, geboren 1982, aufgewachsen in Muri bei Bern. Er studierte am Schweizerischen Literaturinstitut und am Y Institut der Hochschule der Künste Bern. 2014 gewann Fehr mit einem Auszug aus «Simeliberg» den Kelag-Preis und den Preis der Automatischen Literaturkritik in Klagenfurt.

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Beitragsbilder © Marc Doradzillo

Michael Fehr «Und ich dachte, Schreiben, also das ist wirklich die einfachste Kunst von allen…»


«…In einer gewissen Über­heblichkeit hatte ich
nicht allzu viel Respekt vor der Schriftstellerei.
Ich dachte, jeder und jede kann etwas denken und aufschreiben»

Text: Anita Zulauf

Da war mal einer. Ein Kleiner. Schmaler. Sechs Jahre alt, vielleicht. Er sitzt am Schlagzeug. In der Bibliothek einer feudalen, alten Villa, in Muri bei Bern. Es ist ein Sommer in den Achzigern. Die Sonne wirft Strahlen, warm, in diesen Raum, durch zwei Jahrhunderte alte, blind gewordene Fensterscheiben. Staubpartikel tanzen. Er sieht sie nicht. Sitzt an diesem Schlagzeug. Und spielt.

Der Schlagzeuglehrer hat ihn angewiesen, zu üben. Bis er wiederkommt. Wohin er ist? Irgendwohin. Aufs Klo? Nach draussen, rauchen? Der Junge schlägt die Stöcke auf die ­Becken. Bald in einer Art Trance. Den Fuss, rhythmisch auf das Pedal.

Und dann passiert es. 

«Auf einmal war da dieses Gefühl. Ich spürte, da ist was. Etwas, das tief in mir Zuhause ist. In mir angelegt. Etwas, das mich nie mehr loslassen wird.» Und er spielt. Und spielt. Und jetzt kann er nicht mehr aufhören. Und will auch nicht mehr aufhören. Er muss pinkeln, aber dafür ist keine Zeit. Er spürt, wie ihm der Urin die Beine runterläuft, er hört das leise Plätschern, vermutet, dass sich nun alles über das Pedal ergiesst. Er spielt weiter.

33 Jahre später. Michael Fehr. Autor.

«Als der Schlagzeuglehrer zurückkam, war es mir uh peinlich, und er fand es natürlich nicht grad lustig. Mit ­Papiertüchern tupfte er den Urin so gut wies eben ging vom Pedal.» Diese Geschichte erzählt mir Michael Fehr an einem Nachmittag im vergangenen August, an einem der wenigen warmen Sonnensommertage. Wir treffen uns im Seebistro Luz in Luzern. Die Holzterrasse des Restaurants ragt über den See, unter uns plätschern leise leichte Wellen an die Ufermauern.

Michael Fehr lebt in Bern. Er ist stark sehbehindert. Juvenile Makuladegeneration lautete die Diagnose, mit der er 1982 zur Welt kam. Seinen Mund umspielt ein Lächeln, spitzbübisch irgendwie, leicht ironisch, so, als wäre er amüsiert, über all die Wichtigkeiten und die sich zu wichtig Nehmenden. Er trägt einen Anzug, ein Hemd, elegant. Und trotzdem wirkt es irgendwie so, als hätte er sie in jenem Sommer in den Achtzigern in dieser Bibliothek schon getragen. Und sie wären einfach zusammen gross geworden. 

Obwohl fast blind, hält Michael Fehr mehrheitlich Blickkontakt. Kannst du mich sehen? Frage ich. Er versucht zu erklären, ich zu verstehen: «Ich erkenne Schemen, Farben, Ahnungen.» Und dann: «Wenn wir beide vom Sehen sprechen, sprechen wir nicht vom Gleichen. Ich habe ja nie ­gesehen wie du. Insofern kommt auf diese Frage keine Antwort.»

