In ihrer ersten Buchveröffentlichung zeigt die junge Schweizerin ein ganz besonderes Geschick, die Perspektive des Sehens zu verändern. Wenn man den Geschichten der jungen Judith Keller eines nicht vorwerfen kann, dann ist es Geschwätzigkeit. Judith Kellers Geschichten sind Konzentrate, Sprachkunstwerke, die gleichermassen überraschen wie bezaubern. Eine literarische Entdeckung!
Zusammen mit den Autorinnen und Autoren Franz Hohler, Judith Keller, Thomas Flahaut, Alexandre Hmine und Jessica Zuan eröffneten die 40. Literaturtage in Solothurn ihr Jubiläumswochenende. Das literarische Schwergewicht Franz Hohler zusammen mit vier jungen Schreibenden aus den vier Sprachregionen der Schweiz.
Judith Keller nimmt das Wort beim Wort, nimmt es wörtlich. So wie sich andere der Metapher verschreiben, spürt sie dem Wort nach. Eine Handvoll ihrer Geschichten beginnt mit «Eine weit hergeholte Frau…». Meist tragen die Menschen in ihren Kurz- und Kürzestgeschichten Namen, ganz gewöhnliche, vielleicht etwas altmodische, im Kontrast zu ihrer Erzählweise, oder ausgefallene wie Nepomuk. Judith Keller wirft einen Blick in fremdes Leben, gibt dem Leben einen Namen oder lässt es bleiben, wenn der Moment mehr zählt als die Person, um die sich die Sätze schlaufen. Kurze Geschichten, in die man einsteigt und ganz unverhofft wieder aussteigen muss. Geschichten die auftun und nichts klären. Aber mit aller Deutlichkeit bewusst machen, dass selbst der schnelle Blick, diese eine Schlaufe um ein Leben, alles andere als einfach und einfältig ist. Es spiegelt sich Leben mehrfach in einem einzigen Satz. Es fächert sich auf. Manchmal nur als sprachlicher Schnappschuss, ein ander Mal als Bildfolge, aus Zusammenhängen sprachlich extrahiert, um sie mit dem Leben von Leserinnen und Lesern in neue Konstellationen zu bringen.
Keine Papiere
Esperance ist vor ein paar Jahren in einem Boot übers Meer geflohen. Sie ist nicht ertrunken. Aber jetzt lebt sie untergetaucht.
Judith Keller gibt dem Normalen intensive Farben, dem Farbigen Klarheit, auch wenn nicht die Deutung im Zentrum steht, sondern die Ahnung dem Genuss genügt. Sie schreibt kühn und so gar nicht in der Tradition der «Geschichtenerzähler» mit Mahnfinger und moralischer Motivation. Vielleicht bilden Franz Hohler und Judith Keller bei der Eröffnungsfeier der 40. Literaturtage in Solothurn mit Absicht ein «Erzählerpaar» der Gegensätze. Nicht nur, was ihr Alter betrifft. Der schon zu Lebzeiten zur Erzählerlegende gewordene Franz Hohler und die junge Judith Keller, die sich nur schwer in eine Schublade einordnen lässt.
Scheu
Amalia kennt den Vorwurf, sie sei arbeitsscheu. Es liegt ihr aber daran festzuhalten, dass die Arbeit ebenfalls scheu sei. Die Arbeit komme entweder gar nicht oder nur zögerlich auf sie zu, um dann gleich wieder zu verschwinden.
Mag sei, dass auch Judith Kellers Geschichten zuweilen einen moralischen Hintergrund besitzen. Aber diesen bette ich als Leser selbst unter den Text. Judith Keller setzt nichts vor, mahnt nicht, spiegelt nicht einmal mit Metaphern. Ihre Sprachkunst liegt in der Reduktion auf die Worte selbst, den Satz, der bezaubert, die Melodie, die mich betört. Judith Keller gibt dem Wort zurück, was Fakenews entwenden.
Judith Keller schreibt ganz in der Tradition Grosser, nicht zuletzt Mani Matters. Eindeutig, zweideutig, vieldeutig. So wie der grosse Berner Troubadour erzählt Judith Keller eindeutig und weckt vieles. Ich staune. Ich blicke mit den Geschichten Judith Kellers durch ein Kaleidoskop der Sprache, werde von Vieldeutigkeit überrascht und mit Sprachkunst überzeugt.
Franz Hohler und Judith Keller sind so etwas wie die Exponenten einer Kunst, die an den beiden ihre Vielfalt zeigt, wie viel sie miteinander verbindet und wie weit sie sich voneinander unterscheiden, wie viel sie verbergen und offenbaren, wie sehr sie schmeicheln und sich zieren.
Krieg
Er erklärt ihnen den Krieg. Sie verstehen ihn nicht. Er erklärt innen den Krieg. Sie verstehen ihn nicht. Er versucht es noch einmal. Sie verstehen ihn nicht. Weil er den Krieg nicht erklären kann, muss er zurück in den Krieg. Es gilt, keine Zeit zu verlieren. Im Flugzeug ist gerade noch ein Platz frei.
Unbedingt lesen und entdecken!
Ein kleines Interview mit Judith Keller:
Sie erzählen Geschichten in einer ganz eigenen Art und Weise. Es sind nicht einfach Erinnerungen, Episoden, „Geschichten, die das Leben schrieb“. Viele Ihrer Geschichten lesen sich wie „Negative“ (Fotografie), die den Blick auf eine Situation verändern, mein Auge, meine Wahrnehmung verunsichern. Wie werden Ihre Geschichten zu so kraftvollen Miniaturen?
Ich glaube, ich versuche, da aufzuhören, wo etwas anderes, vielleicht ein Denkvorgang, beginnt.
Sie nehmen das Wort beim Wort. Es liegt viel mehr Gewicht auf der Bedeutung eines einzelnen Wortes als auf dem Transport eines Geschehens. Sind sie eine Wörtersammlerin?
Ja, ich notiere mir oft Redewendungen, die ich höre oder in der Zeitung lese und über die ich nachdenken muss.
Der Umstand, das „Die Fragwürdigen“ beim Verlag „Der gesunde Menschenversand“ herauskommt, erscheint fast logisch. Da treffen sich zwei! Kein anderer Verlag hätte besser zu Ihren Texten gepasst. Ihre erste Erzählung „Was ist das letzte Haus“ erschien als E-Book beim überaus renommierten Verlag Matthes & Seitz Berlin. Öffnen sich die Türen so leicht?
Nein, ich habe viele Absagen bekommen für die kurzen Texte bei anderen Verlagen. Ich hatte sie auch schon vor ein paar Jahren dem gesunden Menschenversand geschickt, aber damals gab es einfach keinen Platz für neue Autorinnen und Autoren. Ich bin darum auch sehr froh, dass es jetzt geklappt hat, gerade bei diesem Verlag.
Ihre Geschichten liessen mich zuweilen stolpern, öffneten sich oft erst beim zweiten Lesen. Sie schreiben alles andere als Nabelschauen, scheinen stets für ein Publikum zu schreiben. Ihre Geschichten brauchen das Gegenüber. Testen Sie die Wirkung Ihrer Texte?
Ja, ich lasse sie oft ein paar Tage oder Wochen liegen und lese sie dann noch einmal wie eine fremde Leserin. Da spüre ich dann, ob es funktioniert oder nicht. Und dann gebe ich sie natürlich auch anderen zu lesen. Aber es kann schon auch vorkommen, dass ich nicht mehr weiss, ob es nur bei mir oder auch bei anderen funktioniert.
Dass Sie an der Seite von Franz Hohler, einem der Grossen der CH-Literatur die 40. Solothurner Literaturtage eröffnen, ist von der Festivalleitung her mit Sicherheit ein klares Signal, nicht nur für die Mehrsprachigkeit unseres Landes, die Vielfalt, sondern für die Qualität ihres Schreibens – und für mich keine Überraschung. Trifft sich dort auf der Bühne Tradition und Aufbruch?
Da kann ich leider zu wenig darüber sagen, weil ich die Texte der anderen nicht kenne. Ich glaube aber, dass sie genau so etwas wollen.
1985 in Lachen, am Zürichsee geboren, lebt Judith Keller in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert. Nach Veröffentlichungen in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien erschien 2015 ihre Erzählung «Wo ist das letzte Haus?» bei Matthes & Seitz als E-Book und wurde mit dem «New German Fiction» Preis ausgezeichnet.
(Ich danke dem Verlag «Der gesunde Menschenversand» für die Erlaubnis, aus Judith Kellers Buch «Die Fragwürdigen» drei Geschichten einfügen zu dürfen.)
Titelfoto: Sandra Kottonau