Anna Kim, 1977 in Südkorea geboren, als kleines Kind mit ihrer Familie nach Deutschland und später nach Österreich gekommen, veröffentlicht seit 2004, bald 20 Jahre, vor allem Romane und Essays. Ein erstes Mal hörte und sah ich Anna Kim in Leukerbad am Internationalen Literaturfestival 2017 mit ihrem Roman „Die grosse Heimkehr“, ein Roman über die Geschichte Nord- und Südkoreas nach dem zweiten Weltkrieg, von einer jungen Frau auf den Spuren ihrer Wurzeln.
Anna Kim trennt ihr biographisches nicht von ihrem politischen Schreiben, das Individuelle und das Politische wäre stets eine Einheit gewesen, weil ihr Aussehen scheinbar nicht das repräsentiert, was ihrer Biographie entspricht, weil man Menschen allzu schnell nach ihrem Äusseren taxiert.
Logische Konsequenz daraus ist ihr Roman „Geschichte einer Kindheit“, mit dem Anna Kim von Wien nach Gottlieben angereist war.
Wie alle ihre Bücher ein erstaunliches Werk schon deshalb, weil sich Anna Kim nie auf das Kleinräumige, Nationale, Regionale reduzieren lässt, weil ihre Geschichten, die Schauplätze ihrer Romane stets einen global übersetzbaren Hintergrund besitzen, der sich genauso global verortet in den Romanen niederschlägt; ob in Grönland, Kosovo, Korea oder den Nordamerika; ihre Romane sind Suchen nach den Gründen, warum Menschen nicht zur Ruhe kommen, warum Menschen sich und andere stets in Schubladen pressen, grosse Schubladen oben mit viel Raum, enge unten, in die man alles stopft, was man oben nicht haben will. Sozio-politische Themen, die die Autorin, so verriet sie in einem Interview, auch dann nicht loslassen, wenn die Romane zu ende geschrieben sind und ihr Fokus auf Neues ausgerichtet wird.
„Geschichte einer Kindheit“ führt uns in eine us-amerikanische Kleinstadt im im Jahr 1953. Carol Truttmann ist jung und bekommt ein Kind. Als Vater ist keiner da. Aber auch ihre Muttergefühle siegen nicht über den Entschluss, den kleinen Jungen noch in der selben Nacht zur Adoption freizugeben. In der kleinen, konservativen Stadt, in der nichts verborgen bleibt, wäre das schon Skandal genug. Aber der kleine Junge ist nicht „weiss“ wie seine Mutter, sondern „negrid“. Und seine Mutter weigert sich, den Vater zu nennen, obwohl sie von den Sozialdiensten der Stadt immer und immer wieder aufgefordert wird, einen Namen zu nennen, um das Verfahren einer rechtsgültigen Adoption in Gang zu bringen. Der kleine Daniel wird bis zur Adoption in ein Heim gebracht, während eine ganze Maschinerie versucht, einen Pflegeplatz für den dunkelhäutigen Jungen zu finden und eine übereifrige Angestellte das Sozialdienstes keinen Versuch unterlässt, der jungen Mutter wegen des unbekannten Vaters auf den Zahn zu fühlen. Detektivische Nachforschungen, die aus gegenwärtiger Sicht mehr als übergriffig erscheinen, die mehr als verständlich machen können, dass sich eine junge Frau mehr und mehr verweigert.
Man sorgt sich durchaus um den kleinen Daniel. Man ahnt, dass er es in einem rein weissen Umfeld in Zukunft schwer haben wird. Dass auch eine Familie, die den kleinen Daniel adoptieren wird, nicht einfach einen Jungen in ihre Familie aufnehmen wird, sondern sich einer beinah feindlichen Gesinnung stellen muss. Anna Kim verdeutlicht das schmerzhaft eindringlich in den Akten des Sozialdienstes der Erzdiözese Green Bay, die in drei Teilen die Nachforschungen dokumentieren. Briefe, Telefonate und Berichte, die schneidend präzise verdeutlichen, wie sehr Behörden und vor allem die österreichischstämmige Sozialarbeiterin Marlene Winckler, durchdrungen sind von völkischem Gedankengut, der Überzeugung, dass alle nichtweissen Menschen der weissen Rasse unterlegen sind. Die Passagen dieser Akten, die Sprache, die Art und Weise, wie über das Schicksal des kleinen Jungen verhandelt und verfügt wird, schmerzt und macht offensichtlich, wie tief das elitäre Bewusstsein institutionalisierte „Nächstenliebe“ dominiert.
Anna Kims Roman hat mehrere Stimmen. Zum einen jene der jungen Frau, die einen ruhigen Ort zum Schreiben sucht, die eine Fährte aufnimmt und in Rückblenden zu reflektieren beginnt und von ihrem eigenen Leben erzählt, zum andern die unterkühlten Aktenpassagen, denen tatsächliche Akten zu Grunde liegen, die einen Schriftverkehr dokumentieren, der in schmerzhaft übergriffiger Weise zeigt, wie wenig es bei einer scheinbar objektiven Beurteilung um den jeweiligen Menschen selbst geht. Schon der Titel des Romans „Geschichte eines Kindes“ impliziert, dass Anna Kims Roman exemplarisch sein will.
Warum steht der Mensch so sehr unter dem Zwang, einzuordnen, alles in eine von Werten geprägte Hierarchie zu bringen? Ist das unsere Unfähigkeit, die natürliche Gleichheit von allen zu ertragen? Weil wir Menschen uns als Spitze der Evolution sehen?
In den Akten werden ungeheuerliche Behauptungen aufgestellt, die wie in Beton gegossene Wahrheiten präsentiert werden. Zum Beispiel: Im Durchschnitt ist die Intelligenz der Negerkinder um zwei Prozentpunkte niedriger als die der weissen Kinder.“ Aussagen, die heute zu tiefst schockieren, gleich mehrfach, in ihrer Zeit aber hingenommen wurden. Heute passiert solches Erwachen fast täglich, wenn gefragt wird, ob gewisse Bücher heute noch lesbar sind bis hin in die bildende Kunst, wo Männer wie Picasso auf ihren Sockeln wackeln.
„Geschichte eines Kindes“ ist aber auch der Roman einer jungen Frau, die sich aus welchen Gründen auch immer weigert, ihre Mutterschaft anzutreten. Ein scheinbares Unding, ganz im Gegensatz zu all den Vätern, die nicht bereit sind, ihre Vaterschaft anzutreten.
Anna Kims Roman beschreibt die menschliche Unfähigkeit, das Gegenüber nicht an Äusserlichkeiten zu messen: Warum kannst du mich nicht so akzeptieren, wie ich bin? Eine Schlüsselfrage, die bis in die Weltpolitik hineingeht.
Kurzgeschichte «Die Zähne» von Anna Kim auf der Plattform Gegenzauber
Rezension «Geschichte eines Kindes» auf literaturblatt.ch
Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau