Indiziert bei akuter Schwedensehnsucht: Eva Brunner «Zweitwald», Weissmann Verlag

Gerade im Sommer ergreift mich, wie tausende andere im deutschsprachigen Raum, das «Bullerbüsyndrom», eine plötzliche, süße Sehnsucht nach Schweden, die mehr über uns Betroffene aussagt, als über das real existierende Land. Berthold Franke prägte in seiner Zeit als Chef des Goethe-Instituts Stockholm den Begriff.

© Pfeffer Produktionen/Torben Nuding

Gastbeitrag von Christine Zureich

Was bei „Bullerbysyndromet“ (BBS) hilft? Eine Reise und, ja, Bibliotherapie. Ich möchte Astrid Lindgren, die Hauptverursacherin des Syndroms empfehlen, „Ferien auf Saltkrokan“, das für Kinder geschriebene Buch verträgt sich mit dem Erwachsensein besser als „Wir Kinder aus Bullerbü“. Dann Tucholsky, natürlich: „Schloss Gripsholm“, die fast sommerleichte Liebesgeschichte um Peter und Lydia (und Billi). Neu in meiner Reiseapotheke gegen BBS dieses Jahr: Eva Brunners „Zweitwald“. Die zweite Gedichtsammlung der Lyrikerin ist im Frühjahr 2025 im Weissmann Verlag, Köln, erschienen.

Ob Eva Brunner je am „Bullerbysyndrom“ litt, weiß ich nicht. Ein rosiger Blick auf das Land würde sich längst geklärt haben: Brunner emigrierte vor einigen Jahren schon mit ihrer Familie aus Berlin nach Uppsala. Der vorliegende Band nun gibt in 11 Kapiteln plus Glossar ein poetisches Protokoll wieder dieses Ankommens (und Ringens) des lyrischen Ichs um das Zweitland, die Zweitsprache, den Zweitwald.

Der Titel jedenfalls lässt Sehnsucht nach mystischer Landschaft anklingen, Trollwald wie versprochen Moos, und im selben Atemzug zugleich ein wenig die Entzauberung, die mit der Reibung an der Realität und Gewöhnung einhergeht: Zweitwagen und Second Hand, auch dieser Aspekt schwingt mit. Und ja, da wird aus anfänglicher Auswanderer-Euphorie ein etwas temperierteres Gefühl: lågom heißt genau richtig / lågom klingt leise / sind Beherrschung und Ruhe zwanghaft?/ (…) / oder kann man in dieser Natur nicht anders? / (…) / något wird von der vorbeiziehenden Landschaft betäubt.
Das lyrische Ich notiert kulturell verankerte Unterschiede in der Selbst- und staatlichen Fürsorge: bloß nicht zu viel Stress und koppla av / genug (…) aber bitte keine Nüsse mit in Schulen nehmen ej / nötter

Zugleich wird verwiesen auf gewisse blinde Flecken der neuen Heimat hinsichtlich des eigenen sozialstaatlichen „Musterschülertums“:

das beste Land der Welt / ist konfliktscheu blendet aus / Jahrzehnte der Zwangssterilisation / der Unterdrückung der Samen / (…) / die eignen Raubzüge / kaum erwähnt man ist modern/auf Bergen bester Empfang / friedliche stugas auf Inseln / Unrecht kommt von Außen / ist nur im Krimi groß

Eva Brunner «Zweitwald», Weissmann Verlag, 2024, 72 Seiten, CHF ca. 20.90, ISBN 978-3-949168-18-5

Aber auch die eigenen Haltungen und Ideale hinterfragt das lyrische Ich : wir sitzen im Raum der invandrare / (…) / was haben wir vorher gelernt und gesehen?/wer hatte die Wahl wer nicht? / erste Grüppchenbildung / (…)/ heute steure ich gegen entdecke/morgen ergebe ich mich
Neben den Herausforderungen aus dem invandrar-sein hat sich das lyrische Ich mit dem ganz gewöhnlichen Familienleben als permanente forbifahrt am Ideal herumzuschlagen: Kinder, die nicht die Liebe zu Ronja Räubertochter teilen, sondern Harry Potter vorziehen. Kinder die nur im Zoo nicht nölen. Kinder, mit denen es die neue Sprache zu lernen geht, zusammen mit einer weiteren Fremdsprache im Vokabellisten Ping-Pong. Ich versuche, die Sprache glatt zu streichen / hänge doch: Eva Brunner glättet einzelne schwedische Wörter in die Verse ein, so fein arbeitet sie da, dass aus Kontext und klanglicher Ähnlichkeit mit dem Deutschen – die Mannschaften sind verwandt – keine Übersetzung benötig wird, und wo doch, wird hinten im Glossar alles aufgelöst. Das ist klanglich schön und manchmal auch lustig, setzt einen leisen, effektiven Kontrapunkt gegen die stellenweise fast bullerbüenen Bilder, (die wir doch so sehr lieben und brauchen):

IV.
manche använder Saunamützen mit kaltem Wasser
all die Boote und Blumen mit Kopf und kropp
Himmel so tief wie das Meer blunda blau
wir sind süchtig nach Safran och semlor
kleine Bewegungen nobel lucia
Lass dein Haar herunter

Eva Brunner, 1980, seit Juli 2024 freie Autorin und Übersetzerin. 2015 Promotion in Amerikanistk, 2007 M.A. in Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Psychologie und Publizistik/Kommunikationswissenschaft. Seit 2018 lebt Eva Brunner in Uppsala/Schweden und ist dort Mitglied der Uppsala Autor:innengesellschaft, die ihr auch einen Schreibplatz im Literaturhaus stellt. Ihr Lyrikdebüt »Achtung, die Naht«, parasitenperesse, erschien 2019. 

© Leif Santoso Knobbe

Sofie Morin und Ulrike Titelbach «Nachtschatten im Frauenhaarmoos», Edition Melos

Sie haben mich eingerankt und ein bisschen eingewildert auch, die beiden österreichischen Lyrikerinnen Sofie Morin und Ulrike Titelbach mit ihrem im März 2025 in der Edition Melos (Wien) erschienen «Nachtschatten im Frauenhaarmoos».

Gastbeitrag von Christine Zureich

Als Phytopoetische Dialoge werden die aufeinander bezogenen Texte im Untertitel angekündigt und schon das Cover mit dem Gemälde «Flora» von Bartolomeo Veneto deutet auf eine mögliche weitere passende Wortneuschöpfung mit vegetabilem Präfix hin: Phytoerotik. Neben dem vermeintlich unschuldigen Blumensträusschen geht es in dem Band um Körper, um Geschlecht, um «Artigkeit»: Wer ist hier die Pflanze, frage man sich beim Lesen an mancher Stelle? Und vielleicht ist das Fragezeichen ein eingerolltes Farnblatt: 

«Nur diesen einen Augenblick entfernt vom Ausbreiten der Arme. Doch noch ist alles Ornament.» Tracheophyta/Farn

Pflanzen (und Tiere) haben in den vergangenen Jahren einen guten Boden gefunden, sich auszuwildern aus der Fachliteratur und Rosamunde Pilcher hinein in die Literatur und Lyrik, so etwa auch Morins Lyrikdebüt «Liebeleien mit Wuchsformen, eine translibidinöse Pflanzenkunde» (2024 bei Edition Arthof). Das Besondere am vorliegenden Band ist, dass er von Anfang an in Zusammenarbeit entstanden ist, jeder Text von vornherein bezugnehmend auf einen anderen, auf die zweite Autorin. Hier bereitet die eine Schreibende den Boden für die andere, nährt sie, gibt Rankhilfe. Stutzt vielleicht an mancher Stelle. Nein, diese Sprache ist zu gärtnerisch, zu hierarchisch: die Texte existieren in einer Symbiose, die eine Autorin macht die Texte der anderen möglich. 

Jedes der 28 Gedichte ist eine Pflanze. Botanischer Name und gebräuchlicher deutscher Name als Titel vorangestellt und danach das Zusammen (mehrständig) der beiden Schreibenden. Die Autorinnenschaft der einzelnen Teilabschnitte einer Pflanze ist je mit dem hintenan gestellten Vornamen dezent markiert.

