Eva Maria Leuenbergers dritter Gedichtband war auf der SWR-Bestenliste! Schon erstaunlich für einen Gedichtband! Aber die Dichterin hat schon mit ihrem Debüt «dekarnation» mehr als nur aufmerksam auf sich gemacht. Jeder ihrer bisher erschienenen Gedichtbände ist Meilenstein der Dichtkunst, jedes ihrer Bücher ein Kunstwerk.
Man kennt die Bilder aus dem Netz: Ein Wal steigt aus dem Wasser und knallt auf eines der Boote, auf denen Touristen zu den Tieren gefahren werden. Ob eingebildet oder nicht entsteht zuweilen der Eindruck, als habe die Natur genug von der Spezies Mensch, die so gar nicht einsehen will, dass der Besitzanspruch dieser Gattung den Planeten irreparabel zu schädigen begonnen hat. Kein Wunder wird die Kunst zu einem Sprachrohr der Ohnmacht, der Verzweiflung, der Ratlosigkeit. Seien dies in der Belletristik oder im Film grassierenden Weltuntergangsszenarien oder Dystopien oder die grossflächigen Bilder eines Anselm Kiefer. Kunst, die keinen Hehl daraus macht, dass das Gefühl, im Kollektiv jene rote Linie längst überschritten zu haben, bis zur Depression und vollkommenen Lähmung führen kann.
Eva Maria Leuenberger «die spinne», Droschl, 2024, 96 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-99059-164-2
In Eva Maria Leuenbergers neuem Gedichtband «die Spinne» spricht eine Stimme mit einem flügellahmen Wesen, das im Bett liegt und zur Decke starrt. Dort sitzt die Spinne, ein Wesen, das bedrohlich in der Ecke hockt, seine klebrigen Fäden spinnt, sich ins Leben, ins Denken jener Person beisst, die dort liegt, sie, im Langgedicht «flügchen» heisst. Die Spinne war schon in Gotthelfs Novelle Synonym für die Bedrohung. «flügchen», eine leuenberg’sche Wortschöpfung, ein Wesen, dem man die Flügel nahm, die Fähigkeit zu fliegen, so wie die in die Spinnfäden eingewickelten Fliegen.
Angesichts all der unleugbaren Tatsachen, dass sich die Welt in eine Richtung verändert, die in der Gegenwart und Zukunft mit zerstörerischer Kraft auf unser Tun und Unterlassen reagieren wird, ist «die spinne» seltsam milde formuliert. Eva Maria Leuenbergers Langgedicht ist weder ökopolitische Kampfschrift noch in Depression verfallene Selbsterklärung. «die spinne» beschreibt jenes Gefühl der Machtlosigkeit, der Lähmung, das sich wie eine steinerne Decke über eine ganze Generation zu legen droht, denen man die Zukunft genommen hat, eine Zukunft, in der alles offen, alles möglich ist.
«Du liegst und liegst und liegst.» Man spürt den Schmerz, die Ratlosigkeit, das Unausweichliche in diesem Gedicht, weil es zur einzigen Antwort geworden ist, auf das zu reagieren, was sich wie ein Klotz an Körper und Geist hängt. Gleichzeitig ist Eva Maria Leuenbergers Gedicht der Versuch eines «Trotzdem», denn kein Wort trifft man in ihrem Langgedicht häufiger als «trotzdem», der Kontrapunkt zu einer anderen Formulierung, die sich im Text immer und immer wieder findet: «man gewöhnt sich an alles.»
«die Spinne» ist leicht, trotz des Schwere. Ein Langgedicht, das sich laut fast wie Prosa liest. Eine eingängliche, unkomplizierte, eindringliche, verletzliche, zarte Stimme, die mich nicht herunterziehen will, die aber sehr wohl das Zeug hat, genau den Nerv zu treffen. «die spinne» ist der Beweis, wie aktuell, wie lebensnah und ungekünstelt Lyrik sein kann!
Eva Maria Leuenberger wurde 1991 in Bern geboren und lebt in Biel. Sie studierte an der Universität Bern sowie an der Hochschule der Künste Bern. Veröffentlichungen u.a. in manuskripte und in Literarischer Monat. Sie ist zweifache Finalistin des open mike in Berlin (2014 und 2017). 2016 erhielt sie das »Weiterschreiben«-Stipendium der Stadt Bern, 2020 wird «dekarnation» – als erstes Lyrikdebüt – mit dem Basler Lyrikpreis ausgezeichnet. 2025 wird Eva Maria Leuenberger mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet!
Da rüttelt es manchmal ganz ordentlich an den Fensterläden, wenn Winterstürme übers Land ziehen, wenn nachts Geräusche ums Haus zu hören sind, die glauben machen, es lasse jemand seinen Zorn übers Land, wehre sich mit allen Mitteln, dass das alte Jahr zur Neige geht, man sich dem Neuen zuwendet in der Zeitenwende.
Raunächte feiert man nicht, sie geschehen. Ich erinnere mich an eisig kalte Winterstürme am See, die Büsche und Gräser in Wassernähe in durchscheinende Geistwesen verwandelten, Geister, die die Haut peitschten und das Atmen schwer machten.
Dass aber genau diese Zeit zu einem Spaziergang einladen kann, dafür sorgt der Gedichtband „Raunacht“ von Michael Georg Bregel mit Grafiken von Steffen Büchner. Ein Spaziergang hinein ins Land. Zwiegespräche mit sich selbst, der Landschaft, dem Himmel, dem Boden, den man nie verlässt. Zwiegespräche mit den Bildern, die man mit sich trägt.
Abend (ein erster Teil, Anmerkung)
abends gehe ich aufs feld knie nieder lege mich in die furche drücke mein gesicht in die schwarze erde
abends gehe ich aufs feld krümme bücke mich hebe ein korn auf frage bist du die saat von morgen oder die hoffnung von gestern
abends gehe ich aufs feld pflüge ziehe mein drittes bein hinter mir her pflanze meine schritte als ernte für den wind
Michael Georg Bregel «Raunacht», Edition Lyrik Neun, illustriert von Steffen Büchner, 2024, 32 Seiten, CHF ca. 10.00, ISBN 978-3-948999-36-0
Gedichte, die sich manchmal wie Liedtexte lesen, die mit lautem Lesen Farbe bekommen. Unspektakuläre Empfindungen, Gewöhnliches, das durch Sprache aus dem Grau des Alltäglichen gehoben wird. Texte, die sich wie warme Decken über mich legen, genau das, was ich in Raunächten herbeisehne. Betrachtungen in den Abend, in die Nacht hinein, die sich beinah wie Gebete lesen. Ein Spaziergang durch eine Nacht bis ins Dämmern des Morgens hinein. Bis man wieder in die warme Stube zurückkehrt und das Erlebte, die Geschichten zu „Buchstabenstaub“ zerfallen, all die geisterhaften Gesichter, die einem im Halbdunkel zweifeln lassen.
rot und roh und weit weit weg wie deine wärme vor der langen nacht
vergeblich versucht irgendetwas zu fühlen die finger verbrannt
licht in den augen die sonne steht tief es ist dunkler als du denkst
„Raunacht“ ist genau das Richtige für die Tasche im Mantel über dem Herz. Für die Wege, die im Licht für Augenblicke Zeit lassen, sich durch Sprache verführen zu lassen.
„Raunacht“ ist Band 36 einer ehrgeizigen Reihe in der Lyrik Edition NEUN. Von jedem dieser Bände erscheint neben der offiziellen eine auf 9 Bücher limitierte, nummerierte und signierte Hardcover-Ausgabe, der ein signierter Original-Linolschnitt von Steffen Büchner beiliegt. Diese Ausgaben kosten 33 Euro und sind nur über den Verlag zu beziehen.
komm regen gib mir gib mehr ich lege den kopf in den nacken ich lasse die augen weit offen ich sehe dir entgegen ich mache dich mir zueigen du willst tropfen sein auf meiner haut willst pfützen auf meiner stirn ich mache dich zur ersten welle des ozeans meiner nacht
Michael Georg Bregel, geb. 1971 in München, lebt in Berlin. Studium der Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin, Diplom-Politologe. War Redakteur bei Radio Mainwelle, Bayreuth und bei der Berliner Morgenpost. Seit 2005 freiberuflicher Autor, Übersetzer, Redakteur und bildender Künstler. Übersetzt vorwiegend Comics für verschiedene große Verlage. Seine künstlerische Arbeit, hauptsächlich Fotografie, Sieb- und Stempeldrucke sowie experimentelle Videos war und ist in Ausstellungen, Museen und Kinos zu sehen. Texte und Bilder in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien, mehrere Herausgeberschaften.
Steffen Büchner, geb. 1963 in Dessau, Grafik-Veröffentlichungen in Künstlerbüchern der Corvinus Presse sowie in mehreren Ausgaben „Body & Soul“. Seit 2021 Illustrationen für die Lyrik-Edition NEUN, einer Lyrik-Reihe des Verlags der 9 Reiche, Berlin. Außerdem mehrere Veröffentlichungen in „el mail Tao — International Journal on Mail-Art-History today“ von Karl-Friedrich Hacker u.a.
Kann man den Schrecken, das Grauen in Worte fassen? Die ukrainische Dichterin Marianna Kijanowska kann es, auch wenn sie angesichts des Grauens ihrer Gegenwart darauf hoffen muss, dass Leserinnen und Leser verstehen und sehen. «Babyn Jar. Stimmen», ihr erster auf Deutsch erschienener Gedichtband ist ein Mahnmal.
Vor dem zweiten Weltkrieg lebten über 200 000 Juden in der Stadt Kiew, die grösste jüdische Gemeinde in der Ukraine. Noch vor dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht flohen die meisten, aber viele Frauen, Alte, Kranke und Kinder blieben. Kaum war die Wehrmacht in der Stadt, begann das grosse Quälen, Drangsalieren und Morden, mitten auf den Strassen der Stadt, unter dem Beifall vieler Einheimischer. Nur wenige Tage nach dem Einmarsch beschlossen die Besatzer die «Evakuierung der Juden». Am 28. September 1941, das Tausendjährige Reich schien beinahe ungehindert auf Expansionskurs, wurde der verblieben jüdischen Bevölkerung bekanntgegeben, sich am darauffolgenden Tag mit wenig Gepäck zur Aussiedlung in den Westen in bereitstehende Züge aufzumachen. Mehr Juden als erwartet folgten dem Befehl, die meisten nichts Gutes ahnend. Im Norden der Stadt, am Eingang zu einem schmalen Tal, einer Schlucht ähnlich, nahm man den ankommenden Juden alles weg, trieb sie in die schmale Schlucht und erschoss alles, was sich bewegte. Am 29. und 30. September 1941 wurden mehr als 33 000 jüdische Männer, Frauen und Kinder ermordet, das grösste «einzelne» Massaker an der jüdischen Bevölkerung während des zweiten Weltkriegs.
Als mehr als zwei Jahrzehnte später einer kleinen Gruppe Deutscher in Darmstadt der Prozess gemacht wurde, waren die Männer, die als Angeklagte vor dem Richter standen, ganz unscheinbare Prokuristen, Buchhalter und Bankangestellte, Ehemänner und Familienväter, Einfamilienhausbesitzer und rechtschaffen. Sie wurden zu kurzen Haftstrafen verurteilt, meist früher entlassen, einige straffrei freigelassen. Polizisten, die damals schossen, waren nach dem Krieg weiter Polizisten.
Lange Jahre war das Gedenken an jenes Massaker ein Tabu, auch die fleissige Mithilfe der nichtjüdischen Kiewer Bevölkerung. Es brauchte Jahrzehnte, bis an den Orten des Grauens Gedenkstätten errichtet wurden.
«Babyn Jar. Stimmen» ist der erste Band einer geplanten Trilogie. Der zweite Band erschien in der Ukraine 2023 unter dem Titel „Der Blitz begegnet Wind und Wasser“ und handelt vom russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Der dritte Band soll die zersetzende Wirkung des Krieges auf alle Lebensbereiche thematisieren.
Marianna Kijanowska «Babyn Jar. Stimmen» Gedichte, ukrainisch und deutsch, aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, mit einem Nachwort der Übersetzerin, 155 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-518-43176-4
«Babyn Jar. Stimmen» sammelt 67 Stimmen von Menschen zur Zeit ihres gewaltsamen Todes. Marianna Kijanowska beschäftigt sich aber nicht nur mit den Mechanismen der Gewalt. Sie gibt den vergessenen Stimmen eine Spur, eine Art Tonspur. Jedes Gedicht ist eine Stimme, Stimmen von Kindern, Erwachsenen auf dem Weg in die Schlucht. Stimmen, die nachvollziehbar nicht in Sprache fassen können, was ihnen bevorsteht. Stimmen, die die Angst zudecken, sich selber trösten, das Unaussprechliche ausblenden.
Das Morden unter dem Deckmantel einer Ideologie, als blosse Ausführung von militärischen Befehlen hat in der Ukraine noch immer kein Ende. Die 67 Gedichte in «Babyn Jar. Stimmen» lesen sich wie Meditationen. Sie helfen nicht zu verstehen. Sie trösten nicht. Aber sie streuben sich gegen das Schweigen, gegen das Vergessen, gegen die systematische Tilgung von Erinnerungen.
наповнити очі такими сльозами щоби не текли солонішими аніж сіль кам’янішими аніж камінь і дім збудувати з усього що всюди й не знати коли було у дитинстві у небі в пісочниці і під руками придумати маму нехай буде хаву таку щоб була моя щоби голову мила мені щоб була чи просто була зі мною
називаючи речі в крамниці де хліб молоко але ще по краях
вітрини багато зимового з ковзанки щастя і сухостою
мене уже не рятує ніщо чи ніщо крім можливо сліз які проламують тло поверхню і дещицю решти тіла
щоби не вмерти я мушу мати в судинах на дні і на дні валіз
важкі механізми придумувань витіснень крила крила –
***
die augen mit tränen füllen die nicht fließen salziger als alles salz steiniger als aller stein ein haus bauen aus allerlei von überall ohne zu wissen war es als kind im himmel in der sandkiste unter den händen eine mama ersinnen eine chava müsste es sein die meine ist die mir das haar wüsche die da wäre oder einfach mit mir zusammen
die dinge im laden beim namen nennt da das brot die milch doch an den rändern
des schaufensters ist auch viel winter eisbahn glück und tote bäume
nichts kann mich mehr retten oder nichts als die tränen die den grund die fläche das quäntchen die reste des körpers durchbrechen
um nicht zu sterben brauche ich auf dem boden der gefäße und auf dem boden der koffer
schweres gerät aus erfindungen verdrängungen flügel flügel –
Marianna Kijanowska, 1973 in Schowka bei Lemberg/Lwiw geboren, debütierte 1997 als Lyrikerin. Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen. Für ihren Gedichtzyklus «Babyn Jar. Stimmen» wurde sie 2020 mit dem Taras-Shevchenko-Preis ausgezeichnet. Sie lebt zur Zeit in Krakau.
Claudia Dathe , geboren 1971, übersetzt Literatur aus dem Russischen und Ukrainischen, u.a. von Andrej Kurkow, Serhij Zhadan, Ostap Slyvynsky und Yevgenia Belorusez. 2020 wurde sie zusammen mit Yevgenia Belorusez für das Buch «Glückliche Fälle» mit dem Internationalen Literaturpreis und 2021 für die Übersetzung von Serhij Zhadans Gedichtband «Antenne» mit dem Drahomán-Preis ausgezeichnet.
Jane Wels Gedichtband «Schwankende Lupinen» ist eine Sammlung ganz zarter Gedichte, durch die man den Wind der Erfahrung spürt, die Fähigkeit, in die Stille hineinzuhören. «Schwankende Lupinen» begleitete mich eine wunderbare Weile auf meinem Nachttisch und im Zug und ist zu einem Freund geworden.
Ich mag Gedichte, zu denen ich keinen Schlüssel brauche, die sich nicht restlos erschliessen müssen, aber denen ich mich mit jedem Mal Lesen näher fühle. Gedichte, die mich mit offenen Armen empfangen und sich mir nicht spröde verweigern oder mit Geheimniskrämerei auf Abstand bleiben. Die Gedichte von Jane Wels sind Blicke durch aussen ins Innen, spiegeln Aussenwelten in Innenwelten und umgekehrt. Sie ergründen das Schreiben, die Zeichen der Welt, der Natur. Man glaubt im Rücken der Dichterin zu sitzen, mit ihr hinaus in den Garten zu schauen und manchmal über die Schulter auf das Blatt Papier, auf das sich die Spur ihrer Gedanken legt.
Ich will die Sprache vernähen zu einem Quillt aus Worten, die keinen Schatten werfen und schweigen, wie ein fliegendes Papiertaschentuch oder der rote Faden, der sich verliert.
