In seinem neuen Roman Tell kreiert Joachim B. Schmidt eine alternative Erzählung des Tellmythos, die mit dem Altbekannten nur wenig zu tun hat.
Gastbeitrag von Sophie Waldner Sophie Waldner studiert an der Universität Basel Deutsche Philologie und Mathematik. Literatur und was man mit ihr machen kann, fasziniert sie schon immer. Dieses Seminar war ihre erste Berührung mit Literaturkritik, aber bestimmt nicht ihre letzte.
Düster, eigensinnig, einzelgängerisch, so wirkt Joachim B. Schmidts Wilhelm Tell. Tatsächlich hat seine Version kaum Gemeinsamkeiten mit Friedrich Schillers Werk. Während bei Schiller die Befreiung der Schweiz eine essenzielle Rolle spielt, konzentriert sich Schmidt in seiner Erzählung vielmehr auf die Schicksale der einzelnen Charaktere.
Schiller und Schmidt stimmen bei den Hauptfiguren und der Erzählung des traditionellen Mythos überein. So finden sich bei Schmidt natürlich auch Hedwig, Tells Frau, Walter, ihr Sohn, und Gessler, der Landvogt, wieder. Auch muss Tell einen Apfel von Walters Kopf schiessen, weil er sich nicht vor Gesslers Hut verbeugt und wird anschliessend verhaftet. Er kann sich mitten im Sturm vom Boot retten und rächt sich schliesslich an den Habsburgern.
Doch die Dynamik ist eine neue. Ganz anders als Schillers Helden, meiden die Leute Schmidts Tell. Selbst die Tiere weichen ihm aus, machen einen Bogen um ihn, beobachtet der kleine Walter. Die Menschen fürchten ihn: Es jagt mir jedes Mal einen Schauder über den Rücken, wenn ich diesen Burschen zu Gesicht bekomme.
Episodenweise beschreibt Schmidt die Gedanken und Motivationen aus der Perspektive verschiedener Figuren. Nach und nach setzt sich ein Bild von Wilhelm Tell zusammen, das wahrlich tragisch ist. Von insgesamt 87 solcher Unterkapitel sind nur drei aus Tells Sicht verfasst, alle seine Gedanken richtet er an Peter, seinen Bruder. Dieser ist auf einer gemeinsamen Wanderung in den Bergen verunglückt. Danach hat Willhelm die Aufgaben seines Bruders übernommen, ist in dessen viel zu grosse Fussstapfen getreten. Dabei geht es in erster Linie um die Arbeit auf dem Tellhof. Zudem kümmert er sich um die bereits schwangere Hedwig und heiratet sie noch vor der Entbindung.
Auch Gessler gleicht kaum dem herrischen, boshaften Landvogt aus Schillers Drama. Die Brutalität meiner Männer stösst mich ab. Er sehnt sich viel mehr nach seiner Frau und seiner Tochter, welche erst nach seiner Abreise auf die Welt gekommen ist.
Der legendäre Apfelschuss ist einzig darin zu begründen, dass Gessler unglücklicherweise gerade anwesend ist, als Tell vor dem Hut stehen bleibt, ohne sich zu verbeugen – also muss Gessler sein Gesicht vor den Soldaten wahren. Nur weil zwei Männer zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sind, nimmt die Geschichte ein tragisches Ende.
Die Sprache ist einfach und unverblümt. So denkt einer der Soldaten bei sich: Er glaubt wohl, der Allvater dieser dreckigen Meute zu sein. So ein Mondkalb!. Schmidt tabuisiert auch nichts. Vergewaltigung und Kindsmissbrauch sowie deren Folgen sind genauso Thema wie der brutale Kampf zwischen Tell und einem von Gesslers Männern.
Die unterschiedlichen Perspektiven erinnern durchaus an Szenenwechsel in einem Blockbuster, mit dem Tell auf dem Einband verglichen wird. Ob dies jedoch tatsächlich ein Gewinn ist, ist fragwürdig.
Zwar lassen die Episodenhaftigkeit und deren Kürze nicht zu, dass während der Lektüre Langeweile aufkommt. Doch die Häufigkeit der Wechsel und die Anzahl der Protagonisten nehmen dem Buch wieder einiges an Schwung. 20 Figuren erzählen aus ihrer Sicht, wobei die Hälfte völlig ausgereicht hätte. Sie alle brauchen eine Hintergrundgeschichte, um ihren Auftritt zu rechtfertigen. Dass die Perspektive alle zwei bis drei Seiten wechselt, macht es des Weiteren etwas schwierig, im Blick zu behalten, welche Sicht gerade eingenommen wird.
Dennoch ist Schmidts Grundidee, Tell als einen von Schicksalsschlägen geprägten Charakter darzustellen, erfrischend. Sie passt hervorragend zum Puls der Zeit: Männer, insbesondere Helden, auch einmal von einer verletzlichen Seite zu zeigen. Tell ist eine geeignete Lektüre für alle, die offen für einen Bruch mit der traditionellen Tellerzählung sind und am Abend mal ein paar Stunden freihaben. Denn das Buch aus der Hand zu legen ist schier unmöglich.
(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)
Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Seine Romane «Tell» und «Kalmann» waren Bestseller; mit «Kalmann» erreichte er den 3. Platz beim Schweizer Krimipreis und erhielt den Crime Cologne Award. «Tell» war auf Platz 1 der Schweizer Bestsellerliste. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavík.
Sie kennen die Geschichte. Ein Mann, ein Pfeil, ein Apfel. Seit ich denken kann, prangt auf der grössten Schweizer Münze das Konterfei jenes Helden, den man zum kollektiven Bewusstsein eines ganzen Staates, von Generationen wackerer Eidgenossen machte. Joachim B. Schmidt hat sie neu erzählt. Wirklich neu. Und wie!
Noch bis vor ein paar Jahren wurden Kinder in Schweizer Schulen mit heroischen Gefühlen regelrecht geimpft, dem Glauben, von jenen wackeren Recken abzustammen, die sich mit stolzer Brust gegen den übermächtigen und erdrückenden Feind zu wehren wussten. Erst in den letzten Jahrzehnten bröckelte dieser Mythos und selbst in den Lehrmitteln von Schulen werden jene Geschehnisse vor mehr als 700 Jahren an den Ufern des Vierwaldstättersees relativiert, nur noch als Gründungssagen erzählt. Und doch, ein Rest bleibt. Mit den wackeren Treichlern, den stämmigen Verweigern gegen eine Obrigkeit, den tapferen Ureidgenossen, die sich durch nichts und niemanden ihre Freiheit nehmen lassen. Man fotografiert sich wieder stolzer unter dem strammen Mann mit seinem tapferen Sohn auf dem Denkmal auf dem Markplatz des Urner Hauptortes.
Der Mythos Tell ist eine Schlagader des helvetischen Selbstbewusstseins, und nicht zuletzt einer ganzen Tourismusmaschinerie. Nicht auszudenken, wenn Schiller damals diesen Stoff nicht zu einem Theater gemacht hätte und die Geschichten nur ein paar Seiten im Weissen Buch von Sarnen geblieben wären. Als ich in der Ausbildung war, spielten wir Schillers Wilhelm Tell, der vor 200 Jahren in Weimar zum ersten Mal aufgeführt wurde und seither zum genetischen Code einer ganzen Nation gehört. Damals spielte ich Walter Fürst, einen der drei Eidgenossen, die an den Ufern des Vierwaldstättersees den Eid gegen die verhasste Obrigkeit über den See riefen: „Auf Tod und Leben!“
Zu ihnen drang auch die Geschichte dieses einen Helden, den man zwang, mit einer Armbrust einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schiessen, den man dann trotzdem fesselte, der den Soldaten auf dem Schiff entkam und mit einem Bolzen den verhassten Vogt Gessler erschoss. Schiller machte die Geschichte zu einem Heldendrama, bot mit seinem Theater eine Breitseite, um den heroischen Akt wirkungsvoll zu inszenieren.
Erstaunlich genug, dass sich ein Ausgewanderter traut, den Stoff neu zu erzählen. Eine Geschichte, an der man sich eigentlich nur die Finger verbrennen kann. Ein Bündner in Island inszeniert die Geschichte ganz neu, nimmt ihr (fast) allen Pathos, lässt sie mit Blut und Schweiss auferstehen, entschlackt bis auf die Geschichte einer Familie, die sich an den bewaldeten und felsigen Flanken jenes Sees gegen die Willkür einer übermächtigen Besatzungsmacht und das ewige Verlieren zu wehren versucht. Ich bewundere den Mut des Schriftstellers, der sich auch einen unverfänglicheren Stoff hätte aussuchen können, zumal es aus einem Land schreibt, das an Mythen reich ist.
In Joachim B. Schmidts „Tell“ kämpft ein Jäger und Bauer gegen ein mehrfaches Trauma, jenes als Knabe in den pfarrherrlichen Gemächern, als junger Mann mit dem mitverschuldeten Verlust seines Bruders und als erwachsener Mann mit dem Bewusstsein, nicht der zu sein, der er sein sollte. Tell ist ein Gepeitschter, ein Getriebener, einer, der eigentlich nur seine Ruhe haben will, den das Schicksal aber immer wieder zu Entscheidungen zwingt, denen er sich nie freiwillig stellen würde. Sein Leben ist ein Kampf, ein Kampf, den er irgendwann bezahlen muss.
Ich habe das Buch atemlos gelesen. Obwohl ich die Geschichte kenne. Somit kann es nicht an der Handlung liegen. Joachim B. Schmidt switcht in seinem Roman von Person zu Person, erzählt von Walter, Tells Sohn, seiner Frau Hedwig, die einst mit seinem Bruder verheiratet war, von Tells Mutter, Hedwigs Mutter, von Gessler, dem Vogt und Harras, seinem wilden Vasallen und vieler anderer, die in dem Drama rund um die aufkeimenden Uruhen, die an den Gestaden jenes Sees ihren Anfang nehmen. Tell kämpft am meisten gegen sich selbst. Gessler gegen die Rolle, die man ihm aufzwingt und Harras gegen die Ahnung, nie das zu werden, was er sich als Mann zuschreibt. Schmidts „Tell“ ist aber in seiner Spiegelung auch die Geschichte der Frauen dieser drei Gestalten; Tell mit seiner Frau Hedwig und seiner Mutter, die die Familie gleich mehrfach vor ihrer Vernichtung retten, Theresa, Gesslers Frau, die in der Ferne auf ihren Gemahl hofft und ahnt, dass sie ihn nie ihrer Tochter zeigen kann und all jene Frauen, die sich Harras nimmt, die blutend liegen bleiben, während er sein Gemächt einpackt.
Schmidts „Tell“ trieft, ist bestes Kino, haut einem um, zieht einem ganz nah an ein Geschehen, dass einem schaudern lässt. „Tell“ ist die Geschichte eines vielfach Sterbenden. Vielleicht auch die Sterbegeschichte des Mythos „Mann“, einer Sterbegeschichte, die noch lange nicht zu Ende geschrieben ist.
Tell ist toll – mehrfach!
Interview
Was um Himmels Willen hat dich geritten, als du dich an den Stoff machtest? Braucht es die Distanz „von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“? Warum ausgerechnet die helvetischste Sage?
Die Idee, die Wilhelm-Tell-Geschichte neu zu schreiben, trage ich schon lange mit mir rum. Die Person fasziniert mich, die Geschichte selbst ist grandios. Die Gewissheit, dass ausgerechnet ich sie schreiben muss, ein Auslandschweizer, erlangte ich in Island. Ja, in gewissem Sinne bin ich ausgezogen, um Tell neu zu entdecken und nach Hause zu bringen. Hier, in meiner Wahlheimat gibt es die Isländersagas, uralte Manuskripte über die Zeit der Entstehung des isländischen Volkes, die aber erst 200-300 Jahre später niedergeschrieben worden sind – also eine ähnliche Situation. Bloss: Hier in Island ist man stolz auf die Sagas und deren Helden, man glaubt, dass es sie wirklich gegeben hat, man zelebriert sie. Aber den Ausschlag gegeben hat der isländische Schriftsteller Einar Kárason, der vor wenigen Jahren die etwas komplizierte Sturlunga-Saga neu geschrieben hat, die Wirren des isländischen Bürgerkrieges aus der Perspektive der verschiedenen Mitbestreiter schreibt, womit man sich wunderbar in diese Welt und Situation hineinversetzen kann. Ich habe Einar Kárason getroffen, mich mit ihm über Tell unterhalten, und damit endlich die Form gefunden, in der ich «Tell» erzählen wollte.
In dem Stoff lauern Fallgruben noch und noch. Man könnte sich elend verheddern, nicht nur im Dreieck zwischen Mythos, Geschichtsschreibung und nachgefühlter Realität, sondern auch den Interessen all jener, denen Tell noch immer Leitfigur ist, in Zeiten von Treichlern erst recht.
Bei mir stehen die Geschichte und die Protagonisten im Vordergrund. Die Handlung und das Handeln muss glaubhaft wirken. Unbedingt. Ich habe keine politische Agenda. «Tell» ist keinerlei Propaganda. Wann immer ich am Abgrund dieser Fallgruben gestanden bin, habe ich mich gefragt, was der logischste Weg ist. Ich empfand es zum Beispiel immer als unglaubwürdig, dass Tell – der Bergbauer – der Einzige auf dem Habsburger Boot sein soll, der so ein Boot überhaupt steuern kann. Völlig Quatsch. Im «Lied der Entstehung der Eidgenossenschaft» von den 1470er Jahren, eine der ältesten Tell-Quellen, steht auch, dass die Soldaten den Auftrag bekommen haben, Tell auf dem See zu versenken. So habe ich die Szene neu und logisch interpretiert. Oder dass Tell bewaffnet auf den Markt geht, wo er doch weiss, dass die Habsburger herrschen, grenzt an purer Dummheit und Ignoranz. Es ist viel logischer, dass er ganz einfach nicht mitgekriegt hat, dass er sich vor dem Hut hätte verbeugen müssen. Tell ist überfordert, die Armbrust wird ihm dann in die Hand gedrückt. Aber es ist so: Seit seiner Entstehung ist Wilhelm Tell für politische Zwecke missbraucht worden: Er ist eine Leitfigur, seine Verfasser wollen den Leuten sagen: Wir sind unabhängig, wir sind stolz, und wir sind überlegen. Kämpft! Darum erstaunt es mich nicht, dass sich die Freiheitstrychler mit Wilhelm-Tell-T-Shirt und herausgestreckter Brust gegen die Behörden und die Wissenschaft aufmüpfen. Sie kennen ja nur den Freiheitskämpfer-Wilhelm-Tell, der aus Stolz den Gruss verweigert. Die Rechte missbraucht ihn für ihre Propaganda schon lange. Die Linke versucht, ihn klein zu machen. Mein Tell ist nicht an Politik interessiert. Er ist ein Eigenbrötler. Er kämpft ums Überleben und hat ein Trauma zu verarbeiten. Er ist eine tragische Figur, die in einen Teufelskreis aus Gewalt gerät und sich nicht daraus befreien kann. Und es geht um Vaterschaft. Ein Thema, dass mir viel näher liegt. Darum möchte ich allen sagen: Gönnt dem Tell doch mal eine politische Pause. Er gehört uns allen, und er gehört vor allem sich selbst.
So ganz nebenbei erscheint in deinem Roman Sturla, Sohn des Sighvats, ein Normanne von einer Insel weit im Norden, auf einer Pilgerreise gen Süden. Den Mann gab es (zumindest lese ich das in der grossen Suchmaschine). Ist das nur eine Reminiszenz an deine neue Heimat oder schlummert da mehr?
Sturla ist eine Person aus der Sturlunga-Saga, die auch bei Einar Kárason auftritt. Darum hat sie bei Tell ein Cameo, zumal sie tatsächlich durch die Urschweiz gereist sein könnte auf dem Weg nach Rom. Ich interpretiere hier die Geschichte ganz frech auf meine Weise. Die Historiker sind sich einig, dass Tell seinen Ursprung nicht in Uri hat, sondern möglicherweise in Skandinavien. Der dänische Geschichtsschreiber Saxo hat schon vor dem Obwaldner Landschreiber Hans Schriber, dem Verfasser des Weissen Buches von Sarnen, über den norwegischen Toko geschrieben, der auch einen Apfel vom Kopf seines Sohnes schiessen musste. Die Geschichte könnte dann mit den Pilgern, die durch die Innerschweiz nach Rom reisten, zu uns gelangt sein, so die Vermutung. Ich drehe hier den Spiess um. Die Tell-Geschichte hat bei uns den Ursprung, und die Pilger haben sie in den Norden getragen. Ich mache das aber mit einem Augenzwinkern und nehme es mit den Jahreszahlen nicht allzu genau. Man verzeihe mir diese Frechheit. Aber ich finde eben, dass unser Wilhelm Tell der Beste von allen ist. Im Sinne von: «Wer hats erfunden?» Ich will, dass wir den Stolz auf diese grausam tolle Geschichte wiederfinden.