Verbunden sind die Abschnitte jeweils nicht nur über den gemeinsamen Gegenstand, auch die explizit in Dialog tretenden Lyrischen Ichs und Dus weben den Zusammenhalt. Wobei dieses Du in einigen Fällen nicht die andere meint, sondern die Pflanze selbst angerufen wird, was die Pflanzen menscheln lässt und umgekehrt, der anwesenden Anderen (auch der/dem Lesenden) etwas Pflanzliches zukommen lässt, und es zuweilen keine Dialoge sondern mindestens Trialoge sind, die sich da verwurzeln. Auch ist das «Ich» kein konsistentes, mal scheint es ein zeitgenössisches, durch popkulturelle, musikalische Referenzen nahelgelegt, etwa wenn in Chenopodium bonus-henricus/Guter Heinrich auf Depeched Mode verwiesen wird (Master and Slave, natürlich: Heinrich, der Wagen bricht…), oder Bob Dylan (Löwenzahn). Dann wieder scheint es ein in Kriegszeiten darbendes (Cichorim intybus/Wegwarte). Echte Wechselbälger, sind diese Ichs und Dus, wie das Zweiblättrige Schattenblümchen (Maianthemum bifolium) S. 52: 

«ein Wechselbalg, ist den Farben untreu, das wohl – doch niemals der Erde, die alles Wachstum trägt.»

Sofie Morin, Ulrike Titelbach  «Nachtschatten im Frauenhaarmoos. Phytopoetische Dialoge», Edition Melos, 96 Seiten, CHF ca. 42.00, ISBN 978-3-9505758-0-4

Ein wenig erinnert diese Sammlung an die Blumenkunden früherer Zeiten, in denen jeder Pflanze eine eigene Botschaft zugesprochen wurde, eine weithin verstandene Bedeutung (nicht nur in der Kunstwissenschaft auch in der breiten Bevölkerung: Sag es durch die Blume…). Heute kaum vorstellbar, dass es Zeiten gab, in der alle erstens die Pflanzen und zweitens ihre Bedeutung wiedererkannten. Einen Strauss lesen, den sie bekamen, Schlüsselblümchen entschlüsseln, nicht nur rote Rosen.

Im Garten (oder besser: der ankultivierten Wildnis) den Morin und Titelbach für uns anlegen, breiten sich rhizomatisch neben Kinderpflanzen, also solchen «die mir von der Wiege ans Herz gelegt» (Vergissmeinnicht), Gänseblümchen, Löwenzahn, auch solche aus, für die mir das Bild fehlt, die ich nicht sogleich erkenne, und ich ertappe mich dabei googlen und mehr wissen zu wollen, auch vielleicht um den beiden Autorinnen auf die Schliche zu kommen. Es ist ein neckendes Spiel: wieviel der Geschichten, der Bedeutungen, der Kontexte und Zuschreibungen ist erfunden?

«Es ist alles nicht wahr und traut sich doch keine Lüge zu.» (14)

Und es ist gut, sind keine Bilder dabei, denn die hier erschriebenen Exemplare ihrer Art entfalten ein ausgeprägtes Eigenleben, nicht unbedingt klar ist, ob es sich noch um Pflanzen handelt, oder Figuren, anthropomorphes Gedichtpersonal und wo verläuft überhaupt die Grenze? Und braucht es diese Grenze überhaupt? Viele der Texte greifen die Nonbinarität der Pflanzen auf und ich meine auch ein Infragestellen der Artengrenzen zu lesen, eine umfassende Queerness vielleicht, die bei vielen Texten mitschwingt, ein Widerwille, alles einzukasteln. 

«Möchte das Fürwort wählen und auch finden, das jetzt und heute für sie spricht. Doch ist es steter Wandlung unterworfen.» (Arisaema franchetianum/Feuerkolben)

Und so gesellt sich neben botanisch präziser Sprache – Morin ist studierte Biologin – ornamental Poetisches, das sich gegen die Taxonomie auflehnt, die Schubladen gerade so wieder aufbricht.

Viel Analogiezauber ist drin in diesen Texten, der zwischen äusserlich ähnlichen Dingen eine Verbindung behauptet, wenn das Rot der Pflanzen für Blut steht und Pflanzenteile menschliche Geschlechtsteile suggerieren. Ein making kin (Donna Haraway) ist das auch. Sich vertraut machen, in Austausch gehen, das andere werden, eine Symbiose von Lebewesen unterschiedlichster Arten. Vielleicht sogar ein bisschen plant porn (könnte das ein neues Genre sein? Und das griffe hier doch viel zu kurz, obwohl ein bisschen davon in einer campy Spielart anklingt.) 

