Georgi Gospodinov «Der Gärtner und der Tod», Aufbau

Georgi Gospodinov hat seinen todkanken Vater während des Sterbens nicht nur mit seiner Anwesenheit begleitet, sondern mit Stift und Papier. So wie Sterben und Tod immer auf ganz eigene Weise mit dem Leben konfrontieren, so nehmen mich die Gedanken des Autors mit in meine eigene Erinnerung und in die Konfrontation mit dem, was auch bei mir dereinst kommen wird.

Georgi Gospodinov liebte seinen Vater, liebt ihn noch immer. Nur deshalb konnte der Schriftsteller ein solches Buch schreiben. Ein Buch, das nicht in erster Linie von seiner Trauer und seinem Schmerz erzählt, sondern von seiner Liebe, seinem Respekt und den vielen Erinnerungen, von denen der Autor genau weiss, dass sie in seinem eigenen Leben und in den Leben seiner Familie zu Samen geworden sind, die irgendwann zu Keimlingen und zu Pflanzen werden, so wie Geschichten, wenn sie denn erzählt oder gelesen werden immer etwas weiterleben lassen in den Leben jener, die den Kern dieser Geschichten in sich aufnehmen.

Ja, mein Vater war Gärtner. Jetzt ist er ein Garten.

„Der Gärtner und der Tod“ ist ein ganz und gar persönliches, intimes Buch. Georgi Gospodinov lässt mich an seinem Innersten teilhaben, als wäre ich sein Freund, ohne Absicht, einfach nur um sich mit dem Schreiben, dem Festhalten und Nacherzählen dem zu vergewissern, was sonst wie heisser Dampf im Äther zu verschwinden droht. „Der Gärtner und der Tod“ ist eine buchlange Liebeserklärung an den Vater, an das Schreiben, an die Sprache, die aus den Wunden, die Sterben und Tod aufreissen, etwas werden lassen, das wächst und gedeiht und wieder mit einer Pflanze verglichen werden kann. Es ist ein Akt gegen das Vergessen, gegen das Verschwinden, wissen wir doch alle, wie viel Leben, wie viele Geschichten mit dem Tod weggerissen werden, unwiederbringlich. Da stirbt jemand und mit ihm alles, was er an Erinnungen, Namen, Gefühlen und Bildern mit sich herumgetragen hat, alles ein Leben lang wie ein Schatz gehütet.

Es ist wichtig, ihre Hand zu halten, während sie sterben, sage ich zu einem Freund, der ebenfalls seinen Freund verloren hat.
Wichtig ist, dass wir sie danach loslassen, antwortete er nach kurzem Schweigen.

Gregori Gospodinov «Der Gärtner und der Tod», Aufbau, 2025, aus dem Bulgarischen von Alexander Sithmann, 240 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-351-04261-5

Auf Seite 104 stirbt Georgi Gospodinovs Vater, morgens um 5.17. Er sitzt am Bett seines Vaters, hält seine Hand, vier Tage vor Weihnachten, im Winter 2023. Es beginnt die Zeit danach. Die Zeit davor beschreibt Gospodinov im ersten Teil des Buches. Von einem starken Mann, der mehr und mehr nur noch ein Schatten seiner selbst war, der vor fast zwei Jahrzehnten schon einmal durch Krebs das Leben zu verlieren drohte, damals aber obsiegte. Nicht zuletzt durch seinen unerschütterlichen Lebenswillen, durch seine Liebe zu seiner Familie und seinem grossen Garten, in den er bis zuletzt viel investierte. Der ihm viel mehr war als ein Lebensmittellieferant, der Zeichen seiner Liebe zu seiner Familie war, einer Liebe, die mehr als deutlich lesbar war.

Der zweite Teil seines Buches ist die Auseinandersetzung mit dem Danach, mit all den Fragen, die der Tod mit einem Mal in den Vordergrund stellt, nicht zuletzt jene, warum wir uns so tunlichst dagegen wehren, uns zu Lebzeiten mit Sterben und Tod auseinanderzusetzen. Wie mit einem Mal alles wieder zum ersten Mal wird, zum ersten Mal ohne jene Person, die ein Eckpfeiler des eigenen Lebens war. Die Selbstvergewisserung eines neuen Kapitels, das letzte Hineingeworfensein in einen Abschnitt ohne Fangnetz.

Ich weiss, dass mit dem Tod meines Vater nicht nur eine, sondern mehrere Welten gestorben sind.

Dieses Buch ist viel mehr als Literatur, Unterhaltung. Es gab für mich derart viele Lese- und Gedankenpausen, bei denen das Buch zum Katalysator, zum Brennglas, zum Ansporn und Multiplikator wurde, dass ich dem Buch viel mehr verdanke als Genuss und Genugtuung. In zugänglicher Sprache umarmt mich dieses Buch, dabei ist er es, den man während der Lektüre brüderlich zur Seite nehmen will. Georgi Gospodinov beschenkte mich zu tiefst – und dafür kann ich ihm nur innig danken.

Vielleicht war das die Mission meines Vaters … ohne dass es ihm selbst bewusst war: Hirte einer kleinen Herde von Geschichten zu sein, die er von Hand aufgezogen hatte und die ihm überallhin folgten. Oder einfach Gärtner – dort, dort im Garten mit den Geschichten und den Familienstammbäumen.

Georgi Gospodinov wurde 1968 in Jambol, Bulgarien, geboren. Einem großen internationalen Publikum wurde er mit seinem ersten Roman bekannt, dem «Natürlichen Roman» sowie dem Roman «Physik der Schwermut», die in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt wurden. Gospodinov wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweifach mit dem Bulgarischen Buchpreis und dem Jan Michalski-Preis. Für seinen Roman «Zeitzuflucht» erhielt er 2023 den International Booker Prize. Er lebt und arbeitet in Sofia.

Alexander Sitzmann studierte Skandinavistik und Slawistik in Wien, forscht und lehrt an der dortigen Universität. Seit 1999 ist er als literarischer Übersetzer aus dem Bulgarischen, Mazedonischen und den skandinavischen Sprachen tätig.

Beitragsbild © Tihomira Krumova

Drei Perlen aus dem 22. Literaturfestival Leukerbad

Die Literatur riss in Leukerbad den Himmel auf!

Literaturfestival Leukerbad, ein literarisches Gipfeltreffen inmitten der Walliser Steilwände und Felszähne. 3’800 Eintritte während drei Tagen! Das Programm aus Lesungen und der «Perspektiven»-Gesprächsreihe war dicht und sehr international: Aus Europa, Asien, Nord- und Südamerika reisten 37 Autoren und Protagonisten ins Bäderdorf.

Liao Yiwu, einer der bedeutendsten chinesischen Avantgarde-Dichter, 1987 in politische Ungnade gefallen, veruteilt, für Jahre ins Gefängnis gesteckt, gefoltert und von seiner Frau zwangsgeschieden, weil die Familie nichts mehr von ihm wissen wollte, spielte Tsiao, eine chinesische Flöte. Ein Instrument, das er während seiner Haft von einem ebenfalls eingesperrten Mönch erlernte. Er spielte, sang und las aus seinem neuen und ersten Roman «Die Wiedergeburt der Ameisen», in dem er die Geschichte seiner Familie mit der seines Heimatlandes verknüpft, das ihn verstossen hat. Er, der kaum je wieder einen Fuss in sein Heimatland setzen wird, las, während auf dem Platz draussen chinesische Touristen vorbeiflanieren.
Robert Menasse, der grosse Europäer, der sich nicht scheut, bei einer Rede an das Europäische Parlament den Anwesenden die Leviten zu lesen und man gespannt auf seinen im September erscheinenden grossen Roman «Die Hauptstadt» wartet. Er bannt mit seinem Erzählen über Europa, während die Pizza im Dorf von Ukrainerinnen serviert wird.
Oder der irakisch-kurdische Schriftsteller und Dichter Bachtyar Ali, der 20 Jahre unentdeckt in Deutschland lebte und in seinem Roman «Der letzte Granatapfel» die gefährliche Reise auf einem Flüchtlingsboot übers Mittelmeer erzählt, eine bildgewaltige Parabel über Unterdrückung und Bruderzwist. Abends dann geniesst man im Restaurant mit Aussicht mediterrane Küche. International – auf jeden Fall.

Drei ganz besondere Perlen möchte ich vorstellen. Drei Bücher, eine Autorin und zwei Autoren, die es zu entdecken gilt, wenn man nicht längst auf sie gestossen ist:

100 Jahre Geschichte eines Landes, das kaum je in den Fokus Europas gerät. Ein Epos über die Folgen der Teilung der koreanischen Halbinsel, eine Spionagegeschichte und gleichzeitig ein politischer und historischer Roman multipliziert mit einer ménage à trois, die zwischen die Fronten gerät. Ein Roman mit gewaltiger und überzeugender Sogkraft. Ein Soziogramm der Lügen und Illusionen. Anna Kim ist in Südkorea geboren, dort aber weder zuhause noch beheimatet. Erstaunlich genug, dass sie immer und immer wieder als Südkoreanerin genannt wird, obwohl sie sich dezidiert gegen eine verortete Heimat ausspricht. Trotzdem beschäftigt sich die Autorin mit der Geschichte ihres Herkunftslandes, den Auswüchsen des kalten Krieges in Südostasien im Willen, diesen Konflikt zu verstehen. «Wie schreibe ich über Vergangenes und Geschichte? Reine Beschreibung reicht mir nicht aus, auch wenn ich mit Recherche tief ins Geschehen eingedrungen bin.» Eine mitreissende Geschichte um Freundschaft, Loyalität, Verrat und das unmögliche Leben in der Diktatur.

Georgi Gospodinov ist der grosse Autor der bulgarischen Literatur. Sein viertes bei Droschl auf deutsch erschienene Buch ist eine Sammlung von Erzählungen. «8 Minuten und 19 Sekunden», die Erzählung die dem Buch den Titel gibt, dauert es, bis das Licht von der Sonne die Erde trifft. Genau so viel Zeit, wie Gerogi Gospodinov dem Leser der Geschichte einräumt, um sich mit seinen gleichsam spielerischen wie apokalyptischen Spielereien auseinanderzusetzen. Vielleicht ein Markenzeichen des Autors, der sich gerne der Faszination der Apokalypse hingibt, ohne literarisch der in Mode geratenen Dystopie zu verfallen. Seine Geschichten entspringen einer Mischung aus Melancholie und Humor, Absurdem und den Erfahrungen aus der bulgarischen Diktatur. Georgi Gospodinov verknüpft Wahrnehmungen, Empfindungen auf seine ganz eigene Art. Für mich eine grosse Entdeckung und ein Versprechen: Höchster Lesegenuss!

John Wray. Ein durch und durch amerikanischer Autor, der 2007 vom Literaturmagazin «Granta» unter die 20 besten jungen US-Autoren gewählt wurde. Aber er spricht deutsch und wird in diesem Sommer in der Arena des Bachmann-Preisschreibens in Klagenfurt mit einem deutschen Text antreten. Ein Amerikaner mit österreichischen Wurzeln und kärntner Akzent. So verzwickt seine Herkunft, so verzahnt sein Roman; eine historisch eingebettete Familiengeschichte über ein ganzes Jahrhundert, wissenschaftliche Einsprengsel über Physik und die Produktion eingelegter Gurken bis hin zum bewusst «schlechten» Science- Fiction und kruden, sektiererischen Verschwörungstheorien. Ein Erzähler, der sich in einer Zeitblase wiederfindet, in der Wohnung seiner schrägen Zwillingstanten, die Tonnen von Zeitungen und anderem Strandgut sammeln. Grotesk, skurril und kompliziert, aber nie unübersichtlich, wabernd in einem natürlichen Chaos, mit Absicht weit weg aller unnatürlichen Chronologie. Ein Buch, dem ich den Spass des Autors auf jeder Seite «anhöre». John Wray, ein ausserordentlich begnadeter Geschichtenerzähler mit cineastischem Blick und liebevollem, schrulligem Witz. Und wenn er liest, wünscht man dem fabulierenden Erzähler, dass die Verpflichtung des Vorlesens nie endet würde.

Wie jedes Jahr war das Literaturfestival Leukerbad ein Ort der Begegnungen. Nicht nur mit Büchern, mit Literatur, mit Lyrik und Romanen, sondern in faszinierenden Gesprächen, solchen auf der Bühne, solchen unterwegs und den vielen vor Ort. Ganz besonders freute ich mich über die Gelegenheit, ein Interview mit der Schriftstellerin Kathy Zarnegin zu führen, über ihren gelungenen Roman «Chaya». In drei Tagen auf literaturblatt.ch!