Es ist sein Vater, der ihm beibringt, Augenkontakt zu halten. Von klein auf. «Er sagte, schau hinauf zu den Leuten, wenn sie mit dir reden.» Dieser Vater, der mit derselben Sehbehinderung zur Welt gekommen ist. Wie wiederum dessen ­Mutter. Der Vater, der daher aus Erfahrung weiss, worauf es ankommt, im sozialen Miteinander, was wichtig ist, gesellschaftlich verlangt. «Doch wenn du klein bist und fast nichts siehst, siehst du die Gesichter der Leute erst recht nicht. ­Zudem hat es mich absolut nicht interessiert, was da oben vor sich ging. Doch mein Vater hat darauf bestanden. Darum kann ich den Blick halten, wenn ich will. Das hat einen entscheidenden Vorteil im sozialen Alltag. Obwohl mir selbst das wenig bringt.»

Wie nennt er, Michael Fehr, es, was er hat? Handicap? Beeinträchtigung? «Ich habe eine Behinderung. Ich habe dem immer so gesagt, das war in unserer Familie kein Tabuthema. Es ist genau das, was es macht: es behindert mich.» Nur mit der Änderung des Sprachgebrauchs und dessen Repetition verändert sich nichts, sagt er. «Dieses Bemühen um politische Korrektheit ist Stumpfsinn, wahnsinnig intellektuell und das Privileg der Reichen. Das langweilt mich total. Du darfst also gerne Behinderung sagen.»

Aufgewachsen ist er in Gümligen bei Bern, ein Dorf, damals. In einer Blockwohnung, ohne Geschwister. «Meine Eltern hatten wenig Geld. Mir wäre das aber nie aufgefallen, mir hat nichts gefehlt.» Als kleines Kind fürchtet er sich vor den anderen Kindern, die unberechenbar, rabiat, wild und schnell sind. «Meine Eltern stellten mich regelmässig raus. Freiwillig wäre ich nicht gegangen. Sie sagten, das musst du jetzt aushalten, wir kommen in fünf Minuten. Ich weiss, dass das auch für sie nicht einfach war.» 

Die Teenagerzeiten waren dunkler

Jodler, Schlager, Marschmusik, das mag er, als Kind. Und da ist der Wunsch, Schlagzeugspielen zu lernen. Er trommelt auf Blech und Büchertürme. Die Eltern mieten ein Schlagzeug. Da ist er, wie gesagt, etwa sechs. Sie organisieren einen Übungsraum, im Luftschutzkeller, gleich neben dem Wohnhaus. Dort fürchtet er sich zwar, in diesem Keller, fürchtet sich vor Gespenstern. Darum singt er, laut, trommelt, um sie zu vertreiben. 

Das Singen und Trommeln im Luftschutzkeller. Zusammen mit den unzähligen Geschichten, die er als Kind der Achziger ab «Kassettli» in Endlosschlaufe hört. Geschichten, vollgepackt mit Abenteuern, die ihm nur gefallen, wenn sie dunkler sind als dunkel, heller als hell, in denen es kracht und alles explodiert. Und am Ende trotzdem alles gut kommt. Dies alles sammelt sich, schlummert in ihm, gärt, wächst, kumuliert. Bis es sich Jahre später allmählich ineinanderzufügen beginnt.

Trotz Sehbehinderung wollte er unbedingt in die Regelschule, und «meine Eltern unterstützen mich darin total». Damals, in den Achzigern, in denen noch wenig über Integration und Inklusion gesprochen wurde, war das eher neu. «Da gab es Lehrer, die mich total unterstützten und solche, die mich absichtlich schlecht behandelten.» Unter den Kindern war er immer akzeptiert. «Ich kam mit den meisten gut aus, ich konnte gut zeichnen, trommeln, ich hatte das Gefühl, ­gehört zu werden, die meisten waren gern mit mir.» Die Teenagerzeiten waren dunkler, «aber schon da war das Gefühl, da ist jemand in mir, der etwas will.» 

Hintertür zurück in die Kunst

Beim Wirtschafts- und Jura-Studium an der Uni in Bern greift seine bislang angewendete Methode, zuhören und auswendig lernen, nicht mehr. Nach vier Studienjahren gibt er überfordert auf. Es ist der Berufsberater der Uni, der ihn schliesslich auf das damals neue Literaturinstitut in Biel aufmerksam gemacht hat. «Da war ein Hintertürchen zurück in die Kunst, nachdem ich das Schlagzeugspielen mit zwanzig in einer grossen Frustration aufgegeben hatte, weil ich fand, ich sei zu schlecht, oder jedenfalls ungenügend. Und dann dachte ich, schreiben, also das ist wirklich die einfachste Kunst von allen. In einer gewissen Überheblichkeit hatte ich nicht allzu viel Respekt vor der Schriftstellerei. Ich dachte, jeder und jede kann etwas denken und aufschreiben.» Allerdings ist es dann gerade dieser fehlende Respekt, der es ihm ermöglicht, wieder frei und hemmungslos die Kunst in Angriff zu nehmen. Wie damals, am Schlagzeug, als Kind. «Ich dachte, jeder kann wie er will. Inklusive ich. Und das hab ich auch so praktiziert.» Womit er natürlich auch angeeckt ist. Weil ganz so einfach ist es dann halt doch nicht.

«Aber was ich bekommen habe, war Raum, frei arbeiten zu können und das Vertrauen der Leute, dass ich schon weiss, was ich tue.» Und ja, er war ein Arbeiter, hat es sehr ernst genommen. Es gab immer wieder einzelne Leute, die ihn dort unterstützt haben, indem sie sagten, lasst ihn machen. Der rennt jetzt dreihundertmal gegen die Wand, bis er es selbst rausfindet. «Eine Zeit lang bin ich nicht müde geworden, zu stänkern und zu provozieren.» Dass sie das ausgehalten haben, ihn toleriert, dafür ist er ihnen im Nachhinein dankbar. Sie hätten mich auch rausschmeissen können. Das haben sie nicht getan.» Und ja, da waren noch ein paar wenige, «wahnsinnig gescheite Leute», die er in Biel und später an der Hochschule der Künste in Bern kennen gelernt hat. «Wenn mir einleuchtet, dass es bei jemandem etwas zu lernen gibt, bin ich der Erste, der eifrig ist.»

«Ich will nicht eingeordnet werden»

Seit dem Erscheinen seines ersten Buches «Kurz vor der Erlösung» im Jahr 2013 wollen ihn Kulturkritiker einordnen, was er tut, dieser Fehr, der in so gar kein Genre passen will. Sie nennen es rhythmische Prosa. Oder Spoken Word. «Ich will nicht eingeordnet werden, ich will meine eigene Kunst machen. Zum Einen mache ich Songs, zum Anderen Geschichten. Die Geschichten sind etwas länger, die Songs kürzer. So einfach ist das.» 

Am Anfang versucht er, sich anzulehnen, sucht Schriftsteller, die er für grossartig hielt, versuchte, sie auf eine gewisse Art zu imitieren. «Aber sehr bald bin ich meinem eigenen Regelwerk verfallen, dem kompositorischen Verfahren verbunden mit dem Klingenden, mit Sound.» Jedes Wort musste er mindestens einmal wiederholen, dann entweder noch ein zweites Mal oder ein zweites Mal in einer Variation. Auf Silben-, Wort- und Phrasenebene, in bestimmten Rhythmen und Klang. «Dieses Verfahren habe ich erfunden und gesagt, so muss es sein. Und wenn man das schafft, und gleichzeitig auch noch, eine Narration darzubieten, dann ist man wirklich gut.» Er findet diese Technik immer noch äusserst interessant. «Aber heute, würde ich sagen, werde ich immer einfacher, unintellektueller und, wie ich finde, beseelter. Die Storys, die sind aber – und das ist geblieben – sehr absurd. Die gehen sehr weit in den logischen Zusammenhängen. Sind sehr strapaziös. Da darf man ruhig verblüfft sein. Oder sogar entgeistert.» 

Seine Texte zeichnet er mit einem Handy-Tonaufnahmeprogramm auf. «Ich bin nicht der pragmatische Schriftsteller, ich bin ein Kopfschreiber», sagt er. Es gehe ums Fassen von Gedanken, ein absolut innerlicher Prozess, tief hinein in jede einzelne Formulierung. «Wenn ich mit den Audio-Aufnahmen beginne, habe ich die Texte im Kopf, oder heute würde ich sogar sagen, in der Seele. Ich weiss ganz klar, was herauskommen wird. Ausgenommen das Abenteuer, wenn mir während des Sprechens auf einmal ganze Fragmente fehlen, ausgeschnitten, aus dem Sinn, und du weisst in dem Moment, die kommen nicht zurück. In diesem Moment passiert das Abenteuer, und du machst einen Ausflug, der nicht vorgesehen war. Das ist absolut spannend. Aber bis auf diese Hindernisse oder Abenteuer, die sowieso passieren, bin ich total vorbereitet.» So entstehen Audios, Bühnenprogramme, Texte werden transkribiert und als Bücher herausgegeben.

Ein Gefühl von Wind, vielleicht

Auf der Bühne wird er wieder zu diesem Jungen im Luftschutzkeller. Er spielt Schlagzeug, schreit, singt laut, leise, die Stimme überraschend rau, rauchig, der Nachklang, ein Hauch, eine Ahnung, nach Abenteuer, Schurkenschaft, ­Halunken auf Raubzug. Worte explodieren. «Wenn nichts herrscht ausser Puls, stampfen, klatschen, singen, dann bin ich zufrieden, das gibt mir unendliche Geborgenheit.» Mit Musikerkollege Rico Baumann steht er aktuell mit dem Programm «super light» auf der Bühne. «Ich spiele für Menschen, die Freude haben an Irritation und Verblüffendem. Vielleicht sind sie auch mal entsetzt. Sie fragen sich, was ist das genau? Was will er sagen mit dem? Das gefällt mir. Es gefällt mir, wenn die Menschen danach nach Hause gehen, mit dem Gefühl, dass eine Türe aufgegangen ist, also nicht, dass sie mit einer Befriedigung heimgehen, sondern mit ­einem Gefühl von Wind, vielleicht. Mit Überraschung, Inspiration vielleicht.» 

 «Auftreten», sagt er, «ist ein wesentlicher Teil von mir. Der Moment des Entfaltens, der Präsenz, dieses Sendebewusstsein, mag ich sehr. Das musste ich lernen, übers ­Machen, im Sinn von Mut. Es ist eine Art Blossstellung, ein Gefühl, das wir erst mal gelernt haben, zu verhindern. Man könnte scheitern, gesellschaftlich in Ungnade fallen, man wird angreifbar. Doch man kann lernen, es zu geniessen, diese Radikalität, sich blossstellen, nackt fühlen, für einen Moment, oder einen Abend. Und wenn ich dann der bin, der schon lange ausgezogen dasteht, im Gefühl von Nacktheit, haben nur die anderen was zu verlieren. Weil hinter dieser Blossstellung, hinter der Scham, ist die totale Befreiung.»

«Ich arbeite an meinem Durchbruch»

«Mit ‹Kurz vor der Erlösung› ist es richtig losgegangen. Obwohl dieses Buch zunächst niemand gelesen hat ausser jene aus dem Betrieb, diejenigen, die mir die Preise gegeben haben. Damit wurde ein Interesse geboren, das man andernfalls vielleicht nicht hätte forcieren können, weil ich zu ungewöhnlich und schräg in der Landschaft stehe.» Zwei Jahre später gewann er mit «Simeliberg» unter anderem den Literaturpreis des Kantons Bern, den Kelag-, und den Preis der automatischen Literaturkritik im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Preises. Auf einmal wollten ihn alle. Zeitungen, Fernsehen, Radio. Anfangs ist es schön, dieses Erfolgsgefühl. «Man will mehr davon, mehr, und noch mehr. Und das passiert auch, eine gewisse Zeit lang. Dann geht es wieder zurück, genauso wie es gekommen ist. Und du merkst, das sind Wellen, du bist so schnell weg, wie du da warst. Aber ich muss sagen, ich akzeptiere bis heute nicht, dass ich nur so eine Welle bin. Ich arbeite bis heute an meinem Durchbruch.» Allerdings, sagt er, ist er nicht bereit, dafür Kompromisse in seiner Kunst zu machen. «Auf diesem Weg zu bleiben, das ist das Schöne daran. Es ist das Gefühl, das dich vor dem Fall bewahrt.»

Er schreibt nicht, weil er das unbedingt will. Er tut es, weil er muss. «So simpel das tönt, ich habe einen Auftrag in meinem Leben. Ich muss den Blues wiederbeleben, den ein paar Menschen Anfang des 20. Jahrhunderts gespielt haben. Willie Johnson, Gary Davis, Lemon Jefferson, alle sehr mangelhaft sehende oder blinde Musiker, mit denen ich mich sehr stark identifiziere.» Er erzählt, von dem Bedürfnis, diese ungestüme und radikale, im Moment präsente Narration von etwas, das ihn jetzt gerade scharf betrifft, wiederzubeleben. Etwas, das hundert Jahre lang verloren gegangen ist. «Ich bin hier, in dieser Zeit, um das wiederzubeleben. Das ist mein Auftrag. Auf Teufel komm raus. Den verspüre ich des Nachts sehr intensiv. Dieses Ding muss ich stemmen.» Optimistisch gedacht habe er dafür hundert Jahre Zeit. «Das ist einfach wahnsinnig kurz. Weil zuerst musst du aufwachsen, dann muss dir alles bewusst werden. Dann musst du deine Ahnen, dein geistiges Kontinuum wieder finden. Herausfinden, wo sie sind, diese anderen. Vielleicht bin ich schon mal gestorben und jetzt dafür wieder geboren. Wie gesagt, es gibt viel zu tun. Also muss ich mich konzentrieren.»

Darum kann und will er sich nicht aufhalten lassen, schon gar nicht von Kritiken und Kritikern. «Natürlich bin ich total geschmeichelt, wenn mir jemand Komplimente macht. Natürlich bin ich verärgert, wenn mich jemand ­kritisiert. Manchmal auch betroffen. Aber ich habe einfach keine Zeit, mich länger damit zu befassen, insofern bin ich nicht kontemporär businesstauglich. Ich weiss auch nicht, ob ich mich selbst lesen würde. Ich bin natürlich ultrakritisch, finde eigentlich alles schlecht, was ich gemacht habe.» Zwar war es zu diesem Zeitpunkt das Richtige, sagt er. Aber nicht gut genug. «Das Bedürfnis nach dem finalen Werk ist da. Aber bis jetzt habe ich es noch nicht erreicht.»

Was hat dir deine Behinderung genommen? «Den Zugriff auf die Welt. Ich stelle es mir wahnsinnig schön vor, vom Tisch aus der Kellnerin zuzurufen, welches Sandwich von der Auslage ich gerne hätte. Ein schneller Blick auf die Bahnhofuhr, oder kurz mit dem «Charre» irgendwo hinfahren, auf der Autobahnraststätte Essen holen, das hat für mich etwas wahnsinnig Romantisches. Dieses Zugreifende, ich nehme mir was ich will, und ich nehme es vor allem, bevor du es nehmen kannst. In meiner Vorstellung wäre ich zweimal so breit geworden, wie ich bin, dann wäre ich so ein Typ, der mit dem Segelboot in die See und in die Welt sticht, loszieht, ich würde alles kurz und klein schlagen, alles wäre ganz gefährlich, es gibt fast keinen Ausweg, aber am Schluss gewinnen die Guten und alles ist genau richtig. Dann kommt man vielleicht wieder nach Hause und vielleicht nie mehr.»

Hat sie dir auch was gegeben, deine Behinderung? «Sound! Ich höre überall Artikulationen, höre, was alles kreucht und fleucht, Alltagssound, Musik, ich habe ein ­intensives Gefühl von Sound und Rhythmus. Wenn man da immer unterbrochen würde von allem, was man auch noch sieht, wäre es wahrscheinlich nicht so intensiv… aber vielleicht ist das auch ein romantischer Gedanke. Ich weiss ja nicht, wie’s wäre.»

Michael Fehr, geboren 1982, ist ein Schweizer Schriftsteller aus Bern. Fehr studierte am Schweizerischen Literaturinstitut und an der Hochschule der Künste Bern. Er erhielt unter anderem den Literaturpreis des Kantons Bern und für seinen Roman Simeliberg den Kelag-Preis im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Preises.

ERNST-Magazin

Webseite Michael Fehr

Literaturhaus Thurgau: Das Programm Januar – Mai 2022 steht!

Mit grosser Vorfreude präsentiere ich das neue Programm von Januar bis Mai 2022 im Literaturhaus Thurgau. Klar bleibt ein Vorbehalt, die leise Angst, dass uns wie im ersten Quartal 2021 ein Strich durch die Rechnung gemacht werden könnte. Aber wäre die Zuversicht nicht da, dann würden sich all die ProgrammmacherInnen nicht die Mühe machen, der Kultur einen Bühne zu bieten.

Das neue Programm bietet viel: Prosa und Lyrik, Musik und Installation, Ausstellung und Diskurs! Bleiben Sie uns auch in schwierigen Zeiten treu, treu dem schmucken Haus am Seerhein aber auch all den Kunstschaffenden, denen Orte wie das Literaturhaus Thurgau Lebensader ist!

Sämtliche Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Aufgebrochen! Das 17. Lyrikfestival Basel

Für jede Kunst ein Haus? Bildende Kunst in Museen und Galerien, Musik in Konzerthäusern und Clubs, Theater und Tanz auf Bühnen und Plätzen, Film in Kinos und zuhause, Literatur im Literaturhaus, im kleinen Lesekreis oder für sich, ganz allein. Was ganz zaghaft aufzubrechen beginnt, was viele Kunstschaffende längst auf ihre Fahnen geschrieben haben, die Sparten aufzubrechen und miteinander zu verbinden und zu verweben, manifestiert sich in aller Deutlichkeit am Lyrikfestival Basel.

Ulrike Almut Sandig in der Late Night Varieté im Sommercasino Basel, © Samuel Bramley

Ulrike Almut Sandig, vielfach preisgekrönte Lyrikerin und Erzählerin, schon oft zusammen mit MusikerInnen aufgetreten, vertonte ihre Gedichte, ihre Texte zusammen mit der jungen Pamela Méndez, einer jungen, freischaffenden Songwriterin aus dem aargauischen Brugg, die bald ihr drittes Album veröffentlichen wird. Zusammen mit anderen Paarungen traten die beiden am Freitag spät im Sommercasino Basel auf, nachdem sie sich einen Nachmittag zusammen für diesen einen Auftritt vorbereitet hatten. So entstand ein vielschichtiges Klangkunstwerk, eine Performance aus Sound, Text, Stimme, Rhythmus und Gestus, öffnete sich ein weites Feld, dass den Text aus seiner Hülle riss, die Musik den Text dem Boden enthob und in neue Sphären katapultierte. Erfindungsreich und wagemutig, genauso wie politisch und gesellschaftskritisch. Ulrike Almut Sandig relativiert sowohl formal, inhaltlich und performativ die Grenzen traditioneller Lyrik.
Sie fügt sprachliche Netze zusammen, wirft sie aus, nicht um LeserInnen zu gewinnen, sondern in der Hoffnung, dass diese etwas von dem wiedererkennen, was an Verlinkungen in ihren Büchern ausgelegt ist, geheimnisvoll, zahlen- und symbolverliebt. Dichtung sei wohl die mutigste aller Kunstformen, meinte die Autorin, denn keine andere Kunstgattung strecke die Arme so weit auf, um andere Genres einzuladen und mitzunehmen.

Michael Fehr und Manuel Toller mit ihrem Programm «Im Schwarm», © Samuel Bramley

Ebenso beeindruckend der Auftritt von Michael Fehr und Manuel Toller, die das Literaturhaus Basel zu einem musikalischen Tollhaus werden liessen. Als hätte Michael Fehr seine Geschichten, Bilder und Texte wie wilde Hunde losgelassen, als hätten die beiden den kratzenden, wütenden Sound eines Tom Waits ins Land hineingelassen, um ihn in helvetischem Grove an den Steilhängen der vaterländischen Widrigkeiten hinaufzupeitschen. Die beiden waren ein wahrhaft hinreissendes Ereignis, so gar nicht das, was man sonst in einem Lyrikfestival vermuten würde.

Preisträgerin des diesjährigen Basler Lyrikpreises 2020 ist die junge Dichterin Eva Maria Leuenberger mit ihrem Debütband «dekarnation», herausgegeben bei Droschl. Alisha Stöcklin und Rudolf Bussmann, beides Mitglieder der Lyrikgruppe Basel, die Festival und Preisvergabe organisiert, priesen in ihrer gemeinsamen Laudatio einen Erstling, der nichts mit Anfängerglück gemein hat, lobten einen sprachlich raffinierten Naturlyrikzyklus über «tal – moor – schlucht – tal», der ebenso viel Reife wie unmittelbare Nähe zu Sprache und Motiv zeigt. Dekarnation als Form der Inkarnation. Dekarnation nicht als das Ende, den blossen Zerfall, sondern den Anfang von etwas Neuem, nicht Schluss, sondern Beginn, losgelöst von der Zeit, nicht eingegrenzt in ein Dasein, ein Leben, sondern kleiner Abschnitt eines Ganzen, eines Kreislaufes. Lyrik, die trotz der Erdigkeit durch Leichtigkeit überzeugt, das scheinbar Dunkle erhellt.

Eva Maria Leuenberger liest aus ihrem preisgekrönten Band «dekarnation». © Samuel Bramley

hier ist ein tal
in vorhergesehener form
mit berg und bach und grüner wiese
am rande des baches
am ende der ersten äderung
wächst moos über die steine
zieht flaumig über die ränder hinweg
in diesem tal
lebt niemand mehr und niemand
kennt den weg:
ich wache auf
am rande des baches
und höre das wasser
der mund spricht ein wort
und ordnet es in die hügel ein

am bachufer, die decke aus moos
ich spüre den boden
wie er nachgibt unter mir
der bach, lang und laut,
beachtet mich nicht

hinter dem wasser
die anfänge von licht
splitternd, gehüllt ineinander
wie arme, schlingend
auf der haut perlt das wasser
in tropfen, licht /
darin der himmel ein boden

auf der anderen seite
des wassers
sitzt ein vogel, gefiedert,
blau mit gelb darum
und knickt den kopf:
es ist still
wir sind allein

(Ausschnitt aus „dekarnation“ von Eva Maria Leuenberger, © Droschl, 2019, mit freundlicher Genehmigung des Verlags)

Schlusspunkt in einem äusserst vielfältigen und abwechslungsreichen Programm war die Lyrikerin und Musikerin Lydia Daher, die zusammen mit dem Musiker Hannes Buder erst recht die Grenzen zwischen Musik und Literatur, zwischen Lyrik und Lyrics verwischen will. Sie arbeitet an Schnittstellen, tummelt sich an Genregrenzen, bildende Kunst mit eingeschlossen. Angesprochen, ob den Musik nicht einfach nur untermale oder begleite, meinte Hannes Buder: «Im besten Falle höre ich gut zu.» So wie der Illustrator seine Arbeit längst nicht mehr nur als Bebilderung versteht, will Hannes Buder weder Textmusik noch Hintergrund. Text und Musik als ebenbürtige MitspielerInnen, Fragende und Antwortende.

Ein gelungenes Festivalspektakel trotz des grossen Abwesenden Lutz Seiler! Ein grosses Kompliment an den unermüdlichen Eifer der organisierenden Lyrikgruppe Basel unter ihrer Präsidentin Simone Lappert.

Alle Fotos © Samuel Bramley, Lyrikfestival Basel (Beitragsbild Pamela Méndez und Ulrike Almut Sandig)