Ihre Gedichte sind Erinnerungen, Gedanken, manchmal schaftkantige Beobachtungen. Bilder, Geräusche, Gerüche und Düfte, die sich in filigranen Sprachgebilden offenbaren, die nacherleben lassen, was in den Traumfängern der Dichterin hängen bleibt. Bilder, die sich manchmal abstrahieren, die feinen Skizzen gleichen, auf Japanpapier gezeichnet, meist nur kurz, als wären es ein paar wenige, vieldeutige Schriftzeichen.
Diese Tage schreiben neue Ränder in die Zeit, lösen Schichten, die Gespinste tragen und Nachtpfauenaugen.
Jane Wels «Schwankende Lupinen», edition offenses feld, 2024, 80 Seiten, CHF ca. 27.90, ISBN 978-3-7597-2115-0
Lupinen sind aufrechte Gartenblumen, in vielfältigen Farben. Der Name stammt vom lateinischen lupus. Blumen, deren Samen giftige Bitterstoffe enthalten, die bei der wilden Gartenlupine zu Atemlähmungen führen können. So schön und üppig die Blume, so heimtückisch ihre Frucht. Ganz anders die Wirkung dieser Gedichte. Auch sie erzeugen Wirkung, nehmen einem zuweilen durch ihre Dichte, ihre Intensität den Atem. Sie sind keine vergeistigten Konstrukte. Es ist, als würde die Dichterin im Traum leise flüstern. Es sind weder Rätsel noch Abgründe. Jane Wels nimmt mich mit in ihre feine Art des Sehens.
Leere Mengen streuen Fragen in die trauernden Felder des existierenden Nichts wuchern Suchbewegungen. Wer ist Ich?
Wenn Sie es mögen, dass sie Sprache begleitet, wenn ein Büchlein das richtige Format hat, um im Herbst in der Brusttasche ihres Sakkos mitzureisen oder wenn sie stille Bilder brauchen, die sie aus den Wirren eines Tages lotsen – oder darüber hinaus, dann lesen sie «Schwankende Lupinen» von Jane Wels!
Der frühe Morgen zieht einen Scheitel in den Tag, kämmt ihm die Knoten aus dem Schlaf. Unschärfen mischen sich mit dem Duft von weissem Tee. Als wir ein Sternbild waren, nannten sie uns Wolf.
(Die vier Gedichte sind aus dem Band «Schwankende Lupinen». Ich danke der Autorin für die Erlaubnis, diese zu veröffentlichen.)
Jane Wels, geb. 1955 in Mannheim, lebt im Nordschwarzwald. Sie studierte Entwicklungspsychologie, Pädagogik und Medienwissenschaften und arbeitete als Sozialtherapeutin, Sexualpädagogin, Heilpraktikerin Psychotherapie. Wels veröffentlichte in Zeitschriften und auf Onlineplattformen. Der vorliegende Band ist ihr Buchdebüt.
Es gibt viele Möglichkeiten, sich mit seinem Dasein auseinanderzusetzen. Der Schriftsteller und Fotograph Fritz Mühlemann wählt seinen ganz eigenen Weg. In „Föhn.Sturm“ legt er eine Spur durch die Zeit, setzt sein Dasein in eine lange Kette, bis zurück ins Holozän. „Föhn.Sturm“, ein langes, in verschiedene Kapitel unterteiltes, illustriertes Langgedicht, ein Vergegenwärtigung, woher die Winde wehen!
Fritz Mühlemann weiss, woher er kommt. Und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Er wandert vom Tal hinauf, lässt seinen Blick nach innen und aussen schweifen, in die Landschaft, die Erinnerungen und das, was der Autor über ein Leben lang an Wissen und Geschichte(n) gesammelt hat.
Föhn.Sturm
die Vorfahren kommen und gehen die Verhältnisse sind unübersichtlich man sucht nach einer Lichtung hilft sich mit Volksweisheiten über Orientierungslosigkeit hinweg
mein Blick schweift über das Bödeli das behäbig Heimat verspricht zum Greifen nah legen sich mir die Firne silbern verklärt ins Zwischenhirn Föhn . Sturm der unergründliche Atem des Herrn bricht aus der Stille
tobt der trockene Fallwind über das Bödeli deckt er Häuser und Ställe ab entwurzelt Bäume reisst Felsstücke los wirft Boote auf den Seen umher
In «Föhn.Sturm» erzählt der Autor mit der fiktiven Geschichte seiner Berner-Oberländer-Vorfahren von der Reformationszeit bis heute zugleich ein Stück Schweizer Zeitgeschichte und die Geschichte des ‹Bödelis›.
Verschiedenste Historiker haben ihm Einblicke in die regionalen Geschehnisse verschafft und seine Imagination angeregt. Wie könnten seine Vorväter als Müller (Mühle-Männer) in Wilderswil, als Coiffeurmeister in Bönigen und Interlaken sowie als Wirt und Wirtin auf der Heimwehfluh gelebt haben? Das Bödeli übte schon lange eine grosse Anziehungskraft auf Menschen aus aller Welt aus. Illustre Gäste kamen hier zu Besuch: Madame de Staël 1805 zum Unspunnen-Alphirtenfest, Goethe gastierte im Rathaus Unterseen, bevor er ins Lauterbrunnental weiterreiste, Lord Byron logierte in der Taverne Interlaken, Polo Hofer irrte vom Blues verweht umher und besang sein ‹Meitschi vo Bönige am Quai›. Von Zeit zu Zeit tobt sich der Föhn stürmisch aus. Der Blick auf seinen Heimatort Bönigen regte den Autoren zum Nachdenken über Auswanderung, Heimat und Heimweh, über das Wesen von Zeit und Erinnerung an.
Der Blick schweift über das Bödeli
das Zugseil besteht aus hundertzwei Drähten und einer Kunststoffseele die garantierte Bruchfestigkeit bei zweiundfünfzigtausend Kilogramm gewährt zehnfache Sicherheit doch die Drahtseilbahn zur Heimwehfluh nimmt den Betrieb erst im Mai auf
ein Kiesweg führt durchs Wäldchen hoch zur Fluh ich pfeife alte Schlagermelodien vor mich hin ‚Ein Schiff wird kommen‘ ‚Junge, komm bald wieder‘ bedenke vor dem Ameisenhaufen die Sorgen der Mütter und das Abwesen
die Emsen ein und aus immer strebend und gelassen sich bemühn verschwinden in schwarze Löcher tauchen auf aus schwarzen Löchern Larven Insekten Raupen Stöckchen in den Kieferzangen
das Chaos bleibt staufrei organisiert tägliche Bewegung beugt der Demenzerkrankung vor
den Abgrund zum Vater zur Mutter das Weh zu Füssen zwei Seen thront die Fluh
mein Blick schweift über das Bödeli das behäbig Heimat verspricht und mir doch fremd bleibt grell leuchtende Farben der Ruf der Ahnen feudale Schlösser Landsitze Trauben Feigen
„Föhn.Sturm“ ist ein illustrierter Weg durch die Zeit mit Fotos/Bildern von Fritz Mühlemann, Fotografien aus dem Familienarchiv des Autors, Bildern aus dem Oberländer Volksblatt, aus Geschichtsbüchern, verschiedenen Archiven und Sammlungen, Postkartenbilder von Interlaken und der Heimwehfluh anfangs des 20. Jahrhunderts, wunderbar gestaltet von Anna Neurohr.
„Was für ein reiches, von Einfällen, Farben, Geschichten überquellendes Buch! Fritz Mühlemann erzählt die Geschichte seiner Vorfahren und die des ‹Bödelis›in vielen Tonarten, manchmal fantasievoll, manchmal dokumentarisch, oft hintersinnig und verschmitzt. Man kann blättern, sich festlesen, staunen.“ Lukas Hartmann
Fritz Mühlemann «Föhn.Sturm», Edition Clandestin, 2024, 176 Seiten, CHF ca. 38.90, 978-3-907262-57-3
Fritz Mühlemann wurde 1950 in Bern geboren. Er ist Fotograf, Schriftsteller, Psychologe, Rentner und Traumwanderer mit Heimatort Bönigen auf dem Bödeli zwischen Thuner- und Brienzersee. Über die Jahre hat er zahlreiche Ausstellungen realisiert und Bücher veröffentlicht, unter anderem den Wiener Roman «dort wohnen die Narren» (edition clandestin, 2015), eine Spurenmontage aus Fotografien und Prosagedicht oder «kein ort aber krähengelächter», (Dendron Verlag, 2015), eine Sammlung, die Bilder und Texte vereint, die im Austausch mit Romie Lie entstanden.
Auf dem Titelblatt von Carla Cerdas letztem Gedichtband Ausgleichsflächen stehen die Sätze: „Attention Readers! Dies ist ein Experiment der poetischen Kommunikation realer Ereignisse“. Der ironische Ruf nach Aufmerksamkeit kann auch als Warnung aufgefasst werden: Wer zu lesen beginnt, soll sich. vorsehen. Was hat es damit auf sich? Worauf muss, darf man gefasst sein, wenn man sich aufmacht, in Carla Cerdas Sprachwelt einzudringen? Allgemein gesprochen darauf, dass in den Gedichten das herkömmliche Verständnis von Realität und Fiktion erweitert und in kühner Weise neu bestimmt wird. Wenn wir im Folgenden nach einer etwas genaueren Antwort suchen, können uns zwei Textpassagen behilflich sein, die wir näher heranzoomen wollen.
Zwei Gedichtbände hat Carla Cerda bis jetzt veröffentlicht, Loops 2020 und Ausgleichsflächen 2023, beide sind in der Reihe roughbooks bei Urs Engeler erschienen. Die schmalen Büchlein enthalten je rund fünfzig Gedichte, gegliedert in fünf resp. sechs Gedichtzyklen, denen manchmal ein Intro vorangestellt ist. Eines davon haben wir gerade kennen gelernt.
Zoom eins
Es führt zum ersten Zyklus von Ausgleichsflächen, worin von einer Mutter und ihrem Kind die Rede ist. Die beiden sind mit einem Spiel beschäftig. Weiter anwesend sind ein Mann und eine Box mit einem Käfer drin. Wobei diese als anwesend zu bezeichnen ziemlich gewagt ist. Beim Mann handelt es sich – Attention readers! – um einen Chatbot, also um ein Computerprogramm, das menschliche Konversation simuliert. Der Kantbot, wie er im Gedicht genannt wird, schreibt gerade an einer wissenschaftlichen Abhandlung, einem Text, der vor über 200 Jahren verfasst wurde. Es ist ein posthum erschienenes Manuskript von Immanuel Kant. Den Philosophen beschäftigt darin unter anderem die Frage nach dem leeren Raum, in dem, obwohl er leer ist, dennoch physikalische Gesetze wirken, etwa das der Gravitation. Dass Carla Cerda gewisse von Kants Formulierungen in ihren Zusammenhang aufgenommen hat, ist kein Zufall. Sie holt Kant gleichsam als Vater an den Tisch zu Mutter und Kind, weil sie bei ihm vorgedacht findet, was sie heute beschäftigt.
und der Kantbot ist jetzt auf Seite 20, Convolut XI angekommen, wo „die Gravitationsanziehung dynamisch durch den leeren Raum – obzwar kein solcher da ist“
Hinter Kants wunderbar lapidaren Feststellung von der Existenz des gedachten leeren Raums, der gar keiner ist, verbergen sich Grundfragen nicht nur der Physik, sondern auch der Literatur: In welchem Verhältnis steht, was ich lesend vor mir habe, zu meiner Erfahrungswelt? Wer bestimmt seinen Wirklichkeitsstatus? Welche Realität kommt einer Box mit einem Käfer zu, wenn sie in einem Gedicht auftaucht? Und: ist die Box weniger präsent, wenn das Gedicht sie mit den Worten einführt:
„ein Käfer in einer Box und die Box ist weg“
Die Dichterin weiss, dass mir die Box gegenwärtig bleibt, auch wenn sie diese im Gedicht zum Verschwinden bringt. Der Zyklus heisst „Bootstrap“. Bootstrapping benennt in der Computersprache einen Vorgang, der aus einem einfachen Programm ein komplexeres generiert. Ich habe aus dem Wort Box mittels der Formel „ist weg“ eine Vorstellung generiert, in der zwei Boxen£existieren, eine, die es gibt, und eine, die es nicht gibt, und beide meinen dieselbe.
Das erste Gedicht des Zyklus, aus dem die zitierte Zeile stammt, ist von denkbarer Schlichtheit. Dennoch fallen wir von einem Bootstrap in den anderen, von einer Falle – Trap – in die nächste. „spielen wir ein Spiel“, heisst der erste Satz. Wer spricht da zu wem? Die Mutter spricht zum Kind. Oder spricht die Ich-Erzählerin zu uns, den Lesenden? Es bleibt offen, der einfache Satz generiert zwei mögliche Bezugsfelder, die unaufgelöst nebeneinander stehen bleiben. Darauf folgt eine Aufzählung des Spielmaterials. Unter anderem wird auch das Kind vorgestellt, und zwar folgendermassen:
„das Kind, sowie es aufhört, nicht zu sprechen“
Das Kind scheint nur anwesend und für das Spiel brauchbar zu sein, wenn es sein Schweigen bricht und zu sprechen beginnt. Sein Reden macht es präsent, oder anders gesagt, seine Anwesenheit verdankt es dem Wort. Genau wie die Box, die da ist, weil sie genannt wurde.
Es gibt eine zweite bemerkenswerte Aussage über das Kind, sie ist in Klammern beigefügt:
„das Kind, sowie es aufhört, nicht zu sprechen (in etwa du)“
„in etwa du“ könnte zum Kind gesprochen sein, es würde dann bedeuten: Im Gedicht kommt ein Kind vor wie du eines bist, mein Schatz. Die Ich-Erzählerin spricht als Mutter zum Kind. Auch die Lesenden können sich mit dem Du gemeint fühlen. „in etwa du“ hiesse: so wie du, wenn du zum Kind wirst. Es sei denn, der Zusatz beziehe sich nicht auf eine Person, sondern auf die Sprache und meine ganz einfach nur das Personalpronomen selber, dem hier keine Person fest zugewiesen sei. Ähnliches gilt für das Ich der Mutter. Wir, die Lesenden, tun gut daran, dieses Ich nicht ausschliesslich als Person, sondern ebenso als Pronomen anzusehen. Das mildert unseren Schreck, wenn das Ich auf einmal buchstäblich aus dem Text fällt:
„ich falle – ups – durch eine fiese Laufmasche im Satzgefüge.“
Verunglückt ist hier bloss das Pronomen, das drei Zeilen später munter wiederaufersteht und im Text weiterfährt.
Ein unspezifisches Sie, ein unspezifisches Du, eine Box, die nicht da ist, ein Philosoph als Chatbot – den erwähnten Textstellen ist gemeinsam, dass sie mehrere Bezugsebenen zur Verfügung halten, zwischen denen Lesende hin und her wechseln können und die untereinander agieren. Das gehört zum Spiel, zu dem uns die erste Zeile einlädt; zum Spiel, zu dem Carla Cerdas Bücher einladen. Die Autorin beherrscht es in all seinen Nuancen. Sie treibt es bis zum Irrwitz, bis zur Absurdität, behält die Spielfäden aber fest in der Hand.
Die 34-Jährige weiss mit Texten umzugehen, sie hat am Literaturinstitut Leipzig studiert. Sie hat ein Studium der Biologie und Ökologie hinter sich, kennt sich aus in der Welt der Wissenschaft. Und als Übersetzerin aus dem Spanischen und Englischen hat sie einen wunderbar leichten Umgang mit Sprachen. Ihre Spiellust kennt keine Grenzen. Das ist wörtlich gemeint. Sie geht über die Grenzen hinaus, die ein Gedicht in der Regel setzt, und bezieht nicht nur Wörter, Sätze, Zeilen mit ein, sondern auch die Druckseite selber.
Zoom zwei
Im Zyklus „Apophenia“ wird dem Lesepublikum ein mechanischer, durch Lochkarten gesteuerter Webstuhl vorgeführt. Die Gedichte sprechen diesmal ein Sie (in der Höflichkeitsform) an. Achtung, Personalpronomen! Wir Leser:innen werden uns hüten, uns vorschnell selber in das Sie hineinzudeuten. Wie recht wir mit unserer Vorsicht haben! Bringt der Text das „Sie“ doch in eine befremdliche Situation.
„fühlen Sie einmal hier unter der haut den stoff die geschichte ihrer hm die geschichte des programms das Sie hervorbrachte Ihre ganz persönliche lochkarte sehen Sie? fühlen Sie? merken Sie?“
Wir sind uns nicht sicher, was dem „Sie“ an dieser Stelle genau widerfährt. Aber wir haben verstanden, es geht um eine Lochkarte, „Ihre ganz / persönliche lochkarte sehen Sie? fühlen Sie? / merken Sie?“ Tatsächlich, wir fühlen die Lochkarte. Sie liegt in unserer Hand. Wir sehen, dass der Satzspiegel des aufgeschlagenen Gedichtbands eine Veränderung erfahren hat. Der Text ist vom Gedicht zur Lochkarte mutiert. Gleichzeitig besteht er darauf, ein Gedicht zu sein. Die Lesenden haben die Wahl nicht nur zwischen verschiedenen Bedeutungen, sondern zwischen verschiedenen Erscheinungsweisen bedruckten Papiers. Wenn sie Lust haben, können sie die Lochkarte wahrnehmen und synchron dazu das Gedicht lesen. Das erhöht den Genuss, das hebt die Stimmung.
Vielleicht wäre für die Lektüre von Carla Cerdas Werk ein neuer Terminus einzuführen, das „synchrone Lesen“. Ihre Gedichte ermuntern dazu, verschiedene sich überlagernde Inhalte zusammenzudenken. Dies nicht im Sinne von Metaphern, die sich via Assoziation einstellen, sondern durch das Verflechten von Themen. So wechselt der Webrahmen-Zyklus von der Stoffproduktion zu anderen Kontexten, die mitgelesen werden können. Etwa zur literarischen Textproduktion. Und er führt, es liegt nahe, zur Bild- und Textproduktion des Internets. Es liegt nahe nicht nur deshalb, weil die Lochkarte der Vorgänger der Speichermedien Magnetband und Diskette ist. Sondern insbesondere deshalb, weil Carla Cerdas gesamtes lyrisches Schaffen mit dem Internet auf das engste verknüpft ist. Davon soll abschliessend die Rede sein.
Die Dichterin als DJ
Ein grosser Teil der in den Gedichten verarbeiteten Inhalte stammt aus der digitalen Welt. Sie sind raffiniert eingepasst und als solche nicht erkennbar, oder dann ganz offensichtlich im Copy/Paste-Verfahren übernommen. Sie gehören mit zu dem, was verhandelt wird, können es auch ergänzen, konterkarieren, ihm eine Alternative entgegenhalten.
Mitunter lässt sich ihr Weg von ihren Internetwurzeln bis in das Gedicht nachverfolgen. Etwa im Fall eines englischen Zitats aus der Finanzbranche, das ohne ersichtlichen Grund in den Webstuhl-Zyklus platzt. „trust me on this testimony everybody“, meldet sich mitten im zweiten Gedicht eine Stimme, um fortzufahren:
„I invested 900 and I withdrew 9000 it was like a dream come true”
Vielleicht rühmt sich hier jemand, der gerade einen Deal mit Loom gemacht hat? Loom, das englische Wort für Webstuhl, bezeichnet auch eine Kryptowährung. Im Wort Loom bündeln sich zwei Welten, die des Webens und die des Spekulierens. Diese Nachbarschaft macht sich Carla Cerda zunutze. Sie wiederholt mehrfach die Beteuerung „trust me on this –“ und gibt diese Floskel aus der Werbesprache für Finanzprodukte der Lächerlichkeit preis.
Sie liebt es, en passant hier eine Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung anzubringen, dort Auswüchse unserer Zivilisation blosszustellen. Hellwach verfolgt sie das Weltgeschehen, setzt in ihre Lyrik Fetzen und Splitter davon ein, die im poetischen Umfeld nicht selten absonderlich und komisch wirken. Einmal lässt sie die Ich-Erzählerin sich damit brüsten, dass ihr Gedicht, das von einer Platane handle, die α Biodiversität erhöhen und ihre eigenen biodiversity credits wieder ins Gleichgewicht bringen werde. Das Gedicht löst sich hier aus seinem ästhetischen Kontext und gibt sich als Bon für Artenvielfalt aus, als Ausgleichsfläche für Umweltsünden – eine ironiegeladene Anspielung auf die verbalen Kraftakte in den Reden von Politikern und Industrievertretern.
Auch in diesem Beispiel manifestiert sich Carla Cerdas Lust, aus der Hermetik des Gedichts auszubrechen, diesem neue Funktionen zuzuweisen und die Grenzen der Lyrik zu transzendieren. Es interessieren sie neben der Welt der Märchen und Mythen, der Belletristik, der Kommunikation insbesondere die Bereiche, die als poesieresistent erscheinen. Der Einbezug von Textfragmenten aus der Meeresbiologie, dem Abbau von Bodenschätzen, der Karpfenzucht oder der Aktienbörse erschliesst dafür nahezu unerschöpfliche Quellen. Die Autorin wählt aus ihrem in umfangreichen Recherchen zusammengetragenen Material das Passende aus, wandelt um, passt ein, kombiniert, schneidet weg. Ihre Arbeit erinnert an die Tätigkeit einer DJ, die am Mischpult steht, sampelt, mixt und scratcht und die fortlaufend ihre Rhythmen komponiert. Ab und zu macht sie sich in Ausrufen Luft. Mit den eingestreuten hey, ups, äh, hm, oh, iiih, aha scheint sie sich selber zu befeuern, vor allem aber steigert sie damit das Vergnügen der Lesenden. Sie macht Stimmung. Das ist vielleicht das Erstaunlichste an dieser Lyrik: wie heiter, wie munter sie daherkommt. Als gäbe es nichts Selbstverständlicheres, als aus den gigantischen Materialbergen des Internets eine Folge von durchgestalteten Gedichten zu machen. Als wäre es die eigentliche Bestimmung des worldwide web, in Poesie verwandelt zu werden.
Dieser Dichterin ist – Attention! – viel zuzutrauen. Der Basler Lyrikpreis, den ihr die Jury, bestehend aus Wolfram Malte Fues, Claudia Gabler, Simone Lappert, Alisha Stöcklin, Ariane von Graffenried und Rudolf Bussmann heute überreicht, soll sie dazu ermutigen, ihren literarischen Weg so konsequent und originär fortzusetzen, wie sie ihn begonnen hat. Unsere guten Wünsche begleiten sie dabei.
Carla Cerda, geboren 1990, ist Biologin, Dichterin und Übersetzerin und lebt in Leipzig, wo sie als Teil der «anemonen» interdisziplinäre Lesungen und Workshops mitorganisiert. Sie hat zwei Gedichtbände veröffentlicht: «Loops» (2020) und «Ausgleichsflächen» (2023), beide bei roughbooks. Sie erhiel tauch den Hauptpreis beim open mike 2019 und den Heimrad-Bäcker-Förderpreis 2022.
Heute dauert ein Song, ein Lied um die drei Minuten, selbst dann, wenn der Inhalt existenziell ist, wenn von den „grossen Dingen des Lebens“ ein Lied gesungen wird. Martina Caluori singt wohl nicht, aber sie setzt ihren lyrischen Text in einen Soundteppich, ganz im Puls der Zeit.
Ein Buch mit 120 Seiten. Auf der einen oder anderen Seite sind nicht mehr als zwei Zeilen abgedruckt. Das könnte leicht falsch verstanden werden, denn Martina Caluoris Text oder Texte wären in einem Booklette zur CD falsch gewichtet. Es braucht das Buch. Es braucht auch das viele Weiss auf den Seiten, nicht zuletzt dafür, den Gedanken, den inneren Bildern jenen Raum zu geben, den Text und Musik evozieren.
Vorne im Buch ist ein QR- Code abgedruckt (auf der Verlagswebseite eine Tondatei direkt). Ich legte mich in meiner Bibliothek auf mein Lesesofa, liess die Tonspur über meine Kopfhörer abspielen und las im Buch den Text mit, den Martina Caluori mit dem Soundkünstler Marcel Gschwend in Wort und Musik zu einer Bildlandschaft zusammenfügten. Nach jeder Textpassage schloss ich die Augen und öffnete sie erst wieder, wenn mich die Stimme der Autorin auf die nächste Seite trug.
Marina Caluori «Ich weine am liebsten in Klos», mit Marcel Gschwend aka Bit-Tuner, lectorbooks, 2023, 120 Seiten, QR-Code mit Zugang zu SoundCHF ca. 26.90, ISBN
„Ich weine am liebsten in Klos“ ist eine lyrisch-musikalische Reise durch die Gefühlswelt einer jungen Frau. Auch wenn nur angetönt wird (hier durchaus wörtlich gemeint), dreht sich vieles um Verlust. Zum einen um den Tod Nahegestandener, zum anderen um den Verlust jenes Gefühls, irgendwo hinzuzugehören, Teil einer intakten Welt zu sein. Auch wenn der Titel „Ich weine am liebsten in Klos“ auf den ersten Blick in seiner Banalität provoziert, erschliesst sich nach der 35minütigen Reise ein beinah lebensfeindliches Gefühl des Ausgeschlossenseins, der Einsamkeit und des Verlassenseins.
Marcel Gschwend vertieft diese Gefühlswelt mit einem langen Band aus Rhythmen und tiefen Beats, mit Sounds, die Türen öffnen und mich auf dem Sofa lesend in eine Welt «auf der anderen Seite» hineinstossen. Martina Caluoris Stimme ist unspektakulär, was mich immer wieder zum Text zurückholt. „Ich weine am liebsten in Klos“ ist ein erfrischendes Experiment mit Nachhall!
Interview
Du beschreibst ein Lebensgefühl. Das Nichtdazugehören, das Zurückgelassensein, die Einsamkeit, das Eingeschlossensein. Gefühle einer ganzen Generation. Jener Generation, die das Gefühl von „Alles ist möglich“ verloren hat. Die Gefühle einer Generation, der man den Boden unter den Füssen weggezogen hat. Ist das der Grund, warum Du nicht einfach Lyrik schreiben kannst? Ist dir traditionelle Lyrik schlicht zu leise? Dieses Lebensgefühl, für mich der lange Abschied, dem gesellschaftlich nur wenig Raum zugestanden wird, benenne ich. Vielleicht ist das nicht leise. »Ich weine am liebsten in Klos« versteckt sich nicht hinter Kompliziertem, Konstruiertem; es sind prägnante Sprachbilder, die sich auf wenige Worte zurückziehen und so Raum öffnen. Für das Geschriebene, für die Lesenden und mit dem Audiowerk für eine weitere Form der Rezeption. Lyrik ist verdichtete Gegenwart; und diese verlangt immer wieder nach eigenen oder eben anderen Formen.
„Du bist tot“, kann sich auf vieles beziehen, nicht nur auf den Tod eines Menschen, eines Vertrauten. Die 35 Minuten mit Dir und Markus Gschwend haben durchaus etwas von einem psychodelischen Trip. Und vielleicht unterschätzt man die Nebenwirkungen. Oder ist genau das Deine Hoffnung? Ich glaube, die gab es nicht, weil wir uns mit der Begegnung von Musik und gesprochenem Text auf etwas einliessen, dessen Wirkung wir nicht vorhersagen konnten. Im Schaffensprozess gab es einen Punkt, der uns trippen liess und ebendiesen neuen Raum eröffnete. Auch mit Nebenwirkungen, die für den Zugang zum Erlebnis des Werks wurden.
Vernissage Kulturgarage OKRO
Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Markus Gschwend? Veränderte sich der Text mit der Zusammenarbeit? Es ist die Thematik, schlussendlich wahrscheinlich die Dichte in ihrer Kürze der Fragmente und Gedichte, welche mich zur Rezeptionsform des Auditiven mit Marcel führte. Der Text stand bereits bei Beginn der künstlerischen Kollaboration mit Marcel und hat sich indes auf der textlichen Ebene nicht verändert. Für den Audiotrip in Albumlänge war der Text Ausgangspunkt. Marcel hat diesen musikalisch aufgenommen, interpretiert und eigens Sound dafür produziert. Text und Sound sind sich künstlerisch begegnet und haben so einen neuen Sprach- und Soundkosmos eröffnet. Die Rezeptionsform des Textes hat sich dadurch verändert und damit auch seine Bedeutung. Eine weiter schweifende, die von Marcels Sound wie der Symbiose von Sound und Text. Es entstand eine neue Form, das Buch zu erfahren – und diese verändert den Text natürlich als solchen auch.
Du bist eine junge Stimme, Dein „Ich weine am liebsten in Klos“ könnte auch in einem Veranstaltungsraum mit Lichteffekten abgespielt werden, wie ein lange dauerndes Musikstück, das zu Bewegungen einlädt. Die Musik ist sphärisch, weit, schiesst Deinen Text in einen offenen Raum. Ich erinnere mich an ein Virtual Reality Projekt mit Klaus Merz und dem Filmemacher Sandro Zollinger („Los“). Willst Du Grenzen sprengen? Das war ihr Spalt in die Ewigkeit mit einer neuen literarischen Erfahrung. Ja, Literatur in neue Räume und Klangspektren zu führen, ist sicherlich Kernstück des Werks. Live-Performances und Installationen bieten sich dafür an. Ich möchte aber vielmehr dort öffnen und Raum geben, wo wir ihn zugemacht oder gar verloren haben – oder schlicht nicht öffnen wollen. Und da gehören Interdisziplinarität und Rezeptionsformen dazu.
Ist Dein Buch auch der Versuch, Lyrik einem jungen Publikum zu öffnen? Diese Frage habe ich mir so nicht gestellt. Die Integration vom Audiowerk ins Buch ermöglicht sicherlich einen weiteren Zugang und lässt eine andere Auseinandersetzung mit Lyrik zu, auch performativ. Ist das junge Publikum nicht bereits wieder näher an Lyrik? Wenn du von dieser sprichst, ist meine versuchte Öffnung wohl eine generationenübergreifende, eine gesellschaftliche.
Martina Caluori ist 1985 geboren, studierte Publizistik und Filmwissenschaften und lebt als Autorin in Chur und Zürich. 2019 erschien ihr Lyrikdebüt «Frag den Moment», 2021 in Co-Autorenschaft mit Lea Catrina, «Öpadia – A Novella us Graubünda» und 2022 ihr Kurzprosadebüt «Weisswein zum Frühstück» (lectorbooks). Daneben publiziert sie in Magazinen und Anthologien, kuratiert Literaturveranstaltungen und ist in Kunst- sowie Kulturprojekte involviert. 2022 wurde sie mit dem literarischen Werkbeitrag der Stadt Chur ausgezeichnet.
Marcel Gschwend aka Bit-Tuner, 1978 in St. Gallen geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Der Autodidakt produziert seit 2001 elektronische Musik. Bit-Tuner hat mit verschiedenen Künstlern zusammengearbeitet, wie zum Beispiel Manuel Stahlberger, Dani Göldin, !Mediengruppe Bitnik, Anna Frey, IOKOI, Audio88 & Yassin und Johannes Dullin. 2015 war er für den Schweizer Musikpreis nominiert. Sein musikalisches Ausdrucksfeld reicht von Experimental Hip-Hop bis Electronica, von Bass Music bis Noise.
Ich habe mir zuhause einen Vorrat an Zsuzsanna Gahse Büchern angelegt. Warum? Weil ich ihre Bücher, erschienen in der Edition Korrespondenzen, über alles liebe. Ihre Prosaminiaturen, die für mich reine Poesie sind, nennt sie Störe;„Störe bewegen sich zwischen langen Erzählweisen und Gedichten, zwischen Essays und Novellen, szenischen Texten und Performance-Vorlagen“.
Gastbeitrag von Thomas Kunst Schriftsteller, Dichter,Kleist-Preiträger
„Zeilenweise Frauenfeld“ ist ein Bühnengewässer, in welchem die Dinge durcheinandergeraten können, wenn man das entlarvende Lesen gegen ein nachdenkliches Lesen eintauscht. Die Frauen an den Treppen. Die Frauen auf den Demos. Die kleine Kellnerin. Die Tochter der Wienerin. Damen und Frauen. Manu. Die Welsche. Nandu. Nora. Die Unbrennbare. Eine schwarz gekleidete Frau. Die Frau in Indigo. Frauen von vor etwa hundertfünfzig Jahren. Frauen beim Stolpern, Stürzen und Sterben. In einer Frauenfelder Inszenierung. Popkonzerte. Illusionen. Bahnhofsvorplätze. Festivals.
Das Bühnenwasser der Murg. Die Brücken und Stege von Frauenfeld. „Viele setzen sich bei der diesjährigen Trockenheit einfach ins Gras, aber wir haben uns vor Kurzem kleine, leichte Klappstühle besorgt, mit denen wir sogar durch die Stadt ziehen und beliebig Pausen einlegen, die zu unserer Langsamkeit passen.“ Die Chance, dass Texte zu großer Literatur werden, ist ihre Nicht-Nacherzählbarkeit. Zsuzsanna Gahse schafft es, uns auf ihre Prosafelder zu entführen, ohne uns daran zu erinnern, dass das Denken auch eine konzentrierte Fortbewegungsart des Sehens sein kann.
Ich musste beim Lesen von Zsuzsannas Buch an ein Gedicht von einem meiner amerikanischen Lieblingsdichter denken, das ich Mitte der neunziger Jahre zufällig beim Durchblättern einiger Ausgaben der Grazer Literaturzeitschrift „Manuskripte“ gefunden hatte: „Kriminalroman“ von Robert Kelly, ein Titel, der in seiner deutlichen Bezeichnung hoffentlich nur liebevolle Genreirritationen ausgelöst hat. Dieses Gedicht hatte von Anfang an kein Entkommen für mich parat, zog mich, von seinem Tempo, von seiner Gelassenheit her, sofort in seinen ambivalenten Kreis, beeindruckte mich vor allem durch die verhaltene Ökonomie im Gebrauch seiner Mittel, ein Gedicht, das klar und stringent war, elliptisch und karg, fast nur aus Hauptwörtern bestehend, wie es vielleicht seinerzeit Gottfried Benn in seiner Rede „ Probleme der Lyrik“ vorgeschwebt sein mag, ein Gedicht, geräumig entschlackt von verbalem Geraune und adjektivistischer Ausgelassenheit, einer der unverbindlichen Arten überzeichneter Wahrnehmungsplusterung.
„…Bei der Klinke. In der Schublade. Mit einem Taschentuch in der Hand. In der Hand. Im Zimmer die Hand. Im Zimmer. Auf dem Vorleger neben dem Bett. Neben dem Bett. Im Bett. Chenille. Auf dem Bett. Im Bett. Im Zimmer im Bett. In dem Zimmer In dem Bett…“
Zsuzsanna Gahse «Zeilenweise Frauenfeld», Edition Korrespondenzen, 2023, 150 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-902951-78-6
Genauso fühle ich mich beim Lesen der grandiosen Bücher von Zsuzsanna Gahse, das Glücksgefühl der Anstrengung bei der Lektüre auf sich zu nehmen, nicht nachzulassen in einer Art von musikalischer Konzentriertheit, den Einzelsätzen zu vertrauen, den sprachlichen Herzstücken der Gedanken niemals die Kondition bei der Durchblutung der poetisch-intuitiven Verästelungen zu versagen, wie es der kubanische Dichter José Lezama Lima einmal formuliert hat. „Nur die Anstrengung kann uns anregen, nur der Widerstand, der uns herausfordert, kann unser Erkenntnisvermögen geschmeidig krümmen, es wecken und in Gang halten.“
Verzeih mir, liebe Zsuzsanna, dass ich versucht habe, mich mit fremden Federn deinem neuen Buch zu nähern. Es ist deine Freiheit. Es ist meine Demut und auch ein Scheitern in Liebe.
Die Chance von Texten, große Literatur zu sein, ist ihre Nicht-Nacherzählbarkeit.
Es gibt Störe in der Murg. Wenn man sich Klappstühle ans Wasser stellt, kann man sie zählen, bestaunen und bei austauschbaren Temperaturen auswendig lernen, denn Die alten Jahreszeiten gehören zum Weltkulturerbe. Für diese Sätze liebe ich dich und deine Bücher.
„Ein Buch soll eine innige Mischung meiner wahren und falschen Erinnerungen sein, meiner Ideen, Hypothesen und imaginären Erfahrungen – all meiner verschiedenen Stimmen, ein Buch, das sich als Ausdruckswille dessen zu erkennen gibt, der da spricht, mit der freiesten Phantasie und mit äußerster Genauigkeit, in Prosa und Vers, beim Erwachen des Denkens zu sich selbst.“ (Paul Valery, Faust III)
Zsuzsanna Gahse, geb. 1946 in Budapest, aufgewachsen in Wien und Kassel, lebte längere Zeit als Schriftstellerin in Stuttgart und Luzern, zurzeit wohnt sie in Müllheim, Schweiz. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. aspekte-Literaturpreis (1983), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2006), Italo-Svevo-Preis (2017), Werner-Bergengruen-Preis (2017), Schweizer Grand Prix Literatur (2019).
Jochen Kelters Dichtung, sein neustes Buch „Verwehtes Jahrhundert“, erschienen im Caracol Verlag, als Lyrik zu bezeichnen, wird dann seiner Dichtung nicht gerecht, wenn man unter Lyrik jenen weichgezeichneten, verklärten Blick eines Entrückten versteht.
Jochen Kelters Lyrik ist alles andere als verklärt und weltentrückt, sondern kämpferisch, manchmal scharf, sonnenklar und ganz und gar nicht altersmilde. Jochen Kelter ist kein Mann der leisen Töne, auch wenn in diesem Band Gedichte zu finden sind, die wie zarte Lieder einen liebenden Blick verraten. Gedichte, die man am liebsten mit Farben an die Wand schreiben würde, um sie beim Aufstehen in einen neuen Tag als erstes zu lesen. Gedichte, die mich beflügeln!
„Verwehtes Jahrhundert“ – einen stimmigeren Titel wird es für den neuen Gedichtband kaum geben können. In den bündig vorgetragenen Zeilen werden mindestens hundert Jahre sichtbar, und diese Zeiten wehen tatsächlich herbei. Manchmal blitzen sogar weit entfernte Vergangenheiten auf. Daneben zeigt sich überraschend die jüngste Gegenwart, zum Beispiel mit der Pandemie, die jedem noch in den Knochen sitzt, was derzeit mit einer erstaunlichen Emsigkeit gerne überspielt wird. Aber Kelter beleuchtet die irritierende Ruhe und Stille dieser Jahre. Er zeigt die beinahe stehengebliebene Zeit. Zsuzsanna Gahse
Wetterleuchten Am schwarzen Nachthimmel immer wieder das entfernte Leuchten des zuckenden gelben Lichts und dichte Vorhänge schweren Regens undurchdringliche Wände aus Wasser die strömen und strömen unsichtbar rauschen du bist noch immer nicht auf den Grund deiner Seele gelangt undurchschaubar fließendes Selbst das dir zuraunt die Nacht der Regen die Wasser sind nicht von Dauer sie vergehen wir sind noch lange nicht auf den Grund unserer Geschichte gekommen
Jochen Kelter kann wie kaum ein anderer poltern, den Finger in die Wunde legen. Er zeigt sich kämpferisch und widerborstig, streitlustig und unversöhnlich. Er wühlt im brutalen Geschehen der Gegenwart, erinnert an Vergangenheiten, von denen andere nur vergessen wollen, rüttelt an unserer Bewegungslosigkeit. Das reisst mitunter an der Seele und zeigt, dass der Dichter sich mit Vielem sprachlich anzulegen weiss und nicht zurückhält, wo andere nur die Stirn in Falten legen.
Jochen Kelter sieht keinen Frieden, wo sich das Grauen offenbart, sei es im Klaren oder im Verborgenen, im Kleinen oder im Grossen. Und doch geht es dem Dichter nicht darum, seinen Weltschmerz auszubreiten. Jochen Kelter ist grosser Stilist, jung und spritzig geblieben in der Art wie er nach der Musik in seiner Sprache sucht. Da ist nichts antiquiert oder verstaubt.
Jochen Kelter „Verwehtes Jahrhundert“, Caracol, 2023, 136 Seiten, CHF ca. 20.90, ISBN 978-3-907296-27-1
Seine Gedichte sind Geschichten. Zsuzsanna Gahse, die den Abend freundschaftlich moderierte, bezeichnete viele seiner Gedichte als Romanminiaturen, Kurztexte, die ganze Geschichten erzählen, eingänglich, mit Schwung und dem untrüglichen Gefühl für die sprachliche Einheit.
Verwehter Traum Wie schnell wir vom Tonband auf CDs und USB-Sticks umgestiegen sind wir haben es nicht einmal bemerkt wie schnell die Menschheit von einem Krieg in den nächsten gestiegen ist wir haben es längst schon vergessen
In meinem Traum stehst du auf einer hellen Wiese mit offenem Haar weißhohem Blusenkragen die spitzen Schuhe ineinander auseinander gekehrt ich spüre du willst mir rückhaltlos gut wir sind eins aus ganzer Seele
Wie schnell wir von der Jugend ins Alter steigen du bleibst mir unendlich jung wie wir von Menschen und Kriegen überholt werden wie von einem Weltsystem zum nächsten Leichtsinn und Leid drehen sich ohne uns um
Und um wir aber bleiben jung und also verschwinden wir nach und nach vor uns selbst bleiben zurück als Schemen derer die wir einmal gewesen sind und also ratlos im Spiegel vor unserem eigenen Angesicht
Dass sich mit Zsuzsanna Gahse und Jochen Kelter zwei Schwergewichte über Dichtung und Wahrheit unterhielten, zwei, die mit diesem Haus ganz tief verbunden sind, garantierte einen vielstimmigen, spannenden Abend.
Postboten Lautlos rollen sie auf ihren Elektrorädern heran vollgepackt vor dem Lenker vollgepackt der Karren hinter ihnen manchmal sehe ich ihre Ankunft durchs Fenster Achmed stammt aus Bagdad am Tigris Karim ist aus dem steinigen Kabul Lejla kam aus dem bergigen Sarajevo ich öffne das Fenster und rufe was gibt’s Neues? Nichts Besonderes was macht das Wetter? Na ja so lala und wie geht es daheim? Ach wie immer – nichts Neues so erleben wir die Fremden der Welt und unsere Kriege vor der eigenen Türe
Jochen Kelter ist 1946 in Köln geboren. Studium der Romanistik und Germanistik in Köln, Aix-en-Provence und Konstanz. Lebt seit 50 Jahren auf der Schweizer Seite des Bodensees in Ermatingen (von 1993 bis 2014 zudem in Paris). Lyriker, Erzähler, Essayist. 1988 bis 2001 war er Präsident des European Writers’ Congress, der Föderation der europäischen Schriftstellerverbände, und von 2002 bis 2010 Präsident der Schweizer Urheberrechtsgesellschaft ProLitteris. Jochen Kelter hat Lyrik aus dem Italienischen, Französischen und Englischen ins Deutsche übersetzt.
Manchmal begegnet einem in der Flut von Büchern und Neuerscheinungen solche, die sich gleich mehrfach aus der Masse erheben. Bücher, die man schon der Texte wegen liebt, die aber als Kunstwerke selbst lange aufgeschlagen liegen bleiben wollen und Raum fordern. Ein solcher Buchmonolith ist dem norwegischen Dichter Tarjei Vesaas gewidmet. Wundervoll!
Einer meiner Freunde, den ich ganz der Literatur verdanke, den ich nur selten sehe und wenn, dann meistens im Zusammenhang mit Literatur, empfahl mir Tarjei Vesaas. Einen Autor, den ich bisher ganz und gar nicht kannte, nicht einmal seinen Namen. Tarjei Vesaas war Norweger und starb vor mehr als einem halben Jahrhundert. Kein Wunder also, dass jemand, der sich fast ausschliesslich mit Gegenwartsliteratur beschäftigt, dem Namen noch nie begegnete. Was für ein Versäumnis!
Und weil ich weiss, wie sorgfältig und ausgesucht dieser Freund liest, war seine Frage, ob ich den Namen Tarjei Vesaas kenne, mehr als eine Frage, sondern eine Aufforderung. Der im deutschen Sprachraum kaum bekannte Autor, dem sich der Guggolz Verlag verdienstvoll angenommen hat, kann in einer schmucken, dreibändigen Box, die im Verlag Kleinheinrich herausgekommen ist, entdeckt werden. Eine überaus schöne Ausgabe mit Schuber und kongenialen Illustrationen des Malers Olav Christopher Jenssen. Ein Band mit Gedichten und zwei Bände mit Erzählungen, durchsetzt mit den Bildern des Malers, eingefasst in gefaltete Umschläge, die für sich selbst schon Augenweide sind.
Was der Verleger und Kunstkenner Josef Kleinheinrich mit den Texten Tarjei Vesaas› und den Bildern Olav Christopher Jenssens gestaltete und herausgab, ist unvergleichbar, eine Buchperle der ganz besonderen Art!
Nimm meine Hand
Gedichte von 1949 bis zu seinem Tod 1970, ausgewählt von Jon Fosse, einem der Grossen in der norwegischen Gegenwartsliteratur, jeweils norwegisch und deutsch einander gegenübergestellt. Tarjei Vesaas geht es in seinen Naturgedichten nicht um den romantisch verklärenden Blick. Seine Lyrik ist glasklar und zeigt die tiefe Verbundenheit des Autors mit der Natur, seiner Herkunft und den Menschen, die darin leben. Die Liebe zu einem Leben, das sich der Hektik der Städte und Zentren entgegenstellt. Filigrane Beobachtungen, Selbstbefragungen, Bilder, die dunkle Tiefe ausstrahlen.
Boot am Abend
Erzählungen, Erinnerungen, Begegnungen, ob mit der Natur oder mit Menschen – stets stark reflektierend, zu lesen, als wären es Meditationen eines Mannes, der sich auf das Kleine, Feine, Fluide, Zarte zurückzieht, der allem entfliehen will, das ihn in seiner Selbst- und Fremdwahrnehmung ablenkt und stört. Die Texte lesen sich seltsam fremd und fast ein bisschen hölzern. Eine ganz eigene Sprache, archaisch mit starken Farben, kurzen Sätzen, als hätte der Autor seine Empfindung in Jetztzeit notiert – unmittelbar.
Der wilde Reiter
Erinnerungen an das bäuerliche Leben, kleine und grosse Dramen in Familie und Arbeit. Tarjei Vesaas erzählt mit viel Empathie ganz nah an seinen ProtagonistInnen und öffnet vor mir als Leser der Gegenwart ein Tor in eine Vergangenheit, die weit weg erscheint, das Leben unmittelbar war und nichts von den Wichtigkeiten eines wahrhaftigen Lebens ablenkte.
Tarjei Vesaas «Boot am Abend. Nimm meine Hand. Der wilde Reiter», Kleinheinrich, 2022, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, ausgewählt vom norwegischen Autor Jon Fosse, alle 3 Bände illustriert mit zahlreichen Bildern des norwegischen Künstlers Olav Christopher Jenssen, 3 Bände in einer Kassette, Format je Band 24 x 16 cm, 214 Seiten, 136 Seiten, 190 Seiten, CHF ca. 117.90, ISBN 978-3-945237-59-5
Tarjei Vesaas (1897–1970) war der älteste Sohn eines Bauern in Vinje/Telemark, dessen Familie seit 300 Jahren im selben Haus lebte. Vesaas wusste früh, dass er Schriftsteller werden wollte, verweigerte die traditionsgemässe Übernahme des Hofes und bereiste in den 1920er und 1930er Jahren Europa. 1934 heiratete er die Lyrikerin Halldis Moren und liess sich bis zu seinem Tod 1970 in der Heimatgemeinde Vinje auf dem nahe gelegenen Hof Midtbø nieder. Vesaas verfasste Gedichte, Dramen, Kurzprosa und Romane, die ihm internationalen Ruhm einbrachten. Er schrieb seine Romane auf Nynorsk, der norwegischen Sprache, die – anders als Bokmål, das »Buch-Norwegisch« – auf westnorwegischen Dialekten basiert. Abseits der Grossstädte schuf Vesaas ein dennoch hochmodernes, lyrisch-präzise verknapptes Werk mit rätselhaft-symbolistischen Zügen, für das er mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Als seine grössten Meisterwerke gelten »Das Eis-Schloss«, für das er 1964 den Preis des Nordischen Rats erhielt, und »Die Vögel«, das Karl-Ove Knausgård als »besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde« bezeichnete.
Hinrich Schmidt-Henkel (1959) übersetzt Belletristik, Theaterstücke und Lyrik aus dem Norwegischen, Französischen und Italienischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören Jon Fosse, Kjell Askildsen, Jean Echenoz, Édouard Louis und Louis-Ferdinand Céline.
Olav Christopher Jenssen (1954) ist ein norwegischer bildender Künstler und Professor an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Jenssen und zählt zu den renommiertesten Künstlern skandinavischer Herkunft. Seine Arbeiten werden seit den 1980er Jahren weltweit gezeigt.
Dr. Josef Kleinheinrich, geboren 1953 in Harsewinkel, studierte Skandinavistik, Germanistik und Philoso- phie. Seit der Verlagsgründung im Jahr 1986 hat er rund 130 Titel veröffentlicht. Seine Buchkunst zeigte Kleinheinrich in zahlreichen Ausstellungen ausserhalb des Oer’schen Hofs, darunter im Westfälischen Kunstverein in Münster und im Stedelijk Museum in Amsterdam. Mehrmals zeichnete ihn die Königlich Schwedische Akademie aus, 2019 erhielt er den Deutschen Verlagspreis.