„Vielen Dank für das wunderbare Literaturblatt. Man liest es wie einen handgeschriebenen Brief, langsam und bedächtig. Man versucht, die schöne Schrift zu entziffern, um zu erfahren, was Gallus zu unserem Buch sagt. Und schon sind wir wieder Leser.“ Romain Buffat
«Danke, hast du deine Worte zu meinem Buch nun auch noch mit Kugelschreiber aufgeschrieben, mit anderen Worten zu anderen Texten zusammengebracht und lässt darauf einen Baum wachsen. Ich habe mich sehr gefreut, als ich das Blatt in meinem Briefkasten fand.» Agnes Siegenthaler
„Schon lange wollte ich mich bedanken für das wunderschön und liebevoll gestaltete Literaturblatt, das du uns hast zukommen lassen. Was für eine gute Idee, der Literaturkritik eine künstlerische Form zu geben. Und mit grossem Interesse habe ich natürlich dein spannendes Interview mit Romain Buffat gelesen. Danke für dein riesiges Engagement fürs Sichtbarmachen der Literatur.“ Adrian Künzi
«Wir freuen uns sehr, dass „So nah, so hell“ Teil des analogen Literaturblatts ist – einzigartig, persönlich und mit spürbarer Hingabe gemacht. Ein echtes Sammlerstück!» A. Kunz, Zytglogge
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Am 7. Oktober griffen palästinensische Terroristen gezielt jüdische Zivilisten an und ermordeten so auf israelischem Staatsgebiet weit mehr als 100 Menschen. Ein Tag und seine Folgen, die zu einer prägenden Zäsur im Nahen Osten wurden und mit einem Mal ein sowieso schon fragiles Nebeneinander eskalieren liessen. Lizzie Doron wagt sich als Schriftstellerin und Jüdin an ein Stück Gegenwartsbewältigung, das man kaum in Worte fassen kann.
Wie schreibt man über ein Massaker, bei dem unter den Opfern Menschen sind, die einem nahe standen? Wie schreibt man über einen Flächenbrand, der unkontrolliert bis ins Jetzt wirkt? Wo sind die Grenzen zwischen Tätern und Opfern? Wie kann man schildern, was kaum in Sprache zu fassen ist, bei dem es einem die Sprache verschlägt, die Angst einem die Kehle verschnürt, jedes Wort ein falschen werden kann, jede Äusserung als Stellungnahme interpretiert wird, selbst wenn es „nur“ um Empfindungen und Gefühle geht.
Völlig unerwartet griffen Bewaffnete der Hamas und des islamischen Jihads an jenem Dienstag ein Open-Air-Musikfestival und verschiedene israelische Siedlungen im Grenzland zum Gazastreifen an. Weit über 1000 Unschuldige wurden ermordet, vergewaltigt und verschleppt. In der Folge startete das israelische Militär einen Angriff, eine Geisel-Befreiungsaktion, die sich mehr als deutlich zu einem grausamen Krieg gegen ein Terrorregime entwickelte, das sich schamlos hinter einer leidenden Bevölkerung versteckt. Ein Flächenbrand, der ein ganzes Land in Schutt und Asche legte und Wunden schnitt, die sich auch mit einem Waffenstillstand auf Generationen hinaus nicht befrieden lassen werden.
Ein Installateur kann verstopfte Abflüsse beheben, der Elektriker hilft bei Kurzschlüssen, und ein Arzt heilt Wunden. Aber womit kann ich helfen, eine Schriftstellerin? Nicht einmal Worte habe ich.
Lizzie Dorn «Wir spielen Alltag. Leben in Israel seit dem 7. Oktober», dtv, aus dem Hebräischen von Markus Lemke, 2025, CHF ca. 32.90, 160 Seiten, ISBN: 978-3-423-28453-0 aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Lizzie Doron versucht das Unmögliche. Sie, die sich auch in den Jahren zuvor immer wieder mit der politischen Gegenwart auseinandersetzte. Sie, deren Grosseltern selbst Opfer während des Holocausts waren. Sie, die das Trauma schon seit Generationen mit sich trägt. Sie versucht nicht zu verstehen, ein unmögliches Unterfangen, aber sie versucht, jenen Sturm in ihrem Innern zu ordnen, die Druckwellen all jener Geschehnisse, für die es als Betroffene kaum Erklärungen gibt.
Über Jahrzehnte lebten die Bewohner Israels im festen Glauben daran, in einem mehr oder minder sicheren Land zu leben. Die Geschehnisse des 7. Oktobers haben diesen Glauben tief erschüttert. Krieg ist seit mehr als einem Jahr für Israelis und Palästinenser Alltag; Sirenen, die aus dem Leben reissen, Stunden und Nächte in Luftschutzkellern, Bomben und Raketen, Soldaten auf den Strassen, Ruinen und ausgebrannte Autos, Blut und Elend.
Was an dem Buch von Lizzie Doron beeindruckt, ist nicht ihre Betroffenheit, auch nicht ihr Schmerz, ihre Angst. Bemerkenswert ist ihre Position des Schreibens. Obwohl Lizzie Doron eine Betroffene ist, eine Trauernde, eine Traumatisierte, eine zu tiefst Verängstigte, klagt sie mit keinem Satz an. Nicht einmal die Verursacher dieser epochalen Misere, die Unbeweglichkeit, die dauernden Schuldzuweisungen, all die Politiker, die permanent Öl ins Feuer giessen.
Ein Krieg wie eine Naturkatastrophe, der zur Routine unseres Lebens geworden ist. Doch in Wahrheit ist es eine uns um den Verstand bringende, menschengemachte Tragödie.
Ich bin neugierig, ob man Lizzie Doron beim Besuch in Solothurn schützen muss. Ausgerechnet sie, die doch eigentlich nur um Verständnis, Empathie bemüht ist. Ob die Anwesenheit der Autorin zu einem Dialog wird und es nicht bloss bei einer Alibiübung bleibt. Wer sich in irgendeiner Weise zu den Geschehnissen zwischen Israel und den Palästinenser*innen äussert, riskiert den Zorn anderer, die Wut der einen oder anderen Seite. Selbst Besonnenheit und Zeichen der Mässigung können die Wut der Extremen entfachen. Alibiübungen braucht es in Solothurn keine, aber tatsächlichen Dialog! Wie ich mich auf die Begegnung mit der Autorin freue!
Lizzie Doron, 1953 in Tel Aviv geboren, wurde durch ihre Romane über die zweite Generation nach der Schoah bekannt. Mit «Who the Fuck Is Kafka» – eine der wichtigsten literarischen Verarbeitungen des Nahostkonflikts – und «Sweet Occupation» wandte sie sich politischen Themen zu. Lizzie Doron wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, zuletzt mit dem Friedenspreis der Geschwister Korn und Gerstenmann-Stiftung. Sie lebt in Tel Aviv und Berlin.
Markus Lemke lebt als freier Übersetzer und Dolmetscher aus dem Hebräischen und Arabischen in Hamburg. Er überträgt u. a. Werke von Eshkol Nevo und Dror Mishani. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2019 mit dem Deutsch-Hebräischen Übersetzerpreis und 2021 mit dem Hamburger Literaturpreis.
Vielleicht ist der Schmerz des Zurückgelassenseins einer der heftigsten, wenn sich Schmerzen überhaupt vergleichen lassen. Und doch gibt es den Schmerz, der vergeht, der sich relativiert. Und es gibt jenen, der sich über Jahrzehnte durch die Seele frisst.
Matteo B. Bianci erzählt in „Von dem, der bleibt“ von seiner grossen Liebe zu A. Und von seinem unendlichen Schmerz darüber, dass A. seinem Leben ein Ende setzte und ihn zurückliess. Ein ungemein persönliches Buch, das darum nicht scheitert, weil sich die Erzählstimme direkt an mich wendet, weil sich da einer auftut, weil jemand seinen Schmerz erklären will, um mir mit meinem Schmerz zu helfen. Und doch kein Selbsthilfebuch. Auch kein Protokoll der Selbstzerfleischung.
Matteo B. Bianci schrieb dieses Buch über Jahrzehnte und veröffentlichte es mehr als zwanzig Jahre nach dem Tod seiner damaligen Liebe. Ein Buch, das geschrieben werden musste, um Ordnung zu schaffen, um Zeugnis davon abzulegen, dass ein solcher Schmerz trotz allem umgewandelt werden kann. Ein Buch, das von einem unsäglich langen Prozess erzählt, bis zur Entscheidung, ob man sein Leben ganz diesem Schmerz widmen oder über ihn hinaussteigen will.
Ein Anruf von A. ins Büro: „Wenn du wiederkommst, bin ich schon nicht mehr da.“ Sie hatten sich nach sieben Jahren Beziehung vor wenigen Monaten getrennt. A. lebte noch immer phasenweise in der einstmals gemeinsamen Wohnung. Sie trugen Auseinandersetzungen aus, aber nichts hätte darauf hingewiesen, dass es in einer Katastrophe ausarten würde. Als Matteo am Abend nach Hause kam, hing A. an einem Rohr in der Wohnung. Die denkbar schlimmste Katastrophe, ein nicht enden wollender Schmerz, nagende Fragen und das äzende Gefühl des Zurückgelassenseins. Auch wenn da Menschen sind, die zu verstehen und zu trösten versuchen.
Eine solche Tat schwebt wie ein böser Geist über dem Leben der Zurückgelassenen, kocht ein glutroter Topf voller Schuldgefühle. Warum habe ich nicht erkannt, was vielleicht zu vermeiden gewesen wäre? Hätte ich verhindern können, was geschah? Wie soll ich mit der offenen Wunde weiterleben? Gibt es ein Leben, gibt es ein Lachen, gibt es Ausgelassenheit, Freude danach? Schliesst sich irgendwann die Wunde? Hört der Schmerz zu pochen auf.
Matteo B. Bianchi «Vom dem, der bleibt», dtv, 2024, aus dem Italienischen von Amelie Thoma, 304 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-423-28419-6
Noch immer ist Suizid ein Tabuthema. Noch immer scheint es kaum Hilfe zu geben für jene, die zurückgelassen werden. Suizid wird zum Stigma der Zurückgelassenen. Lieber den Schmerz der Zurückgelassenen ignorieren, als diesen zum Gespächsthema werden zu lassen. Der Erzähler spürt, wie er zum funktionierenden Monster wird, ein Monster, dass am allerwenigsten sich selber verzeiht. Dabei war die Liebe zwischen den beiden über Jahre die Erfüllung aller Wünsche, ein gewonnenes Paradies, auch wenn die beiden aus gänzlich verschiedenen Welten zueinander fanden. Aber genau das war das Geschenk.
Und dann geschieht das Unvorstellbare. Und weil die beiden nicht gesetzlich verheiratet waren, beginnt eine Maschinerie, die das Ausgeschlossensein nur noch verstärkt. Nicht einmal das Foto auf dem Kreuz auf dem Friedhof entspricht der gemeinsam gelebten Wahrheit.
Gute Ratschläge gibt es zu Hauf. Zieh um, verreise, mach Urlaub, eine Therapie, lass dir Medikamente verschreiben. Und weil nichts und niemand den Schmerz zu stillen vermag, greift man nach jedem Strohhalm, mal in die schummrige Stube einer Hellseherin, mal in Selbsthilfegruppen. Ein Kampf gegen den Schmerz des Verlusts, des Verlorenseins, gegen das Nagen einer sich aufdrängenden Schuld.
„Von dem, der bleibt“ ist lesbar, weil sich der Blick des Erzählers wandelt, weil ich als Leser spüre, dass er sich selbst mehr und mehr eine Chance gibt, weil die Sprache eine poetische ist, zugleich reduziert und ehrlich. „Von dem, der bleibt“ ist ein wichtiger Beitrag zu einer Kultur des Schweigens und ein Manifest für Respekt und Aufrichtigkeit.
Matteo B. Bianchi wurde 1966 in Mailand geboren. Autor zahlreicher Romane und einer Biografie über Yoko Ono, schreibt auch Drehbücher. Gründer und Herausgeber der unabhängigen Literaturzeitschrift tina. Er lebt in Mailand. Der vorliegende Roman wurde ausgezeichnet mit dem Premio Stresa und dem Premio Orbetello.
Amelie Thoma, geboren 1970 in Stuttgart, studierte Romanistik und Kulturwissenschaften in Berlin und arbeitete als Lektorin, ehe sie die Übersetzerlaufbahn einschlug. Sie übertrug u.a. Leïla Slimani, Marc Levy, Françoise Sagan und Simone de Beauvoir ins Deutsche.
Ein Tag im All, eigentlich 16 Tage in 24 irdischen Stunden. Sechs Besatzungsmitglieder aus fünf Nationen, eingeschlossen in ein Kapselsystem, in einen durchgetakteten Alltag, der aber doch nie ganz losgelöst ist von der Mutter Erde. Samantha Harveys Roman ist ein Meisterwerk menschlicher Extreme.
In 400 Kilometern Höhe kreist die ISS im 90-Minuten-Takt seit bald 10000 Tagen um die Erde. Bis 2020 wurde die Raumstation immer und immer wieder erweitert, trotzdem ist ihre Existenz endlich. Irgendwann in den kommenden Jahren wird man das mittlerweile auf über 100 Meter grosse Gebilde aus verschiedensten Modulen und Solarsegeln kontrolliert zum Absturz bringen. Fast alles wird in der Atmosphäre verglühen, alles, was Astronauten und Kosmonauten nicht zur Erde zurückbringen.
An der Hand der britischen Schriftstellerin und Dichterin Samantha Harvey begleite ich sechs Besatzungsmitglieder einen Tag lang auf ihrer Reise durch den Orbit. „Umlaufbahnen“ ist weder Science-fiction noch Weltraumthriller. Dieses Buch, das zwischen fast beschaulichen Innen- und Aussenwelten, der Sicht auf die Erde, jene durch wachsende Demut auf das eigene Sein, den lyrisch anmutenden Beschreibungen und den essayistischen Passagen mäandert, ist ein erstaunlich poetischer Blick auf die menschliche Existenz und was diese aus dem zarten Gleichgewicht auf der schmalen Schicht irdischen Lebens anrichtet. Samantha Harvey Beschreibungen sind behutsam, zärtlich, getragen von grossem Respekt und unzähmbarer Freude an der Sprache. Was der Schriftstellerin in diesem Buch gelingt, macht sie zur erzählenden Dichterin, die es nicht nötig hat, mich mit Spannungsbogen, Plot oder gekünstelter Dramaturgie zu ködern. „Umlaufbahnen“ ist so unspektakulär wie das Leben, dieser eine Tag zweier Frauen und vier Männer.
Samantha Harvey «Umlaufbahnen», dtv, 2024, aus dem Englischen von Julia Wolf, 224 Seiten CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-423-28423-3
Diese sechs Menschen sind nichts anderes, als sechs fremdgesteuerte „Versuchskaninchen“, die mittels Selbstversuchen und Messdaten am eigenen Organismus, mit Versuchen an mitgebrachten Pflanzen und Tieren, technischen Versuchsreihen und Beobachtungen, nicht zuletzt der meteorologischen, gefangen sind in einem Hamsterrad. Von früh bis spät durchorganisiert in einem Erdentag, der auf der ISS 16 Sonnenauf- und Untergänge lang dauert. Zwei russische Kosmonauten, ein Italiener, ein Amerikaner, eine Japanerin und eine Engländerin in einem Kapselgeflecht weit weg von Mutter Erde. Ein Begriff, der in der sonst so lebensfeindlichen Umgebung des Weltalls seine ganz eigene Bedeutung bekommt. Spiegelbild der Mäusekolonien, die man auf der Station zu Versuchs- und Beobachtungszwecken mitführt. Sechs Individuen, die alle mit minimal persönlichem Equipment zurückgeworfen sind auf das, was sie mit sich tragen: Erinnerungen, Sehnsucht nach den Nächsten, der Trauer um den Tod der Mutter, die Sorge um all das, was der von der Station aus wunderschöne Riesentornado auf der Erde anrichten wird.
Was sich in der Raumstation, eingebunden in tagtägliche Routine abspielt, ist trotz Russen und Amerikaner, gelebte Kooperation. In diesem eng begrenzten Raum gibt es innerhalb der Titanhülle keine Grenzen. Auch dann nicht, wenn Bodenstationen erklären, dass die russische Toilette nur von russischen Kosmonauten und die amerikanische nur von der restlichen Besatzung aufgesucht werden darf. Dort oben ist man Mensch. Aber selbst der Blick auf das Erdenrund lässt ausser jener zwischen Wasser und Land keine Grenzen erkennen. Während auf dem Planeten für Grenzen getötet und gestorben wird, atmen die sechs Besatzungsmitglieder alle die selbe immer und immer wieder aufbereitete Luft und trinken den zu Wasser aufbereiteten Urin aller Besatzungmitglieder.
An diesem Ort, an dem Beziehungen der Sache dienen müssen, alles einem Zweck unterworfen ist, nichts an die Natur erinnert und man für Monate freiwillig gefangen ist in einem Kokon aus Technik, Kunststoff und Metall, in einer Station, deren älteste Modulteile bereits Risse aufweisen, wird die Sehnsucht nach Kleinigkeiten unsäglich gross. Genauso wie die Enttäuschung darüber, dass es die Spezies Mensch nicht schafft, diesem einmaligen Geschenk des Lebens die gebührende Sorge zu tragen. Nichtigkeiten werden zu Sehnsüchten; Pflaumen, schmerzende Füsse, wütend eine Türe zuschlagen, Spiegeleier, die Notwendigkeit eines dicken Wintermantels. Dort oben zählt nur Funktion.
Was Samantha Harvey literarisch schafft, ohne einen einzigen Besuch in einer solchen Kapsel, mit blosser Imagination und sorgfältiger Recherche, ist ausserordentlich. Was sie daraus macht ebenso. Jene Ehrfurcht, die Weltraumfahrende immer wieder beim Anblick unserer Erde erfasst, springt über. Was Samantha Harvey schreibt, hat durchaus eine mahnende Komponente, obwohl sie nicht moralisiert. Aber was wohl das Verblüffendste an diesem Roman ist, dass ich als Leser ihre Freude an der Sprache spüre, ihre verschriftlichte Leidenschaft, die sie so beschreibt: Dieses Gefühl, dass mir der Atem stockt und ich schwebe, das wollte ich zu Papier bringen. Es war pure Freude, diesen Roman zu schreiben, reiner Eskapismus. Ich wollte nicht, dass er endet.
Was für ein Glück für uns Leserinnen und Leser!
«Die Schönheit von sechzehn Sonnenaufgängen und sechzehn Sonnenuntergängen ist die treibende Kraft in diesem Roman von Samantha Harvey. Er handelt von uns allen und niemandem, während sechs Astronautinnen und Astronauten in der Internationalen Raumstation die Erde umkreisen und die Veränderungen des Wetters über vergängliche Grenzen und Zeitzonen hinweg beobachten. In ihrer lyrischen und luziden Prosa lässt Harvey unsere Welt fremd und neu erscheinen.» Edmund de Waal, Vorsitzender der Booker Prize-Jury
Samantha Harvey, 1975 geboren, ist eine britische Schriftstellerin von mehreren Romanen und einem Memoir. Ihr literarisches Werk erhielt hymnische Besprechungen und wurde für viele renommierte Preise nominiert, u.a. dem Man Booker Prize und dem Women’s Prize for Fiction. Sie lebt in Bath und unterrichtet dort Kreatives Schreiben. «Umlaufbahnen», ihr fünfter Roman, wurde für mehrere Preise nominiert und mit dem Booker Prize 2024 ausgezeichnet.
Julia Wolf, 1980 geboren, ist Schriftstellerin und Übersetzerin. Für ihre Romane erhielt sie u.a. den 3sat-Preis, den Licher Literaturpreis und war für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zu ihren übersetzen Autoren gehören neben Samantha Harvey auch Szilvia Molnar und Joy Williams.
Unter dem Titel „Biographie einer Frau“ ist „Wild nach einem wilden Traum“ der letzte Band einer Trilogie. Nach „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ über Liebe und Herkunft und «Das Vorkommnis“ über Partnerschaft und Ehe ist der dritte Teil ein Roman über die Leidenschaft, über die Liebe – vor allem über jene zum Schreiben.
Sie wird ganz überraschend, anstelle eines verhinderten Kollegen, für ein paar Wochen in eine Künstlerkolonie im Norden der USA, zwei Stunden mit dem Auto von New York, eingeladen. Fast ein Dutzend KünstlerInnen, die meisten Schriftsteller. Am ersten Abend sitzt man im geräumigen Aufenthaltsraum im Haupthaus in grosser Runde, stellt sich vor und erzählt von der Arbeit, an der man in den Tagen an diesem stillen Ort weitermachen will. In der Runde sitzt A., ein spanischer Schriftsteller, der sich aber ganz dezidiert als Catalane zu erkennen gibt, obwohl er spanisch schreibt. Ein Mann, der sie vom ersten Moment weg fasziniert und einnimmt. Obwohl sie von sich selbst behaupten würde, sie sei glücklich verheiratet, auch wenn die Schriftstellerei, das Schreiben für ihren Mann immer mehr zu einer Konkurrenz wurde.
Immer habe ich nach Worten gesucht, nach dem einen, dem richtigen. Vielleicht beginnt man deshalb zu schreiben.
Zwischen A. und ihr entwickelt sich eine Leidenschaft, ein Kippzustand zwischen den beiden Zuständen, der Hingabe an das Schreiben und jene an diesen Mann. Zwei Zustände, die sich gegenseitig beflügeln, Bilder aus der Vergangenheit provozieren, die sie vergessen glaubte. Vor allem dieses eine, als sie als Mädchen in den Streifzügen im Wald rund um die Kaserne, in der junge Rekruten stationiert waren, einen jungen Soldaten trifft, der auf einem Baumstamm sitzt und zuerst erklärt, er sammle Pilze. Das, was für mich auf den ersten Blick nach einer heiklen Begegnung aussieht, wird sowohl für den jungen Mann wie für das Mädchen eine Aneinanderreihung wichtiger Momente. Dort treffen sie sich immer wieder. Dort entsteht ein Raum, der sich von den anderen Räumen unterscheidet. So wie die Räume des Schreibens in ihrem späteren Leben auch. Zwischen den beiden wächst ein Etwas zwischen Leidenschaft und Freundschaft, eine Insel.
Julia Schoch «Wild nach einem wilden Traum», dtv, 176 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-423-28425-7
Sie, die mit keiner Vorstellung in diese Künstlerkolonie kam, worüber sie schreiben könnte, erinnert sich an den Soldaten zurück. Ihm erzählte sie von ihrem Traum, dereinst Schriftstellerin zu werden. Und er, der junge Mann, war es, der ihr sagte: Du schaffst es, bestiummt. Man muss wild danach sein. Wild nach einem wilden Traum. Ein Satz, den er zweimal wiederholte. Ein Satz, den die Frau mantramässig in ihrem Leben immer wieder zu sich selber sagte. Ein Satz, der seine Wirkung bis in die Tage in jener Kolonie entfaltet, in ihrer Leidenschaft für den Catalanen.
Aber auch die Begegnung mit dem Catalanen ist Erinnerung. Sie schreibt sich in jene Momente, weil ihr bewusst wird, wie sehr sich alles auf ihr Schreiben auswirkte, die scheinbar einzige Entscheidung in ihrem Leben, die sie wirklich gefällt hatte. In einem Leben, in dem sie einfach immer weitergegangen war, weit weg von der Vorstellung, man stehe irgendwann an einer Gabelung oder Kreuzung und entscheide sich ganz bewusst und nach langer Überlegung für eine Richtung, für eine Richtungsänderung. Sie erinnert sich ihrer Kindheit, ihrer Herkunft. Warum die Liebe zu ihrem Mann stumpf und blass geworden ist. Warum die Hinwendung zum Schreiben, die Sehnsucht Schriftstellerin zu sein, Heimat geworden ist und die Leidenschaft zu einem Mann bloss Aufenthalt.
Jedes Menschenleben ist angefüllt mit Geschehnissen, die in den Falten des Gedächtnisses lagern. Und in jedes einzelne Geschehnis hineingehalten sind noch weitere.
Julia Schochs Romane entlarven die Gegenwart, spiegeln ein Lebensgefühl der permanenten Suche, diesen Drang, sich zu bewegen, sich mitreissen zu lassen. Rasch fertig werden, um Zeit für das Eigentliche zu haben: den Wahn der Liebe. So gar nicht das, was man mit dem Modewort „Achtsamkeit“ zu verkaufen versucht. „Wild nach einem wilden Traum“ ist ein gnadenlos ehrliches Buch. Nicht zuletzt ein Buch über das Schreiben, über Julia Schochs Schreiben. Darüber, wie sehr sich Begegnungen auf das eigene Tun auswirken, oft tief verborgen im Unterbewusstsein. Und vielleicht ist es eben diese Fähigkeit einer Schriftstellerin, dass sie sich dessen bewusst ist, dass sie in den Sedimenten ihres Lebens nach jenen Einschliessungen sucht, die bis in die Gegenwart wirken. So wie jener eine Moment, als der junge Mann, jener Rekrut, den sie immer wieder im Wald traf und treffen wollte, sie küsste. Nicht auf den Mund, aber an ihrem Handgelenk. Eine Erinnerung, die zur Erzählung werden musste.
Julia Schochs Schreiben, ihr Erzählen, unterscheidet sich grundlegend von den meisten anderen Romanen der Gegenwart; Julia Schoch erzählt weniger eine Geschichte, als Lebenszustände, Marksteine, Innenwelten. Und das in einer Offenheit, die mich tief bewegt.
Was ich in der Trilogie erzähle? Dass wir unterschiedliche Rollen im Leben haben und nie genau wissen, was wir für andere sind. In den drei Büchern möchte ich Gerechtigkeit walten lassen. Ein Wunschtraum, vielleicht. Aber ein schöner. Julia Schoch
Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, aufgewachsen in Eggesin in Mecklenburg, gilt als Virtuosin des Erinnerungserzählens (FAZ). Zuletzt veröffentlichte sie die Romane «Das Vorkommnis» und «Das Liebespaar des Jahrhunderts» als die ersten beiden Bände ihrer Trilogie «Biographie einer Frau». 2022 wurde ihr die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen, 2023 der Schubart-Literaturpreis der Stadt Aalen, 2024 der Mainzer Stadtschreiber-Literaturpreis. Sie lebt in Potsdam.
Es gibt sie nicht nur in den grossen staatlichen Fernsehgiganten, sondern auch in den «kleinen», die ganz und gar von der Leidenschaft einer eingeschworenen Betreiberschaft getragen werden. «Die Literaturrunde», von Jeanette Bergner mit Kompetenz und Begeisterung moderiert, ist über die letzten Jahre zu einem fixen Sendebestandteil des Privatsenders Tele D geworden. Erstaunlich genug, wo doch in Deutschland vergleichbare Formate «aus Spargründen» abgesetzt werden.
letzte Absprachen zwischen Gallus Frei, Literaturvermittler und Co-Leiter des Wortlaut Literaturfestivals, Jeanette Bergner, Moderatorin und Ariane Novel, Lektorin, Ghostwriterin und Co-Leiterin des Wortlaut Literaturfestivals St. Gallen
«Umlaufbahnen» von Samantha Harvey: Was die Schriftstellerin literarisch schafft, ohne einen einzigen Besuch in einer solchen Kapsel abgestattet zu haben, mit blosser Imagination und sogfältiger Recherche ist ausserordentlich. Was sie daraus macht ebenso. Jene Erfurcht, die Weltraumfahrende immer wieder beim Anblick unserer Erde erfasst, springt über. Was Samantha Harvey erzählt, hat durchaus eine mahnende Komponente, obwohl Samantha Harvey nicht moralisiert. Aber was wohl das Verblüffendste an diesem Roman ist, dass ich als Leser ihre Freude an der Sprache spüre, ihre verschriftlichte Leidenschaft, die sie so beschreibt. «Dieses Gefühl, dass mir der Atem stockt und ich schwebe, das wollte ich zu Papier bringen. Es war pure Freude, diesen Roman zu schreiben, reiner Eskapismus. Ich wollte nicht, dass er endet.»
Wild nach einem wilden Traum von Julia Schoch: Ihre Romane entlarven die Gegenwart, spiegeln ein Lebensgefühl der permanenten Suche, diesem Drang, sich zu bewegen, sich mitreissen zu lassen. Rasch fertig werden, um Zeit für das Eigentliche zu haben: den Wahn der Liebe. So gar nicht das, was man mit dem Modewort „Achtsamkeit“ zu verkaufen versucht. „Wild nach einem wilden Traum“ ist ein gnadenlos ehrliches Buch. Nicht zuletzt ein Buch über das Schreiben, über Julia Schochs Schreiben. Darüber, wie sehr sich Begegnungen auf das eigene Tun auswirken, oft tief verborgen im Unterbewusstsein. Und vielleicht ist es eben diese Fähigkeit einer Schriftstellerin, dass sie sich dessen bewusst ist, dass sie in den Sedimenten ihres Lebens nach jenen Einschliessungen sucht, die bis in die Gegenwart wirken.»
«Zwei Leben» von Ewald Arnez: Was den Reiz des Buches ausmacht, ist seine Sinnlichkeit. Ewald Arenz beschreibt derart leidenschaftlich und innig, dass ich als Leser die Landschaft riechen kann. Aber auch die Sinnlichkeit in den Gefühlen des Personals, in diesen zwei Leben dieser beiden so unterschiedlichen Frauen; Roberta und Gertrud. Oder im klaffenden Gegensatz zwischen den Auswirkungen der 68er und einer bäuerlichen Tradition, die erst auf Änderungen aufsteigt, wenn es nicht zu vermeiden ist. Ewald Arenz weiss genau, wovon er schreibt. Er schöpft aus der Atmosphäre seiner eigenen Herkunft – und tut dies mit Wonne.
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Im Sommer 2009 gingen im Iran Millionen wütender DemonstrantInnen auf die Strassen. Dutzende Menschen kamen um, die Bilder in den Sozialen Netzwerken erschütterten die ganze Welt. «Die grüne Welle» nannte sich jenes laute Aufbegehren, dass das iranische Mullahregime ins Wanken brachte. Das Debüt «Das Ende ist nah» von Amir Gudarzi ist eine literarische Auseinandersetzung.
Als im Nachgang zu den iranischen Präsidentsschaftswahlen, bei der der amtierende Mahmud Ahmadineschād zum Sieger erklärt wurde, eine Welle des Aufruhrs durch das Land schwappte und man sich durch grüne Stirn- oder Armbänder als GegenerIn einer Diktatur solidarisierte, war Amir Gudarzi ein junger Student. Diese grüne Bewegung gipfelte in riesigen Demonstrationen, gegen die die bedrohte Zentralmacht nur mit äusserster Härte und Brutaltät zu reagieren wusste. Unzählige Menschen verschwanden für Jahre in den überfüllten Gefängnissen des Landes, viele starben, wurden während der Proteste getötet oder in Schauprozessen zum Tode verurteilt. An Kränen baumelnde Hingerichtete sollten zur abschreckenden Normalität werden.
In seinem Debüt „Das Ende ist nah“ beschreibt Amir Gudarzi die Geschichte von A. Dass er seinen eigenen Namen, seine eigene Fluchtgeschichte durch einen einzigen Buchstaben mit Punkt verallgemeinert, ist verständlich und erleichterte wahrscheinlich schon den Schreibprozess. Amir Gudarzi wollte mit Sicherheit seine Geschichte erzählen. Aber damit viel mehr. Nämlich die Geschichte aller Geflohener, Heimatloser, Entwurzelter, Verlorener. Die Geschichter jener, denen ich überall begegne, auf Bahnhöfen, in Parks, auf Plätzen mitten in der Stadt, irgendwo abgeschoben auf dem Land, am Strassenrand, auf einer Bank, ins Warten und Nichtstun verbannt, der Willkür von Bürokratie und Fremdenhass ausgesetzt.
Amir Gudarzi «Das Ende ist nah», dtv, 2023, 416 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-423-29034-0
Klar braucht es diese Bücher, auch wenn sie nicht von jenen gelesen werden, die den Geflohenen wie einer ansteckenden Krankheit begegnen, mit Angst, Ekel und maximaler Ablehnung. Es braucht diese Bücher als Zeugnis, auch wenn Menschen wie Amir Gudarzi die Ausnahme bleiben, weil sie es irgendwann irgendwie doch schaffen, Amir Gudarzi als Theaterautor und nun auch als Schriftsteller. Weil Menschen wie er, die nach all den Strapazen der Flucht, der Anfeindungen, des Misstrauens, der Willkür und des Unverständnisses, schaffen, einen Schuh Glück herauszuziehen. Neben all jenen, die schon auf der Flucht liegenbleiben, die in ihrer Verzweiflung untergehen, die nie die Chance haben, aus dem einst mit Hoffnung begonnenen Leben das zu machen, was möglich gewesen wäre, die weitergeschoben, zurückgeschafft, gnadenlos ausgenützt oder in all den Ungerechtigkeiten zerrieben werden.
Ich las das Buch nicht seiner Sprache wegen, auch wenn ich dem Autor viel Können zugestehe. Ich las das Buch, um mir vor Augen zu führen, was sonst nur im Verborgenen bleibt. A. flieht über die Türkei nach Österreich, wo er hängen bleibt, in ein keines Kaff abgeschoben wird, zusammen mit Afganen und Kurden, lauter Männern, die sich in ihrem Kampf ums Überleben, in ihren gestauten Emotionen und der Hoffnungslosigkeit einer Existenz, die sich ganz aufs Warten reduziert und kaum von dem unterscheidet, was sie in ihren Ursprungsländern zurückgelassen hatten. Amir aus einem Elternhaus mit streng patriarchalischen Strukturen, eine Gesellschaft in Traditionen und zementierten Wertvorstellungen gefangen, einer Politik, die einem den Atem nimmt, einer gestohlenen Zukunft. Was ihn in Österreich empfängt, ist endlose Bürokratie, offener Fremdenhass, maximale Abgrenzung und grenzenloses Misstrauen.
„Das Ende ist nah“ ist als Titel vieldeutig. Amir Gudarzi erzählt vielperspektivisch, nicht zuletzt aus der Warte von Sarah, einer jungen Frau, die sich in A. verliebt, eigentlich nur helfen will, sich aber verliert. Eine Beziehung, die von rauschhafter Leidenschaft bis selbstzerstörerischer Verirrung alles in sich birgt. Amir Gudarzi schont mich als Leser mit nichts. Es legt sich ein Schauer aus Betroffenheit und Peinlichkeit über mich. Ob in Österreich, in der Schweiz oder in Deutschland, wir lieben die Geschichten jener, die es geschafft haben. Das Vielfache jener, die es nicht schafften, versenken wir erfolgreich im grossen Vergessen. Wie viel schwerer muss es für Amir Gudarzi selber sein, auch wenn man ihm an Lesungen freundlich applaudiert.
„Das Ende ist nah“ ist Zeugnis, Klage und Anklage gleichermassen.
Amir Gudarzi, 1986 in Teheran geboren, ging auf die damals einzige Theaterschule im Iran und studierte danach szenisches Schreiben. Seit 2009 lebt er im Exil in Wien, wo er als vielfach ausgezeichneter (inzwischen) österreichischer Dramatiker und Autor arbeitet. 2021 war er Stipendiat im Literarischen Colloquium in Berlin und erhielt den Förderungspreis für Literatur der Stadt Wien, 2022 wurden ihm der Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker*innen und der Christian-Dietrich-Grabbe-Preis verliehen, in der Spielzeit 2023/24 ist er Hausautor am Nationaltheater Mannheim. «Das Ende ist nah» ist sein erster Roman.
In ihrem Roman «Jahrhundertsommer» zeichnet Alice Grünfelder das Schicksal einer Familie in einer Kleinstadt im östlichen Baden-Württemberg nach. Magda, die Hauptfigur, wird in den Nachkriegs-Wirtschaftswunderjahren von ihrem ‘Alten’ verlassen.
Gastbeitrag von Franco Supino
Die nicht einmal 40jährige Magda lebt als Geschiedene mit ihren zwei erwachsenen Kindern stigmatisiert und mittellos am Rande der Gesellschaft, und es braucht Snezana, die Arbeitskollegin in der Fabrik, die sie ermuntert, doch mal auf ein Fest mitzukommen. Hier lernt Magda einen in der Umgebung stationierten US-Army-Soldat kennen. Wir erleben die unbeschwertesten Momente im Buch – eine tiefe, heimlich gelebte Liebe und einen Jahrhundertsommer.
Kurz darauf wird John nach Vietnam versetzt, Magda bleibt schwanger mit Ellen in Murrheim zurück. Ursula, die dritte Figur, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird und Tochter von Magda, findet trotz ihrer ehrenlosen Mutter einen eitlen spiessigen Bürolisten, der später sogar Bürgermeister wird, der ihr ein Kleinbürgeridyll – dank vieler Entbehrungen der Familie – als Hausfrau in der Neubausiedlung ermöglicht. Der Spiesser, der immer Dankbarkeit von Ursula verlangte, lässt sie eines Tages wegen einer anderen sitzen. Auch hier: eine Scheidung müsste man sich leisten können, weshalb Ursula ein sozialer Abstieg bevorsteht. Ursula sucht zudem die nächste toxische Abhängigkeit eines Mannes, weil sie an ihrer Mutter sieht, was einer Frau ohne Mann blüht. Die vierte Perspektive bringt Viktor in den Roman ein, Ursulas Sohn, der im Gegensatz zu seinem Namen ein Looser ist. Trotz der Schläge des Vaters schafft er knapp eine Elektrikerlehre, aber schon als Jugendlicher ist er vor allem ein dem Bier zugeneigtes Grossmaul, das er in den 300 Seiten von Alice Grünfelders Roman hektoliterweise in sich schüttet. Ellen, hofft man eine Zeitlang, könnte sich dem Sumpf, in den sie geboren wurde, entziehen. Sie schafft es bis nach Paris – kämpft sich hoch, studiert, findet einen interessanten Mann, aber auch sie scheitert schuldlos und muss nach Murrheim zurückkehren. Viktor entpuppt sich überraschenderweise als Kitt der Familie, und sorgt für Magda, Ursula und Ellen zwar für keinen weiteren Jahrhundertsommer, aber immerhin für ein «Zwischenhoch» (dessen abruptes Ende der Leser und die Leserin allerdings ahnen).
Alice Grünfelder «Jahrhundertsommer», dtv, 2023, 320 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-423-28345-8
Alice Grünfelder hat einen lebensklugen Epochenroman geschrieben. Angesiedelt in der miefigen schwäbischen Provinz der späten 60 Jahre bis in die Zeit nach den Attentaten von 9/11 zeigt er, dass die deutsche Gesellschaft sich zwar verändert hat, aber keineswegs zum Besseren. Wie Magda wird Ellen, eine alleinstehende Frau mit einem nicht weissen Kind, nach ihrer Rückkehr ausgegrenzt: sie findet weder Arbeit, noch Anschluss. Etwas Farbe und Aufbruchstimmung bringen die Protestierenden gegen die Stationierung der Pershing II Raketen («Unser Mut wird langen, nicht nur in Mutlangen» skandieren sie) – aber als die Amis 1990 abziehen, verbiedern auch die Friedensbewegten.
Im Zentrum stehen die prekären sozialen und ökonomischen Verhältnisse der Protagonistinnen – ja, in diesem Roman geht es dauernd um Geld und Status, dem die Figuren nachjagen –; wer kein Kapital hat, weder monetäres noch soziales – wissen wir seit Bourdieu -, kommt auf keinen grünen Zweig. Bezeichnend ist, dass die Figuren nicht einmal merken, wie tief unten sie sind – etwa als Magda eine Anstellung in einer Gärtnerei kriegt und nicht merkt, dass auch sie eine ‘Klientin’ des Sozialprojekts ist. Aber Magda lässt sich nicht kleinkriegen. Das sieht man am besten in der grandiosen letzten Szene des Romans, die hier nicht verraten sei!
Romane, die sich dem Leben der Menschen der Unterschicht annehmen und dieses glaubhaft darstellen können, sind in der deutschen Literatur der Gegenwart selten. Alice Grünfelder schafft dieses Kunststück. Und sie weiss, wie man das macht, welche Détails wichtig sind, welche Bögen geschlagen werden müssen und wie man für überraschende Wendungen sorgt: sie ist eine geborene Erzählerin!
Alice Grünfelder, 1964 im Schwarzwald geboren, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte von 2001-2010 Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche, leitet Workshops rund ums Schreiben, Lektorieren und Übersetzen und ist als freie Lektorin tätig. Von Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, schreibt Essays, Erzählungen und Romane. Das Buch «Wolken über Taiwan» (2022) schaffte es auf die Hotlist der Unabhängigen Verlage.
Helga Schubert schreibt über die ganz grossen Themen des Lebens; die Liebe, die Arbeit, die Gesundheit, das Sterben und den Tod. Helga Schubert tut dies auf eine dermassen feine, behutsame, ehrliche und zärtliche Art, dass ihr Buch mit dem Untertitel „Stundenbuch der Liebe“ zu einer einzigen, grossen Liebeserklärung wird, eine an ihren Mann, eine an das Leben, an das Schreiben und die Schönheit des erlebten Moments.
Wahrscheinlich kann man gewisse Bücher erst schreiben, wenn man im Alter mit gewonnener Reife und Weisheit auf sein Leben zurückschaut. Schon allein das macht mir bei der Lektüre dieses Buches Mut, weil mit Lesen Hoffnung wächst. Nicht die Hoffnung, die Früchte meines Lebens im Alter geniessen zu können, aber mich über jeden Bissen in jene Früchte freuen zu können. Da schreibt eine Frau, die weiss, was sie am Leben hat, die weiss, wie viel sie von der Liebe geniessen durfte, die nicht verzagt, wenn die Quellen des Lebens nur mehr tröpfeln.
„Jede Sekunde mir dir ist ein Diamant.“
„Der heutige Tag“ ist kein Roman. Mit dem Untertitel „Stundenbuch der Liebe“ verweist die Autorin auf das Stundenbuch als Gebets- und Andachtsbuch. Helga Schubert vergewissert sich ihres Schatzes, den sie mit sich trägt. Da liegt im Haus zwar ein kranker, müde und gebrechlich gewordener Ehemann, der alles abverlangt, fast alle Energie der über Achtzigjährigen absaugt, aber sie blickt zurück auf eine Liebe, die ihr während Jahrzehnten all das gab, was die Liebe am Leben hielt. Sie huldigt dieser Liebe, weil sie weiss, dass sie es war, die sie so werden liess, wie sie ist. Sie weiss, wie zerbrechlich dieses Gefüge sein kann. Sie weiss, wie sehr es zu einem Ungleichgewicht geworden ist. Sie weiss, wie schmal die Aussichten in eine gemeinsam erlebte Zukunft geworden sind.
Helga Schubert «Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe», dtv, 2023, 272 Seiten, CHF 34.90, ISBN 78-3-423-28319-9
„Stundenbuch“ verweist aber auch auf den Tagebuchcharakter des Buches, auch wenn keine Daten über den Einträgen stehen. Nach vielfach unterbrochenen Nächten, den täglichen Verrichtungen, dem sich immer wiederholenden Alltags im Umgang mit einem Ehemann, der immer mehr in seiner Demenz eingesperrt ist, im immer kleiner werdenden Lebensradius muss sich die Autorin jene Zeit zum Schreiben nehmen, die ihr noch bleibt: Jenes Fenster am Abend, wenn sie ihren Mann in die Nacht verabschiedet hat, wenn sie noch Zeit und Kraft findet, sich an ihren Laptop zu setzen, um in ihrer ganz eigenen Welt zu versinken. Auch wenn sich in dieser Welt fast alles ausschliesslich um das dreht, was ihren Alltag ausmacht. Nur ist in ihrem Schreiben die Perspektive eine andere. Vielleicht sogar ihre Rettung.
„Manchmal trauere ich nur um mich. Diese Traurigkeit ist einsam und kalt. Sie ist voll Vorwurf und Enttäuschung und Bitterkeit.“
So wie Helga Schubert schildert und schreibt, hätte sie allen Grund zu hadern und zu zweifeln. „Der heutige Tag“ ist weder ein Buch des Ordnens noch ein Buch der Verklärung. Die Autorin gibt vieles preis; erzählt von Momenten grosser Erschöpfung, tiefen Unverständnisses, lähmender Verzweiflung. Aber sie schreibt in einem Ton, dem stets Zuversicht und das Bewusstsein eines grossen Geschenks unterlegt ist. Ein Hohelied der Liebe. Sie weiss um die kleinen Geschenke des Lebens, die unsäglich wichtig werden können; die Momente der Ruhe, ein Blick in den verwilderten Garten, eine zärtliche Berührung, die all die Erinnerungen weckt, die das gemeinsame Leben mit ihrem Mann ausmachen. Einem Mann, der zuerst als Dozent, später als Maler stets seine Stimme nach aussen suchte, der in seiner Krankheit, seiner Demenz immer mehr verstummt und nur noch ein Schatten dessen ist, was er einst war.
„Der heutige Tag“ wächst einem ganz nah ans Herz!
Helga Schubert, geboren 1940 in Berlin, war Psychotherapeutin und Schriftstellerin in der DDR. Nach zahlreichen Buchveröffentlichungen zog sie sich aus der literarischen Öffentlichkeit zurück, bis sie 2020 mit der Geschichte «Vom Aufstehen» den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Der gleichnamige Erzählband erschien 2021 bei dtv und war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.
„Das Liebespaar des Jahrhunderts“ meint jedes Liebespaar des letzten Jahrhunderts. Julia Schochs zweiter Roman einer Trilogie beschreibt die Mechanismen einer Partnerschaft derart entlarvend, als wäre ihr Schreiben in ein grelles, blau schimmerndes Neonlicht getaucht. Ein schonungsloser Roman über den Schattenwurf eines institutionalisierten Lebenstraums.
Sie kennen das; Sie schauen in einen fremden Spiegel, in einem Raum, dessen Licht die kleinste Pore in ihrem Gesicht zeigt, der ein Spiegelbild offenbart, das einem zweifeln, das den kalten Schauer der Ernüchterung über den Rücken kriechen lässt, die leise Ahnung darüber, wie leicht man sich von Idealen betäuben, von Fassaden blenden, von Ernüchterungen verstummen lässt.
Eine Frau erzählt von ihrer Ehe. 30 Jahre ist sie verheiratet und in einer Beziehung geblieben, die sich wie ein nur noch schwer manövrierbares Schiff immer weiter von allen Küsten entfernt. Eigentlich hatte sie schon längst die Absicht, jene drei Wörter loszuwerden, die dieser Ehe endlich ein Ende mit Schrecken setzen würden. Aber aus der Jahrzehnte lang verschobenen Absicht wird ein romanlanger Erklärungsversuch darüber, was Beziehungen anrichten, die sich institutionell in Gewohnheiten und gegenseitigen Abhängigkeiten verloren haben. „Ich verlasse dich“ – so kurz wie die drei Worte, die meist zu Beginn einer Beziehung stehen; „Ich liebe dich“.
Julia Schoch «Das Liebespaar des Jahrhundert», dtv, 2023, 192 Seiten, CHF 32.90 ISBN 978-3-423-28333-5
Vielleicht erklärt sich der Umstand, dass sie bleibt, darin, dass das Abwägen zwischen Vor- und Nachteilen, zwischen Verlust und Gewinn über die meiste Zeit ein unentschiedenes ist. Das, was zu Beginn jeder Ehe, jeder offiziell gemachter Beziehung als Leidenschaft und Zustand des Verliebtseins, Herz und Verstand in Wallung versetzte, verändert sich mit der Zeit, erst recht in einer amtlich gewordenen Ehe, einem Konstrukt, das selbst mit grösster Anstrengung nicht so einfach beendet werden kann. Die Gründe warum man bleibt und eben diese drei Worte „Ich verlasse Dich“ nicht ausspricht, sind so vielfältig wie das, was Menschen bei einer Ehe einander hinter diesem „Ja“ versprechen. So wie im Roman von Julia Schoch, eigentlich ein buchlanger Monolog: „Du warst seit langem der erste Mensch in meinem Leben, der nicht sofort wieder verschwinden wollte.“
„Ich dachte: Das wird nicht mehr gut. Aber es ging einfach weiter.“
Sie erinnert sich an die Zeit, als sie sich während des gemeinsamen Studiums kennen lernten. An die Zeit, in der alles wie ein Wunder erschien, der Himmel golden schimmerte und man sich diesem ganz nah fühlte. Sie beide wuchsen in der DDR auf, einer Diktatur, und die Liebe war nicht nur ein unendlich weites Land, das man zu zweit entdecken wollte, sondern Rückzugsort und Bastion in einem System, das omnipräsent kontrollieren wollte. Die Liebe versprach ein gemeinsames Abenteuer. Aber mit dem gemeinsamen Weg wächst nicht nur das Reservoir an überstandenen Prüfsteinen, sondern jenes vieler kleiner und grosser Verletzungen, nicht zuletzt von Selbstverletzungen. Was zu Beginn nur Gefühl, Leidenschaft, Glück war, wird im Zusammenleben in einer Wohnung, im Teilen der Aufgaben, mit einer Familie, den Kindern, all den Pflichten nach innen und nach aussen zu einem feinmaschigen Konstrukt von Erwartungen und Mechanismen.
„Das Liebespaar des Jahrhunderts“ ist eine erzählte Liste all der Gründe, warum es dreissig Ehejahre wurden, obwohl es eine lange Kette von Momenten gab, die ihr genügend Gründe geliefert hätten, einen Punkt zu machen. Julia Schoch hält mir selbst einen Spiegel hin, leuchtet mit bläulich grellem Neonlicht in die Winkel, die wir gerne im Dämmer lassen. Manche Szene, mancher Gedankengang war wie ein Schlag in die Kniekehle. Sie entblösst, reisst alle Maskerade, alle falschen Fassaden weg. Aus der Lektüre tauchen Gedanken, die das eigene Verdrängen bis über Schmerzgrenzen hinaus spiegeln. Schlussendlich bleibt ihre Gewissheit: „Jeder lebt sein Leben.“
Ein Roman, der nicht umgarnen will. Aber ein Roman, der mich staunen lässt, nicht nur inhaltlich, nicht nur über seine Wirkung, auch über den Mut dieser Autorin!
Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, aufgewachsen in der DDR-Garnisonsstadt Eggesin in Mecklenburg, gilt als »Virtuosin des Erinnerungserzählens« (FAZ) und bekam für ihre von der Kritik hochgelobten Romane und Erzählungen schon viele Preise, zuletzt den Schubart-Literaturpreis für ihren Roman «Das Vorkommnis. Biographie einer Frau». Für ihr schriftstellerisches Gesamtwerk wurde ihr 2022 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen. Sie lebt in Potsdam.