Karla wird an Krebs sterben. Und Fred, ehrenamtlicher Sterbebegleiter, ist wild entschlossen, wenigstens damit seinem Leben einen Sinn zu geben. Freds Sohn Phil kommt ganz gut ohne ihn zurecht. Und vom weiblichen Geschlecht sonst ist kaum mehr etwas für Fred zu erhoffen.
«Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster» erzählt von einem ungleichseitigen Dreieck um die todkranke Karla. Karla hat Krebs und vielleicht noch ein paar Monate zu leben. Karla möchte ihre Ruhe haben. Was unbedingt sein muss, akzeptiert sie. Aber als sich dieser Mann nach telefonischer Voranmeldung an ihrer Wohnungstür in ihre Ruhe klingelt, wird diese Sehnsucht nach Ruhe gestört. Der Unruhestifter lässt sich auch durch absichtliche Unfreundlichkeiten nicht abschütteln, erst recht nicht. Der Mann an der Tür ist Fred. Fred ist ehrenamtlicher Sterbebegleiter und nimmt seine Aufgabe ernst. Er weiss, dass Vertrauen gewonnen werden muss. Fred hat mit dem Leben noch einige Rechnungen offen. Seine Ehe ist gescheitert, seine Ex in die Esoterik abgedriftet. Er als alleinerziehender Vater schmerzhaft weit weg von seinem Sohn entfernt. Auch im Büro reisst ihn nichts mehr aus seinem Trott. Jeden zweiten Mittwoch trifft sich Fred mit andern Berufenen zum Supervisionstreffen der Ehrenamtlichen im Hospiz. Dort holt er Anlauf und später Beistand für seine erste Mission. Eine Aufgabe, die auch durch Einfühungskurse und Handbücher nicht einfacher wird; Sterbebegleitung. Phil ist Freds dreizehnjähriger Sohn. Auch er einer, der sich in seiner Ruhe durch den Vater gestört fühlt. Phil schreibt lieber Gedichte, die er auf Internetforen veröffentlicht, als auf Plätzen einem Ball hinterherzurennen. Phil versteht seinen Vater kaum. Ein Vater, der ein Verlierer zu sein scheint. Einer, der sich als ehrenamtlicher Sterbebegleiter in eine Mission verrennt. Und Gudrun? Gudrun, pensioniert, lebt allein und ist als Karlas Schwester, der einzig übrig gebliebene Rest einer Familie, von der die todkranke Karla nichts, gar nichts mehr wissen will. Bis Fred alle aus ihrer Ruhe reisst.
Susann Pásztor, neben ihrer Berufung als Autorin und Übersetzerin selbst ehrenamtliche Sterbebegleiterin, gelingt es mit ihrem zugleich heiteren wie ernsten Roman ein Tor zu einem Thema zu öffnen, das nicht nur in der Literatur wenig Aufmerksamkeit findet. Zum einen erzählt Susann Pásztor vom Sterben einer Frau, der das langsame Sterben selbst schon vor dem Tod alles zu nehmen droht. Zum anderen von der durchaus ehrenvollen Aufgabe der Sterbebegleitung. Eine Aufgabe, die so ganz anders ist als alles, was wir uns sonst auferlegen. Wie soll man sich Sterbenden nähern, ohne das aus Ehrenhaftigkeit Aufdringlichkeit wird? Was tun, wenn die Signale einer Sterbebegleitung nicht ankommen, nicht so ankommen, wie sie gedacht waren? Wenn aus Übereifer Verletzungen entstehen? Wenn aus Beistand Notstand wird? Susann Pásztor beschreibt mit einem besonderen Gefühl für Feinheiten das Spannungsnetz einer solchen Extremsituation. Susann Pásztor lässt das Geschehen subtil entgleisen. Phil, Freds Sohn, soll für Karla in ihrer Küche all die Negative aus einer «Grateful-Dead-Vergangenheit» einscannen. Dabei gewinnt er unweigerlich jene Nähe, die sein Vater auch mit der Brechstange nicht zu erwirken vermag. Übermotiviert und euphorisiert nimmt Fred heimlich Kontakt zur einzigen Verwandten Karlas, zu Gudrun auf. Die Zusammenführung soll zur Weihnachtsüberraschung werden. Eine, die ihm gelingt, wenn auch gar nicht so, wie er sich das ausgemalt hatte.
Susann Pásztor erzählt kapitelweise aus der Sicht der vier Protagonisten, macht mich zum Verbündeten, zum Hoffenden, zum Zweifelnden. Zudem würzt die Autorin mit Nebenschauplätzen, die nicht verzetteln, sondern das Kerngeschehen in ein anderes Licht setzen. So wie Phils Wörterkrankenhaus für Wörter, die unheilbar erkrankt sind oder endgültig aus dem Verkehr gezogen werden müssten. Obwohl erst dreizehn entwicklt Phil ein Sensorium, das ihn dort hören lässt, wo andere überhören. Oder das durch Freds Übereifer gestörte Leben von Karlas einziger Schwester Gudrun, die eigentlich eine Kreuzfahrt geniessen will. Sie wird zur Kreuzfahrerin in eine Vergangenheit, die zugeschüttet ist. Oder Karlas Leben selbst, das nur andeutungsweise erzählt wird. Aber an den kursiv gesetzten Listen, die den Kapiteln dazwischengestellt sind, bleibe ich hängen. Sie lassen mich spekulieren, tragen mich weiter.
Und nicht zuletzt ist «Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster» ein Roman über das Sterben. Soll man sich ergeben oder trotz Krankheit gestalten? Wann wird Hilfe und Beistand zur Belastung? Wo und wann wird angebotene Hilfe zum Selbstzweck? Muss man Ordnung machen? Susann Pásztors Roman lebt von den Erfahrungen der Autorin, von den Tiefen und Untiefen jenes letzten Lebensabschnitts.
Ein Interview
Vor der Lektüre Ihres Romans wusste ich nicht einmal, dass es ehrenamtliche Sterbebegleitung gibt. So wie Sie Sterbebegleitung beschreiben, kann der Eindruck entstehen, manche dieser Ehrenamtlichen seien ziemlich überfordert, könnten viel mehr zur Belastung einer eh schon schwierigen Zeit werden, als Entlastung.
Wenn ich ein Sachbuch geschrieben hätte, könnte ich Ihre Bedenken verstehen. Aber es ist ein Roman! Und mal abgesehen davon: Ich denke, dass jede Aufgabe, jede Interaktion mit sterbenden Menschen Momente der Überforderung bereithält, ebenso wie Momente des Glücks, der Hilflosigkeit, der Intimität. Der überwiegende Teil der Sterbebegleiter kann damit umgehen; die wenigen, die das nicht gut aushalten, hören bald wieder auf. Hier in Berlin gibt es viele, bei denen niemand am Bett säße, wenn es die Ehrenamtlichen nicht gäbe. Selbst wenn sie Fehler machen, sind sie alles andere als eine zusätzliche Belastung.
Fred sucht sich eine Aufgabe, eine schwierige Aufgabe. Eine Aufgabe, die mit dem Tod endet. Darf Sterbebegleitung zum Selbstzweck werden? Man sucht sich eine Aufgabe, um sich selbst zu helfen. Fred ist geschieden, überfordert im Zusammenleben mit seinem Sohn Phil, wenig ausgefüllt von seiner Arbeit, ziemlich isoliert.
Das ist etwas, das ich nie verstanden habe: Warum soll man keine Aufgabe übernehmen, mit der man auch sich selbst helfen kann? Jeder Mensch, der Arzt oder Feuerwehrmann oder Therapeut wird, bringt irgendetwas aus seiner Biografie mit, das man auch gegen ihn verwenden könnte. Ich finde nicht, dass es bei so einer Wahl richtige oder falsche, ehrenwerte oder schlechte Motive gibt. Entscheidend ist, wie offen man ist, wie neugierig und wie bereit, sich zu hinterfragen und dazuzulernen und an seiner Aufgabe zu wachsen.
Freds zwölfjähriger Sohn Phil ist ein besonderer Junge. Einer von der stillen Sorte. Einer der Gedichte schreibt und kranke Wörter sammelt. Nicht Fred sein Vater gewinnt Nähe zur sterbenden Karla, sondern sein Sohn Phil. Unspektakulär durch eine Arbeit in Karlas Küche. Braucht es Sterbebegleitung? Braucht es nicht viel mehr soziale Formen, in denen Sterben nicht zum Ausnahmezustand wird? Liegt nicht der Schlüssel zu solchen Menschen in Phils Art, dem Leben und Sterben zu begegnen; ganz fein, ganz still, ganz «nebenbei“?
Oh ja, solche sozialen Modelle sind schön und wünschenswert. Es gibt sie nur nicht, und wenn wir sie haben wollen, müssen wir irgendwo anfangen. Einer der Wege dorthin ist, dass die Hospizarbeit – und damit auch die Möglichkeit einer Sterbebegleitung – mehr und mehr ins Bewusstsein der Menschen dringt und immer selbstverständlicher zum Leben dazugehört. Viele, so wie Sie, wissen gar nicht, dass es so etwas gibt. Andere organisieren Protestdemos, wenn sie erfahren, dass in ihrer Nachbarschaft ein Hospiz gebaut werden soll. Wir müssen noch so viel lernen. Von daher: Ja, es braucht Sterbebegleitung, und zwar dringend.
Sterbebegleiter Fred will in seinem Übereifer die sterbende Karla mit ihrer einzigen Schwester zusammenbringen. Er will eine Versöhnung provozieren. Sie selbst sind auch Sterbebegleiterin. Braucht es Versöhnung vor dem Tod? Sind wir nicht einfach zu harmoniesüchtig, selbst wenn es um die letzte Strecke vor dem Tod geht?
Ich halte das mit der Versöhnung am Sterbebett für einen romantischen Mythos, der von verzweifelten Hinterbliebenen erfunden wurde. Oder von Schriftstellern. Das Wichtigste ist, glaube ich, mit sich selbst ins Reine zu kommen und seinen inneren Frieden zu finden. Falls das eine Versöhnung erfordert: Man kann auch innerlich um Verzeihung bitten oder verzeihen, dazu braucht es die große dramatische Geste nicht. Das gilt übrigens auch für die Hinterbliebenen.
Ich bin sicher, dass es gute Romane braucht, die Themen ins Gespräch bringen, über die man sonst nicht spricht. Ich bin sicher, dass Ihr Roman genau dies tut. Ich lese und diskutiere mit in zwei Lesekreisen. Ihr Buch scheint mir wie geschaffen dafür? Trotzdem würde ich mich nicht wundern, wenn gerade ältere Menschen bei diesem Thema » blocken». Will man sich wirklich mit dem Sterben beschäftigen?
Ich weiß es nicht. Ich kenne ja auch nicht das Durchschnittsalter der Leser dieses Buchs. Zu den Lesungen kommen jedenfalls erstaunlich viele ältere Menschen. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass es in allen Altersgruppen etwa gleich viele „Blocker“ gibt. Junge und Mittlere blocken, weil sie Angst vor dem Verlust ihrer Eltern und Großeltern haben, Alte blocken, weil sie wissen, dass sie selbst bald dran sind.
Ich danke Susann Pásztor für das kleine Mail-Interview.
Susann Pásztor, 1957 in Soltau geboren, lebt als freie Autorin und Übersetzerin in Berlin. Ihr Debütroman »Ein fabelhafter Lügner« erschien 2010 und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. 2013 folgte der Roman »Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts«. Sie hat die Ausbildung zur Sterbebegleiterin abgeschlossen und ist seit mehreren Jahren ehrenamtlich tätig.
Titelfoto: Sandra Kottonau