Pascale Kramer «Eine Familie», Edition Blau

In zwei Wochen feiert man Weihnachten, ob Christ oder nicht, mit Weihnachtsbaum, Keksen, Geschenken und dem scheuen Blick auf die «heilige Familie», jene von Erwartung und Idealisierung zugestellte Gemeinschaft, die in den letzten 2000 Jahren nicht nur in der Kirche, sondern auch in manchen politischen und gesellschaftlichen Ideologien auf einen marmornen Sockel gehoben wurde.

Pascale Kramers neustes Meisterstück «Eine Familie» nimmt sich nicht zum ersten Mal der Keimzelle allen Glücks und aller Katastrophen an. Es ist das eigentliche Thema der grossen Autorin, der im deutschen Sprachraum nicht jene Bedeutung zugesprochen wird, die sie verdienen würde. Aber wer einmal an den Kramer’schen Kosmos angedockt hat, der weiss, wie feinsinnig, treffend und sprachlich gekonnt die Schriftstellerin der Leserin und dem Leser zeigt, was in den unendlich vielen Verschiebungen im Biotop Familie angerichtet werden kann.

Zur Geburt eines weiteren Kindes «findet» sich die Familie im Haus der Grosseltern zusammen. Vielleicht ist «finden» dabei nicht der richtige Ausdruck, denn obwohl vieles in der Familie stimmt, öffnen sich mit der Geburt jene Abgründe, über die man lange Zeit erfolgreich hinwegzuschauen versuchte.
Lou, die eben erst ihr Kind im Spital zur Welt brachte, hat die ältere Marie bei ihren Eltern zuhause, bei Danielle, ihrer Mutter und Oliver, ihrem Vater, der erst vor kurzem sein neues Leben als Rentner aufgenommen hat. Lous Schwester Mathilde ist von Barcelona hergefahren, auch der Bruder Edouard ist da. Nur einer fehlt. Einer fehlt immer. Romain, der älteste, den Danielle aus ihrer ersten Ehe in die wachsende Familie gebracht hatte. Romain, der schon als Jugendlicher nicht den Weg eingeschlagen hatte, den man ihm gewünscht hätte, der sich immer mehr verselbstständigte, sich immer mehr dem Einfluss seiner Eltern entzog. Ein junger Mann, der sich durch seinen exzessiven Alkoholkonsum bis ins Koma saufen, von dem man über Monate und Jahre nichts hören konnte, der verschwand, den Edouard irgendwann in Paris in der Gosse wiederfinden musste, weit weg von jeglicher Bereitschaft, in ein normales Leben zurückzukehren.

Romain ist der übergrosse Alp der Familie, jenes labile Terrain, auf dem die ganze Familie wegzurutschen droht. Pascale Kramer beschreibt aber nicht das aus den Fugen geratene Leben des grossen Bruders, sondern was dieses im Leben der anderen anrichtet. Ein Leben wie es in vielen Familien gibt, ein Leben, das man früher als das eines «schwarzen Schafs» bezeichnete, ein Leben, das sich aller Erklärungs- und Rettungsversuche entzieht, ein Leben, das das Glück einer ganzen Familie in permanente Relation stellt. Pascale Kramer erzählt aus der Perspektive verschiedener Familienmitglieder, fokussiert sich dabei aber nicht bloss auf die Sicht des abtrünnigen Sohnes, sondern mit hellwacher Empathie auf das feinmaschige Beziehungssystem einer ganzen Familie über drei Generationen. Pascale Kramer macht lesenden Vätern bewusst, wie unsäglich gross der Kraftaufwand ist, eine Familie aufrecht zu erhalten. Pascale Kramer macht allen lesenden Müttern bewusst, dass die Sonnen im System Familie weiblich sind und allen Lesenden sonst, dass es Dinge gibt, die weder durch Organisation noch Kraftaufwand zu lösen sind.

Pascale Kramer leuchtet in die Schatten einer Familie. Sie tut das mit derart viel Sympathie für ihre eigenen Figuren, dass man sich wünscht, ihr Verständnis wäre das eigene. Pascale Kramer zieht mich in einen literarischen Strudel, dessen Zug sowohl sprachlich wie von innenfamiliärer Dramatik beschleunigt wird.
Wer den Kosmos Kramer noch nicht betreten hat, wer die grosse Schriftstellerin noch nicht entdeckt hat – «Eine Familie» ist alle Familien!

Pascale Kramer, 1961 in Genf geboren, hat eine Anzahl Romane veröffentlicht, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Aufgewachsen in Lausanne, verbrachte sie einige Jahre in Zürich und ging 1987 nach Paris, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Mit ihrem vierten Roman «Die Lebenden» (Prix Lipp Suisse), 2000 in Frankreich und 2003 erstmals auf Deutsch in der Übersetzung von Andrea Spingler erschienen, kam der literarische Durchbruch. Für «Die unerbittliche Brutalität des Erwachens» wurde sie mit dem Schillerpreis, dem Prix Rambert und dem Grand Prix du roman de la SGDL ausgezeichnet. Mit dem Schweizer Grand Prix Literatur 2017 konnte Pascale Kramer erstmals eine Auszeichnung für ihr Gesamtwerk entgegennehmen.

Rezension von «Autopsie des Vaters» von Pascale Kramer auf literaturblatt.ch

Pascale Kramer erhält den Schweizer Grand Prix Literatur

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Romana Ganzoni «Die Taufe», Plattform Gegenzauber

An meine erste Taufe erinnere ich mich nicht. 1967, Scuol, Unterengadin. Sommer. Ich war wenige Monate alt, ein pausbäckiges Dutzendkind mit rabenschwarzen Augen. Von wem sind denn die? Auf den Fotos bettet mich meine schöne Mutter auf ihren Arm, sie trägt ein graues Deux-pièce, das man in den 60iger Jahren chic nannte, und auch meine Patin Miggi hält mich, die Halbschwester meines Vaters, die in der Familie als schön galt, in Wahrheit war sie recht gewöhnlich und dazu bösartig, aber sie war blond. In der Familie war nur sie blond. Neben Miggi steht mein Pate; er heisst Heinrich, genannt Bum-Bum, er ist Metzger, schnittlauchlang, dünne Arme, dünne Beine, mit Teigbauch, als hätte er einen dieser Sitzbälle, die später aufkamen, verschluckt, ein gutmütiger Pate, der viele Schnäpse verträgt und in der Nacht unter den falschen Fenstern singt.

