Im Sommer 2009 gingen im Iran Millionen wütender DemonstrantInnen auf die Strassen. Dutzende Menschen kamen um, die Bilder in den Sozialen Netzwerken erschütterten die ganze Welt. «Die grüne Welle» nannte sich jenes laute Aufbegehren, dass das iranische Mullahregime ins Wanken brachte. Das Debüt «Das Ende ist nah» von Amir Gudarzi ist eine literarische Auseinandersetzung.
Als im Nachgang zu den iranischen Präsidentsschaftswahlen, bei der der amtierende Mahmud Ahmadineschād zum Sieger erklärt wurde, eine Welle des Aufruhrs durch das Land schwappte und man sich durch grüne Stirn- oder Armbänder als GegenerIn einer Diktatur solidarisierte, war Amir Gudarzi ein junger Student. Diese grüne Bewegung gipfelte in riesigen Demonstrationen, gegen die die bedrohte Zentralmacht nur mit äusserster Härte und Brutaltät zu reagieren wusste. Unzählige Menschen verschwanden für Jahre in den überfüllten Gefängnissen des Landes, viele starben, wurden während der Proteste getötet oder in Schauprozessen zum Tode verurteilt. An Kränen baumelnde Hingerichtete sollten zur abschreckenden Normalität werden.
In seinem Debüt „Das Ende ist nah“ beschreibt Amir Gudarzi die Geschichte von A. Dass er seinen eigenen Namen, seine eigene Fluchtgeschichte durch einen einzigen Buchstaben mit Punkt verallgemeinert, ist verständlich und erleichterte wahrscheinlich schon den Schreibprozess. Amir Gudarzi wollte mit Sicherheit seine Geschichte erzählen. Aber damit viel mehr. Nämlich die Geschichte aller Geflohener, Heimatloser, Entwurzelter, Verlorener. Die Geschichter jener, denen ich überall begegne, auf Bahnhöfen, in Parks, auf Plätzen mitten in der Stadt, irgendwo abgeschoben auf dem Land, am Strassenrand, auf einer Bank, ins Warten und Nichtstun verbannt, der Willkür von Bürokratie und Fremdenhass ausgesetzt.
Klar braucht es diese Bücher, auch wenn sie nicht von jenen gelesen werden, die den Geflohenen wie einer ansteckenden Krankheit begegnen, mit Angst, Ekel und maximaler Ablehnung. Es braucht diese Bücher als Zeugnis, auch wenn Menschen wie Amir Gudarzi die Ausnahme bleiben, weil sie es irgendwann irgendwie doch schaffen, Amir Gudarzi als Theaterautor und nun auch als Schriftsteller. Weil Menschen wie er, die nach all den Strapazen der Flucht, der Anfeindungen, des Misstrauens, der Willkür und des Unverständnisses, schaffen, einen Schuh Glück herauszuziehen. Neben all jenen, die schon auf der Flucht liegenbleiben, die in ihrer Verzweiflung untergehen, die nie die Chance haben, aus dem einst mit Hoffnung begonnenen Leben das zu machen, was möglich gewesen wäre, die weitergeschoben, zurückgeschafft, gnadenlos ausgenützt oder in all den Ungerechtigkeiten zerrieben werden.
Ich las das Buch nicht seiner Sprache wegen, auch wenn ich dem Autor viel Können zugestehe. Ich las das Buch, um mir vor Augen zu führen, was sonst nur im Verborgenen bleibt. A. flieht über die Türkei nach Österreich, wo er hängen bleibt, in ein keines Kaff abgeschoben wird, zusammen mit Afganen und Kurden, lauter Männern, die sich in ihrem Kampf ums Überleben, in ihren gestauten Emotionen und der Hoffnungslosigkeit einer Existenz, die sich ganz aufs Warten reduziert und kaum von dem unterscheidet, was sie in ihren Ursprungsländern zurückgelassen hatten. Amir aus einem Elternhaus mit streng patriarchalischen Strukturen, eine Gesellschaft in Traditionen und zementierten Wertvorstellungen gefangen, einer Politik, die einem den Atem nimmt, einer gestohlenen Zukunft. Was ihn in Österreich empfängt, ist endlose Bürokratie, offener Fremdenhass, maximale Abgrenzung und grenzenloses Misstrauen.
„Das Ende ist nah“ ist als Titel vieldeutig. Amir Gudarzi erzählt vielperspektivisch, nicht zuletzt aus der Warte von Sarah, einer jungen Frau, die sich in A. verliebt, eigentlich nur helfen will, sich aber verliert. Eine Beziehung, die von rauschhafter Leidenschaft bis selbstzerstörerischer Verirrung alles in sich birgt. Amir Gudarzi schont mich als Leser mit nichts. Es legt sich ein Schauer aus Betroffenheit und Peinlichkeit über mich. Ob in Österreich, in der Schweiz oder in Deutschland, wir lieben die Geschichten jener, die es geschafft haben. Das Vielfache jener, die es nicht schafften, versenken wir erfolgreich im grossen Vergessen. Wie viel schwerer muss es für Amir Gudarzi selber sein, auch wenn man ihm an Lesungen freundlich applaudiert.
„Das Ende ist nah“ ist Zeugnis, Klage und Anklage gleichermassen.
Amir Gudarzi, 1986 in Teheran geboren, ging auf die damals einzige Theaterschule im Iran und studierte danach szenisches Schreiben. Seit 2009 lebt er im Exil in Wien, wo er als vielfach ausgezeichneter (inzwischen) österreichischer Dramatiker und Autor arbeitet. 2021 war er Stipendiat im Literarischen Colloquium in Berlin und erhielt den Förderungspreis für Literatur der Stadt Wien, 2022 wurden ihm der Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker*innen und der Christian-Dietrich-Grabbe-Preis verliehen, in der Spielzeit 2023/24 ist er Hausautor am Nationaltheater Mannheim. «Das Ende ist nah» ist sein erster Roman.
In ihrem Roman «Jahrhundertsommer» zeichnet Alice Grünfelder das Schicksal einer Familie in einer Kleinstadt im östlichen Baden-Württemberg nach. Magda, die Hauptfigur, wird in den Nachkriegs-Wirtschaftswunderjahren von ihrem ‘Alten’ verlassen.
Gastbeitrag von Franco Supino
Die nicht einmal 40jährige Magda lebt als Geschiedene mit ihren zwei erwachsenen Kindern stigmatisiert und mittellos am Rande der Gesellschaft, und es braucht Snezana, die Arbeitskollegin in der Fabrik, die sie ermuntert, doch mal auf ein Fest mitzukommen. Hier lernt Magda einen in der Umgebung stationierten US-Army-Soldat kennen. Wir erleben die unbeschwertesten Momente im Buch – eine tiefe, heimlich gelebte Liebe und einen Jahrhundertsommer.
Kurz darauf wird John nach Vietnam versetzt, Magda bleibt schwanger mit Ellen in Murrheim zurück. Ursula, die dritte Figur, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird und Tochter von Magda, findet trotz ihrer ehrenlosen Mutter einen eitlen spiessigen Bürolisten, der später sogar Bürgermeister wird, der ihr ein Kleinbürgeridyll – dank vieler Entbehrungen der Familie – als Hausfrau in der Neubausiedlung ermöglicht. Der Spiesser, der immer Dankbarkeit von Ursula verlangte, lässt sie eines Tages wegen einer anderen sitzen. Auch hier: eine Scheidung müsste man sich leisten können, weshalb Ursula ein sozialer Abstieg bevorsteht. Ursula sucht zudem die nächste toxische Abhängigkeit eines Mannes, weil sie an ihrer Mutter sieht, was einer Frau ohne Mann blüht. Die vierte Perspektive bringt Viktor in den Roman ein, Ursulas Sohn, der im Gegensatz zu seinem Namen ein Looser ist. Trotz der Schläge des Vaters schafft er knapp eine Elektrikerlehre, aber schon als Jugendlicher ist er vor allem ein dem Bier zugeneigtes Grossmaul, das er in den 300 Seiten von Alice Grünfelders Roman hektoliterweise in sich schüttet. Ellen, hofft man eine Zeitlang, könnte sich dem Sumpf, in den sie geboren wurde, entziehen. Sie schafft es bis nach Paris – kämpft sich hoch, studiert, findet einen interessanten Mann, aber auch sie scheitert schuldlos und muss nach Murrheim zurückkehren. Viktor entpuppt sich überraschenderweise als Kitt der Familie, und sorgt für Magda, Ursula und Ellen zwar für keinen weiteren Jahrhundertsommer, aber immerhin für ein «Zwischenhoch» (dessen abruptes Ende der Leser und die Leserin allerdings ahnen).
Alice Grünfelder hat einen lebensklugen Epochenroman geschrieben. Angesiedelt in der miefigen schwäbischen Provinz der späten 60 Jahre bis in die Zeit nach den Attentaten von 9/11 zeigt er, dass die deutsche Gesellschaft sich zwar verändert hat, aber keineswegs zum Besseren. Wie Magda wird Ellen, eine alleinstehende Frau mit einem nicht weissen Kind, nach ihrer Rückkehr ausgegrenzt: sie findet weder Arbeit, noch Anschluss. Etwas Farbe und Aufbruchstimmung bringen die Protestierenden gegen die Stationierung der Pershing II Raketen («Unser Mut wird langen, nicht nur in Mutlangen» skandieren sie) – aber als die Amis 1990 abziehen, verbiedern auch die Friedensbewegten.
Im Zentrum stehen die prekären sozialen und ökonomischen Verhältnisse der Protagonistinnen – ja, in diesem Roman geht es dauernd um Geld und Status, dem die Figuren nachjagen –; wer kein Kapital hat, weder monetäres noch soziales – wissen wir seit Bourdieu -, kommt auf keinen grünen Zweig. Bezeichnend ist, dass die Figuren nicht einmal merken, wie tief unten sie sind – etwa als Magda eine Anstellung in einer Gärtnerei kriegt und nicht merkt, dass auch sie eine ‘Klientin’ des Sozialprojekts ist. Aber Magda lässt sich nicht kleinkriegen. Das sieht man am besten in der grandiosen letzten Szene des Romans, die hier nicht verraten sei!
Romane, die sich dem Leben der Menschen der Unterschicht annehmen und dieses glaubhaft darstellen können, sind in der deutschen Literatur der Gegenwart selten. Alice Grünfelder schafft dieses Kunststück. Und sie weiss, wie man das macht, welche Détails wichtig sind, welche Bögen geschlagen werden müssen und wie man für überraschende Wendungen sorgt: sie ist eine geborene Erzählerin!
Alice Grünfelder, 1964 im Schwarzwald geboren, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte von 2001-2010 Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche, leitet Workshops rund ums Schreiben, Lektorieren und Übersetzen und ist als freie Lektorin tätig. Von Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, schreibt Essays, Erzählungen und Romane. Das Buch «Wolken über Taiwan» (2022) schaffte es auf die Hotlist der Unabhängigen Verlage.
Helga Schubert schreibt über die ganz grossen Themen des Lebens; die Liebe, die Arbeit, die Gesundheit, das Sterben und den Tod. Helga Schubert tut dies auf eine dermassen feine, behutsame, ehrliche und zärtliche Art, dass ihr Buch mit dem Untertitel „Stundenbuch der Liebe“ zu einer einzigen, grossen Liebeserklärung wird, eine an ihren Mann, eine an das Leben, an das Schreiben und die Schönheit des erlebten Moments.
Wahrscheinlich kann man gewisse Bücher erst schreiben, wenn man im Alter mit gewonnener Reife und Weisheit auf sein Leben zurückschaut. Schon allein das macht mir bei der Lektüre dieses Buches Mut, weil mit Lesen Hoffnung wächst. Nicht die Hoffnung, die Früchte meines Lebens im Alter geniessen zu können, aber mich über jeden Bissen in jene Früchte freuen zu können. Da schreibt eine Frau, die weiss, was sie am Leben hat, die weiss, wie viel sie von der Liebe geniessen durfte, die nicht verzagt, wenn die Quellen des Lebens nur mehr tröpfeln.
„Jede Sekunde mir dir ist ein Diamant.“
„Der heutige Tag“ ist kein Roman. Mit dem Untertitel „Stundenbuch der Liebe“ verweist die Autorin auf das Stundenbuch als Gebets- und Andachtsbuch. Helga Schubert vergewissert sich ihres Schatzes, den sie mit sich trägt. Da liegt im Haus zwar ein kranker, müde und gebrechlich gewordener Ehemann, der alles abverlangt, fast alle Energie der über Achtzigjährigen absaugt, aber sie blickt zurück auf eine Liebe, die ihr während Jahrzehnten all das gab, was die Liebe am Leben hielt. Sie huldigt dieser Liebe, weil sie weiss, dass sie es war, die sie so werden liess, wie sie ist. Sie weiss, wie zerbrechlich dieses Gefüge sein kann. Sie weiss, wie sehr es zu einem Ungleichgewicht geworden ist. Sie weiss, wie schmal die Aussichten in eine gemeinsam erlebte Zukunft geworden sind.
„Stundenbuch“ verweist aber auch auf den Tagebuchcharakter des Buches, auch wenn keine Daten über den Einträgen stehen. Nach vielfach unterbrochenen Nächten, den täglichen Verrichtungen, dem sich immer wiederholenden Alltags im Umgang mit einem Ehemann, der immer mehr in seiner Demenz eingesperrt ist, im immer kleiner werdenden Lebensradius muss sich die Autorin jene Zeit zum Schreiben nehmen, die ihr noch bleibt: Jenes Fenster am Abend, wenn sie ihren Mann in die Nacht verabschiedet hat, wenn sie noch Zeit und Kraft findet, sich an ihren Laptop zu setzen, um in ihrer ganz eigenen Welt zu versinken. Auch wenn sich in dieser Welt fast alles ausschliesslich um das dreht, was ihren Alltag ausmacht. Nur ist in ihrem Schreiben die Perspektive eine andere. Vielleicht sogar ihre Rettung.
„Manchmal trauere ich nur um mich. Diese Traurigkeit ist einsam und kalt. Sie ist voll Vorwurf und Enttäuschung und Bitterkeit.“
So wie Helga Schubert schildert und schreibt, hätte sie allen Grund zu hadern und zu zweifeln. „Der heutige Tag“ ist weder ein Buch des Ordnens noch ein Buch der Verklärung. Die Autorin gibt vieles preis; erzählt von Momenten grosser Erschöpfung, tiefen Unverständnisses, lähmender Verzweiflung. Aber sie schreibt in einem Ton, dem stets Zuversicht und das Bewusstsein eines grossen Geschenks unterlegt ist. Ein Hohelied der Liebe. Sie weiss um die kleinen Geschenke des Lebens, die unsäglich wichtig werden können; die Momente der Ruhe, ein Blick in den verwilderten Garten, eine zärtliche Berührung, die all die Erinnerungen weckt, die das gemeinsame Leben mit ihrem Mann ausmachen. Einem Mann, der zuerst als Dozent, später als Maler stets seine Stimme nach aussen suchte, der in seiner Krankheit, seiner Demenz immer mehr verstummt und nur noch ein Schatten dessen ist, was er einst war.
„Der heutige Tag“ wächst einem ganz nah ans Herz!
Helga Schubert, geboren 1940 in Berlin, war Psychotherapeutin und Schriftstellerin in der DDR. Nach zahlreichen Buchveröffentlichungen zog sie sich aus der literarischen Öffentlichkeit zurück, bis sie 2020 mit der Geschichte «Vom Aufstehen» den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Der gleichnamige Erzählband erschien 2021 bei dtv und war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
„Das Liebespaar des Jahrhunderts“ meint jedes Liebespaar des letzten Jahrhunderts. Julia Schochs zweiter Roman einer Trilogie beschreibt die Mechanismen einer Partnerschaft derart entlarvend, als wäre ihr Schreiben in ein grelles, blau schimmerndes Neonlicht getaucht. Ein schonungsloser Roman über den Schattenwurf eines institutionalisierten Lebenstraums.
Sie kennen das; Sie schauen in einen fremden Spiegel, in einem Raum, dessen Licht die kleinste Pore in ihrem Gesicht zeigt, der ein Spiegelbild offenbart, das einem zweifeln, das den kalten Schauer der Ernüchterung über den Rücken kriechen lässt, die leise Ahnung darüber, wie leicht man sich von Idealen betäuben, von Fassaden blenden, von Ernüchterungen verstummen lässt.
