Madame Nielsen «Ein endloser Sommer», Kiepenheuer & Witsch

Genauso schillernd und schwer fassbar wie das Buch ist die Autorin selbst. Eine Frau, die mit «Ein endloser Sommer» ein grosses literarisches Kunstwerk schuf, eine Frau, die selbst Kunstwerk ist, sich in ihrem Leben nicht nur einmal selbst erfand. Ein grosses Buch, weil die Sprache oszilliert, Sätze über ganze Seiten mäandern und mich der Roman in verschiedenster Hinsicht über die Massen in Bann zieht.

Ein endloser Sommer, irgendwo in Jütland, auf einem dem Verfall preisgegebenen Gutshof. Dort beginnt das Buch und zieht seine Fäden in all die folgenden Jahre wie ein Pilz, der sich ausbreitet. Autobiographisch ist der Roman mit Sicherheit, weil sich schon in jenem Sommer weit in der Ferne im Leben eines Mädchens abzeichnete, was die Autorin heute ausmacht. Damals eine Familie, die unter dem Terror eines cholerischen Vaters leidet. Eine Mutter, die nicht einmal die Liebe ihrer Kinder richtig zu erwidern versteht und ihre Zeit viel lieber auf dem Rücken eines Pferdes verbringt. Ein Mädchen und ihre beiden Brüder, sich selbst überlassen. Ein endloser Sommer beginnt, ein Sommer, der alles möglich macht, mit dem alles möglich ist.

Madame Nielsen ist eine Kunstfigur, die sich schon als Mädchen aus ihrem angeborenen Leben zu schälen begann. «Ein endloser Sommer» ist ein Sprachgemälde der grossen Gesten, ein Blick durch Zeiten in eine Vergangenheit, die an Intensität und Dichte derart kräftig leuchtet, dass es mir beim Lesen manchmal den Atem nimmt. Man schnappt nach Luft, fasziniert und verunsichert zugleich.

Madame Nielsen war als Claus Beck-Nielsen in den Neuzigerjahren Mitglied der Performance-Gruppe «The Wooster Group» um den Schauspieler Willem Defoe. 1999 veröffentlichte Claus Beck-Nielsen seinen ersten Roman und im Jahr darauf begann das, was mit der Figur Madame Nielsen 2013 sein «vorläufiges» Ende gefunden hat. Claus Beck-Nielsen löscht einen Teil seines Namens und will damit auch Erinnerungen löschen, lebt ohne Pass, ohne Geld und «ohne Gedächtnis» auf der Strasse am Bahnhof Kopenhagen. 2001 erklärt er Claus Beck-Nielsen für tot und reist mit Anzug und Krawatte als Klaus Nielsen nach Kuwait, in den Iran, den Irak und nach Afghanistan als Mitglied eines «nomadischen Parlaments». 2013 veröffentlicht sie unter dem Namen Madame Nielsen, elegant als Frau gekleidet, stets beängstigend dünn, ihren ersten Roman.

Was «Der endlose Sommer» ausmacht ist nicht so sehr die Geschichte, als vielmehr die Sprache und das, was die Sprache beim Lesen auslöst. Die Form ist nicht einfach Mittel zum Zweck. Form und Inhalt sind kongruent. So nebelhaft, traumhaft die Geschichte über weite Strecken ist, so wirkt auch die Sprache, die sich einem nur erschliesst, wenn man ihr mit absoluter Aufmerksamkeit folgt. «Ein endloser Sommer» belohnt einem dann mit absolutem Genuss, wenn man das Buch laut liest.
Madame Nielsen nimmt keine Rücksicht auf den Leser. Sie will nicht in erster Linie eine Geschichte erzählen. Es geht um Kunst. «Der endlose Sommer» ist eine literarische, eine sprachliche, eine geschriebene Performance. Madame Nielsen lässt einem mit vielen Leerstellen allein, mit Personen, die nur skizziert scheinen, einem Text, der sich nicht um Ordnung oder Chronologie kümmert.

«Der endlose Sommer» ist die Spur auf der Suche nach dem, was wirklich in einem steckt.

Ich las das «Der endlose Sommer» zusammen mit einer meiner Literaturgruppen. Ein einhelliges Urteil: Grossartig, unbedingt lesenswert!

© Sofie Amalie Klougart

Madame Nielsen, geboren 1963, Autorin, Sängerin, Künstlerin, Performerin. Ihre Romane wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, und sie war mehrfach für den Nordic-Council-Preis nominiert. Performances u.a. in Berlin und Wien.

Der Übersetzer Hannes Langendörfer, geboren 1975 in Heidelberg, studierte in Freiburg und Uppsala Skandinavistik und Germanistik. Er lebt als Übersetzer aus dem Dänischen, Schwedischen und Englischen in Berlin.

Ein Lesungsvideo auf der Webseite des Verlags