Meine Taufe war, ausser dass ich in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen wurde, ein Skandal. Denn es war eine katholische Taufe, meine Mutter hatte das verlangt, aus Angst vor der Hölle, mein Vater hatte zugestimmt, mein Grossvater war auch gekommen, der alte Katholikenhasser mit dem edlen Profil. Mein Vater und mein Grossvater lachen nicht auf den Fotos. Und ich auch nicht. Ich weiss gar nicht, ob pausbäckige Kinder lachen können, die Backen, die allen als süss gelten, damit sie sie unter einem Vorwand zwicken können, belasten doch diesen kleinen Mund ungemein. Aber nicht die Nase, noch heute weiss ich, wie der reformierte Bart meines Grossvaters, den ich später Neni nannte, roch. Er roch streng. Ich liebte den Grossvater mehr als alle anderen. Ich sagte in der Primarschule: Wenn ich sterbe, holt mich der Neni ab. Das glaube ich auch heute noch.

Die zweite Taufe erlebte ich 2014 in Klagenfurt. Das ist eine Provinzstadt in Österreich. Schon wieder Sommer. Die zweite Taufe nach der ersten Taufe, die mich einst aufgenommen hatte in die Gemeinschaft der Gläubigen – fälschlicherweise sind damit die Christen gemeint. In Wahrheit wurde ich in die geschriebene und gesprochene Sprache aufgenommen, die niedergelegt ist im Alten Testament, ein ewiger Bund, dort liegt das Wort und dampft, es ist voller Zorn, voller Wucht und Kraft, es ist rücksichtslos und hart. Wo kommt es her? Von weit, du Anfängerin! – War ja nur eine Frage.

Ich war mit der ersten Taufe offiziell in die Gemeinschaft der Gläubigen aufgenommen worden, und ich wollte die Gläubigste sein von allen. Das Alte Testament nahm mich ins Wort auf, damit ich meinen Glauben ausdrücken konnte, das Evangelium nahm mich in seinen Schlepptau, und, siehe da, es erzählte die beste Geschichte von allen. Ich las und hörte zu. Ich glaubte alles, fragte mich aber, obwohl man das nicht darf: Wer erzählt hier? Wer schrieb auf? Der Meistererzähler, der Erzählmeister? Ja, ganz recht, Gott erzählt, sagte einer. Gott erzählt? Gott schreibt? Nein, nein, Gott schreibt nicht, er hat keine Hände, er diktiert nur. Aha. Das hiesse, alle Erzähler äffen ihn nach, es dürfte keine Geschichten geben. Selbst erzählen, falls das überhaupt geht, und schreiben wäre ein Verstoss. Oder aber: Gott erzählt uns alle Geschichten, wir schreiben sie nur auf? Dann blieben wir unschuldig.

Und was ist mit den schlechten Geschichten? Kommen die vom Teufel? Ja, die kommen vom Teufel oder von seiner vorwitzigen Grossmutter, sie ist die Gefährliche, weil sie so gefällig tut. Die schlechten Geschichten sind ein Hohn auf den Meistererzähler, sie äffen den Erzählmeister nach, man sollte die Ohren verschliessen, sie nie zu Ende hören oder lesen und niemals weiterempfehlen. Sind denn die schlechten Geschichten die bösen Geschichten oder was bedeutet schlecht? Schlecht bedeutet schlecht erzählt, nichts weiter. Schlecht erzählen ist des Teufels Grossmutter.

Die zweite Taufe, die in Klagenfurt am Wörthersee, war die Aufnahme in die Gemeinschaft derer, die alles aufschreiben – mit Lizenz von oben. Nennen wir die, die alles aufschreiben, die Schreiber und Schreiberinnen; es ist eine Kaste, nicht ganz oben angesiedelt und auch nicht ganz unten. Eine graue Mittelschicht aus Halbverhungerten.

Ich reiste nach Klagenfurt, weil ich in die Provinzstadt nach Österreich eingeladen worden war, im Restaurantwagen nach Salzburg ass ich drei Gänge, weil ich bald zu den Halbverhungerten gehören würde. In Klagenfurt stieg ich aus dem Zug und stand herum, ich wartete auf einen, der mich aufnehmen würde in die Gemeinschaft derer, die zum lebenslänglichen Diktat antreten wollen, die alles aufschreiben, die Geschichten erzählen, und dabei hoffen, sie seien nicht auf die vorwitzige Grossmutter des Teufels hereingefallen.

Ich wartete, aber es kam keiner, und als ich schon davon ausging, dass keiner komme, kam einer, er hiess Burkhard, er stammte aus Deutschland, das war klar, denn er sprach Deutsch und deutlich, in perfekter Intonation. Er dirigierte mich vom Bahnhof auf den Domplatz und sagte: Lesen Sie vor, was Sie geschrieben haben! Ich las vor, was dastand, und als die Geschichte zu Ende war, schaute Burkhard aus Deutschland mich böse an und sagte: Next please! Sein Wort dampfte, weil er mich Scheisse fand. Und der Gestank seines Wortes war so mächtig, dass ich auch zu stinken begann, deshalb begab ich mich gleich nach der Nichtaufnahme in die Gemeinschaft der Schreibenden in mein Hotel Zum goldenen Brunnen, um ein Bad zu nehmen, aber da ich den Hotelprodukten nicht traute, ging ich etwas benommen, aber sehr badewillig in die Kramergasse, wo ein Wunder geschah.

Adam kam auf mich zu. Er sagte, er sehe, dass ich seine Produkte brauche, er lotste mich in seinen Laden, aber ich wäre auch freiwillig mitgegangen. Als er sagte, er heisse Adam und wolle mich beraten, wusste ich, jetzt wird alles gut. Bevor ich etwas sagen konnte, hatte Adam mir die neuste Handcrème der Wundermarke Kedem angeschmiert, die er als galaktisch anpries, in Wahrheit war der Geruch aufdringlich, oberkünstlich und unangenehm, ich begriff, dass ich so richtig angeschmiert war, denn mir kam Burkhard in den Sinn, der mir die Lizenz verweigert hatte, obwohl ich die Gläubigste von allen war.

Hatte er das etwa gemerkt? War alles nur eine Prüfung? Versteckte Kamera? Hatte er Adam geschickt, um zu schauen, wie ich auf ein zweites künstliches Angeschmiertsein reagieren würde? Ich dachte nach.

Adam fragte, ob ich eine Antifaltenbehandlung wünsche. Er schaute mir tief in die Augen. Nein, danke. Adam hüpfte im Geschäft herum, die Handcrème hielt er für verkauft, statt 25 Euro 19 für die Dame. Okay. Ich sagte, ich wolle baden. Einen Augenblick und tadaaa, sagte Adam. Und schon stand dieser Tiegel mit dem goldenen Deckel Salt Scrub Peach & Honey vor mir. Um Gottes Willen, nein! Da las ich: Made in Israel.

Salt Scrub aus dem Heiligen Land. Das konnte kein Zufall sein, und auch nicht, dass es saftige 60 Euro kostete. Qualität kostet, biblische ist unbezahlbar. Adam winkte ab, wir schauen dann noch mit Preis, sagte Adam, ein Ungare, der out of the Blue sagte, es sei schwierig mit den Israelis, oioioi, sehr schwierig, geschäftlich, sagte er. Ich wollte etwas sagen und so ein bisschen in Richtung Ungarn verbinden, da stand bereits das zweite israelische Top-Produkt vor mir: Body Butter Kiwi. 60 Euro. Adam machte aus 145 Euro deren 90 und strahlte.

Ich bezahlte und hastete ins Hotel, wo ich mir ein Bad einlaufen liess. Ich legte mich ins lauwarme Wasser. Nach einer geschätzten Viertelstunde stand ich auf, ohne das Wasser abzulassen, und rieb mich mit dem Pfirsich-Honig-Meersalz ein, ich griff in die Dose und verteilte das teure Mousse grosszügig auf meinem Körper. Peeling, das muss sein, zwei Mal pro Monat, hatte Adam gesagt. Ich zog das durch mit der Schälkur. Ich rieb die ganze Dose ein, ein halbes Kilogramm. Aus Israel, dem Heiligen Land, für weniger als 60 Euro. Ich war rot wie ein Hummer. Hummer sind schöne Tiere, ich esse sie nicht.

Ich setzte mich ins Bad und tauchte unter. Ich tauchte auf und tauchte nochmals unter, ich hielt die Luft an, bis es eng wurde, dann tauchte ich wieder auf, um sehr schnell, mit halb gefüllter Lunge, wieder unterzutauchen. Ich tauchte auf und sagte: Ich taufe dich, Romana, im Namen von Ingeborg Bachmann, die dich höchstpersönlich aufnimmt in die Gemeinschaft der Schreibenden, auf keinen weiteren Namen, vergiss das mit dem Pseudonym, das ist affig, ich taufe dich, weil Ingeborg Bachmann dich für würdig befunden hat, einzutreten in die Welt der Schreibenden, als du heute Morgen ihre Gedichte lasest und weintest. Sie hat dich erkannt als grosse Gläubige. Ich ermächtige dich, Romana, das zu sagen und Geschichten zu schreiben, bis du tot umfällst. Du sollst das nicht nur tun, du musst das tun, ich befehle es dir.

Ich glaubte mir, stand auf, duschte, wusch mir die Haare mit dem Billigprodukt, das das Hotel mir überlassen hatte, und stieg aus der Wanne. Nun schmierte ich mich ein mit der Kiwibutter With Dead Sea Minerals and Shea Butter (Paraben-Free) von Kedem aus dem Heiligen Land, ich schmierte meine Seele, ich ölte mich und versiegelte meinen Leib.

Romana Ganzoniwurde 1967 in Scuol, Unterengadin, geboren, wo sie auch aufwuchs. Geschichts- und Germanistikstudium an der Universität Zürich, Aufenthalt in London. Nach zwanzig Jahren Tätigkeit als Gymnasiallehrerin widmet sie sich heute ganz dem Schreiben und lebt als freie Autorin in Celerina, Oberengadin. Seit 2013 Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften. 2014 Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt. Förderpreis des Kantons Graubünden. Seit 2015 Kolumnen in der Schweiz am Sonntagund im Kultur­Blog der Engadiner Post. «Granada Grischun» in der Reihe Edition Blau, Rotpunktverlag ist ihre erste Buchveröffentlichung.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Laura Giannini

Von Frankreich bis nach Paris, eine Nachlese zu den 17. Sprachsalz Literaturtagen in Hall in Tirol

So sehr es für viele ein Traum bleibt, ein Künstlerleben zu führen, so sehr versteigt man sich in der Vorstellung darüber, was und wie ein solches sein kann in romantisierten Vorstellungen, die mit der Härte der Wirklichkeit nichts zu tun haben. So sehr Japan für viele ein Land der Kirschblüten und Traditionen voller Grazie ist, so sehr ist dieses Land eines der Tabus. Marie Modiano und Durian Sukegawa sind sprachmächtige Türöffner.

Eine junge Frau zieht mit einer Theatergruppe kreuz und quer durch Europa. Später als Musikerin, Sängerin von einem Ort zum nächsten. Was mit dem Theaterensemble noch den Hauch von Nobles hatte, waren es doch Häuser mit Tradition und Hotels mit Stil, wird als Musikerin von Kleinbühne zum nächsten Spielort eine Odyssee der Trostlosigkeit. Nicht nur in seiner Kulisse, sondern weil sich im Leben der Frau die Liebe auf immer verabschiedete.

Marie Modiano und Thomas Sarbacher © Yves Noir

Er sei vor Einbruch der Dunkelheit zurück, hatte er gesagt. Valentine wartet, wartet lange. Sie blättert nicht nur in den verwaisten Schreibheften, sondern über Jahre in den Erinnerungen, in der Zeit, als ihre grosse Liebe mit seinem ersten Manuskript auf seinen ersten Erfolg als Schriftsteller wartete. Valentines Warten, aus dem sie sich in ihrem eigenen Leben längst herausgenommen hat. Die kleine Rolle, die man ihr im Ensemble gegeben und die sie über Monate zu spielen hatte, beweist ihr wie Jahre später das Singen vor fast leeren Rängen und desinteressiertem Publikum mit keine Faser, dass sie richtig lebt. Und als sich der Erfolg ihrer grossen Liebe dann doch einstellt, ist dieser diesem nicht gewachsen, er versinkt im Schmerz. Je mehr er sich von ihr physisch entfernt, desto intensiver wird die Erinnerung und das Sehnen nach jener schmalen Zeit des Glücks, irgendwo in der Vergangenheit.

«Ende der Spielzeit» ist die Geschichte einer Künstlerin, die sich mit ihrem Sehnen nach künstlerischen Ausdruck auf eine endlos scheinende Reise begibt. Mit dem Theater auf Bühnen in Lausanne, Hamburg, Zürich, Bochum, Wien oder München. Als Musikerin auch in die Provinz. Meist allein, allein mit sich selbst, unter den Scheinwerfern, auf einer Bühne, weit weg vom Publikum, ihnen allen etwas vorspielend. Eine junge Frau, die, wenn es nicht mehr zu vermeiden ist, möglichst Fragen stellt, um nicht über sich selbst sprechen zu müssen. Eine junge Frau, die in ihrer einzigen grossen Liebe, in ihrer allernächsten Nähe verletzt wurde und sich trotz Theater und Musik in sich selbst zurückzieht. Eine junge Frau, der man alles Zuhause genommen hat und die sich nur dort geborgen fühlt, wo Ruhe ist, im Schminkraum, in der Garderobe, im Hotelzimmer.

«Gewisse Momente im Leben dienen nur dazu, sich fast sofort in Erinnerungen zu verwandeln. Würde man versuchen, sie auszudehnen, verlören sie ihren Wert.»

Valentine reist von Ort zu Ort, ohne vorwärts zu kommen, in Rückblenden, die in anderer Perspektive erzählt sind. Verharrend, obwohl sie örtlich dauernd unterwegs ist. Kaum einem Menschen begegnend, ausser sie öffnet unvermittelt eine Tür, um einem fremden Leben mit uferloser Intensität ausgesetzt zu sein.
Ein unspektakuläres Buch, eine Reisebuch durch ein Leben, das mit einer Trennung aus dem Tritt geriet. Ein autofiktionaler Roman über die Härten eines Künsterlebens, der Sehnsucht nach tiefer Liebe.

Der Blick Marie Modianis während der Lesung der deutschen Stimme Thomas Sarbachers in die Runde der ZuhörerInnen, etwas wie ein Kontrollblick, ob und wie man reagiert. Sie ist amüsiert, wenn der Schauspieler dramatisiert, was die hexenähnliche Apothekerin mit den Raubvogelaugen krächzt oder der Wirt raunzt, als die Protagonistin in der Saufhalle eintrifft, wo das alte Klavier steht, dem sie Melodien entlocken soll.

Durian Sukegawa © Yves Noir

Durian Sukegawa gehört in Japan zu den ganz grossen, ist Verfasser von über 40 Veröffentlichungen, darunter Romane, Übersetzungen, Essays, Sience Fictions. Er schreibt, ist Musiker, Schauspieler, war Clown und Radiomoderator. Während einer solchen Radiosendung stiess er auf das Schicksal japanischer Leprakranker, die, selbst als sie gesund waren, von der Gesellschaft stigmatisiert mundtot gemacht, durch ein Gesetz von 1931 bis in die Neuzeit weggesperrt wurden. Nicht bloss diskriminiert, sondern hinter Hecken und Mauern eingesperrt und vergessen. Ein Tabuthema, das durch den Roman «Kirschblüten und rote Bohnen» zaghaft in das Bewusstsein der japanischen Gesellschaft eindrang, so explosiv, dass sich der Stammverlag des Autors erst weigerte, den Roman zu veröffentlichen.

«Kirschblüten und rote Bohnen», 2015 äusserst erfolgreich von der japanischen Regisseurin Naomi Kawase verfilmt, erzählt die Geschichte einer zaghaften Freundschaft zwischen dem Pfannkuchenbäcker Sentaro, der alten Tokue, die bei ihm zu arbeiten beginnt und den dahinsiechenden Laden zu neuer Blüte bringt, aber ein Geheimnis mit sich trägt, und dem Mädchen Wakana, das mehr als nur die Türen zu diesem Geheimnis öffnet.

Ich traf den japanischen Autor etwas abseits in der Hotellobby, in der das Festival stattfindet in sein Mobiltelefon vertieft. Aber als ich in bat, die beiden mitgebrachten Romane zu signieren, gehörte die dezidiert konzentrierte Aufmerksamkeit ganz mir, dem Leser, der seine Geschichten mag, die Melancholie, den nicht zu brechenden Glauben an das Gute im Menschen und das Wissen, dass wahre Grösse in den kleinen Gesten steckt. Zwei Stunden später ist der Pullover und die Jeans in Jacket und Bügelfalte getauscht, ein akkurat gefaltetes Stofftaschentuch neben dem Mikrofon platziert und die mehr als hundert Anwesenden lauschen den Geschichten um Kirschblüten und rote Bohnen. Unbedingt lesen (Buch) und schauen (Film).

Trailer zu «Kirschblüten und rote Bohnen»

Ich danke Heinz D. Heisl, Max Hafele, Magdalena Kauz, Urs Heinz Aerni, Ulrike Wörner, den Machern von Sprachsalz.

Beitragsbild: Ernst Molden © Denis Moergenthaler (Ernst Molden mit einem poetischen und musikalischen Blick auf seinen Wiener Kosmos, dem er zahlreiche Liebeserklärungen widmete.)

Nur ein Schritt bis zum Reptil: «Das Eidechsenkind» von Vincenzo Todisco

Was für ein Geschrei jedes Jahr um publikumswirksame Buchpreise. Dabei ist genau das die erklärte Absicht. Nur wenn Bücher ins Gespräch kommen, nur wenn über sie geschrieben, nachgedacht, gefeilscht und verhandelt wird, dann dient dem Buch sogar das Theater, der Beleidigte, der Verkannte, die Vergessene. Sei es der Schweizer, der Deutsche, der Österreichische Buchpreis, sie alle haben das Ziel, herausragenden Büchern grösstmögliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu verschaffen.

Ein bedeutsamer Aussenseiter im Rennen um den Schweizer Buchpreis 2018 ist der Bündner Vincenzo Todisco mit seinem Roman «Das Echsenkind». (Rezension auf literaturblatt.ch vom 20. Juni 2018)

In den 70er Jahren gab es für einen «Gastarbeiter» in der Schweiz drei Möglichkeiten; Er arbeitete in der Fabrik, im Gastgewerbe oder auf dem Bau. «Gastarbeiter» ist und war eine reichlich unzutreffende Bezeichnung, hatte die arbeitenden Gäste doch kaum Rechte, verdienten weniger als ihre heimischen Kollegen und waren gesellschaftlichen und politischen Anfeindungen ausgesetzt. Vincenzo Todiscos Vater arbeitete u. a. im Hotel Palace in Luzern. Wenn der Vater abends müde nach Hause kam, erzählte er von den berühmten Gästen im Hotel, erinnert sich Vincenzo Todisco. Zum Beispiel von Herbert von Karajan – und davon, wie Vincenzo und seine Geschwister einmal in der Woche in den Badewannen des Luxushotels baden durften, selbstverständlich nur durch die Hintertür.

Vincenzo Todisco bezeichnet sich selbst als Musterbürger; vorbildlich integriert, alle vier Bündner Sprachen sprechend: italienisch, rätoromanisch, deutsch und Mundart. Deutsch lernte man damals ab der vierten Klasse mit einem Lehrmittel, das «Deutsch für Ausländer» hiess. Italienisch, jene Sprache, in der Vincenzo Todisco seine ersten vier Romane veröffentlichte («Das Krallenauge», «Wie im Western», «Der Bandoneonspieler» und «Rocco und Marittimo») bezeichnet der Autor als seine «Bauchsprache», die Sprache der Erinnerung. Deutsch ist «Kopfsprache», die Sprache der Rationalität. Irgendwann, so der Autor, war da das Bedürfnis, aus der Kopfsprache eine zweite Bauchsprache zu machen.

1961. In einer abgeschlossenen Wohnung im «Gastland» misst ein kleiner Junge in der Dunkelheit die Schritte durch die abgedunkelte Wohnung, während Mutter und Vater arbeiten. Bis 2002 galt in der Schweiz das «Saisonstatut», mit dem man ausländische Arbeitnehmer unter unwürdigen Umständen amtlich zur Unterschicht stempelte. Nicht zuletzt zwang man sie mit diesem Statut, ihre Kinder vor dem Auge der Öffentlichkeit und der Ämter zu verstecken. Die Geschichte der «versteckten Kinder» tauchte im Leben Vincenzo Todiscos immer wieder auf, bis er sich dazu entschloss, sich mit dem Abschluss einer eigentlichen Trilogie dem Thema literarisch auszusetzen.

Aus dem Es, dem kleinen Kind, wird ein Junge, ein junger Mann, ein Er. Eine Geschichte im Kosmos Haus, einer Wohnung, einem Zimmer, einem Schrank, im Dunkeln eines Verstecks. Die Chronik eines Hauses, in dem «nichts» geschieht, die Chronik eines «Stillstands», alles aus der Perspektive eines Kindes erzählt und doch nicht in der ersten Person. Ein Kind ohne Vergangenheit und Zukunft, eine Existenz im Schatten des Lebens.
Der Junge wird älter und beginnt im Verborgenen über die Wohnung seiner Eltern hinaus das Haus zu erkunden. Er schleicht sich in andere Wohnungen, lernt auf seinen Streifzügen Menschen kennen; den kalten Jungen, den Professor.

«Das Eidechsenkind» überzeugt durch seine Perspektiven, die Unmittelbarkeit, die detailgenauen Nahaufnahmen, durch starke Sprachbilder aus der Sicht eines Wesens, das eingesperrt ist in einem Haus und in sich selbst. Ein Kind, das sich geräuschlos zu bewegen lernt, wie eine Eidechse, die in Ritzen verschwindet, wenn Gefahr erscheint. Ein Bild, das an Anne Frank erinnert, wenn auch in einem ganz anderen Kontext.

Vincenzo Todisco, 1964 als Sohn italienischer Einwanderer in Stans geboren, studierte Romanistik in Zürich und lebt heute als Autor und Dozent in Rhäzüns. Für sein literarisches Schaffen wurde er 2005 mit dem Bündner Literaturpreis ausgezeichnet. Im Rotpunktverlag liegen seine Romane in deutscher Übersetzung vor. „Das Eidechsenkind“ ist seine erste Buchveröffentlichung auf Deutsch.

Marie Modiano «Ende der Spielzeit», Edition Blau

Eine junge Frau zieht mit einer Theatergruppe kreuz und quer durch Europa. Später als Musikerin, Sängerin von einem Ort zum nächsten. Was mit dem Theaterensemble noch den Hauch von Nobles hatte, waren es doch Häuser mit Tradition und Hotels mit Stil, wird als Musikerin von Kleinbühne zum nächsten Spielort eine Odyssee der Trostlosigkeit. Nicht nur in seiner Kulisse, sondern weil sich im Leben der Frau die Liebe auf immer verabschiedete.

Er sei vor Einbruch der Dunkelheit zurück, hatte er gesagt.
Valentine wartet, wartet lange. Sie blättert nicht nur in den verwaisten Schreibheften, sondern über Jahre in den Erinnerungen, in der Zeit, als ihre grosse Liebe mit seinem ersten Manuskript auf seinen ersten Erfolg als Schriftsteller wartete. Valentines Warten, aus dem sie sich in ihrem eigenen Leben längst herausgenommen hat. Die kleine Rolle, die man ihr im Ensemble gegeben und die sie über Monate zu spielen hatte, beweist ihr wie Jahre später das Singen vor fast leeren Rängen und desinteressiertem Publikum mit keine Faser, dass sie richtig lebt. Und als sich der Erfolg ihrer grossen Liebe dann doch einstellt, ist dieser diesem nicht gewachsen, er versinkt im Schmerz. Je mehr er sich von ihr physisch entfernt, desto intensiver wird die Erinnerung und das Sehnen nach jener schmalen Zeit des Glücks, irgendwo in der Vergangenheit.

«Ende der Spielzeit» ist  die Geschichte einer Künstlerin, die sich mit ihrem Sehnen nach künstlerischen Ausdruck auf eine endlos scheinende Reise begibt. Mit dem Theater auf Bühnen in Lausanne, Hamburg, Zürich, Bochum, Wien oder München. Als Musikerin auch in die Provinz. Meist allein, allein mit sich selbst, unter den Scheinwerfern, auf einer Bühne, weit weg vom Publikum, ihnen allen etwas vorspielend. Eine junge Frau, die, wenn es nicht mehr zu vermeiden ist, möglichst Fragen stellt, um nicht über sich selbst sprechen zu müssen. Eine junge Frau, die in ihrer einzigen grossen Liebe, in ihrer allernächsten Nähe verletzt wurde und sich trotz Theater und Musik in sich selbst zurückzieht. Eine junge Frau, der man alles Zuhause genommen hat und die sich nur dort geborgen fühlt, wo Ruhe ist, im Schminkraum, in der Garderobe, im Hotelzimmer.

«Gewisse Momente im Leben dienen nur dazu, sich fast sofort in Erinnerungen zu verwandeln. Würde man versuchen, sie auszudehnen, verlören sie ihren Wert.»

Valentine reist von Ort zu Ort, ohne vorwärts zu kommen, in Rückblenden, die in anderer Perspektive erzählt sind. Verharrend, obwohl sie örtlich dauernd unterwegs ist. Kaum einem Menschen begegnend, ausser sie öffnet unvermittelt eine Tür, um einem fremden Leben mit uferloser Intensität ausgesetzt zu sein.
Ein unspektakuläres Buch, eine Reisebuch durch ein Leben, das mit einer Trennung aus dem Tritt geriet. Ein autofiktionaler Roman über die Härten eines Künsterlebens, der Sehnsucht nach tiefer Liebe.

Erstaunlich, wie treffsicher sich der Rotpunktverlag mit seiner literarischen Reihe «Edition Blau» in der obersten Liga der wertvollen Literaturveröffentlichungen bewegt! Lesen Sie aus dieser Reihe. Es lohnt sich!

Marie Modiano ist Musikerin, Schriftstellerin, Schauspielerin. Geboren 1978 in Paris, Schauspielausbildung an der Royal Academy, London. Weitere Auslandsaufenthalte, u.a. in den USA und in Berlin. Verschiedene Filmrollen und Theaterengagements, Zusammenarbeit u.a. mit Luc Bondy; Veröffentlichung mehrerer Bücher und CDs mit Chansons. Ende der Spielzeit ist Modianos zweiter Roman und die erste Buchveröffentlichung auf Deutsch.

Webseite der Autorin, Musikerin, Schauspielerin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Vincenzo Todisco «Das Eidechsenkind», edition blau

1970 lebten eine Viertelmillion italienische Gastarbeiter in der Schweiz. Eine Einwanderungswelle, die damals wie heute die Schweiz spaltete. Eine Auseinandersetzung, die in der «Schwarzenbach-Initiative», die vom Schweizer Stimmvolk mit nur 54 % verworfen wurde, gipfelte. «Das Eidechsenkind» erzählt die Geschichte eines Kindes, das nicht hätte da sein dürfen.

Das Leben im Heimatland muss hart sein, dass man sich auf den Weg in den Norden macht, in ein Land, dessen Sprache und Menschen man nicht versteht, stets am Rande der Legalität, von Arbeitgebern ausgenützt, vom Heimweh geplagt, von der Familie getrennt. Vielleicht wird das Leiden ein bisschen kleiner, wenn man die Frau nachreisen lassen darf, wenn man endlich eine Wohnung gefunden hat, ein Loch, in das man sich zu zweit verkriechen kann. Aber die Not wird unsäglich, wenn man gezwungen ist, sein Kind mit in die Fremde zu nehmen, versteckt im Zug, in einem Koffer oder im Kofferraum eines Autos. Wenn niemand, schon gar nicht die Nachbarn im Haus erfahren dürfen, dass da ein Kind wohnt, weil man befürchtet, sofort ausgewiesen zu werden, die Stelle zu verlieren, alles, was man mit viel Arbeit und Verzicht herbeibeschwören, herbeizwingen wollte.

Der Vater arbeitet auf dem Bau, die Mutter putzt. Das Kind ist Stunden alleine zuhause, gewarnt von Vater und Mutter, sich nicht bemerkbar zu machen, nur auf vereinbarte Klopfzeichen die Tür zu öffnen und sich unsichtbar zu machen, wenn unverhofft Besuch kommt. Der Junge lernt sich zu verstecken, kriecht in jede Ritze, huscht weg wie eine Eidechse vor dem Haus seiner Grossmutter Assunta. Ein Eidechsenkind.

Solange Nonne Assunta noch lebt, wohnt der Junge in Ripa, rennt Bällen hinterher, jagt Wespen, ist Teil einer glücklichen Welt ohne Grenzen. Assunta liebt ihren Enkel, erzählt ihm Geschichten, singt ihm Lieder. Alles im und um das Haus hat einen Namen, alle Geheimnisse offenbaren sich.
Als die Nonna stirbt und Mutter und Vater gezwungen sind, ihren Jungen mit ins kalte, feuchte, neblige Nachbarland im Norden mitzunehmen, wird das Eidechsenkind selbst zum Geheimnis. Alleingelassen in einer Wohnung, in einer Welt, in der alles verschlossen bleibt, nichts einen Namen hat. Das Eidechsenkind bleibt allein in einer Wohnung, in der sich nicht einmal die Vorhänge bewegen dürfen.

Erst als es grösser wird, schleicht es sich aus der Wohnung, nachts im Dunkeln, zählt Schritte überall, vermisst die Welt mit Schritten, vom Keller bis unters Dach, schleicht sich in Nachbarwohnungen, hortet liegengelassene Schlüssel, bleibt bewegungslos verborgen, wenn sich jemand bemerkbar macht. Selbst abends, wenn die Eltern zuhause sind, und der Patrone zu Besuch kommt, versteckt sich das Eidechsenkind unter der Kredenz, darauf bedacht, keine Spuren in der Wohnung zu hinterlassen.

Und doch gibt es mehr und mehr Verbündete. Den dicken Nachbarjungen, der genau wie das Eidechsenkind den Zugang zur Welt nicht findet. Der Professor mit den vielen Büchern, die einsame Frau mit der Geige und Emmy, das Mädchen, das neu im dritten Stockwerk wohnt. Emmy wird zur Bannbrechern, auch wenn es Jahre dauert und unsicher bleibt, ob sich das Eidechsenkind zum Mann häutet.

Vincenzo Todisco schriebt scheinbar einfach, bewegt sich als stiller Begleiter ganz nah an seiner empfindsamen, in sich eingeschlossenen Hauptperson. Ich als Leser blicke tief in eine eingeschlossene, eingesperrte Seele. Vincenzo Todisco tut dies aber mit derart viel Vorsicht und Liebe für seine Protagonisten, ohne je eine psychologisierenden Interpretation zu verfallen, dass das Buch zu einer eigentlichen Liebeserklärung wird. Wunderschön!

Vincenzo Todisco, 1964 als Sohn italienischer Einwanderer in Stans geboren, studierte Romanistik in Zürich und lebt heute als Autor und Dozent in Rhäzüns. Für sein literarisches Schaffen wurde er 2005 mit dem Bündner Literaturpreis ausgezeichnet. Im Rotpunktverlag liegen seine Romane in deutscher Übersetzung vor. «Das Eidechsenkind» ist seine erste Buchveröffentlichung auf Deutsch.

„Stories!“

Yaël Inokai las aus „Mahlstrom“ und die Musiker Christian Berger und Dominic Doppler interagierten mit ihrem Sound auf das, was die Autorin mit ihrem Text preisgab. Ein ganz spezielle Abend in einem ganz speziellen Ort. Hier die ersten Eindrücke:

«Einen anderthalbstündigen Spaziergang in meinem Buch. Mit dabei: Christian Berger und Dominic Doppler, die musikalisch den Weg bereitet haben. Laufen, gehen, stehen bleiben, anschauen, weitergehen, staunen … ohne Fragen, ohne Erklärung. Weil Literatur auch manchmal einfach da sein muss. Werde ich nicht vergessen.» Yaël Inokai

Bilder: Sandra Kottonau

Yaël Inokai liest, Christian Berger und Dominic Doppler im musikalischen Austausch

Am Samstag, den 9. Juni 2018 liest die aus Berlin angereisende Schriftstellerin Yaël Inokai (Schweizer Literaturpreis) zusammen mit dem Musikerduo STORIES aus ihrem preisgekrönten Roman „Mahlstrom“. Die Lesung im Theater 111 in St. Gallen beginnt um 20 Uhr. Türöffnung ist um 19 Uhr.

Die Lesung mit Yaël Inokai ist die erste einer ganz speziellen Reihe, die Literatur mit improvisierte Musik verbinden will. Auch in den folgenden Lesungen agiert STORIES mit Aria Lobsiger (Jakob bleibt), Dana Grigorcea (Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen), Julia Weber (Immer ist alles schön) und Noëmi Lerch (Grit) über Herbst und Winter fortgesetzt (weitere Informationen hier).

Christian Berger (Saiteninstrumente) und Dominic Doppler (Percussion) sind zwei Klangforscher, die nicht bloss den literarischen Text musikalisch illustrieren. Musikimprovisation soll in einen Dialog mit dem gelesenen, vorgetragenen Text treten. Die Musik reagiert auf den Text, entgegnet ihm, Zwiespache haltend. Im Idealfall sogar soll die Musik auf das Auftreten der Autorin reagieren. Christian Berger und Dominic Doppler beschäftigen sich dabei im Vorfeld intensiv mit den gemeinsam vereinbarten Textstellen aus den jeweiligen literarischen Texten. Trotzdem bleibt viel Freiheit, viel Risiko, viel Abenteuer, sowohl für die Akteure im kleinen Theater 111, wie die Zuschauerinnen und Zuschauer, die sich dem Wagnis aussetzen werden. (Wie klingt die Musik? Hören Sie hier.)

Yaël Inokai, (vormals Pieren) geboren 1989, arbeitete als Fremdenführerin. Sie veröffentlichte in verschiedenen Literaturzeitschriften und war Hildesheimer Stadtschreiberin. Nach ihrem viel beachteten Debüt „Storchenbiss“ (2012) legte sie 2017 mit „Mahlstrom“ ihren zweiten Roman vor. Barbara, die sich mit zweiundzwanzig im Fluss ertränkt. Ihr Tod, der im ganzen Dorf die Telefone schellen lässt, bringt die anderen zum Reden. Mahlstrom erzählt die Geschichte sechs junger Menschen, die in einer dicht verwobenen Dorfgemeinschaft herangewachsen sind. Zugleich geschützt und bedroht von den engen Banden, sind sie im Erwachsenenleben angekommen und stecken doch noch knietief in ihrer Kindheit. Erst Barbaras Selbstmord bringt den Stein ins Rollen und zwingt die Übriggebliebenen, sich mehr als zehn Jahre nach dem Verbrechen dem Geschehenen zu stellen.

Pascale Kramer „Autopsie des Vaters“, Rotpunktverlag

Pascale Kramer zog mit 26 nach Paris. Heute zählt sie zu den grossen Autorinnen der Schweiz, trotzdem. Vielleicht gerade deshalb, weil sie den „Blick von aussen“ an sich schulte. „Eine Meisterin der Zwischentöne, des beredten Schweigens, der ‚non-dits‘. Eine, die die Zeichen der Zeit – und des Zeitgeistes – virtuos dechiffriert“, so Bundesrat Alain Berset anlässlich der Verleihung des Schweizer Grand Prix Literatur 2017.

In den Romanen Pascale Kramers geht es immer ums Ganze. Keine einfachen Geschichten, nichts Episodisches. Keine Lektüre, mit der es sich so einfach unterhalten lässt. Kein papierner Fastfood. Pascale Kramer spürt der Zeit auf den Nerv. So auch in ihrem neuen Roman „Die Autopsie des Vaters“.

Gabriel tötet sich selbst. Er schluckt Glasscherben. Seine viel jüngere Lebenspartnerin Clara findet ihn in seiner kleinen Zweitwohnung in der Stadt. Clara telefoniert Ania, Gabriels einzigem Kind, die seit Jahren den Kontakt zu ihrem schwierigen Vater verloren hat. „Ihr Vater ist heute nacht in seiner Wohnung in Monceau gestorben.“ Ania hört die Stimme und sieht auf ihren tauben Sohn, der genau zu spüren scheint, dass etwas eingebrochen ist. Ania lässt ihren Sohn in fremder Obhut und fährt nach Monceau. Ein Treffen mit Clara. Ein Treffen mit einer Fremden, die die Frau ihres Vaters war, eines Fremdgewordenen. Erst recht in den Jahren des gegenseitigen Schweigens, als sie in der Presse von ihrem Vater las. Vom langsamen Abrutschen bis zur endgültigen „Entgleisung“, als Gabriel von seinem Landhaus aus öffentlich Partei ergreift für zwei junge Einheimische, die unweit von seinem Haus einen afrikanischen Sans-Papiers brutal zusammenschlagen und ertränken. Ein Skandal.

Wider Willen kehrt Ania in ein Leben zurück, von dem sie sich schon als Kind loszureissen versuchte, von einem Vater, der sie nicht verstehen wollte und konnte. Nicht ihre Mühen in der Schule, nicht ihre Distanziertheit in der Zeit im Internat, nicht ihre Liebe und Ehe mit Novak, einem Serben und schon gar nicht ihren tauben Sohn Théo. Ania kehrt zurück in ein Leben, von dem sie sich mit aller Kraft getrennt hatte, in die Nähe eines Vaters, der sich mit seinem Freitod ganz ihrem Verständnis entzog. Die zurückgelassene Unordnung ihres Vaters hatte sich mit seinem Tod noch weiter verschoben. Als hätte ein Erdbeben in bodenloser Tiefe die Schichten darüber so sehr verückt, dass nichts mehr zusammenfinden kann, nichts.

Der Roman gipfelt in den Vorbereitungen zum Begräbnis in Gabriels Haus. Dort sammelt sich das Personal eines Dramas, als wäre es das Setting eines Film noirs. Dort prallen Welten aufeinander, die weiter nicht entfernt sein könnten. Um das Haus rottet sich der Hass, im Haus Missverständnis und tiefes Misstrauen. Und mitten im Geschehen Ania, eine zu tiefst verunsicherte Frau, die zusehen muss, wie selbst die innige Zweisamkeit mit ihrem Sohn Théo am Riff des Vaterhauses zu zerbrechen droht. Erschüttert von einer Mischung aus Hilflosigkeit und nagenden Schuldgefühlen.

Pascale Kramer schildert die Zerrissenheit einer ganzen Gesellschaft, das Gift alter Verletzungen, die Verheerungen Unausgesprochenem. Die Autorin richtet ihren Fokus genau dorthin, wo man viel zu schnell in Versuchung gerät wegzuschauen. Und das alles in einer Sprache, die mich staunen lässt. Pascal Kramer kann in einem einzigen Satz ganze Geschichten erzählen, Türen aufreissen, epische Hintergründe aufblitzen lassen. Sie beschreibt Stimmungen, Szenen und Situation derart gekonnt, dass man die sinkenden Temperaturen zu spüren glaubt.

Grosse Literatur einer grossen Autorin!

Pascale Kramer, 1961 in Genf geboren, hat zahlreiche Romane veröffentlicht, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Aufgewachsen in Lausanne, verbrachte sie einige Jahre in Zürich und ging 1987 nach Paris, wo sie auch heute lebt und arbeitet. Mit ihrem vierten Roman „Die Lebenden“ (Prix Lipp Suisse), 2000 in Frankreich und 2003 erstmals auf Deutsch in der Übersetzung von Andrea Spingler erschienen, kam der literarische Durchbruch. Im Rotpunktverlag liegt außerdem „Die unerbittliche Brutalität des Erwachens“ (2013) vor, für den ihr der Schillerpreis, der Prix Rambert und der Grand Prix du roman de la SGDL zuerkannt wurde. 2017 konnte Pascale Kramer mit dem Schweizer Grand Prix Literatur erstmals eine Auszeichnung für ihr Gesamtwerk entgegennehmen.

Zur Übersetzerin: Andrea Spingler, geboren 1949 in Stuttgart, ist seit 1980 als freie Übersetzerin tätig. Sie hat unter anderem Werke von Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet, Patrick Modiano, Jean-Paul Sartre, André Gide ins Deutsche übertragen. 2007 wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Preis für herausragende deutsch-französische Übersetzungen ausgezeichnet, 2012 mit dem Prix lémanique de la traduction. Sie lebt in Oldenburg und Südfrankreich.

Ein wunderbares Filmporträt über Pascale Kramer

Informationen zu Pascale Kramer und ihren Roman „Die unerbittliche Brutalität des Erwachens“

Titelfoto: Copyright: BAK/Corinne Stoll