Eine Frau erzählt von ihrer Ehe. 30 Jahre ist sie verheiratet und in einer Beziehung geblieben, die sich wie ein nur noch schwer manövrierbares Schiff immer weiter von allen Küsten entfernt. Eigentlich hatte sie schon längst die Absicht, jene drei Wörter loszuwerden, die dieser Ehe endlich ein Ende mit Schrecken setzen würden. Aber aus der Jahrzehnte lang verschobenen Absicht wird ein romanlanger Erklärungsversuch darüber, was Beziehungen anrichten, die sich institutionell in Gewohnheiten und gegenseitigen Abhängigkeiten verloren haben. „Ich verlasse dich“ – so kurz wie die drei Worte, die meist zu Beginn einer Beziehung stehen; „Ich liebe dich“.
Vielleicht erklärt sich der Umstand, dass sie bleibt, darin, dass das Abwägen zwischen Vor- und Nachteilen, zwischen Verlust und Gewinn über die meiste Zeit ein unentschiedenes ist. Das, was zu Beginn jeder Ehe, jeder offiziell gemachter Beziehung als Leidenschaft und Zustand des Verliebtseins, Herz und Verstand in Wallung versetzte, verändert sich mit der Zeit, erst recht in einer amtlich gewordenen Ehe, einem Konstrukt, das selbst mit grösster Anstrengung nicht so einfach beendet werden kann. Die Gründe warum man bleibt und eben diese drei Worte „Ich verlasse Dich“ nicht ausspricht, sind so vielfältig wie das, was Menschen bei einer Ehe einander hinter diesem „Ja“ versprechen. So wie im Roman von Julia Schoch, eigentlich ein buchlanger Monolog: „Du warst seit langem der erste Mensch in meinem Leben, der nicht sofort wieder verschwinden wollte.“
„Ich dachte: Das wird nicht mehr gut. Aber es ging einfach weiter.“
Sie erinnert sich an die Zeit, als sie sich während des gemeinsamen Studiums kennen lernten. An die Zeit, in der alles wie ein Wunder erschien, der Himmel golden schimmerte und man sich diesem ganz nah fühlte. Sie beide wuchsen in der DDR auf, einer Diktatur, und die Liebe war nicht nur ein unendlich weites Land, das man zu zweit entdecken wollte, sondern Rückzugsort und Bastion in einem System, das omnipräsent kontrollieren wollte. Die Liebe versprach ein gemeinsames Abenteuer. Aber mit dem gemeinsamen Weg wächst nicht nur das Reservoir an überstandenen Prüfsteinen, sondern jenes vieler kleiner und grosser Verletzungen, nicht zuletzt von Selbstverletzungen. Was zu Beginn nur Gefühl, Leidenschaft, Glück war, wird im Zusammenleben in einer Wohnung, im Teilen der Aufgaben, mit einer Familie, den Kindern, all den Pflichten nach innen und nach aussen zu einem feinmaschigen Konstrukt von Erwartungen und Mechanismen.
„Das Liebespaar des Jahrhunderts“ ist eine erzählte Liste all der Gründe, warum es dreissig Ehejahre wurden, obwohl es eine lange Kette von Momenten gab, die ihr genügend Gründe geliefert hätten, einen Punkt zu machen. Julia Schoch hält mir selbst einen Spiegel hin, leuchtet mit bläulich grellem Neonlicht in die Winkel, die wir gerne im Dämmer lassen. Manche Szene, mancher Gedankengang war wie ein Schlag in die Kniekehle. Sie entblösst, reisst alle Maskerade, alle falschen Fassaden weg. Aus der Lektüre tauchen Gedanken, die das eigene Verdrängen bis über Schmerzgrenzen hinaus spiegeln. Schlussendlich bleibt ihre Gewissheit: „Jeder lebt sein Leben.“
Ein Roman, der nicht umgarnen will. Aber ein Roman, der mich staunen lässt, nicht nur inhaltlich, nicht nur über seine Wirkung, auch über den Mut dieser Autorin!
Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, aufgewachsen in der DDR-Garnisonsstadt Eggesin in Mecklenburg, gilt als »Virtuosin des Erinnerungserzählens« (FAZ) und bekam für ihre von der Kritik hochgelobten Romane und Erzählungen schon viele Preise, zuletzt den Schubart-Literaturpreis für ihren Roman «Das Vorkommnis. Biographie einer Frau». Für ihr schriftstellerisches Gesamtwerk wurde ihr 2022 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen. Sie lebt in Potsdam.
Sind Sie sich sicher? Beschleicht Sie manchmal der Zweifel? Hatten Sie als Kind auch jenen Moment, an dem sie mit einem Mal die Sicherheit verloren, ob jene Frau und jener Mann wirklich Mutter und Vater sind? Julia Schoch beschreibt in „Das Vorkommnis“ einen Moment, der das Gravitationsfeld eines ganzen Lebens verschiebt.
Ihre Protagonistin ist Schriftstellerin, verheiratet und Mutter zweier Kinder. Das Leben nimmt seinen Lauf, ist geregelt, auch wenn ihr Vater im Krankenhaus liegt und es den Anschein macht, als würde er nicht von dort zurückkehren. Nach einer Lesung im Kulturhaus einer norddeutschen Stadt tritt eine Frau an ihren Tisch, schiebt ihr Buch zum Signieren hin und während die Schriftstellerin zu schreiben beginnt, fällt der Satz: „Wir haben übrigens denselben Vater.“ Der Füller entgleitet und zieht eine Line quer durch die Seite. Ein Schock. Aber statt in Starre zu verfallen angesichts jener, die noch auf eine Signatur warten, steht sie auf und fällt der wildfremden Frau schluchzend um den Hals.
«Familie ist Fiktion.»
Eine Zäsur. Julia Schochs Roman dreht sich um diesen einen Moment, erzählt von den Kurzzeit- und Langzeitfolgen, beschreibt die Tsunamiwelle und deren Auswirkungen, wie sehr sich Sicherheiten in Verunsicherungen drehen, wie ein Leben im Konjunktiv zu wanken beginnt, wie sich ein einziger Satz zu einer Wolke verdichtet, die alles einnimmt. Obwohl sie wusste, dass ihr Vater vor seiner Heirat mit ihrer Mutter eine Beziehung hatte, aus der ein Kind hervorging, erschüttert sie die Begegnung bis ins Mark. Obwohl da vor langer Zeit einmal ein Zettel war, den die Mutter in der Jacke des Vaters fand, ein Zahlungsnachweis für Alimente, reisst der Satz einen schweren Vorhang herunter, den man in der Familie mit Bedacht über dieses eine Kapitel gehängt hatte. Aber wie in allen Biographien, in allen Leben; das eine macht man zur Familiengeschichte, immer und immer wieder erzählt und zelebriert. Und anderes schiebt man in dunkle Winkel, bemüht darum, dass sie nie mehr in den Lichtschein einer unbedachten Aufmerksamkeit geraten.
Gegen Aussen bleibt sie die Alte, nimmt eine Einladung einer us-amerikanischen Universität an uns fliegt mit den beiden Kindern und der Mutter in die Staaten. Mutter und Vater sind längst geschieden. Sie doziert, schreibt und lebt sich im Campus ein. Aber innerlich brodelt es, nimmt die Tatsache, dass sich jene Frau aus dem Dunkel des Vergessens traute, jede einzelne Faser ihres Denken und Handelns ein. Da ist ein Leben, das ihr verborgen bleibt. Eine Halbschwester. Eine andere Mutter, die dieses Kind damals zur Adoption freigab, es weggab. Ein Vater, ihr Vater, der sich dem Kind verweigerte. Ein Vater, den sie nicht mehr stellen konnte, der sich von ihr durch seine Krankheit, sein Alter entfernte. Julia Schoch beschreibt diese Familie als Quadrat mit ziemlich langen Seiten. Aber mit einem Mal ist dieses Quadrat aufgerissen, ein Fundament ihres Seins weggerutscht. Während sich ihre Eltern auf ganz eigene Art der Auseinandersetzung entziehen, werden die Erzählende und ihre Schwester durch Zustände getrieben, die alle Sicherheiten zerbröseln lassen.
Wir verdrängen und vergessen permanent. Wie beschönigen die Vergangenheit, verklären die Sicht auf unsere Herkunft. Ein Vorgang, der bei der Nachkriegsgeneration durchaus verständlich und vielleicht sogar zum Weiterleben notwendig war. Julia Schochs Protagonistin ist Schriftstellerin, per se eine Person, die zwischen Realität und Fiktion changiert. Und wenn dann ein Ereignis hereinbricht, dass Selbstverständlichkeiten erschüttert, dann bricht ein Sturm los.
Julia Schochs Roman ist kein Protokoll der Geschehnisse. Auch keine Suche nach der Herkunft, ein Geschichte, die klären will. „Das Vorkommnis“ ist eine Auseinandersetzung mit der Auseinandersetzung. Sie spiegelt unseren Umgang mit Vergangenheit, mit Wahrheit, mit Sicherheiten. Julia Schochs Roman reisst mich mit und überzeugt mit der Intensität dieser Auseinandersetzung, ohne irgendwann theoretisch oder abgewandt zu sein. So nah ihr Roman der Protagonistin, ihrer Innenwelt bleibt, so seltsam fern bleiben ihre Kinder, ihr Mann, ihre Mutter und ihr Vater. „Das Vorkommnis“ ist eine Spiegelung, ein Kaleidoskop!
Interview
Da ist dieses Ereignis, diese Frau bei jener Lesung, die Offenbarung, das Geheimnis, das nicht wirklich eines ist. Aber auf dem Buchumschlag des ersten Teils ihrer entstehenden Trilogie steht auch noch „Biographie einer Frau“. Der Titel als Hinweis auf die Handlung, der Untertitel darauf, dass der Hintergrund absolut kein singulärer ist? In allen drei Büchern geht es um Frauen, die Abschied nehmen von bestimmten Vorstellungen von Familie und sich arrangieren müssen mit einer neuen Version ihres Lebens. So, wie man das Leben, die Liebe oder andere Menschen bisher gesehen hat, ist es nicht mehr – die eigene Geschichte muss revidiert werden. Das ist ein oft schmerzhafter Prozess. Man begreift, wer man bisher war, was einen ausgemacht hat, was man für selbstverständlich hielt und was nun nicht mehr selbstverständlich ist und wovon man sich lösen muss. Manchmal geschieht so etwas abrupt, manchmal auch allmählich. Dann ist man wie zu Gast im eigenen Leben. Ich glaube, früher oder später ist jeder Mensch in so einer Situation: Plötzlich sieht man klarer. Die Frage ist, wie wir das einbauen in unser Bild von der Welt oder von uns selbst. Wenn es speziell um das Thema Familie geht, sind es oft Frauen, die sie bauen, sie zusammenhalten, bestimmte Vorstellungen weitertragen und vielleicht auch abhängiger sind von dieser Konstruktion, weil sie so viel Anteil daran haben.
Ich kenne diesen Moment, wenn durch eine tektonische Verschiebung innerhalb einer Familie das Gravitationsfeld durcheinandergerät. Meist stirbt jemand weg. In Ihrem Roman taucht jemand aus dem Vergessen auf. „Familie ist Fiktion“, schreiben Sie. Ein Satz, der Wirkung zeigt. Wo wir doch noch immer mit dem Statement leben „Familie als Grundpfeiler der Gesellschaft“. Ist Familie überbewertet? Egal, ob wir sie als überbewertet empfinden oder nicht, sie schreibt sich von der Geburt an in unser Leben ein. Unsere Herkunft macht uns klar, was wir erwarten dürfen im Leben, worauf wir uns verlassen, welche Wünsche sich lohnen, was wir unter keinen Umständen wiederholen wollen etc. Wir können uns natürlich lösen, wir können es leugnen, verdrängen, wir können das Gegenteil machen, eigene Modelle entwickeln. Aber auf jeden Fall legt sie Spuren in die Zukunft, mal sind es Schnellbahnen, mal holpriges Pflaster. Der Satz im Buch bezieht sich auch darauf, dass wir bestimmte Vorstellungen von den einzelnen Mitgliedern der Familie haben. Wir weisen ihnen Funktionen zu, haben bestimmte Erwartungen an sie, wir malen uns ein Bild. Das alles sagt oft mehr über uns selbst aus als über die anderen. Was den ‚Grundpfeiler‘ betrifft: Manchmal habe ich den Eindruck, in Ermangelung anderer sinnstiftender Gruppen oder „Verbände“, die Visionen in uns entfachen könnten, sind wir oft sehr zurückgeworfen auf die Familie. Es gibt ja auch ganz andere Modelle in der Welt, wie der/ die Einzelne in einem positiven Sinn geprägt und gehalten werden kann. Aber nach den unterschiedlichsten Zusammenlebensutopien des 20. Jahrhundert ist in der westlichen Welt die Familie als Kernzelle „irgendwie übriggeblieben“.
Ihr Roman setzt sich sehr mit dem Prozess des Schreibens auseinander. Einmal lassen Sie Ihre Protagonistin sagen: „Schreiben ist eine Art der Verdrängung, immer.“ Stimmt Julia Schoch der Protagonistin zu? Ja, die Gedanken kommen natürlich aus mir. Es gibt die eine Wahrheit nicht, die man schreibend zutage fördern könnte. Ich nähere mich an, weiss immer schon, dass es auch wieder nur eine Version ist. Die eine geschriebene verdrängt sozusagen hundert andere.
Alle leben in einer Geschichte, in der Geschichte. Wir hüten sie, wir bauen sie. Und wir korrigieren, oft unbewusst. Vielleicht ist der Begriff „Wahrheit“ noch nie so durchscheinend gewesen wie in der Gegenwart. Erschütterungen lassen wir nur ungerne zu. „Das Vorkommnis“ ist die Auseinandersetzung mit Erschütterungen. Warum stellt sich der Mensch solchen so ungern? Wir richten uns ein in bestimmten Geschichten von uns selbst. Sie stabilisieren uns. Familiengeschichten sind eine Art ‚symbolische Verankerung‘ in der Welt, ganz unabhängig davon, ob sie gut oder schlecht sind. Sogar abwesende Familien haben Prägungskraft. Diese symbolische Verankerung ist weitaus bedeutender als eine materielle. Weil sie etwas darüber erzählt, wer wir sind. Diese Erzählungen sind ein Urbedürfnis des Menschen. Aus dem Grund halten wir es auch für fatal, wenn wir unser Erinnerungsvermögen verlieren. Wir verlieren ohne diese Geschichte, also eine erinnerte Konstruktion, fast jeden Halt.
Das Personal in ihrem Roman bleibt blass. Eine Feststellung, die ich bei anderen Romanen als Kritik aussprechen würde. Bei Ihrem Roman ist das anders. Selbst die Kinder der Protagonisten haben nicht einmal Namen. Ihr Blick ist nach innen gerichtet. Eine heikle Erzählrichtung, weil ich Nabelschauen nicht mag. Aber Ihr Roman ist auch bei weitem keine Nabelschau. Wie sind sie beim Schreiben vorgegangen und welches waren die Eckpfeiler des Erzählens? Ich war selbst verwundert, warum mich das Thema so aufgewühlt hat. Auch das wollte ich erforschen. Da taucht ein neues Familienmitglied auf – wieso wirft einen so was aus der Bahn? Schliesslich leben wir in einer Zeit, in der es fast keine Tabus mehr gibt in Sachen Liebe oder Familie. Unabhängig von meiner persönlichen Geschichte wollte ich herausfinden, mit welchen Vorstellungen von Familie, also von Verwandtschaft und Herkunft, wir leben. Und als ich anfing, darüber nachzudenken, und auch andere dazu befragt habe, bestätigte sich für mich die Notwendigkeit, über mein Unbehagen zu schreiben, denn andere hatten es auf ihre Weise auch. Mir ist beim Schreiben des Buches auch nochmal klar geworden, wie sehr Familien, also kleine Gesellschaften, gewebe-artig zusammenhängen, da ist nichts isoliert, alles ist mit allem verwoben, wir können diese Tatsache eine Zeitlang ausblenden, aber dadurch wird sie nicht hinfällig.
Das Buch ist aber kein klassisches Familienepos und auch keine Abrechnung. Ich wollte einfach sehr genau beschreiben, was dieser Vorfall mit einem macht. Die einzelnen Stufen dieser Erkenntnis genau sezieren. Was ist los, wenn man feststellt: mein bisheriges Bild von mir, meiner Vergangenheit, den Personen, mit denen ich zusammenlebe, stimmt nicht mehr. Dabei bin ich wie über eine Treppe zurück durch mein Leben gegangen und habe mich gefragt: In welcher Situation war ich denn noch blind? Wo bin ich noch getäuscht worden? Das nahm manchmal schon obsessive Formen an. Am Ende ist mir sogar die Liebe selbst verdächtig geworden. Das Phänomen Familie an sich erschien mir absurd. Und das ist natürlich eine Katastrophe. So kann man nicht auf Dauer leben. Deshalb musste ich darüber schreiben, weil ich nicht auf Dauer damit leben konnte.
Julia Schoch wurde 1974 in Bad Saarow geboren und wuchs in Mecklenburg auf. Von 1992 – 98 studierte sie Romanistik und Germanistik in Potsdam, Paris und Bukarest. Sie lebt seit 2003 als Schriftstellerin und Übersetzerin in Potsdam und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Preis der Jury beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb und den André-Gide-Preis. Zuletzt erschien ihr Roman Schöne Seelen und Komplizen bei Piper.
Was passiert, wenn sich Wissenschaftler:innen als Hüter eines oder des Grals verstehen? Was passiert mit ihnen, wenn sie feststellen müssen, dass ihre Gegenwart den Schatz, von dem sie wissen, nicht zu schützen weiss? Ein Buch wird zum letzten Tor einer untergehenden Welt. Michael Hugentobler nimmt mich mit und gewährt mir einen Blick auf das sich schliessende Tor.
Michael Hugentobler war 13 Jahre auf einer Weltreise unterwegs, auch in Südamerika, in Patagonien, in Feuerland, jenem Gebiet am südlichsten Zipfel des Kontinents, das man bei seiner Entdeckung für unbesiedelt hielt, das aber von nomadisch lebenden Indianern bewohnt wurde, unter andern auch von den Yámana. Aber von diesen Völkern ist fast nichts geblieben. Kolonialisierung, eingeschleppte Krankheiten, Goldrausch und Christianisierungsversuche setzten den Völkern derart zu, dass von den ehemaligen Wassernomaden fast nichts mehr geblieben ist.
Auf Michael Hugentoblers Reise durch dieses Land erfuhr er von der Geschichte eines argentinisch-britischen Missionars und seiner Leidenschaft für die Sprache der Yámana. Thomas Bridges wurde Zeit seines Lebens ein akribischer Erforscher der Sprache jener Ureinwohner und verfasste über Jahrzehnte ein Wörterbuch, das nicht einfach übersetzte, sondern die Wörter der Yámana in den Zusammenhang ihres Daseins schrieb. So wurde aus der Wörtersammlung das eigentliche Vermächtnis eines Volkes, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu verschwinden drohte. Thomas Bridges war aber nicht einfach ein fanatischer Sammler. Dieser Missionar wurde zum letzten Kämpfer dieses Volkes, wenn auch immer unter kolonialistischen Vorzeichen. Er gewann vom damaligen argentinischen Staatspräsidenten gar Landrechte, die er für die überlebenden Yámana-Indianer sichern wollte. Sein Wörterbuch, in dem er auf über 1000 Seiten mehr als 32000 Yámana-Wörter sammelte, trug er zeitlebens mit sich herum. Wie einen Schatz.
Schon gezeichnet von einer Krankheit starb Thomas Bridges auf einer seiner Reisen. Sein Wörterbuch gelangte in die Hände eines „erfolglosen Polarforschers“, der mit dem Buch seine Chance witterte, in den Olymp der Unsterblichen aufgenommen zu werden. Aber das Buch schien im Besitz dieses Mannes kein Glück zu bringen, bis es 1912 in London in die Hände des deutschen Völkerkundlers Ferdinand Hestermann fiel, dem sofort klar war, welchen Schatz er durch einen puren Zufall zu fassen bekam.
Ferdinand Hestermann spürte genau, dass in den Wirren des Krieges und zwei Jahrzehnte später in den Schatten des sich anbahnenden Tausendjährigen Reichs all jene Schriften und Bücher in Gefahr sind, die nicht dem wachsenden völkischen Bewusstsein des Nazis entsprachen. So wie damals Thomas Bridges machte sich Ferdinand Hestermann auf in einen Kampf. Diesmal ganz und gar nicht für ein Volk, schon gar nicht für das deutsche, sondern für die Wissenschaft, das Wissen, die Schätze, die sich über die Jahrhunderte in Bibliotheken ansammelten, die sich die Nationalsozialisten aber einverleiben wollten, um sie, wenn nötig, zu vernichten, so wie alles, dass ihnen nicht dienlich oder entartet erschien.
Michael Hugentobler erzählt die Geschichte nicht einfach chronologisch. Es stellt auch nicht den Anspruch, Historie nachzuerzählen, auch wenn ich als Leser bei meinen Verifikationen auf überraschend viele Fakten stosse. Es sind die beiden Männer, Thomas Bridges und Ferdinand Hestermann, die nicht nur aus heeren Gefühlen und purer Nächstenliebe zu Hütern eines Schatzes werden. Michael Hugentobler verwebt die beiden Männer und ihre Besessenheit miteinander. Er führt vor Augen, wie gross die Gefahr wird, wenn Wissen instrumentalisiert werden soll, sei es zum eigenen Nutzen oder im Dienst einer Ideologie. Was den Roman von Michael Hugentobler aber zu einem wirklichen Lesevergnügen macht, ist sein Detailreichtum, seine Buntheit, die kräftigen Farben, mit denen der Schriftsteller malt. Ich staune darüber, was der Autor alles mit in seinen Roman einpackt. Als hätte er sich nicht bloss unmittelbar an der Seite seiner beiden Protagonisten bewegt, als hätte er den Geist jenes Buches in jenen Augenblicken, als er es bei einem Besuch in der British Library in Händen hielt, in sich aufgesogen.
Michael Hugentobler offenbart das Geheimnis, wenn man für einen kurzen Augenblick im Licht einer untergehenden Sonne, einer verschwindenden Welt steht.
Mein Fazit: Der Roman hätte den Preis verdient. Der Autor hätte den Preis verdient!
Michael Hugentobler wurde 1975 in Zürich geboren. Nach dem Abschluss der Schule in Amerika und in der Schweiz arbeitete er zunächst als Postbote und ging auf eine 13 Jahre währende Weltreise. Heute arbeitet er als freischaffender Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine, etwa ›Neue Zürcher Zeitung‹, ›Die Zeit‹, ›Tages-Anzeiger‹ und ›Das Magazin‹. Er lebt mit seiner Familie in Aarau in der Schweiz. Sein Debütroman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» erschien 2018.
«Allein für die Stuckaturen im Bodmanhaus würde ich lieber heute als morgen zurückkommen. Und für den knarrenden Boden. Und für die Treppe, deren Tritte alle eine unterschiedliche Höhe haben. Und für die Menschen, die so spannende Fragen gestellt haben und so freundlich und aufgeschlossen waren. Und ganz allgemein für die Zwiebeltürme an der Drachenburg und den Schiffsteg von Gottlieben.» Michael Hugentobler
Michael Hugentobler, einer der Nominierten des diesjährigen Schweizer Buchpreises, war mit seinem Roman «Feuerland» Gast im Literaturhaus Thurgau, mit einem Roman um den drohenden Verlust von Geschichte, über Besessenheit und Leidenschaft und die Magie der Sprache!
Für sein Schreiben zu recherchieren, ist das eine. Nichts über gute und gewissenhafte Recherche! Wenn das Geschriebene danach, die eigentliche Geschichte aber vom leicht abgestandenen Geschmack der Recherche durchzogen ist oder gar der Eindruck entsteht, der oder die Schreibende müsste mit jeder Formulierung den Gehalt oder die Tiefe der Recherche beweisen, dann kann Recherche aufstossen, dann wird das Geschriebene zum Machwerk. Dass Michael Hugentobler die Recherche zu seinem Roman über ein Buch, ein Wörterbuch über die Sprache der mittlerweile ausgestorbenen Yamana-Indianer, das er durch ein ganzes Jahrhundert begleitet, von Patagonien bis ins British Museum in London, zu einem wichtigen Instrument des Erschaffens machte ist klar und nachvollziehbar. Michael Hugentobler ist Reporter! Und wenn etwas den Reporter auszeichnet, dann ist es eine solide Recherche. Aber Michael Hugentobler drängt alles, was nach Wissen und Recherche riecht bei seinem schriftstellerischen Schreiben in unmerklichen Hintergrund. Sie trieft und schwitzt nicht! Er verbirgt sie gekonnt hinter Erlebtem, Aufgeschnapptem, hängt sie hintergründig an seine Fantasie und Fabulierkunst.
Ein Wörterbuch, verfasst von einem britischen Missionar im dünn besiedelten Patagonien des 19. Jahrhunderts wird zum letzten Rest einer ganzen Kultur, die durch Kolonialisierung, eingeschleppte Krankheiten, Goldrausch und Christianisierungsversuche vernichtet wurde. Ein Wörterbuch, dass windige Polarforscher und schrullige Völkerkundler wie einen Schatz, einen Gral durch die Zeit tragen.
Eigentlich Wunder genug, dass es ein Roman über verschrobene Wissenschaftler und eifrige Missionare, ein Buch über ein Buch, ein Roman, in dem Frauen nur am Rande vorkommen und dann auch noch ziemlich schnell sterben, auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises schafft. Selbst das Thema eines vernichteten Volkes scheint in einer Zeit, in der man sich schamlos des Begriffes «Genozid» bedient, nicht unproblematische und schon gar nicht verkaufsfördernd zu sein.
Aber «Feuerland» ist ein Roman, der funkelt, der Türen aufreisst. Wenn es ein Buch schafft, Reiseführer in verborgene Innen- und Aussenwelten zu sein, wenn es mich mitnimmt zu Wanyamwezi-Gesängen oder Nongkrem-Fabeln, wenn man im Lesen Napfschnecken und Mähnenrobben isst und erfährt, dass man mit Schwefelkies und einem Pilz namens Gunda Feuer machen kann, dann werde ich als Leser glücklich, weil Michael Hugentobler den Szenerien jenes Leben einhaucht, dass nur der Gereiste erzeugen kann.
Ein wunderbarer Abend mit einem wunderbaren Buch und einem wunderbaren Schriftsteller!
Verfolgen sie das Rennen um den Schweizer Buchpreis? Beeinflusst dieses Rennen ihr «Literatur-Konsumverhalten»? Lesen sie eines oder mehrere der Bücher, die im Rennen sind? Alleweil gut ist der Preis für Überraschungen. Und immer wieder ist die Hoffnung da, dass sich all die Zwänge der Gegenwart nicht in die Auswahl einmischen?
Bis zur Verleihung des Schweizer Buchpreises in Basel am 7. November 2021 mische ich mich immer wieder in die Frage «Welches Buch muss es sein?». In der Menüleiste links finden sie einen Link, der Sie direkt zu den entsprechenden Artikeln führt!
Sie kennen Christian Kracht nicht? Er war schon einmal Träger des Schweizer Buchpreises und ist mit jedem seiner Bücher im Gespräch, sei es unter Rezensent:innen, Feuilletonist:innen oder engagierten Leser:innen. Ein Mann, der einem förmlich zur Auseinandersetzung zwingt. Dass er das auch mit seinem neuen Roman «Eurotrash», ja sogar mit dem Titel alleine schafft, lässt einem staunen. Für die einen ist Christian Kracht eine Lichtgestalt im helvetischen Literaturhimmel, auch wenn an ihm und seinem Schreiben so gar nichts Helvetisches ist. Wäre Christian Kracht nicht für den Schweizer Buchpreis nominiert, hätte ich sein Buch wohl nicht gelesen. Denn eines braucht sein Buch mit Sicherheit nicht: meinen Senf. (Christian Kracht «Eurotrash», Kiepenheuer & Witsch)
Schon ein bisschen anders verhält es sich mit Martina Clavadetscher und Michael Hugentobler Schon alleine deshalb, weil beide schon meine Gäste waren, sei es in einer moderierten Lesung oder bei «Literatur am Tisch», einer ganz intimen Veranstaltung. Martina Clavadetschers erster Roman «Knochenlieder», mit dem sie schon einmal für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde, schlug bei mir ein wie eine Bombe. Nicht weil die Geschichte in einer möglichen Zukunft spielt, nicht weil ich gerne Dystopien lese, sondern weil Martina Clavadetscher schon damals formal ein Experiment wagte. Ihre Romane sind schon alleine visuell anders, mäandern zwischen Prosa, Theater und Lyrik, versuchen eigene Wege zu gehen. Ihr neuester Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» verfeinert das, was die Schriftstellerin schon im Roman davor begonnen hat. Ihr Roman ist ein vielstimmiges und vielschichtiges Epos, wieder in einer nicht allzu fernen Zukunft. (Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams», Unionsverlag)
Michael Hugentobler ist ein Reisender. Dass er, der nun sesshaft geworden ist und Familie hat, 13 Jahre auf Reisen war, das spürt man seinem Schreiben an. Wahrscheinlich ist sein Reservoir an Bildern und Geschichten unerschöpflich, was seinen Lesern nur recht sein kann, denn Michael Hugentobler macht Türen auf. Als Reisender nach Innen und nach Aussen, nach unzähligen Reportagen für namhafte Magazine nimmt mich Michael Hugentobler mit auf eine Reise nach Südamerika, spürt einem Indianerstamm nach, von dem nur ein Buch mit Wörtern übrig geblieben ist. Schon sein erster Roman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» riss mich mit ins 19. Jahrhundert, zuerst ins Wallis, dann zu den Aborigines in Australien und am Ende zum Finale nach London. Dorthin, wo auch sein zweiter, nun nominierter Roman «Feuerland» seinen Ursprung hat. Bilderstarke Literatur! (Micheal Hugentobler «Feuerland», dtv)
Überraschend, zumindest für mich, sind die Nominierten Veronika Sutter und Thomas Duarte. Veronika Sutter erschien bisher gar nicht auf meinem Schirm (was nichts heissen soll) und von Thomas Duarte hörte ich nur, weil sein literarisches Debüt 2020 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Debüt ausgezeichnet würde (was noch kein Grund gewesen war, das Buch zu besorgen). Da sind also ganz offensichtlich Versäumnisse meinerseits nachzuholen. Veronika Sutters Erzählband «Grösser als du» zeichnet Menschen, «die mit einem Geheimnis leben, weil Scham oder Verleugnung sie daran hindern, über das zu sprechen, was hinter ihren Wohnungstüren passiert. Ohne es zu wissen, teilen sie die Erfahrung von Abhängigkeit, Gewalt und Unterdrückung. Sie stehen aber auch in Beziehung zueinander, ob als (Ex)Partner, Freundinnen, Nachbarn oder Verwandte. Sie biegen sich ihre Realität zurecht, um ihr Verhalten zu rechtfertigen, sei es despotisch, übergriffig oder duldsam.» Veronika Sutter «Grösser als du», edition 8)
Und von Thomas Duarte’s Debüt «Was der Fall ist» heisst es: «Ein Mann erscheint mitten in der Nacht auf einem Polizeiposten und erzählt, wie sein bislang eintöniges Leben aus den Fugen geraten ist. Jahrzehntelang hat er für einen wohltätigen Verein gearbeitet, jetzt wird er plötzlich wegen Unregelmässigkeiten bei der Geldvergabe verdächtigt. Und nicht nur das: Im Hinterzimmer seines Büros, in dem er zeitweise selbst hauste, lässt er neuerdings die illegal arbeitende Putzfrau Mira wohnen. In seinem wahnwitzigen Bericht, dessen Charme und Menschlichkeit aber selbst den Polizisten nicht kaltlassen, entsteht das Portrait eines modernen Antihelden, der einen überraschend fröhlichen Nihilismus zum Besten gibt.» (Thomas Duarte «Was der Fall ist», Lenos)
Spannend! Ich freue mich auf die Lektüre. Spannend, weil die fünf Finalist:innen unterschiedlicher nicht sein könnten; ein Schwergewicht, zwei Perlen und zwei Debüts! Vielleicht auch ein ungleicher «Kampf».
Was passiert, wenn sich Wissenschaftler:innen als Hüter eines oder des Grals verstehen? Was passiert mit ihnen, wenn sie feststellen müssen, dass ihre Gegenwart den Schatz, von dem sie wissen, nicht zu schützen weiss? Ein Buch wird zum letzten Tor einer untergehenden Welt. Michael Hugentobler nimmt mich mit und gewährt mir einen Blick auf das sich schliessende Tor.
Michael Hugentobler war 13 Jahre auf einer Weltreise unterwegs, auch in Südamerika, in Patagonien, in Feuerland, jenem Gebiet am südlichsten Zipfel des Kontinents, das man bei seiner Entdeckung für unbesiedelt hielt, das aber von nomadisch lebenden Indianern bewohnt wurde, unter andern auch von den Yámana. Aber von diesen Völkern ist fast nichts geblieben. Kolonialisierung, eingeschleppte Krankheiten, Goldrausch und Christianisierungsversuche setzten den Völkern derart zu, dass von den ehemaligen Wassernomaden fast nichts mehr geblieben ist.
Auf Michael Hugentoblers Reise durch dieses Land erfuhr er von der Geschichte eines argentinisch-britischen Missionars und seiner Leidenschaft für die Sprache der Yámana. Thomas Bridges wurde Zeit seines Lebens ein akribischer Erforscher der Sprache jener Ureinwohner und verfasste über Jahrzehnte ein Wörterbuch, das nicht einfach übersetzte, sondern die Wörter der Yámana in den Zusammenhang ihres Daseins schrieb. So wurde aus der Wörtersammlung das eigentliche Vermächtnis eines Volkes, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu verschwinden drohte. Thomas Bridges war aber nicht einfach ein fanatischer Sammler. Dieser Missionar wurde zum letzten Kämpfer dieses Volkes, wenn auch immer unter kolonialistischen Vorzeichen. Er gewann vom damaligen argentinischen Staatspräsidenten gar Landrechte, die er für die überlebenden Yámana-Indianer sichern wollte. Sein Wörterbuch, in dem er auf über 1000 Seiten mehr als 32000 Yámana-Wörter sammelte, trug er zeitlebens mit sich herum. Wie einen Schatz.
Schon gezeichnet von einer Krankheit starb Thomas Bridges auf einer seiner Reisen. Sein Wörterbuch gelangte in die Hände eines „erfolglosen Polarforschers“, der mit dem Buch seine Chance witterte, in den Olymp der Unsterblichen aufgenommen zu werden. Aber das Buch schien im Besitz dieses Mannes kein Glück zu bringen, bis es 1912 in London in die Hände des deutschen Völkerkundlers Ferdinand Hestermann fiel, dem sofort klar war, welchen Schatz er durch einen puren Zufall zu fassen bekam.
Ferdinand Hestermann spürte genau, dass in den Wirren des Krieges und zwei Jahrzehnte später in den Schatten des sich anbahnenden Tausendjährigen Reichs all jene Schriften und Bücher in Gefahr sind, die nicht dem wachsenden völkischen Bewusstsein des Nazis entsprachen. So wie damals Thomas Bridges machte sich Ferdinand Hestermann auf in einen Kampf. Diesmal ganz und gar nicht für ein Volk, schon gar nicht für das deutsche, sondern für die Wissenschaft, das Wissen, die Schätze, die sich über die Jahrhunderte in Bibliotheken ansammelten, die sich die Nationalsozialisten aber einverleiben wollten, um sie, wenn nötig, zu vernichten, so wie alles, dass ihnen nicht dienlich oder entartet erschien.
Michael Hugentobler erzählt die Geschichte nicht einfach chronologisch. Es stellt auch nicht den Anspruch, Historie nachzuerzählen, auch wenn ich als Leser bei meinen Verifikationen auf überraschend viele Fakten stosse. Es sind die beiden Männer, Thomas Bridges und Ferdinand Hestermann, die nicht nur aus heeren Gefühlen und purer Nächstenliebe zu Hütern eines Schatzes werden. Michael Hugentobler verwebt die beiden Männer und ihre Besessenheit miteinander. Er führt vor Augen, wie gross die Gefahr wird, wenn Wissen instrumentalisiert werden soll, sei es zum eigenen Nutzen oder im Dienst einer Ideologie. Was den Roman von Michael Hugentobler aber zu einem wirklichen Lesevergnügen macht, ist sein Detailreichtum, seine Buntheit, die kräftigen Farben, mit denen der Schriftsteller malt. Ich staune darüber, was der Autor alles mit in seinen Roman einpackt. Als hätte er sich nicht bloss unmittelbar an der Seite seiner beiden Protagonisten bewegt, als hätte er den Geist jenes Buches in jenen Augenblicken, als er es bei einem Besuch in der British Library in Händen hielt, in sich aufgesogen.
Michael Hugentobler offenbart das Geheimnis, wenn man für einen kurzen Augenblick im Licht einer untergehenden Sonne, einer verschwindenden Welt steht.
Michael Hugentobler wurde 1975 in Zürich geboren. Nach dem Abschluss der Schule in Amerika und in der Schweiz arbeitete er zunächst als Postbote und ging auf eine 13 Jahre währende Weltreise. Heute arbeitet er als freischaffender Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine, etwa ›Neue Zürcher Zeitung‹, ›Die Zeit‹, ›Tages-Anzeiger‹ und ›Das Magazin‹. Er lebt mit seiner Familie in Aarau in der Schweiz. Sein Debütroman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» erschien 2018.
Helga Schubert gewann 2020 mit Auszügen aus ihrem Buch „Vom Aufstehen“ den Ingeborg-Bachmann-Preis. Für ein Buch, das mit seinem Erzählen selbst eine Hommage ist an die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, an ihr Buch „Das dreißigste Jahr“, das ebenfalls mit einer Betrachtung über das Aufstehen beginnt.
Schreiben ist immer Aufstehen. Und Helga Schubert ist in ganz besonderer Weise „aufgestanden“. „Vom Aufstehen“ ist weder Erzählband, auch wenn er erzählt, noch Roman. Ihr Buch ist ein Erinnerungsbuch, ein Gedankenbuch, manchmal erzählend, manchmal essayistisch. Helga Schubert richtet sich auf und schaut zurück. Zurück in die Vergangenheit, in ein aufgelöstes Land, in eine Familie, ihre Familie, bis in den ausgehenden 2. Weltkrieg, das Leben in der DDR, den Mauerbau, das Leben hinter oder vor der Mauer, auf die kleinen und grossen Dinge des Lebens.
Und nebenher ist die Geschichte Helga Schuberts selbst Geschichte, auch die Geschichte bis zur Preisverleihung, an der sie wegen Corona in Klagenfurt beim Ingeborg-Bachmann-Wettlesen nicht teilnehmen konnte. Man hatte sie 40 Jahre zuvor 1980 schon einmal nach Klagenfurt eingeladen. Damals verweigerte ihr ihr Land die Teilnahme am Wettlesen. Es gäbe keine „deutsche Literatur“, das „Unternehmen Bachmannpreis“ sei nur dazu da, um dieses Phänomen der deutschen Literatur voranzutreiben. Nichts desto trotz, noch vor der Wende sass Helga Schubert von 1987 bis 1990 dann in der Jury des Wettbewerbs. Und 2020, im Alter von 80 Jahren, 40 Jahre nach ihrer ersten Einladung wurde die Schriftstellerin von der Literaturkritikerin und Jurorin Insa Wilke nach Klagenfurt gebeten, wo sie als älteste Teilnehmerin des Wettbewerbs zur Siegerin erklärt wurde. Eine schöne Geschichte!
„Ich habe wie jeder Mensch meinen Schatz in mir vergraben.“
Helga Schubert erzählt aus ihrem Leben, von der Hängematte in den Obstbäumen im Garten ihrer Grossmutter mit Streuselkuchen und Muckefuck, jenem Lebensgefühl, dass ihr nur ihre Grossmutter schenken konnte, niemals ihre Mutter, jenem Lebensgefühl, das sich nur in den langen Sommerferien bei ihrer Grossmutter freisetzen konnte. Über ihren Vater, der im Winter 1941 auf einem vereisten Arm der Wolga von einer Handgranate zerrissen wurde, jenen unbekannten Mann, von dem sich die Tochter ein Leben lang gerne in den Arm genommen gewünscht hat. Über das Ein- und Ausgesperrtsein hinter oder vor Mauern, den Mauern der DDR. Vom Mut, den Märchen Kindern und dem Kind im Erwachsenen schenken können. Von den Schubladisierungen einer DDR – und einer Schriftstellerin, die klar zu machen versucht, dass man sich sein Herkunftsland nicht wie einen Mantel aussucht.
„Nicht dorthin sehen, wo Sie nicht hin wollen, sondern dorthin, wo Sie hin wollen, in die Kurve sehen, nicht an den Rand.“
In ihrem Schreiben, dem Buch „Vom Aufstehen“, das sie in Anlehnung an Ingeborg Bachmanns „Das dreißigste Jahr“ ursprünglich mit „Das achtzigste Jahre“ betiteln wollte, in dem sie immer wieder zu ihrer Grossmutter zurückkehrt, als wäre sie einer der wenigen Leuchttürme in ihrem Leben, erinnert in vielem an das grosse literarische Vorbild und bleibt doch eigenständig. So wie Herta Schubert erzählt, kann nur eine in die Jahre gekommene Schriftstellerin schreiben, jemand der weiss, dass viel mehr hinter ihr liegt als vor ihr. „Der Grossteil meines Lebens ist vorbei. Und es geht immer schneller. Wie in den Trichter eines Ameisenbären rutsche ich, der Sand gibt nach.“ Aus jedem Satz, jeder Geschichte leuchtet Demut und Dankbarkeit. Und immer wieder die Frage, wo das eigene Zuhause ist, nicht nur geographisch, sondern letztlich auch in ihrem Schreiben.
„Vom Aufstehen“ rührt!
Interview
„Ein Leben in Geschichten“ steht auf dem Buchumschlag. War das von Beginn weg der Plan zu diesem Buch? Oder entstand die Verwandtschaft zu Ingeborg Bachmanns „Das dreißigste Jahr“ erst nach und nach?
Am Anfang und am meisten durchgearbeitet stand der Wettbewerbstext zum Bachmann-Wettbewerb. Ihn hätte ich gern „Das achtzigste Jahr“ genannt, als Huldigung an Ingeborg Bachmann. Denn die Idee zu dieser Lebensbilanzgeschichte kam ja erst nach der Einladung zum Wettbewerb. Normalerweise bewirbt man sich ja bei diesem Wettbewerb und wird nicht, wie ich von einem Jurymitglied, aufgefordert, sich zu bewerben. Von mir aus wäre ich doch gar nicht auf die Idee gekommen, als Achtzigjährige da mitzumachen.
Noch am Tag der Preisverleihung meldete sich bei mir die erfolgreichste Literaturagentin Deutschlands, Karin Graf, die ausschließlich Literaturpreisträger vertritt, und bot mir einen Vertrag an. Ich sollte ihr umgehend ein Buchmanuskript schicken, das ich aber gar nicht hatte. Sie bezog sich auf eine Interviewäusserung, dass ich sehr viele Erzählungen in der Schublade hätte, die ich regelmässig in unserer Gemäldegalerie bei den monatlichen Bilderwechseln vorgetragen hatte und die bei unserem kunstverständigen Publikum (oft bis zu 70 Personen) ein sehr wohlwollendes Echo fanden. Als ich diese Erzählungen von der Festplatte ausdruckte und alte Kopien zusammensuchte, stellte ich fest, dass sie in einem sinnhaften Zusammenhang standen, dass sich nichts wiederholte, dass sie alle in der Ichform geschrieben waren, dass sie in einen lebensgeschichtlichen Ablauf gebracht werden konnten. Ich schrieb einige Texte um, einige neu. Und ich konnte schon 8 Wochen nach dem Bachmannpreis das Manuskript an die Literaturagentur geben. Mehrere Verlage hatten sich schon deshalb bei ihr gemeldet, aber der dtv hatte die weitreichendsten Konditionen, denn sie wollten nach und nach alle früheren, vergriffenen Bücher auch wieder drucken.
Dann kam für ein paar Tage eine sehr intelligente junge Verlags-Lektorin extra aus München hier nach Nordwestmecklenburg, und ich fand noch passende Texte auf meiner Festplatte, die ich noch gar nicht ausgedruckt hatte. So war das Buch ein Puzzle, das aufging.
Immer wieder tauchen ihre Grossmutter, ihre Mutter und ihr Vater auf. Ihr Vater, obwohl er der grosse Abwesende war, ihre Mutter, mit der sie noch immer hadern und ihre Grossmutter, die alles versinnbildlicht, was Mütterlichkeit und Geborgenheit bedeuten kann. Irgendwann schreiben Sie, das Schreiben sei ein Versuch der Ordnung. Künstlerische Auseinandersetzung als Versuch des Ordnens?
Ja, als Versuch der Einordnung. Mir ist klar, dass zur menschlichen Reife auch ein Einverständnis mit der eigenen Lebenssituation, mit dem vergangenen Leben und mit allen nichtgelebten Möglichkeiten gehört. Ein Ja sagen zu sich. Das Schreiben hilft mir beim genauen Betrachten, beim Weglassen, beim Verabschieden. Das ist eine Hilfe vor dem Überschwemmtwerden und vor der Traurigkeit. Es ist eine Ehrfurcht und eine Bewunderung der Ordnung Gottes.
„Der Grossteil meines Lebens ist vorbei. Und es geht immer schneller. Wie in den Trichter eines Ameisenbären rutsche ich, der Sand gibt nach.“ Klingt da Schmerz mit?
Manchmal Schmerz, aber nicht die Angst vor dem eigenen Lebensende, sondern die Angst vor dem Tod geliebter Menschen. „Noch leben alle, die wir leben“, endet eines der wunderbaren Gedichte von Friederike Mayröcker.
Aus dem ganzen Buch strahlt und spricht ein grosser Hunger. Nicht so sehr der Hunger nach Antworten, als jener nach Klarheit, nach Kontur, nach Bildern. Sie sind im vergangenen Jahr 80 geworden. Satt scheinen Sie noch lange nicht zu sein?
Ich bin überwach und sehr intensiv. Meine Fantasie ermöglicht mir alles. Das muss in Wirklichkeit gar nicht geschehen. Es ist alles Farbe und Wärme um mich.
Das Bild auf dem Cover zu Ihrem Buch ist von einem ganz jungen polnischen Künstler. Igor Moritz. Das Bild passt perfekt zum Inhalt, zeigt jenen Moment vor dem Aufstehen, wo sich Gedanken- und Traumbilder mit dem Augenblick mischen. Gibt es diesen magischen Moment? Und lässt er sich im Alter besser auskosten?
Ich lebe meist in diesem Zustand. Menschen, die uns besuchen, wollen immer wieder kommen. Es hat mit dem Alter, glaube ich, nichts zu tun. Es hat bei mir damit zu tun, dass ich wohl kaum Filter habe, mich nur durch Totalrückzug schützen kann. Denn sobald ein Mensch in unserem Haus auftaucht, interessiere ich mich für sein Leben, sei es die Notärztin von nebenan, die mir von den glücklich Verstorbenen erzählt, die eine Operation ablehnten, oder der Bauer von gegenüber, bei dessen trächtiger Stute gerade ein Hirntumor festgestellt wurde und der vom Tierarzt gerade erfuhr, dass dieses Tier bei der Geburt seines Fohlens ganz sicher sterben wird.
Helga Schubert, geboren 1940 in Berlin, studierte an der Humboldt-Universität Psychologie. Sie arbeitete als Psychotherapeutin und freie Schriftstellerin in der DDR und bereitete als Pressesprecherin des Zentralen Runden Tisches die ersten freien Wahlen mit vor. Nach zahlreichen Buchveröffentlichungen zog sie sich aus der literarischen Öffentlichkeit zurück, bis sie 2020 mit der Geschichte ›Vom Aufstehen‹ den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann.