Angenommen: Der Eifelturm in Paris, das Brandenburger Tor in Berlin, das Colosseum in Rom oder der Parthenon auf der Athener Akropolis: Explosionen erschüttern nicht nur Fundamente der Bauwerke, sondern das Fundament einer ganzen Nation. So wie am 11. September 2001 mit dem Anschlag auf das World-Trade-Center in New York. Was treibt Menschen dazu? Warum das zerstören, was über die Jahrzehnte und Jahrhunderte zur Identifikation einer Stadt, einer Nation, der Menschheit gehört?
Christos Chryssopoulos stellt die Frage, ob Griechenland noch Griechenland wäre, würde man es von den marmornen Zeugen aus der Vergangenheit «befreien». Was ist Griechenland ohne seine Geschichte, ohne den Tourismus, der den antiken Mauern nachsteigt, ohne das Bewusstsein, der Nabel einer Hochkultur zu sein.
Ein Mann liebt sein Land. Er liebt den Tempel auf dem Stadtberg, von dem er nur in der dritten Person spricht, ein grosses Er, als wäre das Gemäuer die Verkörperung einer Gottheit über Stadt und Staat. Und weil er sich, seine Stadt und sein Land vor der erdrückenden und alles vereinnahmenden Omnipräsenz dieses Ers befreien will, pulverisiert er mit einem konzertierten dumpfen Krachen den Panthenon zu Staub.
«Literatur kann gefährlich sein.»*
«Panthenon» ist nicht durcherzählt, sondern eine Mischung aus verschiedenen Stimmen; jener des wahrscheinlichen Attentäters, beobachtet in einer Zelle, Zeugenaussagen, den Stimmen jener, die in der Mitte des Jahrhunderts in Manifesten in der obsessiven Antikenverehrung die Ursachen für den geistigen und ideologischen Niedergang Griechenlands sahen, und eines labilen Soldaten, der sich ausgerechnet unter jenen findet, die ins Erschiessungskommando einberufen werden, um das gefällte Todesurteil gegen den Bombenleger zu vollstrecken.
«Das kollektive griechische Bewusstsein wurde und wird in den Grundfesten erschüttert.»*
Dass Griechenland mittlerweile nicht nur geistig und ideologisch angezählt ist, sondern auch wirtschaftlich und sozial, gibt dem schlanken Roman mehr als nur eine aktuelle Komponente. «Ich hatte nicht vor, Böses zu tun. Ich wollte nicht zerstören», beschwört der Festgenommene in seiner Zelle. «Es verlangte mich nur danach, uns von dem zu befreien, was als unübertroffen vollkommen angesehen wurde. Ich empfand mich selbst als jemanden, der ein Geschenk anbietet, einen Ausweg, eine Herausforderung.» Am Morgen nach den Explosionen lichten sich Staub und Rauch und statt der ewigen Silhouette tut sich der Himmel auf. Was er tat, war kein Affekt, keine Reaktion, sondern ein Befreiungsschlag, der eine Stadt, ein Land, ein Volk aus dem Würgegriff von Tradition, Geschichte und Mythos befreien soll.
«Wie reagieren wir in der Gegenwart, wenn wir die Last der Vergangenheit auf dem Rücken tragen?»*
Christos Chryssopoulos tut dies literarisch, nicht als möglichst realistische Fiktion. «Parthenon» ist ein Kunstwerk, in dem sich Stimmen spiegeln und reflektieren. Ein Roman, der sich mit dem beschäftigt, was Identität ausmacht, worin sich Staaten spiegeln und sonnen, auch wenn jene Geschichte aus viel mehr Pathos als Wirklichkeit entspringt. «Parthenon» ist auch ein Buch der Gegensätze; es beginnt mit der Stimme eines überzeugten Machers, eines Mannes, der sich ganz und gar nicht als Zerstörer und schon gar nicht als Verbrecher sieht. Das Buch endet mit der Stimme eines Soldaten, einer von 15, die auf Befehl auf den Verurteilten schiessen sollen, eines Soldaten, der bislang immer die Augen verschloss, wenn der Abzug den Schuss auslöste.
«Die Profilierung des Nicht-Profanierbaren ist die politische Aufgabe der kommenden Generation.» Giorgio Agamben
«Parthenon» ist das erste seiner Bücher, das ins Deutsche übersetzt wurde.
(*Zitate aus dem Gespräch in Leukerbad vom 29. Juni 2019)
Christos Chryssopoulos erlebt die schwierigen Verhältnisse in Griechenland hautnah und sieht es als Pflicht, in seinen Büchern Stellung zu beziehen. Der 1968 in Athen geborene Schriftsteller, Übersetzer und Fotograf studierte Wirtschaftswissenschaften und Psychologie. Für sein Werk wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. verlieh ihm die Französische Republik 2015 den Titel des Ritters der Wissenschaften und Künste. Christos Chryssopoulos ist Mitglied des Europäischen Kulturparlaments und schreibt regelmäßig für die nationale und internationale Presse. Seine Bücher werden weltweit übersetzt.
Theo Votsos, geb. 1966 in Stuttgart als Sohn griechischer Arbeitsmigranten, arbeitet als freiberuflicher Übersetzer griechischer sowie deutschsprachiger Literatur. Daneben ist er für diverse Medien als Film- und Literaturredakteur tätig. Er hat in Konstanz und Tübingen Politologie, Soziologie und Philosophie studiert.
Beitragsbild © Literaturfestival Leukerbad


Ein Mädchen, von dem nicht einmal der Name stimmt, das ihm keine Fragen beantwortet, sich gleichermassen distanziert wie in vollkommener Selbstverständlichkeit den Platz einer Tochter einnimmt. Ein Mädchen ohne Geschichte, scheinbar ohne Familie, mit einer Sprache, die, wenn das Mobilphone klingelt und eine unbekannte Welt sie in einer fremden Sprache sprechen lässt, das Mädchen nicht einordnen lässt.
Jara bleibt, auch als sich die Maschinerie des Sozialstaates einschaltet und er sich erklären muss, warum ein alter Mann mit einer fremden, jungen Frau unter einem Dach in der selben Wohnung lebt. Jara zeichnet, hockt am Boden in ihrem Zimmer, füllt unzählige Blätter mit Bleistiftzeichnungen, ordnet, trennt und fügt zusammen, ein ‹Atlas der verborgenen Welten›, in sich versunken, ekstatisch.
feine Beobachtungen im Alltag, Einsichten eines langsam Schreitenden, ob bissig, feinsinnig, witzig oder mit hellen Farben malend, Klaus Merz ist stiller Könner, der sich nie verliert. Man möchte seine Gedichte langsam abschreiben, sie verinnerlichen, oder so wie der Freund, der mir einmal verriet, dass er die abgeschrieben Gedichte von Klaus Merz auf kleinen Zettel auf den Spiegel im Badezimmer klebt, um sie beim Rasieren und Zähneputzen auswendig zu lernen.
Er wolle die hintersten Seiten der Seele aufs Papier bringen, sagt Joseph Zoderer in einem Interview. Seine Lyrik bleibt stets ganz nah an seiner Person, ist ehrlich, teilt sich einem in einer Intensität mit, die fast verlegen macht, in der man sich ertappt, zur Reflexion gezwungen fühlt. Seine Gedichte sind Fragestellungen an sein Leben, Innenansichten, die nach Aussen leuchten, sprachliche Diamanten, die beim mehrmaligen Lesen das Licht ganz verschieden zu brechen vermögen.
Joseph Zoderer, geboren 1935 in Meran, lebt als freier Schriftsteller in Bruneck. Studium der Rechtswissenschaften, Philosophie, Theaterwissenschaften und Psychologie in Wien. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. Ehrengabe der Weimarer Schillerstiftung (2001), Hermann-Lenz-Preis (2003) und Walther-von-der-Vogelweide-Preis (2004). Vom Autor des Romans „Die Walsche“ (Neuauflage bei HAYMONtb 2012) erschienen bei Haymon zuletzt: „Das Glück beim Händewaschen“. Roman (HAYMONtb 2009), „Die Farben der Grausamkeit“. Roman (2011, HAYMONtb 2014), „Mein Bruder schiebt sein Ende auf“. Zwei Erzählungen (2012) und „Hundstrauer“. Gedichte (2013). 2017 erscheinen „Die Erfindung der Sehnsucht“. Gedichte und „Das Haus der Mutter“. Theaterstück und Erzählung (HAYMONtb).
Die vom belgischen Journalisten geführten und von Erich Wolfgang Skwara übersetzten Gespräche sind bei Haymon unter dem Titel «Die Republik Nizon» erschienen. Ein idealer Einstieg ins Werk des grossen Auslandschweizers, der von sich behauptet, als Schriftsteller geboren worden zu sein. Er sei zum Schreiben vorbestimmt gewesen, ein Auserwählter, ein Verdammter.