Es sind ein ganzer Strauss von Dramen, die sich in deinem Buch miteinander verstricken. Mit Sicherheit wolltest du das schiller’sche Drama, das sich nur auf Männerseite abspielt, in einer starken Frauenseite spiegeln. Nicht ganz einfach, muss doch angenommen werden, dass die Rolle der Frau damals so gar nicht jener entspricht, die heute selbstverständlich sein sollte.
Mein «Tell» ist, wie gesagt, stark von den Isländersagas beeinflusst. Aus ihnen ist zu entnehmen, dass die Frauen gar nicht so schlecht vertreten waren und durch ihr Handeln auch zu den Geschichten beitrugen, obwohl sie in der Hierarchie nur knapp über den Sklaven waren. Aber es gab sie eben doch, und wahrscheinlich hatten sie mehr Mitspracherecht, als ihnen die männlichen Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts zugestehen wollten. Vor etwa einem Jahr gab es im Landesmuseum in Zürich eine interessante Ausstellung unter dem Namen: Nonnen, starke Frauen im Mittelalter. Es findet ein Umdenken statt. Mir war es grundsätzlich ein Anliegen, eine realistische Welt aufzuzeichnen, und darin gibt es eben auch Frauen. Tell hat also nicht nur eine Ehefrau, sondern auch eine Mutter, eine Schwiegermutter und eine Tochter. Es gibt in «Tell» Nonnen, Bäuerinnen, eine Pfrundsfrau… Trotzdem diente mir Schillers veralteter Wilhelm Tell als Fundament. Auf ihm habe ich meinen aufgebaut. Was mich aber am meisten bei Schiller stört, ist seine Einteilung in Gut und Böse, alles ist schwarz und weiss. Ich habe versucht, nicht bloss Grautöne gemischt, sondern, wenn ich schon dabei war, ein Farbbild.
Hast du mit einer Armbrust geschossen, dich im Dreck mit Riesen geprügelt, in Fell gekleidet im Vierwaldstättersee Wasser geschluckt?
Genau darum bin ich wohl der Richtige für «Tell»! Mit dem Schwung der Isländersagas im Hintern habe ich mich am Schreibtisch zurück in meine alte Heimat begeben. Einer meiner drei Brüder hat früher tatsächlich Armbrüste gezimmert, was nicht ungefährlich war, mit diesen Brüdern habe ich gerungen und wir haben im eiskalten Hinterrhein Wasser geschluckt. Ich bin auf dem klösterlichen Bauernbetrieb in Cazis aufgewachsen, auf dem Julierpass habe ich einige Sommerwochen als Kind und Jugendlicher verbracht, habe dem Senn der Klosteralp helfen müssen, Kühe zu melken, Rinder zu zählen, Käse zu machen. Mit meinem Vater habe ich Bergwanderung gemacht, bin ihm hinterher gekeucht, ich habe Murmeltiere erschreckt, und einmal bin ich fast auf eine Kreuzotter getrampelt. Endlich konnte ich diese wunderbaren Erlebnisse verwerten.
Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Er ist Autor mehrerer Romane und diverser Kurzgeschichten, Journalist und Kolumnist. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavik.
Winterschlaf? Joachim B. Schmidt hat ihn sich redlich verdient. Am 23. Februar nächsten Jahres erscheint sein nächster Roman «Tell», Nach «Kalmann» sein zweiter, bei Diogenes erscheinender Roman.
Aus der Vorschau des Verlags: Joachim B. Schmidt schreibt Geschichte neu. In seinem fulminanten Roman wird die Tell-Sage ein Pageturner, ein Thriller, der an moderne Netflix-Serien erinnert. Beinahe 100 schnelle Sequenzen, erzählt von 20 verschiedenen Protagonisten, rasen wie an einer Lunte auf einen überwältigenden Showdown zu, der sich nicht vor denen grosser Blockbuster verstecken muss. Schmidts Fiktion, seine Vision des Tell machen die Erzählung so einzigartig, frisch und zwingend. Die moderne Erzählweise hat er sich bei einem der grossen isländischen Erzähler abgeschaut: Einar Karáson, der die Sturlungen-Saga neu erzählte. Hier wie dort sprechen die Protagonisten, was dem Text Gegenwärtigkeit und Authentizität verleiht. Im Zentrum von Schmidts Erzählung steht der ›Mensch‹ Wilhelm Tell – ein Wilderer und Familienvater, ein Eigenbrötler und notorischer Querulant; ein Antiheld, einer, der überhaupt kein Held sein will, der eigentlich nur seine Ruhe, genug zu essen und seinen Leiterwagen haben will. Und eine Kuh verkaufen. Immer näher kommen ihm die verschiedenen Stimmen und erkunden, wie eine einzige Gewalttat grössere und grössere Kreise zieht. Schmidt bringt uns die Figuren des Mythos nahe und erzählt eine unerhört spannende Geschichte – auch für diejenigen, die noch nie etwas von Wilhelm Tell gehört haben.
Joachim B. Schmidt, geboren 1981, stammt aus Graubünden und lebt seit über zehn Jahren mit seiner Familie in Reykjavik. Er ist Autor mehrerer Romane und diverser Kurzgeschichten. Ausserdem betreibt er einen Reiseblog und arbeitet als Touristenführer in Island.
Zuerst verliebte sich Joachim B. Schmidt in die Insel, später in Kristin Elva Rögnvaldsdóttir. Jetzt lebt der Schriftsteller seit mehr als einem Jahrzehnt mit seiner Familie auf Island und es scheint, als wäre er mit „Kalmann“, seinem vierten Roman, endlich auf dem Weg an den Ort, wo er hingehört.
Joachim B. Schmidt schreibt neben Romanen, Erzählungen, Filmrezensionen, Reiseberichten und Reportagen in den kommenden Monaten Postkarten von Island. Analoge Kleinkunstwerke für digitale Geniesser:innen! In einer Welt, in der man kaum mehr zum Stift greift, um Post- und Ansichtskarten aus allen Ecken der Welt zu senden, in der das Reisen einen schalen Beigeschmack bekommen kann und das Regal am Kiosk nur noch Karten zeigt, die vor Jahrzehnten produziert wurden, sind «Postkarten» auf literaturblatt.ch ein Zeichen dafür, dass die analoge Welt noch immer existiert.
Georg Guðni (1961 – 2011) spielte in den 80er Jahren als einer der ersten zeitgenössischen isländischen Landschaftsmaler eine herausragende Rolle in der lokalen, isländischen Kunstszene. Anstatt, wie es damals im Trend war, das menschliche Dasein zum Thema seines Schaffens zu machen, malte er Natur pur. Mit dieser Haltung hat er dem Genre der Landschaftsmalerei und dem Medium der Malerei selbst neue Impulse gegeben. Seine Landschaftsbilder folgen einer geometrischen Konstruktion, bleiben aber gleichzeitig offen für persönliche Erfahrungen. Aufgrund ihrer reflektierenden und kontemplativen Wirkung fungieren sie als Spiegel der mentalen Landschaft des Rezipienten. Die Bilder von Georg Guðni haben immer einen Bezug zu einem gesellschaftlichen Kontext. Die Natur, wie er sie zeigt, ist vereinfacht und bis zu einem gewissen Grad auch objektiviert, aber seine Werke zeigen keine Illusion. Vielmehr wirken sie stark atmosphärisch und sind an ihrer formalen, geschliffenen Schlichtheit erkennbar. Seine Werke wurden vielfach in Einzelausstellungen sowie in Gruppenausstellungen in den nordischen Ländern und Westeuropa sowie in den Vereinigten Staaten, Südamerika und China ausgestellt. Georg Guðni wurde 1961 in Reykjavik geboren. Er studierte am Isländischen College of Art and Crafts und machte 1987 seinen Abschluss an der Jan van Eyck Akademie in Holland. Er starb 2011 im Alter von nur 50 Jahren.
Joachim B. Schmidt, geboren 1981 in Graubünden, aufgewachsen als Bauernsohn am Heinzenberg, lebt und arbeitet seit 2007 als Autor, Journalist und Reiseleiter auf der Vulkaninsel Island. Schmidts aktueller Roman «Kalmann» wurde mit einem Werkbeitrag der Pro Helvetia ausgezeichnet und erschien im Herbst 2020 bei Diogenes. Seine letzten drei Romane «In Küstennähe» (2013), «Am Tisch sitzt ein Soldat» (2014) und «Moosflüstern» (2017) sind im Landverlag erschienen. Schmidt lebt mit seiner isländischen Partnerin und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavík.
Zuerst verliebte sich Joachim B. Schmidt in die Insel, später in Kristin Elva Rögnvaldsdóttir. Jetzt lebt der Schriftsteller seit mehr als einem Jahrzehnt mit seiner Familie auf Island und es scheint, als wäre er mit „Kalmann“, seinem vierten Roman, endlich auf dem Weg an den Ort, wo er hingehört.
Joachim B. Schmidt schreibt neben Romanen, Erzählungen, Filmrezensionen, Reiseberichten und Reportagen in den kommenden Monaten Postkarten von Island. Analoge Kleinkunstwerke für digitale Geniesser:innen! In einer Welt, in der man kaum mehr zum Stift greift, um Post- und Ansichtskarten aus allen Ecken der Welt zu senden, in der das Reisen einen schalen Beigeschmack bekommen kann und das Regal am Kiosk nur noch Karten zeigt, die vor Jahrzehnten produziert wurden, sind «Postkarten» auf literaturblatt.ch ein Zeichen dafür, dass die analoge Welt noch immer existiert.
Arnaldur Indriðason, 1961 geboren, graduierte 1996 in Geschichte an der University of Iceland und war Journalist sowie Filmkritiker bei Islands grösster Tageszeitung Morgunbladid.Heute lebt er als freier Autor mit seiner Familie in Reykjavik und veröffentlicht mit grossem Erfolg seine Romane. 1995 begann er mit Erlendurs erstem Fall, weil er herausfinden wollte, ob er überhaupt ein Buch schreiben könnte. Seine Krimis belegen allesamt seit Jahren die oberen Ränge der Bestsellerlisten. Seine Kriminalromane «Nordermoor» und «Todeshauch» wurden mit dem «Nordic Crime Novel’s Award» ausgezeichnet, darüber hinaus erhielt der meistverkaufte isländische Autor für «Todeshauch» 2005 den begehrten Golden Dagger Award sowie für «Engelsstimme» den Martin-Beck-Award, für den besten ausländischen Kriminalroman in Schweden.
Arnaldur Indriðason ist heute der erfolgreichste Krimiautor Islands. Seine Romane werden in einer Vielzahl von Sprachen übersetzt. Mit ihm hat Island somit einen prominenten Platz auf der europäischen Krimilandkarte eingenommen.
Joachim B. Schmidt, geboren 1981 in Graubünden, aufgewachsen als Bauernsohn am Heinzenberg, lebt und arbeitet seit 2007 als Autor, Journalist und Reiseleiter auf der Vulkaninsel Island. Schmidts aktueller Roman «Kalmann» wurde mit einem Werkbeitrag der Pro Helvetia ausgezeichnet und erschien im Herbst 2020 bei Diogenes. Seine letzten drei Romane «In Küstennähe» (2013), «Am Tisch sitzt ein Soldat» (2014) und «Moosflüstern» (2017) sind im Landverlag erschienen. Schmidt lebt mit seiner isländischen Partnerin und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavík.
Siebzehn Jahre ist es jetzt her. Ich verbrachte meine ersten Island-Weihnachten im tiefen Fjord Hvalfjörður, eine knappe Autostunde von Reykjavik entfernt. Der Winter war bisher kalt und windig gewesen, bissig, aber verglichen mit Graubünden schneearm. Der Bauernhof lag seit Wochen im Schatten des Bergmassivs Esja. Manchmal tunkten die tiefen Wolken den ganzen Fjord in ein aprikosengoldenes Licht. An der Küste gefror selbst das salzige Meerwasser, doch die seltsam poröse Eisschicht zerbrach durch das Spiel der Gezeiten in tellergrosse Schollen, der Fjord gefror nie ganz zu. Gab es Schnee, verwehte ihn der Wind und häufte ihn hinterm Stall zu einem enormen Haufen an. Einmal öffnete ich die hintere Stalltür von innen – und stand jäh vor einer Wand aus Schnee. Das war nicht so schlimm: Die Kühe wollten sowieso nicht raus. Sie wiederkäuten gelassen ob den pfeifenden Winterstürmen. Der Bauer erzählte mir, dass sich Kühe in Island am 13. Weihnachtstag miteinander in Menschensprache unterhielten, aber sofort verstummten, sobald sie einen bemerkten. Wie gerne hätte ich mich mit ihnen unterhalten!
Die Weihnachten fern der Heimat zu verbringen, war ein seltsamer Gefühlskoktail aus Melancholie und Entspanntheit, Neugier und Heimweh. Zwar genoss ich die Ruhe, ich las Bücher, schaute Filme, hörte Musik, schrieb Briefe, aber ich schleppte ein schweres Herz mit mir rum. Ich wartete sehnsüchtig auf Briefpost oder Telefonanrufe aus der Heimat, und war zugleich fasziniert über die Isländer und ihre Bräuche. Einsamkeit macht zudem kreativ. Ich spürte den Drang zu schreiben, zu musizieren, zu singen. In der kleinen Holzkirche der Gemeinde, weiter hinten im Tal hatte ich eine Orgel entdeckt. Oft sass ich mutterseelenallein in dieser Kirche und machte Lärm, griff völlig enthemmt in die Tasten, keine Menschenseele weit und breit. Herrlich. Hätte jemand die Kirchtür aufgestossen, wäre ich so plötzlich verstummt, wie die Kühe am 13. Weihnachtstag. Der Priester lud mich einmal in seine Stube ein, tischte Tee auf und verwickelte mich in ein Gespräch über Gott und die Welt. Er konnte gut Deutsch, war an mir interessiert. Dieser Besuch war wie Balsam auf meine vereinsamte Seele. An Weihnachten lud mich der Bauer ein, ihn in die Messe zu begleiten, doch ich zog es vor, meine freien Stunden in der vereisten Winterlandschaft zu verbringen, hinauszuwandern, vorbei an erstarrten Wasserfällen und baumlose Berghängen. Ich erklomm einen alten Vulkankegel, der während der letzten Eiszeit entstanden war. Die Lava hatte sich einen Weg nach oben durch den Eiszeitgletscher gefressen und dabei Unmassen an Gletschereis weggeschmolzen, möglicherweise eine Gletscherflut ausgelöst. In den Flanken waren bizarre Steinformationen zu finden, schockerstarrte Lava, fremde Welt. Der Wind auf dem Vulkan war so schneidend, dass es mir den Atem verschlug. Meine klammen Finger schmerzten. Beim Abstieg trat ich unüberlegt auf eine Schneefläche, worunter sich blankes Eis verbarg. Meine Füsse schnellten in die Höhe, ich klatschte hart auf die Eisfläche und rutschte sofort die Vulkanflanke hinunter, gewann augenblicklich an Tempo. Mit Händen und Füssen versuchte ich, die Talfahrt zu verlangsamen. Vergebens. Erst der schneefreie, nackte Erdboden weiter unten stoppte mich. Ich schlitterte übers Geröll, die Steine prügelten mich, aber schliesslich kam ich zum Stillstand. Ich blieb dann eine Weile sitzen. Nichts gebrochen.
Meine ersten Weihnachten in Island lehrten mich, dass ein einziger, fataler Fehltritt genügt, um den Kurs des Lebens zu ändern. Als ich zurück auf dem Bauernhof war, erzählte mir der Bauer, dass der Priester nach mir gefragt habe, verwundert darüber, mich nicht an der Weihnachtsandacht gesehen zu haben. Er habe ihm daraufhin mitgeteilt, dass Joachim seinen Gott draussen in der Natur suchen gegangen sei, und darüber war ich ihm dankbar. Am Abend machte ich die Stallarbeit, fütterte und molk die Kühe. Seltsam. An jenem Abend fühlte ich mich, als wäre ich in Island angekommen, mit Leib und Seele, zufrieden, lebendig, aber müde. Ich freute mich auf meine Bücher, mein Bett und meine weiteren Jahre in Island. «Nur mal ganz sachte, Junge. Rupf nicht so!», sagte eine tiefe Stimme. Ich schaute mich um. Der Bauer war in der Milchkammer. «Wer ist da?», rief ich. Keine Antwort. Niemand war da. Nur die Kuh, der ich soeben das Melkzeug etwas unsanft abgenommen hatte, ich muss in Gedanken versunken gewesen sein, drehte ihren Kopf zu mir, schaute mich an, wiederkäute, steckte sich die Zunge nacheinander in beide Nasenlöcher, schnaubte – und schaute wieder nach vorn.
«Gleðileg jól og farsælt komandi ár!»
Joachim B. Schmidt, geboren 1981 in Graubünden, ist Journalist und Schriftsteller. Seine ersten drei Romane erschienen in einem kleinen Verlag aus dem bernischen Emmental (Landverlag). 2020 war «Kalmann» aus dem Hause Diogenes dann der lang ersehnte Durchbruch zu einem grösseren Publikum. Seit 2007 lebt Joachim B. Schmidt in Island, wo er mit seiner Familie in Reykjavik lebt und Touristen über die Insel führt.
Zuerst verliebte sich Joachim B. Schmidt in die Insel, später in Kristin Elva Rögnvaldsdóttir. Jetzt lebt der Schriftsteller seit mehr als einem Jahrzehnt mit seiner Familie auf Island und es scheint, als wäre er mit „Kalmann“ , seinem vierten Roman, endlich auf dem Weg an den Ort, wo er hingehört.
Im Wissen darum, dass es absolut nicht selbstverständlich ist, dass der Betrieb eines Literaturhauses in diesen Zeiten aufrecht erhalten werden kann und darf, war der Abend mit Joachim B. Schmidt gut besucht und zeigt, wie sehr man gerade jetzt nach Kultur lechzt. Ein Abend mit Literatur. Ein Abend in Island in einem kleinen Dorf ganz im Norden der Insel, die nicht nur beim Schriftsteller selbst ein Sehnsuchtsort ist. Ein Abend mit Leidenschaft und Witz, mit Spontaneität und tiefen Bildern!
„Kalmann“ ist mehr als ein Buch. Vielleicht ist „Kalmann“ sogar ein Lebensgefühl. Wenn Joachim B. Schmidt aus seinem Roman liest, wird Kalmann lebendig, sein Grossvater, das Meer, die Kälte, Raufarhövn, dieses Dorf, das auch in Wirklichkeit auf verlorenem Posten steht, heruntergewirtschaftet, vergessen, irgendwie auf der anderen Seite der Zivilisation.
Joachim B. Schmidt wollte eigentlich einen Krimi schreiben. Auch ein bisschen aus der Verzweiflung heraus, dass sich seine ersten drei Romane nicht annähernd so verkaufen liessen, dass eine Familie sich damit nur ein Zubrot verdient hätte. Mit einem Krimi, einem Islandkrimi, hätte es klappen sollen. Das eine klappte, das andere nicht. Denn obwohl reichlich Blut fliesst, die Polizei zuweilen mit einem Grossaufgebot auftaucht, Drogen in Unmengen versteckt werden, ist „Kalmann“ kein Krimi geworden. „Kalmann“ ist eine Liebesgeschichte. Eine Liebesgeschichte an eine Insel, an die Menschen, an einen Ort, an diesen einen Menschen, der zufrieden in seinem Häuschen lebt, Polarfüchse vom Dorf fern hält und manchmal mit Petra hinaus aufs Wasser fährt um Grönlandhaie zu fangen, die er nach dem Rezept seines Grossvaters zu Gammelhai verarbeitet. Kein Krimi, aber der Erfolg seines Romans stellte sich trotzdem ein. Vielleicht deshalb erst recht.
Wer den Zeiten zum Trotz doch noch Zeuge einer der zauberhaften Lesungen mit Joachim B. Schmidt lauschen möchte, findet Infos dazu auf seiner Webseite.
Lesen Sie „Kalmann“!
«Was aber am meisten Freude und Spass bei der Lektüre bereitet, ist Joachim B. Schmidts Sprache, seine Kunst, einen Schauplatz, Menschen lebendig zu machen. Genaue Beobachtung. Liebe zu den Feinheiten und eine grosse Portion Witz machen die Lektüre zu einem aussergewöhnlichem Vergnügen. Joachim B. Schmidt erzählt aus einer Perspektive ganz nahe an seinem schrulligen Protagonisten. Selbst wenn es Leute in Raufarhövn gibt, die Kalmann aus lauter Gewohnheit nicht ernst nehmen; Kalmann kann erzählen, auch wenn seine Sicht eine etwas andere ist und er sich manchmal seinen Grossvater zurück an seine Seite wünscht, der gewusst hätte, was von der Sache zu halten ist.» Rezension von «Kalmann» auf literaturblatt.ch
«Was gibt es Schöneres, als mit einem Freund die Bühne zu teilen. Takk fyrir mig, kæri Gallus. Der Auftritt im Bodman-Haus wird mir in guter Erinnerung bleiben, mehr noch: DAS Highlight auf meiner Schweiz-Tournee 2020. Das Publikum im märchenhaften Gottlieben zähle ich ab sofort zum Kalmann-Freundeskreis und schlage eine Partnerschaft zwischen Raufarhöfn und Gottlieben vor. Bis zum nächsten Mal, euer Joachim B. Schmidt»
Raufarhövn liegt ganz im Norden Islands. Dort wacht Kalmann über Raufarhövn. Ein Kaff, das im weissen Nichts zu verschwinden droht. Doch als Kalmann mit dem Verschwinden des Dorfkönigs konfrontiert wird und er fremdes Blut von seinen Händen putzen muss, drohen Helikopter den Frieden aus dem Dorf zu fegen. „Kalmann“ ist ein Geschenk!
Wenn es in Island Frühling ist, ist es noch immer kalt. Mitteleuropäische Frühlingsgefühle würden erfrieren. Aber Kalmann kennt nichts anderes. Er wohnt schon immer in Raufarövn (gesprochen: Reuwarhöbb), weit weg von Reykjavik, der Hauptstadt des Inselstaates. Kalmann gehört zum Dorf. Man nennt ihn Sheriff, weil er mit einem Cowboyhut und einem Sheriffstern durch die Landschaft zieht, manchmal auf der Jagd nach einem Polarfuchs, manchmal aber einfach, weil ihn etwas zieht. Manchmal auch mit seinem kleinen Boot aufs Meer, wo er mit eingelegten Fleischködern Grönlandhaie fischt und seinen Fang zu Gammelhai verarbeitet, einem isländischen Gericht, das aber nur echten IsländerInnen eine Gaumenfreude sein kann. Von seinem Grossvater hat er das Rezept. Aber der ist in einem Altersheim, ein- und weggesperrt. Sein Grossvater ist das einzige im Leben Kalmanns, das wirklich zählt. Freunde gibt es nicht, höchstens Noì, aber den trifft er nur im Netz – und eine Frau will ihn nicht.
Eigentlich heisst Kalmann Kalmann Óðinnsson. Aber in Raufarhövn ist Kalmann nur Kalmann. Ein Sonderling, einer, den man gewähren lässt, der keiner Fliege was zu Leide tun kann, der seine Sonderbarkeiten immer nach dem gleichen Muster haben will, zum Beispiel den immer gleichen Tisch für seinen Hamburger im Imbiss, auch wenn dieser Tisch von den einzigen Gästen sonst belegt ist. Und Kalmann ist ehrlich, so ehrlich wie niemand sonst, nimmt alle beim Wort.
Eines Tages findet Kalmann auf einem seiner Streifzüge auf der Ebene Melrakkaslétta mitten im Schneegestöber eine grosse Blutlache. Während der Schnee rundum ansetzt, schmilzt er auf dem Blut, dass auch für Kalmann nicht von einem Tier sein kann. Viel zu viel. Und Abdrücke im Schnee, hinunter zum Hafen. Kalmann erzählt es im Dorf. Und weil dort der einzige Mann mit Geld fehlt, muss es Róbert McKencie sein, dem das Hotel gehört, der die Rechte für die Fischgründe um Raufarhövn verhökert und wie niemand sonst im Dorf Feinde genug hat. Der, der nicht weit vom Dorf mit dem Bau eines modernen Steinkreises begonnen hat, dem Arctic Henge, einem Monument für den rettenden Tourismus in einer Gegend, die sonst nicht viel oder fast nichts zu bieten hat (Der Arctic Henge existiert wirklich!).
Das sonst so geregelte und stille Leben Kalmanns gerät aus dem Gleichgewicht. Plötzlich ist Polizei im Dorf und er, der Sheriff, im Brennpunkt ihres Interesses. Nicht weil er zu den Verdächtigen zählt, sondern weil die Ermittlerin Birne aus der Stadt schnell spürt, dass Kalmann bei der Wahrheit bleibt, sich niemals in ein Lügengeflecht begeben würde. Selbst als in einem Hai, den Kalmann aus dem Meer fischt, eine abgeschnittene Hand auftaucht, selbst als im Meer eine Tonne mit Rauschgift gefunden wird, selbst als ein Helikopter in Raufarhövn landet und ein halbes Dutzend schwer bewaffneter Polizisten über Kalmann herfallen.
„Kalmann“ ist kein Krimi, selbst wenn gewisse Ingredienzen daran erinnern. „Kalmann“ ist eine Liebesgeschichte an einen Sonderling, an einen Menschen, der nicht so tickt wie alle andern. Kalmann ist ein Original, mag sein, dass es dafür auch eine ziemlich abwertende medizinische Bezeichnung gibt. Aber Kalmann in Raufarhövn hat wenigstens Platz in seinem Dorf, wird nicht in eine Institution eingegliedert, weil man ihm eine Existenz im allgemeinen Wahnsinn der Gegenwart nicht zutraut. „Kalmann“ ist eine Liebesgeschichte an Joachim B. Schmidts neue Heimat, „seine“ Insel, die Leere, die Ödnis. Joachim B. Schmidt liebt Island so wie es ist, nicht so wie es einmal war, auch wenn er sich als Reiseführer und Journalist bestens in der isländischen Geschichte auskennt.
Was aber am meisten Freude und Spass bei der Lektüre bereitet, ist Joachim B. Schmidts Sprache, seine Kunst, einen Schauplatz, Menschen lebendig zu machen. Genaue Beobachtung. Liebe zu den Feinheiten und eine grosse Portion Witz machen die Lektüre zu einem aussergewöhnlichem Vergnügen. Joachim B. Schmidt erzählt aus einer Perspektive ganz nahe an seinem schrulligen Protagonisten. Selbst wenn es Leute in Raufarhövn gibt, die Kalmann aus lauter Gewohnheit nicht ernst nehmen; Kalmann kann erzählen, auch wenn seine Sicht eine etwas andere ist und er sich manchmal seinen Grossvater zurück an seine Seite wünscht, der gewusst hätte, was von der Sache zu halten ist.
„Kalmann“ ist höchstes Lesevergnügen! Noch vor ein paar Jahren meinte Joachim B. Schmidt in einem Interview auf literaturblatt.ch: «Ich bin noch immer auf der Kippe. Wenn ich nicht bald mal meinen Lebensunterhalt als Schriftsteller bestreiten kann, muss ich eine andere Tätigkeit suchen. Momentan verdiene ich mein Brot als Reiseleiter und Filmkritiker.» Es waren drei Romane, Romane, die das Zeug hatten, die all jene begeisterten, die ein Exemplar davon gelesen hatten, die sich an einer seiner Lesungen in der Schweiz betören liessen. Aber wenn einem kleinen Verlag (Landverlag) schlicht Ressourcen und Mittel fehlen, um Türen weit aufzureissen, dann ist es nicht verwunderlich, dass Qualität allein nicht ausreichen kann, selbst mit einer Einladung an die Solothurner Literaturtage 2013. Am Verlag damals lag es nicht, sondern an den Ohren und Augen, die nicht hören und lesen wollten! Damals war es sein erster Roman «Küstennähe», von dem ich auf meinem 12. Literaturblatt schrieb: «Der junge Bündner Autor, der auf Island mit seiner Familie lebt und schreibt, hat mehr als ein Buch über isländische Gegenwart geschrieben. Es geht um das Geheimnis wirklicher Beziehungen, das Geheimnis um Liebe und Freundschaft, nicht zuletzt um die Liebe des «Helden» zu sich selbst. Und das alles so meisterlich geschrieben, dass man staunt und hofft, einen neuen Stern am Literaturhimmel entdeckt zu haben.«
Und nun ist zu hoffen, dass es Joachim B. Schmidt doch noch geschafft hat, dass er seine Schriftstellerei nicht aus Gründen der Wirtschaftlichkeit, weil eine Familie zu ernähren ist, an den Nagel hängt. Die Zeichen stehen gut!
Joachim B. Schmidt, geboren 1981 in Graubünden, ist Journalist, Autor dreier Romane, die in einem kleinen Verlag aus dem bernischen Emmental erschienen und diverser Kurzgeschichten. 2007 ist er nach Island ausgewandert, wo er mit seiner Familie in Reykjavik lebt und Touristen über die Insel führt.
Er ist da, der Neue von Joachim B. Schmidt! «Moosflüstern», erschienen beim Landverlag. Ein Mann erfährt, dass seine leibliche Mutter nach dem Krieg nicht wie erzählt ins Wasser gegangen sei. 1949 liess sie sich vom isländischen Bauernverband mit 300 anderen, vornehmlich Frauen, anheuern. In Island fehlten auf den einsamen Höfen rund um die Insel Frauen, die anpacken sollten.
Es braucht nicht viel, um aus dem Trott zu fallen. Und doch gibt es Menschen, die sich durch ganz viel Leid nicht fallen lassen wollen. Joachim B. Schmidt erzählt in seinem dritten Roman «Moosflüstern» von zwei solcher Leben. Von Heinrich und seiner Mutter.
Heinrich, Ingenieur, Familienvater in einer Einfamilienhaussiedlung unweit der bündnerischen Hauptstadt, erfährt von seinem Vater ein bislang gut gehütetes Familiengeheimnis. Vreni ist nicht seine leibliche Mutter. Heinrichs Mutter starb vor ein paar Tagen und liegt auf einem isländischen Friedhof begraben.
Heinrich beginnt zu fallen. Zuerst zerfällt die innerfamiliäre Wirklichkeit und dann erschüttern zwei Tödesfälle in einem eingestürzten Lagerhaus das Ingenieurbüro, in dem Heinrich arbeitet. Das eingestürzte Gebäude wurde von Heinrich durchgerechnet. Die beiden Portugiesen, die ums Leben kamen, vielleicht Opfer eines Berechnungsfehlers, vielleicht Opfer Heinrichs. Ausgerechnet, gilt doch der untadelige Familienvater und Modelleinsenbahner als sonst korrekter Rechner.
Heinrich beginnt zu fallen. Zuerst ist da der Zweifel, der sich immer mehr zur Gewissheit durchfrisst. Auch die Ungewissheiten um seine Mutter, von der man 40 Jahre lang eine Lüge erzählte. Und jetzt, zu spät, ist da bloss noch ein Grab in Reykjavik und eine Tante in Paris, von der sein Vater bislang auch nichts verriet. Heinrich fällt. Und nachdem ihn sein Chef heisst, für ein paar Tage eine Auszeit zu nehmen, macht sich Heinrich auf den Weg. Zuerst nach Paris zur greisen Schwester seiner Mutter, dann nach Island, die Insel der brodelnden Vulkane. Eine Reise, um mehr darüber zu erfahren, warum seine Mutter ihn als Kleinkind mit dem Vater zurückliess, um aus seinem Leben zu verschwinden.
Während Heinrich fällt, erzählt Joachim B. Schmidt die Geschichte Heinrichs Mutter, die nach dem Krieg einen versehrten Mann, einen Rückkehrer aus englischer Gefangenschaft zurücknehmen musste, einen, der aus den Maschen fiel, lauthals verkündet, nun endlich Ordnung zu machen. Dabei war es Heinrichs Mutter, die zusammen mit einem Heer zurückgelassener Frauen die zerbombte Stadt händisch von Trümmern befreite. Zumindest von den greifbaren Trümmern. Nicht von den Verletzungen, die der Krieg auch nach seinem Ende durch Hunger, Entbehrung, Krankheit, Mord und Vergewaltigungen anrichtete. Heinrichs Vater kam zurück, ohne sich um den Schmerz seiner Frau zu kümmern, schwängerte sie und liess sie auch in Ruhe, als sie nach Heinrichs Geburt in zerstörerische Depressionen verfiel. Sie verschwand aus einer Nervenklinik, verliess die Trümmer und mit ihnen den kleinen Heinrich, um dort auf der Insel in der Anonymität ein neues Leben beginnen zu können. Heinrichs Mutter fängt sich auf, richtet sich in der isländischen Einöde auf, trotzt allem und allen.
Joachim B. Schmidt erzählt geschickt und gekonnt. Genauso die Leben von Heinrich und seiner Mutter, ihren so unterschiedlichen Geschichten, ihren Charakteren. Er spinnt eine Geschichte, dessen Spannung einem nicht loslässt, die einem gar zwingt, den Anfang des Buches ein zweites Mal zu lesen.
Ein Interview:
Du lässt Heinrich ziemlich abstürzen. In jeder Beziehung, ausser in der Beziehung zu seiner Frau. Warum dieser Absturz ins Wasser? Warum hast du mir die Assoziation zu Leonardo di Caprio nicht erspart? Nicht dass ich das Ende schlecht oder unpassend fand. Schon gar nicht, weil du mit dem Ende deinen Roman begonnen hast. Es ist für Heinrich die einzige Möglichkeit, seiner Mutter zu begegnen. Ein Happy End in gewissem Sinne, wenn auch äusserst tragisch. Endlich ist seine Mutter für ihn da, kümmert sich um ihn, wie er es insgeheim von ihr gewünscht hätte. Die Frage hat ihn geplagt und zu dieser Reise bewegt: Wieso hat sie mich verlassen? Er geht nach Island, um die Antwort darauf zu erfahren. Mit dem Sich-Annähern an seine Mutter, gewinnt er an Selbstvertrauen, Zuversicht, und damit heilt die Beziehung zu seiner Ehefrau und seiner Familie. Er weiss nun, woher er kommt, wer er ist, und er ist endlich zufrieden mit sich. Klar, man hätte ihn überleben lassen können. Es fiel mir schwer, Heinrich sterben zu lassen. Und darum soll der Prolog ein Hintertürchen sein, um ihn trotzdem nicht ganz sterben zu lassen. Was wissen wir schon über diese verschobenen Alkoholiker, Obdachlosen, Clochards. Wieso sind sie, wie sie sind? Vielleicht ist einer von ihnen ins Meer gefallen und hat sein Gedächtnis dabei verloren… Kurzum: Ich lass ihn ins Meer fallen, weil ich will, dass er seine Mutter trifft. Und ich will, dass sie endlich ihre Mutterpflichten wahrnehmen kann. Zudem: Ich widme das Buch einem Freund, der eine Wanderung in den Bergen unternahm, ohne jemanden wissen zu lassen, wo er sich aufhalten würde. Er wurde von einer Schneelawine verschüttet und während Wochen nicht gefunden. Die Wanderung war Teil seiner Abschlussarbeit für eine Multi-Media-Schule. Das Leben ist manchmal bitter.
Wie kam das Zitat, das ganz am Schluss des Buches wohl verrät, was die Zündung des Romans war, zu dir? Ich habe Ursula während den Recherchen kennengelernt. Es ist ein Zitat, das sie bei jedem Besuch – mit Tränen in den Augen – wiederholt. Sie ist in einer kaputten Mutter-Tochter-Beziehung gefangen. Und ich wünsche mir, dass sie von ihrer Mutter in den Arm genommen wird, wenn sie stirbt.
Heinrich der Mann fällt und fällt, bodenlos. Seine Mutter, deren Verletzungen doch eigentlich viel tiefer waren, fällt auch, steht aber wieder auf. Sind das zwei geschlechtstypische Verhaltensmuster? Hätte das Arrangement auch in umgekehrter Rollenbesetzung stattfinden können? Die starke Frau, der schwache Mann? Huldigst du deinem weiblichen Publikum? (Nicht wirklich ernst gemeint!) Heinrich ist ein eher schwacher Charakter, zugegeben. Und darum vielleicht schwer zu mögen. Aber seine Mutter finde ich nicht unbedingt stärker. Sie gleichen sich eigentlich sehr. Auch sie stellt sich nicht den Problemen, sondern macht sich davon. Sie widersetzt sich ihrem Mann nicht. Sie lässt sich von ihrer Schwester nach Island verschiffen, wird beinahe von Hakon vergewaltigt, muss von Dagur gerettet werden, und bringt es nie fertig, Heinrich zu schreiben. Aber vielleicht huldige ich den isländischen Frauen. Sie sind stark, selbstbewusst, aber zugleich rücksichtsvoll. Heinrichs Schwestern kümmern sich fürsorglich um ihn, gönnen ihm aber den nötigen Abstand, denn er ist ein fragiles Bergblümlein.
Das kleine Stück Geschichte war spannend und aufschlussreich. Aber täuscht der Eindruck, dass dich die Geschehnisse um den 2. Weltkrieg ganz besonders interessieren? Mich interessieren alte Geschichten. Der 2. Weltkrieg interessiert mich sehr, vor allem die Geschichten, die sich in Island abspielen, aber ich bin kein „Weltkrieg-Fan“. Island erlebte völlig absurdes während dem Krieg und blieb vom Horror erspart. Das finde ich befreiend: Ein deutscher Pilot, der zum Abendessen eingeladen wird. Deutsche Frauen, die nach Island geholt werden, weil die Bauern Frauen brauchen. Es sind die seltenen, fast sympathischen Seiten dieser menschlichen Katastrophe. Darüber darf man auch mal schreiben. Es muss ja nicht immer KZ und D-Day sein. Aber dass ich erneut über den 2. Weltkrieg berichte ist eher Zufall. Als ich mit den Recherchen zu den Deutschen Frauen in Island vor 10 Jahren begonnen habe, gabs praktisch nichts darüber zu lesen oder zu hören.
Was sind die Unterschiede zwischen Island und der Schweiz? Unterschiede, die freuen oder nerven? Welchen Isländer soll man lesen, wenn man keine Krimis mag und Laxness schon kennt? Zu dieser Frage könnte man mehrere Seiten verfassen. Ich will mich ganz kurz halten: Schweizer und Isländer sind sich ähnlich, und doch nicht. Beide Völker leben auf Inseln, wollen in Ruhe gelassen werden und empfinden deshalb wenig Verantwortung für das Schicksal anderer Völker. Sie sind nationalistisch und meinen, dass sie alles erfunden haben. Mich nerven die Schweizer und die Isländer. Die Geldmacherei durch Waffenverkäufe, das Horten von Reichtum … Auch die Isländer huldigen den Reichen, wählen Politiker, die selber aus einer Finanzkrise Profit geschlagen und das Volk über den Tisch gezogen haben. Sie haben ein Goldfischgedächtnis. Sie fischen in afrikanischen Gewässern, wo sie nichts verloren haben. Zugleich liebe ich die Schweizer, diese ehrlichen Häute, Krampfer, Denker, Zweifler. Es sind wunderbare Eigenschaften. Die Isländer sind Charakterköpfe, die man einfach mögen muss, selbst wenn sie kein Feingefühl für ihre schöne Natur haben. Sie sind familienbewusst, humorvoll, gesprächig, neugierig und optimistisch. Wunderbare Eigenschaften. Mich interessiert das Fehlerhafte im Menschen. Es gibt kaum etwas langweiligeres, als ein Held, der keine Fehler macht.
Deine Tipps: Steinunn Sigurdardottir: «Herzort», Jon Kalmann Stefansson: alles, Einar Karason: einiges, Sjón: «Der Junge, den es nicht gab»
Wirst du auf Island als Schriftsteller wahrgenommen? Ja und nein. Der Schriftsteller Sjón hat mich wahrgenommen. Er setzt sich für die ausländischen Schriftsteller in Island ein, will versuchen, das Potential, das hier irgendwie vergessen geht, zu erschliessen. Auf seinen Rat und seine Verbindungen habe ich eine Kurzgeschichte, übersetzt auf Isländisch, in einer Zeitschrift veröffentlichen können. Ansonsten gibt es mich in Island als Schriftsteller nicht.
Vielen Dank!
Lesen und entdecken Sie Joachim B. Schmidt!
Joachim B. Schmidt, geboren 1981, wuchs in Cazis am Heinzenberg als Bauernsohn auf. Seit einigen Jahren lebt und arbeitet er als Journalist, Schriftsteller und Gelegenheitsarbeiter in Island.
Von Haus aus ist Schmidt diplomierter Hochbauzeichner und Journalist, doch er verdiente sein Brot auch schon als Knecht, Gärtner, Trockenmaurer, Kellner, Hilfskoch, Molkereiarbeiter und Rezeptionist. 2013 erschien beim kleinen Landverlag sein erster Roman «Küstennähe», ein Jahr später der Roman «Am Tisch sitzt ein Soldat». Joachim B. Schmidt lebt mit seiner Isländischen Lebenspartnerin und einer gemeinsamen Tochter in Reykjavik.
Joachim B. Schmidt, 1981 im Bündnerland geboren, lebt seit Jahren zusammen mit seiner Familie auf Island. Ein junger Autor, der sich auf zwei Inseln weiss. Ein Talent, das bereits zwei Romane veröffentlichte; 2013 «Küstennähe» und ein Jahr später «Am Tisch sitzt ein Soldat». Im April erscheint sein 3. Roman «Moosflüstern», dem ich von Herzen viele LeserInnen wünsche. Beste Unterhaltung!
Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich! Ich möchte unterhalten. Ich möchte beim Leser Gefühle auslösen. Ich schreibe Bücher, die ich selber gerne lesen möchte. Ich mag es zum Beispiel sehr, wenn mich ein Buch (oder ein Film oder ein Lied) zu Tränen rührt. Beim Schreiben von Moosflüstern habe ich oft geheult. Ich finde das befreiend. Weinen wird leider noch immer mit Schwäche assoziiert. Dabei sind Weinen und Lachen fast dasselbe.
Wo und wann liegen in ihrem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen sie sich fürchten? Ich fürchte mich vor dem ungeschriebenen Werk. Ich habe ein Buch im Kopf, habe vielleicht ein paar Seiten geschrieben, entschliesse mich dann, das Buch zu schreiben, und das macht Angst. Der schiere Zeitaufwand, die brotlose Arbeit, das ist hart und braucht Überwindung. Obwohl alles dagegenspricht, schreibe ich dann trotzdem, denn die Geschichte muss raus. Die schönsten Momente sind die, wenn sich das Buch plötzlich selber zu schreiben beginnt. Manchmal geraten mir die Zügel aus den Händen, ich schreibe Dialoge, wo ich keine Kontrolle mehr habe, ein Stunde geht vorbei wie zehn Minuten, meine Hand schmerzt beim Schreiben, die Protagonisten erwachen zum Leben, ich halte den Atem an, lache manchmal, oder weine. Das sind die allerschönsten Momente, die aber selten sind. Doch ich jage ihnen nach, so oft ich kann.
Lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle? Wenn ich nicht mehr weiter weiss, lese ich. Das ist die beste Möglichkeit, einen Schreibstau zu lösen. Wichtig dabei: Das Buch oder den Text, den ich lese, muss gut geschrieben sein. Manchmal genügt eine Seite, dann lege ich das Buch weg und weiss plötzlich genau, wie es in meinem Buch weitergeht. Nicht weil ich abschreibe, sondern weil ein gutes Buch die kreativen Kanäle öffnen kann. Musik hilft auch, um die passende Stimmung im Text zu schaffen. Beim Schreiben höre ich meistens Musik.
Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert? Ich glaube nicht, dass Literatur eine Verantwortung hat, politisch sein oder die Welt verändern soll. Aber sie darf das von mir aus. Wenn sich Schriftsteller in Krisenzeiten äussern, sozusagen das Gewissen der Nation in Worte fassen, finde ich das bewundernd. Ich selber würde mir das nicht zutrauen – zumindest noch nicht, dafür fühle ich mich zu jung und zu unerfahren. Fakt ist, dass ein Buch oder ein Schriftsteller in der heutigen Zeit kaum noch Einfluss nehmen kann. Die Bücher werden von Gleichgesinnten gelesen – wie übrigens die Zeitungsartikel auch: Man liest nur die Kommentare, welche die eigene Meinung bestätigen. Deshalb lesen die Linken die Weltwoche nicht mehr, weil sie ihrem eigenen Meinungsbild nicht entspricht. Deshalb rümpfen Rechte die Nasen über linke Kunst ect. Ein schönes Beispiel ist Trump. Durchs Band haben sich Schauspieler, Schriftsteller ect gegen ihn gewehrt. Eigentlich die ganze intellektuelle Breite Amerikas. Gebracht hats nichts. Die Zeiten haben sich geändert. Dank dem Internet erhält jeder eine Plattform: Der US-Veteran, der die Kriege im Nahen Osten kritisiert, der Parkinson-Kranke, der dank Marihuana ein besseres Leben führt, ect. Ich denke, der Schriftsteller wird nicht mehr gebraucht, um Meinungen zu verbreiten. Die Leute an der Front haben heute eine Stimme.
Inwiefern schärft ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung? Durch mein Schreiben spitze ich vermehrt die Ohren. Ich bin ein guter Zuhörer.
Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende(r) mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür/dagegen? Die Einsamkeit des Schreibens stört mich nicht, aber die physische Bewegungslosigkeit ist ein Problem. Ich vernachlässige meinen Körper. Eigentlich habe ich einen Körper zur Verfügung, mit dem ich über alle sieben Berge wandern könnte, Trockenmauern bauen oder Möbel zimmern könnte. Aber ich brauche nur meinen Kopf und mein Herz. Der Rest wird vernachlässigt. Das ist schade. Die Einsamkeit bleibt mir erspart, da ich Kinder habe und gelegentlich als Tourguide arbeite, also viel schwatzen und erklären muss – das pure Gegenteil zum Schreiben. Wenn die Tage 50 Stunden hätten, wäre ich Schriftsteller, Familienvater, Schreiner, Trockenmaurer, Musiker, Denker …
Gibt es für Sie Grenzen des Schreibens? Grenzen in Inhalten, Sprache, Textformen, ohne damit von Selbstzensur sprechen zu wollen? Momentan lote ich noch immer meine Grenzen aus. Zum Beispiel in Sexszenen. Wie weit kann man gehen, ohne dem Leser den Lesespass zu verderben? Ohne vulgär zu werden? Doch mit dem eigenen Erwachsenwerden weitet sich glücklicherweise mein Horizont.
Zählen Sie 3 Bücher auf, die Sie prägten, die Sie vielleicht mehr als einmal gelesen haben und in Ihren Regalen einen besonderen Platz haben?
«Bis bald», Markus Werner «Die kalte Schulter», Markus Werner «Froschnacht», Markus Werner «Pferde stehlen», Per Pettersen
Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wären Sie nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller, hätten sich die Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben? Gab es diesen Moment, der darüber entschied, ob Sie weiter schreiben wollen? Ich bin noch immer auf der Kippe. Wenn ich nicht bald mal meinen Lebensunterhalt als Schriftsteller bestreiten kann, muss ich eine andere Tätigkeit suchen. Momentan verdiene ich mein Brot als Reiseleiter und Filmkritiker.
Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen? Es fällt mir schwer, ein Buch fortzuschmeissen, selbst wenn es schlecht ist. Solange der Umschlag schön ist, bleibt es im Regal. In der Regel lese ich ein schlechtes Buch gar nicht zu Ende. Das wäre Zeitverschwendung.
Vielen Dank für das Interview!
Im kleinen Emmentaler Landverlag erscheint im kommenden April «Moosflüstern», ein Roman über einen Mann, der auf Island nach seiner Mutter sucht. Ein Roman, den es unbedingt zu lesen lohnt! Tun Sie es! Ich verspreche Lesevergnügen!