mit Evelina Jecker Lambreva und «Mein Name ist Marcello», Braumüller

Bei vielen Leserinnen und Lesern scheint die Frage, ob ein Buch ein Stück abgebildeter Realität sei, eine wahre Geschichte, oder reine Fiktion, ein Spiel mit Realem, so zentral wie nie zuvor. Evelina Jecker Lambreva treibt eben diese Spiegelungen zwischen Realem und Fiktionalem bis auf die Spitze – erfrischend und mit tiefgründigem Scharfsinn.

Fabiana Bianchi ist eine angesagte Krimiautorin. Ihre Bücher scheinen ein nach Crime hungerndes Publikum längst von selbst zu finden. Wo sie auftritt, füllt sie Säle, ihre Bücher verkaufen sich sensationell. Sie geniesst ihren Erfolg, ist sich ihrer Wirkung auch auf der Bühne sicher, geniesst die Zuwendungen ihrer Fans. Aber bei der Präsentation ihres neusten Romans meldet sich während der Lesung ein Mann in der ersten Reihe und behauptet, sie habe die Geschichte im Buch gestohlen, das sei seine Geschichte und er sei nie gefragt worden, ob sie so einfach Gegenstand eines Buches werden dürfe; die Geschichte einer zerrütteten Familie, eines Verbrechens. Und als er ihr beim Signieren mit einem Prozess droht und sie auch auf den darauf folgenden Lesungen in den Metropolen Europas verfolgt, wird aus dem Vorwurf, den Drohungen ein Alp, der Fabiana Bianchi bis ins Mark erschüttert. Fabiana weiss nicht, wie ihr geschieht.

Evelina Jecker Lambreva «Mein Name ist Marcello», Braumüller, 2024, 240 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99200-362-4

Eine sehr plausible Situation, gibt es doch im Literaturbetrieb immer wieder solch wirre und unkontrollierbare Situationen, die nicht nur ein Buch verhindern, sondern Schreibenden ihre Existenz rauben können. Aber während der Lektüre wird sehr schnell klar, dass es Evelina Jecker Lambreva nicht in erster Linie darum geht, wie Literatur mit Realem umzugehen hat. Sie erzählt auch die Geschichte von Paolo Privoli, eines erfolgreichen Kunsthändlers, der es mit Geschick und Glück von ganz unten bis nach ganz oben geschafft hatte. Er, der sich auch für Literatur interessiert, ein leidenschaftlicher Leser der Kriminalromane von Fabiana Bianchi ist, sitzt in seiner Stadt in der ersten Reihe und muss feststellen, dass die Frau, die er nur aus Büchern kennt, seine Geschichte erzählt. Eine Geschichte, von der niemand, höchstens seine engsten Vertrauten wissen sollten. Die Geschichte eines Mannes, der als Kind seinen kleineren Bruder durch seine unstillbare Lust nach Macht ins Unglück treibt. Von einer Mutter, die nicht zu lieben vermag, einem Vater, der sich in seiner Verzweiflung umbringt und einem Grossvater, der zum Tyrannen wird. Eine Vergangenheit, eine Geschichte, die er nicht nur durch fünf Jahre Gefängnis hinter sich lassen wollte.

Fabiana Bianchi kann sich die Vorwürfe des Mannes nicht erklären und sämtliche Versicherungen, die Geschichte sei ganz und gar ihrer Fantasie entsprungen, perlen an dem aufgeschreckten Mann ab. Im Laufe des Romans entwickelt sich eine Art Duell. Dort die Frau, die sich an den Alp in ihrer Kindheit zurückgedrängt fühlt, dort der Mann, der glaubte, sein Leben in absolute Kontrolle getaucht zu haben und feststellen muss, dass ein Buch sein ganz eigenes Trauma offenbart.

Aber dabei bleibt es nicht. Evelina Jecker Lambrevas Roman zwischen Krimi und Verwirrspiel, zwischen Familiengeschichte und Vergangenheitsbewältigung stellt zwei Menschen einander gegenüber, die sich beide auf ihre Weise mit ihrer Kindheit, den dunklen Flecken in ihrer Vergangenheit konfrontiert sehen. Bin ich der, den ich mit Akribie selbst inszeniere oder doch nicht durch die Poren meiner Fassade das, was ich nie zu verdauen in der Lage war? Evelina Jecker Lambrevas Wissen um die Vielschichtigkeit menschlichen Seins macht das Spiegellabyrinth, durch das ich mich als Leser winde, verständlich. Unser Innenleben ist verschachtelt, voller dunkler Sackgassen und tückischer Geheimnisse.

„Mein Name ist Marcello“ ist voller Überraschungen, liest sich wie ein Thriller, der sich immer und immer wieder meinen Interpretationen verweigert. So wie die menschliche Seele ein Labyrith ist, so gibt sich die Lektüre dieses Romans.

(bis ca. 21 Uhr), Eintritt inkl. Konsumation 35 CHF, zwingend Anmeldungen bis 10. August unter info@literaturblatt.ch oder 076 448 36 69 (Platzzahl beschränkt!)

Interview

„In each of us there is another whom we do not know…“, ein Zitat von C. G. Jung, ist Deinem Roman vorangestellt. Wären wir uns dessen mehr bewusst, wäre das Verständnis für die Schattenseiten anderer wohl viel grösser. Du bist Psychiaterin, Psychotherapeutin und Schriftstellerin und damit prädestiniert, den Spalt hinter Fassaden zu finden. Ist das Schreiben auch ein Ventil?
Ein Ventil? Mein Beruf hat mich zwar schon immer zum Schreiben inspiriert, mit den Themen, die sich aus den Gesprächen mit meinen Patientinnen und Patienten ergeben, aber das Schreiben als Ventil habe ich noch nie gebraucht. Ich wüsste auch nicht, wozu ich ein Ventil bräuchte. Viel mehr dient mir das Schreiben für die persönliche Auseinandersetzung mit mir selbst, indem ich versuche, eben diese „andere“, die in mir verborgen ist, kennenzulernen. Für mich habe ich sogar die Worte von C.G. Jung so perephrasiert: „In jedem von uns lebt noch einer/eine, den/die wir nicht sein wollen.“ Genau diese möchte ich durch das Schreiben besser kennenlernen: die ich nicht sein möchte, die aber trotzdem irgendwo (auch) mein Inneres bewohnt.

Fabiana Bianchi ist eine überaus erfolgreiche Krimiautorin. Derer gibt es viele, man denke an Donna Leon oder Charlotte Link. Autorinnen, die Buch an Buch veröffentlichen, Bestseller an Bestseller reihen und mehr als gut von ihrem Schreiben leben können. Doch eigentlich die Ausnahme, denn die meisten AutorInnen leben mehr schlecht als recht von ihrer Schriftstellerei. Aber wie jede Person, die sich im Focus einer breiten Aufmerksamkeit bewegt, hat diese Popularität auch seinen Preis. Verkauft eine erfolgreiche Künstlerin, ein erfolgreicher Künstler mit seinem Ruhm nicht auch ein Stück seines Lebens?
Natürlich tut er/sie das. Vermarktung der Intimität ist heutzutage hoch im Trend. Für mich ist es jedoch unklar, wie bewusst ein Künstler/eine Künstlerin so was macht. Ich glaube kaum, dass es viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen gibt, die ganz gezielt ihr Leben für Geld an das Lesepublikum verkaufen. Vielleicht ist es bei einigen eher ein Bedürfnis, das eigene Leben in die Welt hinauszuschreien, hinauszuweinen, auszukotzen, mitzuteilen? Man kann dieses Bedürfnis aber auch diskret verschlüsselt und eingepackt in Figuren, Metaphern oder Allegorien ausleben, derart, dass nur der Künstler/die Künstlerin weiss, dass es sich um sein/ihr Leben handelt. Somit wird auch der finanzielle Profit eines Verkaufs fern vom Bewusstsein gehalten.

Naviglio Grande, Milano @ Evelina Jecker Lambreva

In den unendlichen Möglichkeiten menschlichen Lebens ist die Wahrscheinlichkeit, dass man mit seinem Schreiben die Wirklichkeit eines fremden Menschen trifft, nicht so verschwindend wie man glaubt. Du als Schriftstellerin hoffst doch auch, dass Leserinnen und Leser sich in Deinen Geschichten gespiegelt sehen oder sogar wiedererkennen. Ist das nicht genau die Resonanz, die man als Schreibende erhofft?
Schriftsteller/Schriftstellerin sein, ist ein einsames Schicksal, so denke ich. Wenn ich schreibe, denke ich nie an die potentiellen Leserinnen und Leser, nicht an Rezensentinnen und Rezensenten, nicht an die Medien. Ich bin allein in der Auseinandesetzung mit meinen Gedanken, Stimmungen, Atmosphären, Heldinnen und Helden. Die Lesenden müssen sich nicht unbedingt in meinen Geschichten wiedererkennen oder sich darin gespiegelt sehen. Von mir aus können meine Figuren auch befremdend, schrecklich, sogar abstossend auf das Lesepublikum wirken. Das würde mich gar nicht stören, wenn es so wäre. Viel wichtiger ist es mir, dass ich durch meine Figuren die Leserschaft zu neuen Gedankenanstössen anregen kann. So hoffe ich auf eine Resonanz zu den Lebensthemen, die ich in meinen Werken durch meine Heldinnen und Helden behandle. Dies aber erst, wenn das Buch veröffentlicht ist, nicht während des Schreibens.

Beide Protagonisten kommen aus Familien, die ihnen nicht geben konnten, was man jedem Kind wünscht. Beide tragen einen Alp mit sich herum. Ich bin Sohn und Vater und weiss sehr genau, wie tief die Schluchten sein können, an denen man sich als Mutter oder Vater vorbeihangelt. Mittlerweile lebt eine ganze Industrie von den Auswirkungen dieser Untiefen. Und auf der anderen Seite die Literatur; Bücher, die sich in den Untiefen tummeln, Bücher, die bewusst machen. Du schreibst Deine Bücher ja auch nicht zur blossen Unterhaltung und Zerstreuung. Wo liegt das Urmotiv dieses Romans? Wie kamst Du zu dieser Idee?
Beziehungen zwischen Eltern und Kinder haben einen zentralen Platz in all meinen Werken. Vielleicht hängt das mit meinem Beruf als psychoanalytisch orientierte Psychotherapeutin zusammen, denn bei mir gehen Medizin und Literatur Hand in Hand. Das Urmotiv meines Romans kam von einem Mord, den ich als Falldarstellung an einem Studentenunterricht präsentiert habe. Während ich den Studentinnen und Studenten den Fall schilderte, lief plötzlich im Hintergrund der ganze Romanplot in meinem Kopf ab, wie in einem Film. Mehr dazu möchte ich nicht sagen, da ich nicht in eine Situation der Arztgeheimnisverletzung geraten möchte.

Das Städtchen mit dem Namen einer Heiligen in Ligurien @ Evelina Jecker Lambreva

In Deinem Roman geht es viel um Macht. Paolo Privoli kompensiert die Machtlosigkeit, die ihn als Kind ins Abseits drängte mit der Sehnsucht, Macht auszuüben. Macht ist ein grosser Antrieb, der in Politik und Wirtschaft aber allzuoft, hauptsächlich von Männern, zu Katastrophen führt. Geniessen die Schriftstellerin die „Macht“ über ihre Leserschaft?
Ich habe nicht das Bewusstsein, Macht in irgendeiner Form auf die Leserschaft auszuüben. Wenn ich über Macht schreibe, dann ist das, weil mich Macht interessiert, insofern sie fast immer als unbewusster Kompensationsversuch von in der Kindheit erlebter Ohnmacht auftritt. Die Ohnmacht eines Kindes bewegt mich zutiefst, und was später im Verlauf des Lebens aus dieser Ohnmacht entstehen kann – diese Frage entzündet meine künstlerische Fantasie enorm. Wie sich aus einem ohnmächtigen, systematischer Gewalt ausgelieferten Kind später eine Ärztin, eine Schriftstellerin, eine Mörderin oder eine Rechtsextremistin entwickelt, das ist die Frage, die mich in meinen Texten beschäftigt. Denn das ist und bleibt für mich eines der grossen Geheimnisse des Lebens: Wieso machen psychische Traumata von in der Kindheit erlebter physischer und/oder psychischer Gewalt manche Menschen krank und (selbst)zerstörerisch, andere zu autoritären Herrschern oder gar zu monströsen Diktatoren, und andere wiederum zu hochbegabten Künstlerinnen und Künstlern, sowie zu hervorragenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Dieses Geheimnis, so denke ich, wird wohl nie von der Wissenschaft gelüftet werden.

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. Ihr literarisches Schaffen in deutscher Sprache begründete sie mit dem Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie den Erzählbänden «Unerwartet» und «Bulgarischer Reigen». Bei Braumüller erschienen: «Vaters Land» (2014) «Nicht mehr» (2016) «Entscheidung» (2019) und «Im Namen des Kindes» (2022)

Beitragsbild © Alexander Jecker

Hauslesung in Amriswil mit Peter Weibel «Kaltfront», edition bücherlese

am 26. Oktober, 18 Uhr, an der Maihaldenstrasse 11 in Amriswil

wegen beschränktem Platz unbedingte Anmeldung bis 20. Oktober unter: info[at]literaturblatt.ch oder 076 448 36 69 (Nur noch ganz wenige Plätze!)

Eintritt, inklusive Konsumation CHF 30

Voller Idealismus nimmt Vera, eine junge Ärztin, ihre Tätigkeit in einer Landpraxis auf. Überzeugt, dass sie hier ihren Bestimmungsort gefunden hat, begreift sie ihren Beruf als Mission. Schon im zweiten Praxisjahr taucht ein unbekanntes Virus auf, das Verunsicherung, Krankheit und Tod mit sich bringt. Tag und Nacht ist Vera im Einsatz und unwillkürlich zieht sie Parallelen zu den Geschehnissen in Albert Camus Roman Die Pest. Sie wird, nach anfänglicher Verstörung, zur obsessiven Kämpferin für die Rettung von Menschen, gegen den Zerfall der Solidarität, für die richtigen Antworten in einer Zeit, wo es nur offene Fragen gibt. Die Angriffe auf ihre Person machen sie einsam. Und radikal, obwohl sie das nie gewollt hat – nur noch richtig oder falsch gibt es für sie, das gilt auch für ihre Gegner. Zerbricht sie an sich selbst oder an der Wucht der Feindschaft?

Basierend auf einer wahren Begebenheit zeigt Peter Weibel präzise und einfühlsam die Zerrissenheit der Ärztin in der Krisensituation und zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die es verlernt hat, Ungewissheiten auszuhalten, und die durch Verunsicherung und kollektive Bedrohung auseinanderzubrechen droht.

Peter Weibel schreibt, aquarelliert und zeichnet. Seit über vierzig Jahren veröffentlicht er Texte in Prosa und Lyrik, oft mit Cover und Illustrationen aus eigener Hand. In der edition bücherlese erschienen bisher fünf Prosabände, zuletzt die Erzählung «Akonos Berg» (2022). Für seine Werke wurde er verschiedentlich ausgezeichnet, unter anderem mit einem Buchpreis des Kantons Bern für den Erzählband «Die blauen Flüge»l (2013) und für «Mensch Keun» (2017) mit dem ersten Kurt Marti Literaturpreis. Peter Weibel, geboren 1947, studierte Medizin und arbeitet seit vielen Jahren als Allgemeinpraktiker und in der Geriatrie. Er lebt und arbeitet in Bern.

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime – eine Würdigung von Klaus Merz

Anlässlich der Buchtaufe von Markus Bundis neuem Roman «Wilde Tiere» am 10. März dieses Jahres im Gluri-Suter-Haus in Wettingen, bei der Klaus Merz, aktueller Träger des Schweizer Literaturpreises, die Veranstaltung moderierte, verfasste Klaus Merz eine mehr als treffende Einführung zu «Wilde Tiere». Hier wiedergegeben eine leicht angepasste Fassung:

«Das Kaleidoskop sei ein optisches Gerät, das häufig als Kinderspielzeug verwendet werde, so Wikipedia. Es war ursprünglich schon den alten Griechen bekannt, wurde jedoch erst 1817 als Patent angemeldet. Ein Physiker war bei seinen Untersuchungen über die Polarisation doppelbrechender Kristalle darauf gestossen, als er solche in eine spiegelnden Metallröhre schob und betrachtete.

In unserem Fall aber giesst der Schriftsteller Markus Bundi in seinem neuen Buch mit dem Titel «Wilde Tiere» ein knappes Dutzend nicht über jeden Zweifel erhabene menschliche Individuen wie unsereins, ein paar Kunstmuseen von Rang und die dazu gehörenden Kunstwerke samt einer vermuteten Leiche kurzerhand in seine verspiegelte Rollen-Prosa-Röhre.

Bundi lässt in der Folge Kollers Gotthardpost samt erschrecktem Kalb und Dalis Brennende Giraffe plus Schubladenfrau miteinander die Wege kreuzen, hortet ein gestohlenes Bacon-Porträt im düsteren Abstellraum, während Boschs Knabe mit Windrädchen leise den Wänden entlang vorüberzieht. Das Zürcher Kunstmuseum vermischt sich als Ort des Geschehens lichterdings, so übrigens der Titel eines frühen Bundi-Gedichtbandes, mit dem Kunstmuseum in Wien, die neue, lotterige Aarauer Kunsthausterrasse korrespondiert mit dem ältesten öffentlich zugänglichen Kunstmuseum der Welt im reichen Basel. Und das Putzpersonal der gehobenen Anstalt mischt sich äusserst mitteilsam unter die recherchierenden KriminalistInnen vor Ort.

Von Anfang an nicht zu übersehen der ganz und gar hiesige Hausmeister Binz sowie der alte Kunstkenner Assinger, dem Namen nach vermutlich gebürtiger Österreicher – oder ist er gar dem Umfeld von Robert Walsers Aschinger zuzuordnen? – Er trägt einen Topas als Erbstück an seinem Finger und Droste-Hülshoffs Satz «Du hast die Erde, hast den Himmel und deine Geister obendrein» stets in seinem Herzen. – Und ich kann Ihnen versichern, liebe Leserinnen und Leser, weder die Direktorin des Hauses noch Greta Thunberg kommen ungeschoren davon, sogar Frau Merkel wird fast liebenswürdig «verhundst». Und ein Zwillingsschicksal nimmt, als weiterer Nucleus eines möglichen Romans im Roman, einsam seinen Lauf, während Wärter Odradek, das kafkaeske Museumsfaktotum per se, über Olafur Eliassons geflutete Zumthor-Räume in Bregenz nachdenkt und Marco Odermatt im Kunstschnee weiter siegt.

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime, 2024, 115 Seiten, CHF ca. 22.90
ISBN 978-3-99120-037-6

Nur, geneigte Leserinnen und Leser, leider weit und breit keine wilden Tiere, sondern im Grunde lauter «Denkzettel». Diese triftige Gedankensammlung Markus Bundis von 2022 findet hier ihre novellistische Fortsetzung. Als wildes Sinnieren.
Soviel als Versuch einer kurzen Einführung oder Entsprechung, will sagen, wilden Leseanleitung zu «Wilde Tiere», diesem sozusagen postmodernen Suchbild in Prosa, worin sich das Nichts und Abernichts auf Schritt und Tritt mit unserer Gegenwart vermischen und der heutige Zeitgeist bei Gelegenheit kurz und gehörig gegeisselt wird. Fast alles wird vom Autor mit einem knirschenden Lachen auf den Stockzähnen in den Prosa-Häcksler geschoben. Auch der Mord als Vorwand und Köder für die neugierige Leserschaft.

Wir sollten in diesem kaleidoskopischen Suchbild also vor allem dem Autor selber auf der Spur bleiben, da er ja – wie immer in literarischen Texten – der eigentliche Täter ist und bleibt. – In unserem Fall lautet sein Leitsatz übrigens: «Ich halte den Realismus für einen Irrtum.» Markus Bundi setzt diese Aussage von Georges Bataille als gestrenges Motto schon vor den Anfang seiner Geschichte. – Viel Vergnügen bei der Lektüre und Lesung von Markus Bundis «Wilden Tieren»!» 

Klaus Merz

Markus Bundi, 1969 geboren, lebt heute in der Nähe von Zürich. Er studierte Philosophie und Germanistik, arbeitete als Sport- wie auch als Kulturredakteur und unterrichtet seit vielen Jahren an der Alten Kantonsschule Aarau. Seit Beginn des Jahrhunderts publiziert er literarische und essayistische Texte, zuletzt  «Vom Verschwinden des Erzählers. Ein Essay zum Werk von Alois Hotschnig» und «Des Möglichen gewärtig. Ein Essay zum Werk von Klaus Merz». 2018 veröffemtlichte er sein Essay zur Ästhetik in Franz Tumlers Spätwerk «Wirklichkeit im Nachsitzen» und seit 2011 erscheint unter Bundis Herausgeberschaft die Klaus-Merz-Werkausgabe im Haymon Verlag. Bei Septime erschienen bisher der Kriminalroman «Alte Bande, Der Junge, der den Hauptbahnhof Zürich in die Luft sprengte» und «Die letzte Kolonie».

Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Franjo Seiler

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime – Hauslesung im Literaturport Amriswil

Ein Kunstraub oder gar ein Mord im Museum? Markus Bundis Roman «Wilde Tiere» ist kein Krimi – und schon gar keine Strandlektüre. «Wilde Tiere» ist ein literarisches Abenteuer, geschrieben von einem Schriftsteller, der sich nicht gerne eingrenzen und schubladisieren lässt.

Museen sind Unorte, weder Biotop, noch Lebensraum. Man besucht sie, zuweilen gar nachts. Aber es sind Orte des Schauens. Orte, an denen die Uhr anders oder gar nicht tickt. Orte, an denen die Zeit konserviert wurde, ob Kunstmuseum, Historisches Museum oder dergleichen. Auch wenn Schulklassen manchmal etwas Leben in solche Tempel bringen, bleibt leblos, was da drin von der besten Seite gezeigt wird. Museen sind Orte des Erinnerns, eingelagertes Bewusstsein, nur durch BesucherInnen mit dem Leben, der Gegenwart verbunden.

Dass Markus Bundi in seinem neuesten literarischen Streich einen solchen Unort gewählt hat, ist für einen Philosophen wie ihn doch eigentlich nicht verwunderlich. Sind Museen doch Spiegel der jeweiligen Zeit, passen sich ihrer jeweiligen Zeit wie ein Chamäleon an, wenn auch nicht aus eigenem Antrieb. Museen wollen Antworten geben. Museen wollen zeigen, verblüffen, manchmal bluffen, festhalten, das wie alles andere der Vergänglichkeit unterworfen ist. In seinem Roman „Wilde Tiere“ leuchtet der Schriftsteller in ein ganz besonderes Terrarium.

Markus Bundi «Wilde Tiere», Septime, 2024, 115 Seiten, CHF ca. 22.90
ISBN 978-3-99120-037-6

In diesem Haus kreuzen sich die Wege vieler, von Besucherinnen und solchen, die dort arbeiten. Bis eines Morgens die Polizei auftaucht und man im Haus ein Kapitalverbrechen vermutet. Julius Assinger, Stammgast mit Dauerkarte im Museum, wittert den grossen Kunstraub, bis durchsickert, dass in der Herrentoilette des Hauses eine Tote gefunden wurde. Kaum bekannt, überstürzen sich die Mutmassungen. Ist die Direktorin, die erst seit kurzem das Haus führt, Opfer eines Verbrechens geworden? Sie, die alles umkrempelt, dem Museum eine neue Richtung geben will, Einsparungen für notwendig erachtet und lieber Geld ausgibt für elektronische Überwachung statt für Personal? Odradek, der Museumswärter (In Franz Kafkas „Ein Landarzt“ ist Odradek eine nach Sinn und Unsinn fragende Gestalt oder ein Ding, wie eine seitlich gekippte Spule, von der nicht gesagt werden kann, wozu sie nütze wäre.), der in seiner Abstellkammer mehr Zeit mit Sinnieren verbringt, als mit tätiger Arbeit, glaubt an grosse Zusammenhänge und dass das erst der Anfang sein kann. Oder Hammi, die „Putze“, übrig geblieben von einer ganzen Putzkolonne. Oder Greta, die den Museumsshop führt und an der im wahrsten Sinne des Wortes keine und keiner vorbeikommt. Bis mit einem Mal klar wird, dass doch alles ganz anders ist, als angenommen. Kein Wunder in einem Haus, in dem die Scheinwelt eingerahmt an den Wänden hängt.

Markus Bundis Roman ist sonderbar. So museal die Szenerie, so museal die Sprache. Leicht gestelzt, als hätte der Autor beim Schreiben stets den kleinen Finger der Schreibhand nach oben gereckt. Wer ist heute noch ‹frappiert›? ‹Ehedem› und ‹einerlei› – Wörter wie aus dem Setzkasten der Vergangenheit. Markus Bundis „Wilde Tiere“ sind die Figuren im Museum, die durch das Auftauchen der Polizei in Aufruhr gesetzt werden. Hier die stoische Ruhe der Kunst, dort das hektische Treiben der Menschen im Haus. Einem Haus mit offener und versteckter Bühne, mit Räumen und Sälen für das Publikum und solchen, die auf keinem Übersichtsplan vermerkt sind. „Wilde Tiere“ hat kafkaeske Züge und liest sich dann mit Vergnügen, wenn die Lust am Geheimnis grösser ist, als deren Klärung. Was auf den ersten Seiten wie ein Krimi daherkommt und nach Verbrechern und Motiven sucht, ist ein Tiefgang in die Vieldeutigkeit. So wie es die akstrakte Kunst schon lange tut. Ein grotesk-skurriles Kammerstück voller Poesie und Witz für FeinschmeckerInnen!

Markus Bundi, 1969 geboren, lebt heute in der Nähe von Zürich. Er studierte Philosophie und Germanistik, arbeitete als Sport- wie auch als Kulturredakteur und unterrichtet seit vielen Jahren an der Alten Kantonsschule Aarau. Seit Beginn des Jahrhunderts publiziert er literarische und essayistische Texte, zuletzt  «Vom Verschwinden des Erzählers. Ein Essay zum Werk von Alois Hotschnig» und «Des Möglichen gewärtig. Ein Essay zum Werk von Klaus Merz». 2018 veröffemtlichte er sein Essay zur Ästhetik in Franz Tumlers Spätwerk «Wirklichkeit im Nachsitzen» und seit 2011 erscheint unter Bundis Herausgeberschaft die Klaus-Merz-Werkausgabe im Haymon Verlag. Bei Septime erschienen bisher der Kriminalroman «Alte Bande, Der Junge, der den Hauptbahnhof Zürich in die Luft sprengte» und «Die letzte Kolonie».

Veranstaltungen:
So, 10. März 2024, 11 Uhr, Wettingen, Gluri Suter Huus, Buchvernissage
Moderation: Klaus Merz

Mi, 17. April 2024, 19.45 Uhr, Lenzburg, Literaturhaus, Lesung mit Gespräch
Moderation: Luzia Stettler

Sa, 4. Mai 2024, 18 Uhr, Amriswil, Maihaldenstrasse 11, Hauslesung bei Irmgard
und Gallus Frei-Tomic, Anmeldung unbedingt an info[at]literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Hauslesung mit Catalin Dorian Florescu

Catalin Dorian Florescu, Schweizer Buchpreisträger 2011, besuchte im September Amriswil, erzählte und las aus seinen Büchern, verzauberte ein Wohnzimmer mit seinen Geschichten genauso wie mit seiner flammenden Leidenschaft. Geschichten spielen nicht in Büchern. Catalin Dorian Florescu findet sie in Begegnungen, in seinem Herkunftsland Rumänien, trägt sie mir sich, seine sechs Roman wie ein nie versiegender Kosmos, der seine Strahlung nie kleiner werden lässt.

Am Morgen danach sassen meine Frau und ich in der Stube mit Blick auf den Stuhl, der immer noch vor dem Fenster stand. „Catalin ist immer noch da“, sagte meine Frau. Und das stimmte. Die Luftströme im Raum wirbeln noch immer von seinen Gesten, die Erzählungen hängen im Raum vor dem Bücherregal. Es waren drei wunderbare, intensive, unvergessliche Stunden. Jenen, die da waren, brannte Catalin Dorian Florescu tief in ihre Seele.

«Liebe Irmgard, lieber Gallus,
In all den Jahren, seitdem ich schreibe und veröffentliche, sind mir immer wieder Menschen begegnet, die mich daran erinnerten, worum es beim Lesen geht: Um die Bereitschaft, sich von einem Text mit dem ganzen Wesen ergreifen zu lassen. Ihr seid zwei davon, und ich danke euch – auch bestimmt im Namen vieler anderer Autoren – dass euch beim Lesen Begeisterung, Herz, Leidenschaft leiten. Der Vormittag bei euch, umgeben von all den Büchern, mit den netten Zuhörern und den tollen Leckereien war ein Aufsteller!! Lieben Dank, Catalin Florescu»

«Fremdheimisch»: Catalin Dorian Florescu (Teil 1) Hörpunkt SRF 2

 

Catalin Dorian Florescu «Die Freiheit ist möglich», Residenz

«Wie kann man den Menschen befähigen, eine integrierte Persönlichkeit zu werden? Will er das überhaupt? Ist ihm der fragile Frieden, den er mit sich selbst für die Dauer seiner virtuellen Manipulationen geschlossen hat, nicht dienlicher?» Catalin Dorian Florescu hat keinen Ratgeber geschrieben, aber einen streitbaren Essayband darüber, was die unbegrenzten Möglichkeiten der virtuellen Vernetzung erreichen und verhindern. Und wer das Buch zum Anlass einer Diskussion lassen will, besuche die Hauslesung vom 1. September in Amriswil!

Ob uns die «Freiheit» vom Tier unterscheidet, scheint mir unsicher. Aber ich als Mensch hätte die Fähigkeit, mir durch mein Tun und Handeln, durch mein Denken und Fragen Freiheiten zu schaffen. Nutze ich diese Möglichkeit? Oder bin ich nicht längst ein fleissiger Knecht von Gesellschaft, Konsum, Politik, Medien und allgegenwärtiger Manipulation?

Nicht nur durch sein Studium der Psychologie, auch durch sein Sehen und Schreiben, «Schreiben und bewusst Leben, sind zwei Seiten der gleichen Medaille» formuliert Catalin Dorian Florescu Fragestellungen, die nachhallen, Aufforderungen zum Tun und Handeln, denen ich mich bei der Lektüre nicht selbstgefällig entziehen kann. Sei es im Umgang mit den modernen Medien, in der Art und Weise wie ich konsumiere, wie ich mich fortbewege, wie ich reise. Oder wie ich mich meinen Mitmenschen gegenüber verhalte.

Wie sehr uniformiere ich mich selbst in meinem Tun? Wie weit blende ich mich freiwillig in meiner Absicht ein Individuum zu werden, gehe den Verlockungen der virtuellen Welt auf den Leim? Bin ich einer derer, die Ökologie schätzen, aber einen grösseren, leistungsfähigeren Wagen kaufen? Bin ich gegen soziale Missstände, kaufe aber gerne bei Zalando und Amazon? Bin ich kritisch und skeptisch der Politik gegenüber, mache mich aber nicht auf, bei Wahlen und Abstimmungen mein Papier einzuwerfen?

Wir laufen Populisten mit wehenden Fahnen in ihre offenen Arme, sei es in der Schweiz, in Deutschland oder Österreich. Populisten ködern uns mit einfachen Antworten auf schwierige Fragen und Herausforderungen. Ob es bei diesen genügt, sich in eine kindliche Trotzhaltung zu begeben, sich abzugrenzen, abzuschotten, ist mehr als hinderlich bei der wirklichen Bewältigung anstehender Probleme.

Warum akzeptieren wir, dass wir die Welt, die uns die Werbung als Ziel vor Augen setzt, in der Roger Federer lässig seinen Kaffee schlürft und uns die Geissens die Welt erklären, nie erreichen werden, dass wir uns allerhöchstens den Billigurlaub an einem Strand in der Türkei leisten können. Von Genuss keine Spur, denn die permanente Angst vor dem Verlust der eigenen Sicherheit, der Arbeit oder Gesundheit lähmt uns viel zu sehr. Warum grassieren Depressionen, Burnouts und Selbsttötungen in einer Gesellschaft, die doch so perfekt ist? Warum liefern wir uns bei Erklärungen der Welt dem Einfachen und Polaren aus, statt zu akzeptieren, dass es schwierig ist, dass es Bewegung, Handeln, Erwachen braucht, um den tatsächlichen Problemen der modernen Gesellschaft entgegenzutreten?

Catalin Dorian Florescu stellt die Fragen, die es braucht. Er stellt sie mutig und genau. Er reisst die Kulissen herunter, die uns die Sicht verstellen, geht mit seinen Fragen so nahe ran, dass es zuweilen weh tut, wenn diese einem zur Reflexion zwingen. «Die Freiheit ist möglich» liest sich leicht, provoziert und verliert sich nicht in wissenschaftlichen, philosophischen oder gesellschaftlichen Erklärungen. Florescu hat es nicht nötig, seine Glaubwürdigkeit zu demonstrieren, denn was er schreibt, ist erlebt.

Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timisoara, Rumänien. 1982 Flucht mit den Eltern in den Westen, lebt seitdem in Zürich. Studium der Psychologie und Psychopathologie an der Universität Zürich, 1995–2001 Arbeit als Psychologe in einem Rehabilitationszentrum fur Drogenabhängige, Weiterbildung in Gestalttherapie, seit 2001 freier Schriftsteller. Zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. Anna Seghers-Preis 2003, Schweizer Buchpreis 2011, Joseph von Eichendorff-Literaturpreis 2012. Veröffentlichungen u. a.: „Zaira“ (2008), „Jacob beschließt zu lieben“ (2011), „Der Mann, der das Glück bringt“ (2016), „Der Nabel der Welt“ (Erzählungen, 2017). Zuletzt erschienen: «Die Freiheit ist möglich. Über Verantwortung, Lebenssinn und Glück in unserer Zeit» (2018).

In der Reihe unserer Hauslesungen an der St. Gallerstrasse 21, in 8580 Amriswil, liest Catalin Dorian Florescu am 1. September 2018 aus seinem Erzählband «Der Nabel der Welt» und dem Essayband «Die Freiheit ist möglich». Die Veranstaltung beginnt um 11 Uhr. Eine Anmeldung ist unbedingt erforderlich (info@literaturblatt.ch)! Eine einmalige Gelegenheit mit dem Schriftsteller und Schweizer Buchpreisträger in Kontakt zu kommen. Ein Büchertisch ist organisiert. Weitere Informationen hier.

Webseite des Autors

Beitragsbild: Sandra Kottonau

August 2018: Catalin Dorian Florescu liest in Amriswil!

Die Reihe der Hauslesungen wird fortgesetzt. Mitte August liest Catalin Dorian Florescu aus seinem bei C. H. Beck erschienen Erzählband „Der Nabel der Welt“ und seinem Essayband „Die Freiheit ist möglich“ aus dem Residenz Verlag. Die Veranstaltung beginnt wie immer mit einem Apéro um 11 Uhr. Auf die Lesung folgt ein Gespräch mit dem Autor und im Anschluss, wieder bei einem Glas Wein, ist Platz für ganz persönliche Gespräche. Ein Büchertisch steht zur Verfügung!

Genauere Informationen folgen. Eine Anmeldug ist wegen beschränkter Platzzahl unbedingt erforderlich! info@literaturblatt.

Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timişoara in Rumänien, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Er veröffentlichte die Romane «Wunderzeit» (2001), «Der kurze Weg nach Hause» (2002) und «Der blinde Masseur» (2006). Er erhielt zahlreiche Stipendien und Preise – u. a. den Anna Seghers-Preis und 2011 den Schweizer Buchpreis. Im Jahr 2012 wurde er mit dem Josef von Eichendorff-Literaturpreis für sein Gesamtwerk geehrt.

Rezension von „Der Nabel der Welt“ auf literaturblatt.ch

Zora del Buono «Hinter Büschen, an eine Hauswand gelehnt», C. H. Beck

Schon beeindruckend, was Zora del Buono mit ihrem neuen Roman auf 170 Seiten an Vielschichtigkeit, Themen und Klugheit vor mir ausbreitet, ohne in Oberflächlichkeit oder ideologischen Snobismus zu verfallen. Zora del Buono verdichtet nicht nur das Geschehen, genauso die Sprache und die Nähe zur Protagonistin; sie ist nie geschwätzig. «Hinter Büschen, an eine Wand gelehnt» so auf die Schnelle einzuordnen, ist gar nicht so leicht und beweist die Meisterschaft dieses Romans, seine Architektur.

Zum einen erzählt die Autorin von einem Sommer an einem amerikanischen Ostküsten-College, wo die Protagonistin als deutsch sprechende Europäerin im universitären Treibhaus einen Sommerkurs in Journalismus gibt. Die Erzählerin der Geschichte, so alt wie die Autorin der Buches (Jahrgang 1962), verliebt sich in einen der Studenten, einen um 30 Jahre jüngeren Wilden mit pechschwarzen, schulterlangen Haaren, Kinnbart, Schnauz, unrasiert. Eine unmögliche Campusliebe, die nicht verborgen bleibt. Erst recht nicht, als sich in die Liebe Verzweiflung mischt. Während man der Dozentin deutlich die Unmöglichkeit zu verstehen gibt, rutscht Zev, der junge Wilde, bei seinen journalistischen Gängen immer tiefer in die im gleichen Sommer grassierende Angst, von Geheimdiensten und Regierungen vollkommen kontrolliert und überwacht zu sein. Während Edward Snowdens Enthüllungen den Geheimapparat NSA entblössen und 9783406696909_largeRegierungen zu allerlei Beschwichtigungen zwingen, wird Zevs Angst zur lähmenden Paranoia. Die zunehmende Angst, was ein Satz auszurichten vermag, ein Anruf, eine Mail, selbst das geflüsterte Wort, das zu einem Dröhnen werden kann. Die Angst, jeden Satz bei jeder Gelegenheit abwägen zu müssen, weil unsichtbare Ohren zuhören, zerreisst den jungen Zev. Die Angst verändert auch das, was im Verlaufe der Sommerwochen eine Liebe wird. Zora del Buono offenbart in ihrem Roman aber noch viel mehr; den Klassenkampf zwischen Studenten und Dozenten, die allgegenwärtige Angst der amerikanischen Gesellschaft, nicht nur vor Terror, das Leben in der Wattewelt der Universitäten und die Unmöglichkeit einer Liebe zwischen einer «älteren» Frau und einem jungen Mann, ganz im Gegensatz zu deren Umkehrung. Das grosse Thema aber ist die Angst: «Vor einer Woche war mein Leben noch in Ordnung, ich bin jung, meine Zukunft war offen. Jetzt habe ich Angst. Ich leide an Lähmung durch Angst. Ich weiss zu viel über sie. Und sie wissen zu viel über mich.» Und nicht zuletzt ist der Roman das Protokoll des Sommers 2013, als die Welt aus ihrer lethargischen Naivität von mutigen Menschen wie Edward Snowden aufgeschreckt wurde. Das Protokoll einer «unmöglichen» Liebe aus der Sicht einer Frau für einen jungen Mann, «in dessen Nähe ich mich in Sicherheit fühlte, eigenartig geborgen, ich, die Vaterlose, die sich nie im Leben von einem Mann hat beschützen lassen wollen, die sich ins Bodenlose geschämt hätte, wenn sie auf einem Motorrad die Sozia hätte sein sollen, gelehnt an einen Mann, undenkbar…»
Ein wahrhaft vielschichtiger Roman, stark in seiner Wirkung, dicht und spannend bis zum allerletzten Satz. Bestimmt ein Buch über die Liebe, die sich aller Kontrolle entzieht, auch vor der eigenen.

zoradelbuono3Zora del Buono, geboren in Zürich, lebt in Berlin und Zürich. Sie studierte Architektur an der ETH Zürich und der HdK Berlin, arbeitete vier Jahre als Architektin und Bauleiterin und war Gründungsmitglied der Zeitschrift «mare». Im mareverlag sind ihre Romane «Canitz’ Verlangen» (2008) und «Big Sue» (2010) erschienen sowie «Hundert Tage Amerika. Begegnungen zwischen Neufundland und Key West» (2011), bei Matthes & Seitz in der Reihe «Naturkunden» ihr Band «Das Leben der Mächtigen. Reisen zu alten Bäumen» (2015).

Zora del Buono liest am Sonntag, den 12. März 2017  in Amriswil bei uns an der St. Gallerstrasse! 11 Uhr! Vormerken! Die 10. Hauslesung! Unser kleines Jubiläum!

Webseite der Autorin

(Titelbild: Sandra Kottonau)

9. Hauslesug mit Dominique Anne Schuetz

Sie sind eingeladen!

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Am Samstag, 22. Oktober, von 11 bis ca. 12.30 Uhr, liest die Schriftstellerin Dominique Anne Schuetz aus ihrem Roman «Von einem, der auszog, die Welt zu verschieben» an der St. Gallerstrasse 21 in Amriswil. Sie sind herzlich dazu eingeladen.

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Die Platzzahl für die Hauslesung ist begrenzt. Melden Sie sich bitte an mit dem Kontaktformular oder unter der Telefonnummer 071 695 36 69 oder unter gallus.frei-tomic@gmx.ch.

 

literaturblatt.ch fragt, Teil 5, Dominique Anne Schuetz antwortet

Dominique Anne Schuetz, ihre beiden letzten Romane «Die unsichtbare Grenze» und «Von einem, der auszog, die Welt zu verschieben» sind beim Europa Verlag erschienen, ist mehr als «nur» Schriftstellerin. Das sieht man, wenn man ihre Webseite besucht und wenn man ihr bei einer Lesung zuhört. Sie bewegt!

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich!
Ich möchte ungewöhnliche Geschichten erzählen, die nachwirken. Die Sprache ist mir wichtig, aber nicht als Selbstläufer. Durch mein Studium und meine Tätigkeit als Künstlerin bin ich auch stark optisch geprägt und mag das «bildliche» Schreiben, nicht nur die Figuren sollen ein Gesicht erhalten, auch die Orte sollen erlebbar werden. Deshalb fällt z. B. auch mein Aufwand für Recherchen stets sehr umfangreich aus.image[1]

Wo und wann liegen in ihrem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen sie sich fürchten?
Schwierig ist eigentlich nur, dass es so lange dauert, bis ein Roman geschrieben ist und in gedruckter Form vorliegt. Das Schöne an der Schriftstellerei ist die Freiheit während des Schreibprozesses. Ein bekannter Filmregisseur sagte einmal: Er habe aufgehört, während des Drehs Ideen zu entwickeln, weil jede dieser Ideen mindestens 50’000 Dollar koste. Da haben es die Literaten entschieden einfacher.

Lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Mit meinem ausgedehnten Fitnessprogramm bereite ich mich auf die Arbeit vor. Das leert den Kopf und bringt mich auf neue Ideen.
Ohne Musik kann ich nicht schreiben. Ich brauche jedoch einen speziellen Sound: Soul, Neo Soul, Nu Jazz, Acid Jazz, Latin mit Soul- und Jazzeinflüssen, Louisiana Blues, Funk.

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Kunst hat immer eine Verantwortung, sonst ist es keine Kunst. Ich mag das Zitat des finnischen Architekten Alvar Aalto, der sagte: »Es gibt nur zwei Dinge in der Architektur: Menschlichkeit oder keine.»
Dass man von den Autoren mehr erwartet, hat mit der Macht des Wortes zu tun. Meines Wissens wurde noch kein Krieg mit einem Gemälde oder einer Oper entfacht bzw. beendet, sondern stets mit Worten.

Inwiefern schärft Ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
In meinen letzten vier Romanen ging es um Rassismus, um den Umgang mit Andersartigen, um Ideologien oder auch um die Schuldenwirtschaft. Jedoch verpacke ich solche Inhalte stets in einen Roman, der stark von den Figuren und ihren Entwicklungen geprägt ist. Ich will nicht meine Meinung zwischen den Buchdeckeln lesen, sondern indirekt Denkanstösse geben. Wie die vielfältigen Reaktionen zeigen, findet eine Auseinandersetzung mit meinen Stoffen sehr wohl statt, auch wenn ich die Themen nicht laut in den Vordergrund stelle.

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür/dagegen?
Die Einsamkeit ist kein Problem, weil ich mich während des Schreibprozesses in einer völlig anderen Welt befinde.

Gibt es für Sie Grenzen des Schreibens? Grenzen in Inhalten, Sprache, Textformen, ohne damit von Selbstzensur sprechen zu wollen?
image[1] (2)Obwohl persönliche Erfahrungen Eingang in meine Bücher finden, würde ich nie eine Autobiografie schreiben. Das ist mir zu sehr Seelenstriptease. Auch würde ich keinen Roman schreiben, bei dem man mir ein Thema vorgibt, und als Coautorin für Prominente wäre ich ebenfalls eine Fehlbesetzung.

Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
«Dreamland» von Kevin Baker. Habe den Roman gerade zum zweiten Mal gelesen. (OKay, vielleicht nur ein halber Geheimtipp.)

Zählen Sie 3 Bücher auf, die Sie prägten, die Sie vielleicht mehr als einmal gelesen haben und in Ihren Regalen einen besonderen Platz haben?
Als Kind: «Hauffs Märchen». Ich mochte keine Hanni-und-Nanni- oder ähnliche Bücher, sondern hatte eine Schwäche für Märchen. Hauff war mein Liebling, da seine Geschichten oft exotisch und auch etwas gruselig waren.
Als junger Teenager: «Die Verwandlung» von Franz Kafka. Das Buch hat mir die Tür zur Literatur geöffnet.
Später: «Wassermusik» von T. C. Boyle. Kreativ, bildstark, atemlos, sprachlich einzigartig.

Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen?
Ich bekomme selten Bücher geschenkt, weil die Leute da eine gewisse Scheu haben und mir lieber eine Flasche Wein bringen (was auch ganz gut ist). In mein Regal kommen nur absolute Lieblingsbücher. Ich gebe viel weg, da ich lieber mit leichtem Gepäck lebe.

Schicken Sie mir ein Foto von Ihrem (unaufgeräumten) Arbeitsplatz?
(Das Foto ziert den Anfang des Interviews.) Mehr Unordnung kann ich leider nicht bieten. Im Hintergrund läuft übrigens grad Leela James ☺.

dominique-anne-schuetz[1]Dominique Anne Schuetz, geboren in Winterthur, aufgewachsen in St. Gallen, ist Mutter von zwei Söhnen und lebt in der Nähe von Zürich. Sie war Creative Director und hat zahlreiche Preise erhalten. Heute ist sie erfolgreich als Künstlerin und Autorin tätig und wurde für ihr literarisches Schaffen ausgezeichnet.

Vielen Dank an Dominique Anne Schuetz!

Mitte September folgt ein Interview mit Daniela Danz. Ich freue mich!

Am 22. Oktober, 2016, von 11 Uhr bis ca. 13 Uhr liest die Autorin bei Irmgard & Gallus Frei-Tomic, St. Gallerstrasse 21, 8580 Amriswil
(unbedingte Anmeldung unter gallus.frei-tomic@gmx.ch) oder übers Kontaktformular dieser Webseite!

Anja Geburi 2