«Nachtschatten im Frauenhaarmoos» jedenfalls entfaltet ein Gegenprogramm zum othering, diesem Entmenschlichen, dem Entwesentlichen eines Gegenübers, um es mit Gewalt sich untertan machen zu können. Stattdessen höre ich den poetischen Aufruf, alles Wachsende und Seiende samt unterirdischer, gefährlicher Teile zu umschliessen. Das Veränderliche, den Wandel. Dass ständig alles anders ist. Nicht leicht zu klassifizieren und in Umkehr zum landläufig Gedachten. Wie auch in diesem Zitat, mit dem ich hier abschliessen möchte. Eine Pflanze ist nicht immer immobil im Gegensatz zum Menschen:

«Morgen wirst du dir die Flughaut deiner Ahnen wachsen lassen und ich bleibe staunend zurück mit geerdeten Sohlen.» (Astrantia maxima/Sterndolde)

Sofie Morin, geboren 1972 in Wien, lebt bei Heidelberg. Studienabschlüsse in tierischer Verhaltensforschung und menschlicher Philosophie an der Universität Wien. Zahlreiche Veröffentlichungen von Lyrik und Kurzprosa in Literaturzeitschriften und Anthologien. 2022 drei Arbeitsstipendien für Literatur der österreichischen Bundesregierung.

Ulrike Titelbach, geboren 1971, lebt, forscht und arbeitet in Wien. Sie ist Autorin, Herausgeberin sowie promovierte Germanistin und lehrt am Institut für Deutsche Philologie der Universität Wien (unter anderem Literatur und Kreatives Schreiben). 2021 erschien ihr erster Lyrikband »Fragile Umarmungen«. Für ihre literarische Arbeit erhielt sie verschiedene Preise und Stipendien, unter anderem 2023 das Arbeitsstipendium für Literatur der Stadt Wien sowie den Publikumspreis beim Feldkircher Lyrikpreis.

«Tiny Furniture» Ein haptischer Gegenentwurf – Ausstellung im Literaturhaus Thurgau

Literatur kennt keine Grenzen, ihre Ausdrucksformen schon gar nicht. Die Konstanzerin Christine Zureich beweist, wie sehr Sprache in Dinge eindringen kann, wie unmittelbar sie berühren kann. Die Vernissage zu «Tiny Furniture – Lyrikobjekte für eine schrumpfende Welt»; ein Rausch für die Sinne!

Das gab es schon lange nicht mehr! Ein voller Saal, Gesichter, die man lesen kann, wenigstes etwas von der einstmaligen Unbeschwertheit zurück. Aber da war noch mehr. Wann sind Kinder im Publikum einer Lyriklesung? Wann gibt es den «Jöö-Effekt» sogar bei einer Kunstausstellung?
An diesem Abend im Literaturhaus Thurgau rührte die Ausstellung und die Lesung der Dichtirin, Schriftstellerin, Künstlerin Christine Zureich ein volles Haus in all seinen Sinnen. Da sah man BesucherInnen, die die filigranen Puppenmöbelchen andächtig in den Händen drehten, andere, die an den Vitrinen hängen blieben, forschten, sinnierten, sich wegtragen liessen und wieder andere, denen das Gezeigte das schiere Glück ins Gesicht schrieb.
Da war aber auch eine Künstlerin, die aus einer Lockdownnot eine Leidenschaft entwickelte, deren Tun weit mehr ist beseelt ist vom Wunsch, hinter die Dinge zu sehen, hinter einzelne Wörter, hinter den Gedanken und den inneren Dialog mit Gegenständen, die mehr als Geschichten erzählen.

«Alte Puppenstubenmöbel, teils handgefertigt, überwiegend aus Holz. Alle haben eine Patina, weisen kleine Brüche auf, Risse, Beschädigungen, sichtbare Reparaturen. Neben ihrer Geschichte transportieren sie jetzt auch Worte. Fundstücke aus Altpapier, neu zusammengesetzt und aufgeleimt. Poetische Kommentare in eine Möbelschau geschmuggelt, nicht wie bei Homer im Bauch des Artefakts, sondern auf dessen Hülle.»

©Torben Nudig

Die Objekte sind Zeugen, haben ein Leben hinter sich, Kinder, Menschen, denen die Objekte ans Herz wuchsen. Sie tragen eine Geschichte, Geschichten mit sich. Christine Zureich hört hin, lässt sich flüstern. Genauso wie sie dem Geheimnis einzelner Wörter zu lauschen weiss. Christine Zureichs Kunst ist voller Behutsamkeit, voller Hingabe, voller Zartheit.

«Selbstbefragung: Versteckt sich hinter der Beschäftigung mit diesen fremden Stücken der geheime Wunsch nach einem anderen Leben, einer bürgerlicheren Herkunft? Oder ist das Puppenküchen-Psychologie?»

© Torben Nudig

Ich erinnere mich mit den Puppenstubenmöbeln an meine Kindheit. Es gab ein Nachbarmädchen, deren Vater ihr ein Puppenhaus gebaut hatte, eines mit Küche und Lichtern, Treppen und Türen. In meiner Erinnerung war ich oft bei ihr, spielte aber nicht mit den Puppen, sondern räumte aus und richtete ein, immer wieder. Gebrauchsgegenstände in ihrer Verkleinerung, Verniedlichung, kombiniert mit Lyrik, die nichts mit Verniedlichung, nicht einmal mit Gebrauch am Hut hat. Eigentlich auch hier die Vereinigung von Gegensätzen. Christine Zureichs Lyrikobjekte untergraben die Wahrnehmung!

«Wie mutig von dir, lieber Gallus, auf das Experiment einzusteigen (und das auch noch mit Enthusiasmus!), mich mit meiner vermöbelten Lyrik das Literaturhaus einrichten zu lassen. Du hast damit (und natürlich mit deiner lebendigen Moderation) den Rahmen gesetzt für einen der funkelndsten Abenden seit langem. Aus meiner Sicht, jedenfalls. Danke!» Christine Zureich

Auch wenn es nicht gelingen konnte, die Buchveröffentlichung rechtzeitig auf den Büchertisch zu bekommen, freue ich mich nun umso mehr auf das Buch «Tiny Forniture. Lyrikobjekte für eine schrumpfende Welt«, heraugegeben vom Axel Dielmann Verlag.

Wer die Ausstellung im Literaturhaus besuchen will: Bis am 27. März bleibt die Gelegenheit dazu; entweder an den Veranstaltungen im Literaturhaus oder an den Sonntagen, an denen sie Künstlerin vor Ort ist: am 27. Februar, 6., 13. und 27. März 2022, jeweils 15.00 –17.00 Uhr!

Thurgauer Tagblatt vom 23. Februar 2022

Christine Zureich «Tiny Furniture – Lyrikobjekte für eine schrumpfende Welt»

Eigentlich schreibt Christine Zureich seriös. Also Texte auf Papier mit Stift und Papier oder Tastatur. In der Lockdown-Zeit aber wurde die Arbeit an ihrem aktuellen Romanmanuskript jäh ausgebremst, als über Monate ihr Schreibplatz Homeoffice, Homeschool, Homealles für die ganze Familie wurde. 3 Personen, 2 Türen, offener Grundriss. 

Spaziergänge durch Konstanz wurden zu wichtigen kleinen Fluchten für die Autorin. Auf einer ihrer Runden fand sie in einem „zu verschenken“-Karton eine Stoß Zeitschriften, die sie mitnahm. Zu Hause begann sie, statt darin zu lesen, das Altpapier auseinander zu schneiden, zu neuen Aussagen zusammenzufügen. Eine Methode, mit der auch die Dadaisten vor über 100 Jahren schon spielten, oder auch Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller. 

Neu an Zureichs Zugang ist die dritte Dimension: Sie bringt die Worte nicht auf Papier, sondern auf vintage Puppenmöbelchen auf. Das erste Objekt hatte sie dabei schon 2015 collagiert, als Hausaufgabe für einen Online-Kurs eines Art-Colleges. Einem leeren Bücherschrank klebte sie damals einzelne Worte auf, um die Lücken zu benennen. Aber erst mit dem Altpapierfund in der merkwürdigen Zeit holte die Möbelchen-Kiste wieder hervor, das Projekt Tiny Furniture nahm seinen Lauf. 

Entstanden ist mehr als eine neue Form der Lyrikinszenierung. Die sorgfältig ausgesuchten Möbelchen (inzwischen hat Zureich etliche Konvolute zum ursprünglichen hinzu erstanden) gehören untrennbar zu Gesamtaussage des Objekts. Sie erlauben verschiedene Lesarten, Betrachtungsweisen und laden auch weniger lyrikaffine Menschen zum Spiel mit Worten ein. Tiny Furniture verkörpern dabei auf kongeniale Weise Zureichs (K)Lebensphilosophie: Spamt das Leben sich mit Altpapier zu, mach Lyrik draus.

 

I bet you’d rather
polish the
edge of the rainbow
now
Ich habe das Opernglas in die Tasche gesteckt.

1. Trojanische Pferdchen
Alte Puppenstubenmöbel, teils handgefertigt, überwiegend aus Holz. Alle haben eine Patina, weisen kleine Brüche auf, Risse, Beschädigungen, sichtbare Reparaturen. Neben ihrer Geschichte transportieren sie jetzt auch Worte. Fundstücke aus Altpapier, neu zusammengesetzt und aufgeleimt. Poetische Kommentare in eine Möbelschau geschmuggelt, nicht wie bei Homer im Bauch des Artefakts sondern auf dessen Hülle.

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Tatü
das Heidenröslein vildros (eg. Hedros).
der Knab’, Knabe gosse.

Tata
Mit unterschiedlich verkörperten Ideen, die Welt zu verändern.

2. Schöner Fragen
Sprechen Möbel? Muss man sie immer verstehen? Lassen sich mit Lyrik innere Räume einrichten?

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unübersehbar Schaden
Aber im Moment ist es Liebe
utväg der Ausweg
Leseübung.

3. Kintsugi
Das Verfahren, mit dem in Japan zerbrochene Keramik gekittet wird. Nicht unauffällig, versteckt, sondern mit Gold. Wie der Faden, der dieses Buch am Rücken zusammenhält. Auf den Möbeln: Papier-Kintsugi, Wort-Kitt.

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Ort, an dem wir miteinander reden können
Von der Schönheit im Beschädigten
It will be a good year
42:a lektionen
en handling

4. Risse
Leonard Cohen, der singt: There is a crack in everything. That‘s how the light gets in. Brüche, Risse, Beschädigungen überall, nicht nur an Tiny Furniture. Auch an uns. Vielleicht sind sie die Grundlage von Schönheit, Zartheit?

Mit ihren Tiny Furniture präsentiert die in Konstanz lebende Autorin Christine Zureich ein absolut ungewöhnliches Format: Lyrik, die in den Raum spricht, 3D-Gedichte. Aus Zeitschriften ausgeschnittene Worte und alte Puppenmöbel werden zusammengefügt zu poetischen Hybriden irgendwo zwischen Gedicht und Skulptur, selbstvergessenem Wort-Spiel und kompositorischer Strenge. Einen ersten Prototypen schuf Zureich bereits 2015, jedoch erst als mit der Pandemie die Welt zum Stillstand kam, holte sie die Spielzeugkiste wieder aus dem Keller und begann Lyrik in großem Maßstab zu vermöbeln… Zureichs Tiny Furniture passen mit ihrer Brüchigkeit und Verletzlichkeit sehr gut in diese Zeit, setzen ihr dabei zugleich auch etwas entgegen: eine Aufforderung zur bedingungslosen Verspieltheit. 

Zeitgleich mit der Vernissage im Bodmanhaus erscheint im axel dielmann-Verlag, Frankfurt, ein Gedichtband mit dem gleichen Titel. 

Christine Zureich, in Suffern, New York, geboren, studierte Soziologie, Amerikanistik und VWL in Tübingen, Uppsala und Frankfurt Main, wo sie im Anschluss als Übersetzerin und Museumspädagogin arbeitete. Heute lebt sie als freie Autorin und Dozentin in Konstanz am Bodensee. Im Februar 2018 debütierte sie mit ihrem Roman «Garten, Baby!» bei Ullstein fünf, Berlin. 2019 veröffentlichte sie mit «Whisperblower» (Kollaboration mit Veronika Fischer) bei Drei Masken, München, ein Bühnenstück zum Cum Ex Steuerskandal. Für ihr Manuskript «Ellens Song» war sie 2019 für den Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis und 2020 für den Hans im Glück-Preis der Stadt Limburg nominiert. Im gleichen Jahr war sie mit der Kurzgeschichte «nahlandig» Preisträgerin des Schwäbischen Literaturpreises.

Webseite der Autorin

Literaturhaus Thurgau: Das Programm Januar – Mai 2022 steht!

Mit grosser Vorfreude präsentiere ich das neue Programm von Januar bis Mai 2022 im Literaturhaus Thurgau. Klar bleibt ein Vorbehalt, die leise Angst, dass uns wie im ersten Quartal 2021 ein Strich durch die Rechnung gemacht werden könnte. Aber wäre die Zuversicht nicht da, dann würden sich all die ProgrammmacherInnen nicht die Mühe machen, der Kultur einen Bühne zu bieten.

Das neue Programm bietet viel: Prosa und Lyrik, Musik und Installation, Ausstellung und Diskurs! Bleiben Sie uns auch in schwierigen Zeiten treu, treu dem schmucken Haus am Seerhein aber auch all den Kunstschaffenden, denen Orte wie das Literaturhaus Thurgau Lebensader ist!

Sämtliche Illustrationen © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau