Martin Prinz «Die unsichtbaren Seiten», Insel

Nichts am Roman «Die unsichtbaren Seiten» ist spektakulär. Aber genau das ist das Spektakuläre am zweiten Roman des Österreichers Martin Prinz. Mit dem Tod seines Grossvaters, einer prägenden Figur in seinem Leben, spürt er seiner Vergangenheit nach, den Generationen vor ihm, der Frage, wie und warum man der geworden ist, der man ist. Es ist die Behutsamkeit seines Schreibens, die Unmittelbarkeit ohne einen Anflug von Exhibitionismus, die Klarheit der Linien, die wunderbar überzeugen.

Wer «Die unsichtbaren Seiten» liest, dem verschliesst sich nicht, dass sich alles an diesem Roman klar verorten lässt. Lilienfeld liegt südlich von St. Pölten, nicht weit von Wien. Ein kleiner Ort, in dem jeder jeden kennt, in dem sich die Strukturen, nicht zuletzt die politischen, bis in die Gegenwart scheinbar klar und eindeutig zeigen. Nach dem Krieg wird dort der Grossvater des Erzählenden Bürgermeister, der «König von Lilienfeld» und amtet fast drei Jahrzehnte.

Als der Grossvater stirbt und ein Haus voller Erinnerungen zurücklässt, streift der Enkel durch das leere Haus und fängt die Stimmen ein, die von überall her, aus allen Dingen und Gegenständen, vor allem aus Fotografien zu ihm sprechen. Fragen, die jedem mehr oder weniger gestellt werden, der sich nach dem Sterben eines Verwandten an den Nachlass machen muss, um das zu retten, was einst wichtig war und nun droht, entsorgt zu werden. Stimmen, die Geschichten erzählen und verschwinden, wenn die Erinnerung an den Verstorbenen zu verblassen droht.

«Die unsichtbaren Seiten» ist keine Abrechnung, da wird nichts aufgedeckt, niedergerissen oder durchleuchtet. Martin Prinz zeichnet unaufgeregt mit der perfekten Mischung aus Distanz und Nähe. Selbst jene Verwandten, die der Erzählende nie wirklich durchschaut, die ihm fremd, auf Distanz bleiben, schildert er mit derart feiner Wahrnehmung, dass aus Distanz Respekt, Liebe wird. Und weil nichts im Erzählstrom aufwirbelt, bleibt der Blick des Lesenden klar, stets vom Geschehen mitgerissen, von der Sprache fasziniert.

Martin Prinz erzählt von jenem Moment an, wo der Erzählende die Welt als solche erkennt. Der erste Teil des Romans ist die langsame Eroberung der Welt eines kleinen Jungen. Er spürt Menschen, ihren Verbindungen, den Ausstrahlungen, den Häusern und Orten nach, sieht zu Beginn mit den Augen eines Kindes. Er sinniert im Verlaufe des Romans immer mehr über die Veränderungen im Grossen und im Kleinen. Er leuchtet einen Ort, ein Geflecht aus, das sich im Laufe der Zeit immer mehr vom Lebensort zum Schlafort wandelt, in dem alles zu verschwinden droht, was Leben und Gemeinschaft über die eigenen Hausmauern hinaus ausmachte. Man spürt Heimweh, die Nähe und Unmittelbarkeit verloren zu haben, jenes kindliche Aufgehobensein ohne Deutungszwang. Die Erinnerung an Geräusche und Gerüche, die ihre entsprechenden Bilder verloren haben. An eine Zeit, in der man sich nicht mit Hobbys vor der Langeweile schützen musste, in der Arbeit Leben bedeutete und Leben Arbeit.

«Die unsichtbaren Seiten» erzählt von den unsichtbaren Seiten. Ein Buch, das sich am literarischen Himmel diametral von Krimis und emotionsgeladener Action unterscheidet. Einem Stück Literaturhimmel, in dem es sehr ruhig geworden ist. Es beschreibt, was sonst schnell nicht der Rede wert ist, schon gar kein Buch. «Die unsichtbaren Seiten» ist eine Liebeserklärung an das Leben und all jene, ohne die man niemals der geworden wäre, der man ist!

© Lukas Beck

Martin Prinz, geboren 1973, aufgewachsen in Lilienfeld (Niederösterreich), studierte Theaterwissenschaft und Germanistik und lebt als Schriftsteller in Wien.

Martin Prinz liest.

Beitragsfoto © Sandra Kottonau

Hanna Sukare «Schwedenreiter», Otto Müller Verlag

In der Schule lernen wir, dass der 2. Weltkrieg im Mai 1945 endete. Was für ein Irrtum! Paul Schwedenreiter ist Brückenmeister, prüft Risse und statische Veränderungen in Brücken. Was sich seiner Kontrolle entzieht, sind die Auswirkungen einer Chronik, die über 60 Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs Wehrmachtsdeserteure und ihre Helferinnen zur Landplage erklären, geschrieben vom angeblichen Retter des Dorfes, einem ehemaligen SS-Mann.

Paul besitzt eine Haus in Hinterstumpf im Salzburgischen Innergebirge. Das Haus seiner Grossmutter, bei der er nach dem Tod seiner Mutter, die er nur von Bildern kennt, aufgewachsen ist. Sein Grossvater wurde an der Front als Wehrmachtssoldat verwundet und weigerte sich, sich nach einem Urlaub wieder zurückzumelden. Er versteckte sich mit anderen in den Bergen, was zu Folge hatte, dass in einer militärischen Aktion viele dieser Deserteure in den Bergen geschnappt, gefoltert und getötet wurden, genauso jene, denen man vorwarf, die Deserteure mit Lebensmitteln und anderem unterstützt zu haben. Seine Grossmutter Rosa wurde verschleppt, in eine Konzentrationslager unweit von Berlin deportiert und nach dem Krieg als Gebrandmarkte zurück in ihr Dorf gelassen, für Jahre ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, von Almosen abhängig, während die ehemaligen Nazigrössen nach dem Krieg amnestiert wieder in ihre Ämter und Funktionen zurückkehrten.

Paul lebt immer wieder für Tage im Haus seiner verstorbenen Grossmutter, auch wenn er seinen Wohnsitz längst in der Hauptstadt hat. Aber seit dem Tod seiner Frau Meret ist er ein Dortiger überall, kein Hiesiger in Stumpf, jenem Ort, in dem er die ersten achtzehn Jahre seiner Lebens bei seinen Grosseltern verbrachte und kein Hiesiger in Wien, wo er Meret verloren hatte. Und nun raubt ihm eine Chronik, die die Ortsgeschichte dokumentieren sollte, das letzte Gefühl von Verankerung, setzt durch Aussagen einer ehemaligen Nazigrösse, die es nach dem Krieg geschafft hatte, wie Phönix aus der Asche zu steigen, die Jahre des Krieges und die Geschehnisse im Ort in ein Licht zu drehen, dass der Wahrheit nicht entspricht, den Anstrengungen der kollektiven Verdrängung aber Genüge tut.

Seine Grossmutter wurde alt, ohne je eine Entschuldigung von offizieller Seite zu erhalten und Felician, sein Grossvater desertierte und überlebte die Nazizeit und schämte sich dafür ein Leben lang. «Geschämt fürs Desertieren, geschämt für Überleben, geschämt fürs AufderWeltSein.» Paul schreibt ein Totenbuch als Gegenbuch zur Dorfchronik, ein Buch, dass all jenen gedenken soll, die zwischen die Mühlen einer Geschichte kamen, die sich nach dem Krieg nicht um Aufarbeitung scherte, sondern der es darum ging, möglichst schnell den Schrecken vergessen zu machen. Im Laufe Pauls Recherchen, die ihn immer weiter wegzutragen drohen, gerät er jenem Mann, den er nur «den Gebirgsjäger» nennt, so nahe, wie er gar nicht will und droht jene zu verlieren, denen er sich eigentlich nahe fühlt. «Der Gebirgsjäger», Lehrer, Jäger und Soldat, kriegsversehrt zurückgekehrt, um wieder Lehrer und Jäger zu sein, mit blütenweisser Weste.

Mit der Stimme Pauls gerät Hanna Sukare in unmittelbare Nähe vertuschter Kriegsverbrechen, auch solcher, die erst nach dem Krieg in der jungen Österreichischen Republik stattgefunden haben, unter dem Deckmantel der Versöhnung, erneut Verbrechen an der Wahrheit. Eine Nähe, die schmerzt, selbst mich als Leser. Der Schmerz von Paul, der unauslöschlich bleibt angesichts des Leids, dem jene Deserteure und ihre Unterstützer, die für ihre Form des Widerstands teuer bezahlten, ein Leben lang zu tragen hatten, ganz im Gegensatz zu jenen, die Verursacher und Täter waren.

Was zur Chronik wird, wird zur unreflektierten Wahrheit, stösst in Abgründe, was damit zu vergessen droht. Chroniken werden zu Gedenksteinen in Papier, bleischwer und triefender Wahrhaftigkeit.

Die Lektüre von «Schwedenreiter» hat mich tief bewegt, auch wenn sich das Buch manchmal wie ein Sachbuch liest. Aber vielleicht ist genau dieses Stilmittel nötig, um sich vom scheinbaren Nachkriegsfrieden zu distanzieren. «Schwedenreiter» ist ein wichtiges Buch, ein Buch das wachrüttelt und exemplarisch zeigt, wie Geschichte mit Wahrheit umgeht.

5 Fragen an Hanna Sukare:

In der Schule lernt man, dass der 2. Weltkrieg im Mai 1945 zu Ende war. Ihr Buch macht sich daran, mit vielen Irrtümern aufzuräumen. Auch mit dem, dass ein Krieg einfach zu Ende ist. So wie die Bewegung, als die sich der Nationalsozialismus bezeichnete, für jeden sichtbar, noch lange nicht an seinem Ende ist. Ist ihr Buch ein Buch gegen die Angst?

«Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt. Das Unerhörte ist alltäglich geworden», schrieb 1952 Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht Alle Tage. Leider gewinnen Bachmanns Worte nicht nur in Österreich an Aktualität.

Paul Schwedenreiter, die Hauptfigur des Romans, beginnt seine Suche, weil er die Vorgänge in seinem Heimatdorf nicht länger hinnehmen kann. Er will verstehen, will Gerechtigkeit. Im Laufe der Suche kommt Schwedenreiter der Verzweiflung nahe und der Angst. Sein mulmiges Gefühl verstärkt sich, als er begreift, dass die schlampige Entnazifizierung nicht nur sein Dorf betrifft, sondern zur Kinderstube der zweiten österreichischen Republik gehört.

Beim Schreiben stand die Frage der Angst nicht im Vordergrund. Gleichwohl lässt sich aus dem Text lesen, dass Angst lebenserhaltender sein kann als Heldenmut.

Sie beschreiben ein Dorf, dass sich selbst eine Chronik schenkt und unter vielen Kapiteln auch die Zeit während des Zweiten Weltkriegs beschreibt. Dabei kommen ausgerechnet jene zu Wort, die damals für viel Schrecken verantwortlich waren und es in den Nachkriegsjahren vortrefflich verstanden, sich durch „Kameradschaft“ und pro-forma-Entnazifizierung eine weisse Weste zurückzukaufen. Was war zu Beginn ihres Buches; der Schmerz über ein Land, dass sich nur zögerlich seiner Vergangenheit stellt oder die tatsächliche Geschichte?

2016 bat mich die Salzburger Literaturzeitschrift Salz um einen Beitrag zu ihrem Heft «Geschichte erzählen». Ich hatte kurz zuvor ein Interview mit dem Sohn eines der Wehrmachtsdeserteure aus dem Innergebirge gelesen. Aufgrund seines Berichts schrieb ich den kurzen Text «Zwischen zwei Sätzen.» (Salz. Zeitschrift für Literatur Jahrgang 41/III, Heft 163, März 2016).

Damals wusste ich noch nicht, dass dieser Text der Kern meines neuen Romans werden würde. Ich lernte dann Nachkommen der Deserteure kennen. Ihre Vorfahren sind im Innergebirge nach wie vor übel beleumdet, und dort erfüllen manche Orten weiterhin den Wunsch des Naziregimes, dessen Gegnern einen Grabstein bzw. einen Gedenkstein zu verweigern. Diese Haltung des Kollektivs belastet oder entzweit bis heute die Familien, aus denen die Deserteure kamen.

Selbst nach der Rehabilitierung aller von der NS-Militärjustiz Verfolgten – und dazu zählen die Deserteure – durch ein österreichisches Bundesgesetz im Jahr 2009, blieb im Innergebirge alles beim Alten.

Paul Schwedenreiter, sagt an einer Stelle: „Ich warte nicht länger. Ich bin der Enkel eines Deserteurs. Ich ertrage nicht, wie diese Ortschronik fort und fort den Ruf meines Großvaters und meiner Urgroßmutter schädigt.“

Sie schaffen die Balance zwischen Nähe und Distanz in ganz besonderer Weise. Zum einen erzählen sie die Geschichte jenes Mannes, der zwischen dem Schmerz um den Tod seiner Frau und dem seiner erlöschenden Vergangenheit pendelt, zum andern tauchen sie ein in Recherchearbeit, die aufzeigt, wie vernebelnd, irreführend und entmutigend diese sein kann. Was passierte mit ihnen während des Schreibens?

Paul Schwedenreiter erzählt in verschiedenen Situationen, wie es ihm während der Recherchen ergangen ist. Seine diesbezüglichen Erfahrungen sind mir nicht fremd.

Im Verlaufe der Lektüre stieg immer mehr die Lust, das Gelesene an Fakten anzubinden, ist das Vertuschen und Beschönigen von Fakten und Geschichte ja ein wesentlicher Bestandteil ihres Romans, der hart an der Grenze zum Sachbuch schrammt. Ich suchte im Internet und fand die Geschichte um den Gedenkstein zur Erinnerung an die Goldegger Deserteure. Zu offensichtlich scheinen die Parallelen zu ihrem Roman. Warum die Fiktionalisierung?

Für mich stellte sich während des Schreibens eher die Frage, warum nicht der gesamte Text fiktionalisiert sein kann. Im «Schwedenreiter» prallen Fiktion und Realität aufeinander.

Den zunächst Gebirgsjäger und später bei seinem Namen Genannten, hochrangiger SS-Mann und einstiger Adjutant des Salzburger Gauleiters, habe ich nicht erfunden. Alles, was ich über ihn weiß, weiß ich aus Akten und Dokumenten, die in Archiven öffentlich zugänglich sind.

Die erfundene Figur Schwedenreiter untersucht die Laufbahn des Gebirgsjägers, als wäre der ein Stück Holz, dessen Alter und Herkunft Schwedenreiter bestimmen wollte. Dies hat zwei Gründe. Zum einen lässt die Gemeinde Stumpf diesen Gebirgsjäger in ihrer Chronik als Gewährsmann gegen die Deserteure des Ortes auftreten. Er verbreitet in der Chronik Halbwahrheiten und Gerüchte, denen Schwedenreiter nur durch größtmögliche Dokumententreue und Genauigkeit entgegentreten zu können glaubt.

Ebenso gewichtig ist Schwedenreiters Weigerung, sich einen SS-Mann innerlich nahe kommen zu lassen. Schwedenreiter schützt sich mit den Dokumenten, er will von den persönlichen Mängeln und Vorzügen des Gebirgsjägers nichts wissen. In einem Moment bricht diese Distanz. Da verbietet sich Schwedenreiter sofort das Fortspinnen seines Gedankens. Schwedenreiter verweigert dem Gebirgsjäger bewusst die Beseelung, von der Thomas Mann meinte, sie müsse dem Dichter alles bedeuten. Was ist Beseelung? Die subjektive Vertiefung des Abbildes einer Wirklichkeit, sagt Mann.

Dieser bewusste Verzicht auf Beseelung war ein Experiment, das ich nicht wiederholen werde. Es verursacht eine seelische Verkühlung, als hantiere man mit einem Leichnam.

Die Frage der Namensnennung beschäftigt Schwedenreiter von Beginn an. Er sagt: „Die Ortschronik ist ein Pranger. Würde mein Bericht die Namen nennen, errichtete ich einen Gegenpranger. Namen werde ich nur dort nennen, wo sich mein Bericht von Pinz, Stumpf und Hinterstumpf entfernt.“ Spät erst findet Schwedenreiter den Grund, warum er den Namen des Gebirgsjägers nennen kann.

Den Namen des Ortes zu nennen, der den SS-Mann zu dem Gewährsmann gegen die Deserteure macht, erscheint Schwedenreiter nicht notwendig. Er nennt den Ort der Handlung Stumpf. Was sich dort ereignet hat, könnte ebenso in einem anderen österreichischen Dorf geschehen sein.

Jene Gemeinde des Salzburger Innergebirges, in der sich ähnliche Ereignisse zugetragen haben, wird sich in meinem Roman womöglich gespiegelt sehen. Dagegen habe ich nichts einzuwenden. Der «Schwedenreiter» gibt dieser Gemeinde die Chance, ihre Geschichte neu anzuschauen.

Ich war ziemlich erstaunt, als mich der Kulturverein der Gemeinde Goldegg für den 13. September 2018 zur Erstpräsentation des «Schwedenreiters» eingeladen hat. In der Ankündigung der Veranstaltung heißt es: «Die Gemeinde Goldegg wird – unter der Einbeziehung der umfangreichen Recherchen von Hanna Sukare – ihr Ortschronik zu diesem dunklen Kapitel seiner jüngeren Geschichte wissenschaftlich neu bearbeiten lassen.»

Ein erfreuliches Versprechen. Ich werde es ernst nehmen, sobald die überarbeitete Ortschronik vorliegt.

Ihr Buch kratzt an offenen Wunden. Durch persönliche Bindungen zu Südkärnten weiss ich, wie lange und hartnäckig Jahrzehnte alte Verwundungen auf allen möglichen und unmöglichen Seiten weiterleben und motten, wieviel Zorn, Ablehnung, Hass und Widerstand sie noch immer mobilisieren können. Auch in der Schweiz wehrt man sich trotz Bergier-Bericht für eine Schweiz, die sich während des Zweiten Weltkriegs angeblich nobel und neutral verhielt. Schon in ihrem ersten Roman „Staubzunge“ nahmen sie sich einem Stück dunkler Geschichte an. Woran glauben Sie?

Die Gnade des Glaubens ist mir nicht gegeben, ich bin auf Erfahrungswissen angwiesen.

Ich hatte das Privileg, zu Friedenszeiten in westlichen Demokratien aufzuwachsen. Aus solch privilegiertem Leben entstand die Erfahrung, Worte können Stummes, Dunkles, Bedrückendes, Trennendes erlösen, Worte können Hass nicht nur säen, sondern auch überwinden. Wer in einer Diktatur aufwächst, macht vermutlich die gegenteilige Erfahrung und sagt sich: Schweigen ist Gold.

Und schließlich leuchtet nach wie vor «der armselige Stern der Hoffnung über dem Herzen», wie Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht «Alle Tage» 1952 schrieb.

Vielen Dank!

Hanna Sukare, geboren 1957 in Freiburg (i.Br.). Studierte Germanistik, Rechtswissenschaften, Ethnologie. 1991/92 Forschungsaufenthalt in Lissabon. Hanna Sukare war unter anderem als Journalistin, Redakteurin (Falter, Institut für Kulturstudien) und Wissenschaftslektorin tätig und beschäftigte sich in wissenschaftlichen Studien mit dem gesellschaftlichen Fundus des Fremden.  Hanna Sukare gewann mit ihrem Debütroman «Staubzunge» den Rauriser Literaturpreis 2016 (Bilder im Interview) für die beste Prosa-Erstveröffentlichung in deutscher Sprache.

Rezension von «Staubzunge» auf literaturblatt.ch

Beitragsfoto © Sandra Kottonau

Heinrich Steinfest «Die Büglerin», Piper

Was bestimmt die Wendungen eines Lebens? Gibt es eine zweite Chance? Wann werden Bindungen zu Fesseln? Heinrich Steinfels hat einen berührenden und faszinierenden Roman geschrieben, in dem er sich ohne philosophischen Exkurse mit grossen Fragen beschäftigt. „Die Büglerin“ ist die Geschichte einer Frau, die sich die Konsequenz zur Strafe erklärt, die einen einzigen Satz zu ihrem Leben macht.

Tonia bestraft sich mit dem Leben, das sie führt. Sie ist Büglerin. Ihr Beruf aber ist nicht die Folge einer Notwendigkeit oder weil es keine Alternativen gab. Sie will nicht nur die Kleidungsstücke fremder Menschen glätten, sondern hofft, durch ihr Tun irgendwann jenes undurchsichtige Geschehen zu glätten, dass sie wie einen Alp mit sich trägt. Die Frau von edler, fast nonnenhafter Erscheinung, die im Souterrain wohnt, alle Verbindungen zu ihrem alten Leben mehrfach kappte, still für sich in fremden Haushalten bügelt und sich davor hütet, Menschen zu nahe zu kommen, kam weit weg, mitten auf dem Meer, irgendwo vor der Chilenischen Küste zur Welt, in der Kajüte der Yacht ihrer Eltern, zweier Wissenschaftler, die durch Zufall und Glück zu Geld gekommen waren, viel Geld.

Tonia war ein Kind des Meeres, bis zum ersten grossen Bruch in ihrem Leben. Nachdem sie acht Jahre in einem italienischen Internat in Genua die Schule besuchen musste, erreicht sie mit vierzehn die Nachricht, dass ihre Eltern bei einem Sturm ihr Leben verloren. Eine Mitteilung, bei der nur sie weiss, wie sehr der Alkoholkonsum ihrer Eltern eine Rolle gespielt haben muss.

Tonia wird Meeresbiologin, lebt in einer grossen Villa in Wien zusammen mit ihrer Halbschwester, von der sie erst erfährt, als es um das Erbe ihrer Eltern geht und passt auf auf ihre Nichte Emilie, für die weder Schwager noch Halbschwester Zeit aufbringen wollen.

So klein die Welt auf einem Schiff, so begrenzt in einem Internat, so konzentriert die Wissenschaft auf einen Stoff, so klein ist Tonias Umfeld, trotz der Weite des Meeres und des Himmels, der Unendlichkeit in der Beschäftigung mit Meeresbiologie und der Grazie ihrer Erscheinung.

Bis der zweite, noch viel grössere Bruch in ihrem Leben alles verändert, das feinmaschige Gravitationsfeld ihres Lebens vollständig zerstört und sie sich selbst zum Verschwinden bringt. Sie taucht nach Hamburg ab, wirft allen Besitz „weg“ und beginnt ihre Strafe als Büglerin ohne Bedürfnisse, ein Leben lang dafür aussitzend, im richtigen Moment nicht das Richtige getan zu haben, in der Hoffnung, irgendwann jene Rätsel zu lösen, die ihr die Erklärung dafür geben, was damals passierte.

Obwohl Heinrich Steinfels ein preisgekrönter Krimiautor ist, ist „Die Büglerin“ kein Krimi, trotz der fatalen Schüsse in einem Kino, wo auf der Leinwand Tom Cruise die Welt als Ethan Hunt rettet. Heinrich Steinfels zeichnet das Leben einer Frau, das aus den Fugen gerät, die auf die Hoffnung setzt, irgendwann wenn auch nicht das Gleichgewicht wiederzufinden, so doch zumindest ihre auf sich genommene Schuld begleichen kann.

Heinrich Steinfels erzählt witzig und vielschichtig, episch und kurzweilig, rasant und detailversessen. Er zeichnet seine Figuren fast akribisch, weil er nicht ihr Aussehen, sondern ihre Wirkung beschreibt, ihr Tun und Handeln, ihre Leidenschaften und verborgensten Geheimnisse. „Die Büglerin“ ist ein Roman, der mich eintauchen lässt und packt. Kein Wunder wurde Heinrich Steinfels schon mehrfach für den Deutschen Buchpreis nominiert!

© Burkhard Riegels

Heinrich Steinfest wurde 1961 geboren. Albury, Wien, Stuttgart – das sind die Lebensstationen des erklärten Nesthockers und preisgekrönten Autors, welcher den einarmigen Detektiv Cheng erfand. Er wurde mehrfach mit dem Deutschen Krimi Preis ausgezeichnet, erhielt 2009 den Stuttgarter Krimipreis und den Heimito-von-Doderer-Literaturpreis. Bereits zweimal wurde Heinrich Steinfest für den Deutschen Buchpreis nominiert: 2006 mit «Ein dickes Fell»; 2014 stand er mit «Der Allesforscher» auf der Shortlist. 2016 erhielt er den Bayerischen Buchpreis für «Das Leben und Sterben der Flugzeuge».

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Mark Thompson «El Greco und ich», mare

Sommer 1968. J. J. ist 11. Es wird ein ganz besonderer Sommer. Ein Sommer mit seinem Freud El Greco und der Gewissheit, dass das Leben als Kind ein schnelles Ende haben kann. Ein Sommer, der mit einem grossen Feuer beginnt und an Thanksgiving mit schmerzender Einsamkeit endet. Ein sommerlicher Roadtripp mit J. J.s Vater, dorthin wo der Ort aller Sehsüchte ist. «El Greco und ich» ist ein wunderbarer Roman über die Kraft der Freundschaft und die Ernüchterungen beim Erwachen aus der Kindheit.

«Wohin gehen wir?» «Das wirst du schon sehen.» 

El Greco ist mit seinen elf Jahren eine wandelnde Enzyklopädie. Einer, der mit aller Selbstverständlichkeit die New York Times und die Washington Post liest und auf alles eine Antwort zu haben scheint, ohne altklug zu sein. Aber für Tony «El Greco» Papadakis ist auch klar, dass ein Leben eine grosse Prüfung birgt, eine Aufgabe, die zu bestehen ist. Mehr als ein Schmerz, ein Beinbruch oder Probleme in der Schule. Aus J. J.s Sicht wäre schon El Greco Vater Probe genug. Ein Mann, der immer wieder abtaucht, nie da ist, wenn man ihn braucht und zu einem Monster werden kann, wenn er zuhause ist. Aber El Greco hatte ein klares und deutliches Gefühl von sich und seinem Schicksal vor Augen; er wusste, wohin er ging, beziehungsweise wohin das Leben und das Schicksal ihn führten. 

Auch J. J.s Mutter unterscheidet sich in fast allem von Tonys, El Grecos Mutter. Während Mrs. Papadakis geheimnisvoll bleibt, mühelos hin -und herwechseln kann zwischen angestrengter Mutter und erotisierender Femme fatal, taucht J. J.s Mutter ab in tiefe Löcher, sitzt da, sich selbst und alles andere vergessend. J. J.s Schwester Lauren ist schon alt, achtzehn, und sein älterer Bruder ein erbarmungsloser Kotzbrocken. Kein Wunder ist die Freundschaft zu El Greco Sinnbild für Beständigkeit, Sicherheit und Halt. J. J. und El Greco sind Blutsbrüder. Nicht nur durch ein Versprechen untrennbar miteinander verbunden, sondern durch all die wilden Taten, die Spuren aus Rauch und Asche, die sie hinter sich herziehen.

Bis beim Geburtstag und in den Wochen danach alles, aber auch wirklich alles aus den Fugen zu geraten scheint. J. J. wünscht sich von seinen Eltern nur eine Schallplatte, das Album Big Hits (High Tide and Green Grass) von den Rolling Stones. Kein Fahrrad, aber dafür diese eine Platte. Aber sein religiöser Vater kauft ihm «Country Fever» von Rick Nelson. Die Verkörperung dessen, was J. J. hasst. Und kurz danach kommt ein Anruf von der Familie Papadakis. El Greco sei im Spital – Leukämie. Während sich niemand traut, J. J. vom wahren Ausmass dieser Krankheit zu erzählen, spürt dieser genau, dass nichts mehr ist, wie es einmal war. Der einzige, der ihm in diesen Tagen wirklich beisteht, ist weder Mutter noch Vater, sondern ein alter Nachbar, der in einem verwahrlosten Haus wohnt und sein Geld als Sargträger verdient. Old Man Taylor, der auf seiner halb verfallenen Veranda sitzt und auf seinem Stuhl gemächlich hin- und herschaukelt. Er ist der einzige, der auf die Fragen des Jungen ohne Ausflüchte und Schummeleien antwortet, der zuerst zuhört, bevor er spricht. Ein Mann, dem alles genommen wurde, der nichts mehr zu verlieren hat.

«El Greco und ich» ist die Geschichte über «die Vertreibung aus dem Paradies». Über einen Elfjährigen, der in einem einzigen Sommer eine Welt verstehen soll, die das Böse zu belohnen scheint und die Guten bestraft. Selbst der Versuch von J. J.s Vater, die beiden mit einer Autofahrt an den Pazifik aus ihrer Erstarrung zu lösen, wiegt den Schmerz nicht auf, dass etwas zu Ende geht, von dem man glaubte, es wäre das Leben. Die USA beben in diesen Jahren in Unruhen und grassierendem Rassismus. Im Sommer 1967 sterben bei Rassenunruhen in Detroit 43 Menschen und über 1000 werden verletzt. Im Frühling 1968 stirbt der schwarze Friedensnobelpreisträger Martin Luther King durch die Kugel eines weissen Kleinkriminellen. «El Greco und ich» beschreibt die Wellen, die innere und äussere Beben auslösen und wie lange sie nachhallen. Ein starkes Buch, ein starkes Debüt von einem Mann, von dem man sich mehr erhofft.

Mark Thompson, 1958 geboren und aufgewachsen in Stockton-on-Tees, studierte Politikwissenschaft an der London Guildhall University, hat viele Jahre in Spanien gelebt, intensiv die USA bereist und spielt Gitarre in einer Rockband. «El Greco und ich» ist sein erster Roman. Mark Thompson lebt mit seiner Familie in York.

Die Übersetzerin Katja Scholtz, geboren 1971, studierte englische und deutsche Literatur- und Sprachwissenschaft in Freiburg, Aberdeen und Bonn. Sie lebt und arbeitet in Hamburg und übersetzte u.a. Werke von Gabriel Josipovici, Mary Lavin und Julie Otsuka ins Deutsche. Für ihre Übersetzung von «Wovon wir träumten» wurde sie 2014 gemeinsam mit der Autorin Julie Otsuka mit dem Albatros-Literaturpreis der Günter-Grass-Stiftung ausgezeichnet.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Monika Maron «Munin oder Chaos im Kopf», S. Fischer

Mina Wolf lebt allein in einer Wohnung über der Strasse und hat einen Vogel. Eine Krähe. Zuerst frass sie bloss das Fleisch vom belegten Brot, später lockte Mina den Vogel mit Leckereien in ihr Wohnzimmer, wo er sie nun zuweilen besucht und mit ihr spricht. Nur mit ihr, auch nicht mit ihrer Freundin Rosa. Gespräche über alles andere als Banalitäten. Wie es die Menschen schaffen, sich nicht mehr vor sich selbst retten zu können, sich als das Mass aller Dinge zu nehmen und zu vergessen, dass man einst überzeugt war, den Tieren ebenso viel Gottähnliches zuzutrauen wie den Zwischenwesen und den Menschen. 

Mina Wolf hat Fragen genug, denn sie ist allein, Journalistin und Gelegenheitstexterin. Allein mit einer Arbeit über den Dreissigjährigen Krieg, der zwischen den Jahren 1628 und 1648 fast die Hälfte der betroffenen Bevölkerung direkt oder indirekt dahinraffte, mit der Festschrift einer Kleinstadt, mit der profanes Geld in die Kasse fliessen soll, den Schreckensmeldungen aus der Presse und dem akustischen Terror in ihrer Nachbarschaft.

Da sind eine Frau, die mit krächzender Stimme und schamlos falscher Intonation einen ganzen Strassenzug von ihrem Balkon aus beglücken will und nicht versteht, dass man ihr nicht dankbar entgegenklatscht, aufgeschlitzte Autoreifen, eine fast vergewaltigte Frau und ein erstochener Hund und immer mehr schwarz, rot, goldene Fahnen, zuerst nur am Taxi des wütenden Fahrers, dann immer mehr.

Mina zieht sich in die Nacht zurück, um die Ruhe zu finden, die sie braucht, um an ihrer Schrift arbeiten zu können und wartet aus Munin, die Krähe, der sie den Namen einer der beiden Raben des germanischen Gottvaters Odin gibt. Hineingestossen von der Brutalität eines eine ganze Generation dauernden Krieges, dessen Schicksale und all dem, was in die offenen Türen ihres sonst stillen Lebens einbricht, breitet sich Chaos im Kopf aus.

„Ich weiss es nicht, vielleicht weil ihr so geheimnisvoll seid. Weil ihr diese Augen habt, so dunkel und unergründlich wie der Äther. Vor allem, weil ihr immer und überall über uns hockt wie ewige Zeugen.“

Monika Marons Roman mischte die ihr sonst so zugewandte Kritik mächtig auf, weil der Roman und seine Rezeption beweist, wie schwierig es ist, Inhalt und Autorin voneinander zu trennen. Wenn im Text Ängste mitschwingen, Ängste vor dem Islam zum Beispiel, ist das Geschrei unzimperlich und die Debatte darüber unverhältnismässig. Monika Maron schrieb ein Buch. Die Frau im Buch heisst Mina Wolf, eine einsame Wölfin in der Angst, die Welt immer mehr dem Chaos übergeben zu müssen. Und so spiegelt sich das Chaos in ihrem Kopf.

Die Krähe sagt zu Mina: „Du traust dich nicht zu sagen, was du denkst.“ Monika Maron traut sich zu sagen, was man denken kann. Was gedacht wird. Was in vielen Ängsten steckt. Sie stellt Fragen und debattiert mit einem Göttervogel, der ihr die Stirn zu bieten weiss. Fragen über Krieg, Überalterung, über die Dynamik einer Zusammenrottung und die Unfähigkeit aus Fehlern wirklich zu lernen. Mit einem Mal brennt der Spiegel des Weltgeschehens ein grosses Loch in den Quartierfrieden ihrer Stadt.

Monika Maron wagt es, erstaunlich mutige Fragen zu stellen, und setzt sich mit deren Antworten aus den Figuren ihres Romans in Nesseln, weil wir keinen Platz mehr haben für pointierte, unausgewogene, kompromisslose Antworten, die sich nicht als Meinung verstehen, auch nicht als wahrheitsgebende Betrachtung in einer Welt, die an Harmoniesucht zu ersticken droht. Monika Maron ist eine Seismographin!

Monika Maron ist 1941 in Berlin geboren, wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane, darunter «Flugasche», «Animal triste», «Endmoränen», «Ach Glück» und «Zwischenspiel», außerdem mehrere Essaybände, darunter «Krähengekrächz», und die Reportage «Bitterfelder Bogen». Zuletzt erschien der Roman «Munin oder Chaos im Kopf». Sie wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, darunter dem Kleist-Preis (1992), dem Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg (2003), dem Deutschen Nationalpreis (2009), dem Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2011) und dem Ida-Dehmel-Preis (2017).

Beitragsfoto © Sandra Kottonau

Ulrich Woelk «Nacht ohne Engel», dtv

Vincent fährt Taxi in Berlin. Eines Tages setzt sich eine Frau auf die Rückbank, von der er im Rückspiegel immer mehr der Überzeugung ist, sie zu kennen. Die Fahrt dauert, sie kommen ins Gespräch und plötzlich wird klar, dass es Jule ist, mit der er vor fünfundzwanzig Jahren eine Nacht verbracht hatte, jene eine Nacht vor dem Tag, der in seinem Leben alles veränderte.

Als die US- Regierung während des ersten Golfkriegs Kuwait überrannte und den Feldzug gegen Saddam Hussein führte, tobten in Berlin unter den Studenten andere Kriege. Seit den Siebzigern der Endloskrieg gegen das Establishment, die Biederkeit, Atomkraft… Man diskutierte, demonstrierte, trank aus den Weinkellern der Eltern und warf auch gerne mal eine Tablette ein. Eddy, Roger, Vincent und Jule, vier aus der Clique damals, die es nach dem Studium nicht nur geographisch in alle Wieder verschlagen hatte.

Ein Vierteljahrhundert später taucht eines der Gesichter wieder auf aus einer Vergangenheit, die für Vincent doppelt weit zurücklag, weil dazwischen ein Unfall, Koma und Rehabilitation liegen, eine Zäsur sein Leben abreissen liess. Und plötzlich lüftet sich der Schleier der Erinnerung mit diesem Gesicht und dieser Stimme auf der Rückbank Vincents Taxi. Vincent gibt sich zu erkennen, man trifft sich Stunden später wieder und mit einem Mal liegt ein Stück Geschichte vor ihm, das mit der Zeit ins Vergessen abgerutscht war.

Eine Vergangenheit, die wenig zu tun hat mit den Problemen seiner Gegenwart. Mit der Tochter Saskia, die studiert und ihn mit ihren Geldproblemen zu Extraschichten zwingt, einem gemeinsamen Sorgerecht, das längst zur Vincents Alleinaufgabe wurde, in einer Gegenwart, in der er sich eingerichtet hatte, auch mit seiner neuen Partnerin, mit der er nicht mehr Wohnung und Bett teilt, aber zur Erholung ganz gerne Zeit verbringt. Ein Leben gut eingebettet, ohne all zu viel Ambition, auf der sicheren Seite.

Mit Jule aus der Vergangenheit tauchen Bilder wieder auf, werden Geschichten präsent, Lebensentwürfe. Das exzessive Leben seines Freundes Eddy endete wie das seines gesanglichen Idols Freddy Mercury, dem aidskranken Frontmann der Kultband Queen. Roger setzte Fett an, krempelte den Familienbetrieb seines Vaters um und verlor sich. Jule, die nicht eigentlich zur Clique gehörte und damals, in jener Nacht und beim Umfall danach mehr zufällig nicht in ihrer Stadt Hamburg, sondern in Berlin war, studierte in den USA, heiratete und nahm  nun an Wirtschaftssymposien mit Kleid und hochhackigen Schuhen teil und Vincent hatte sich als selbstständiger Taxifahrer eingerichtet und seine Träume als Schriftsteller eigentlich begraben.

Jule und Vincent reffen sich wieder, zwei Menschen, die vor mehr als zwei Jahrzehnten eine Nacht vielleicht verbunden, ein Autounfall aber wieder aus der Spur geschleudert hatte. Zwei Lebensentwürfe, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, werden durch das Wiedersehen pulverisiert, zwingen zum Nachdenken, bringen Momente zurück ans Licht, die gelöscht schienen, obwohl sie noch immer in die Gegenwart wirken.

Damals las sie «Doktor Schiwago», studierte eigentlich in Hamburg und war nur in Berlin, weil es sich bei reichen Verwandten ein paar Tage ganz gut leben liess, nicht wegen der revolutionären Diskussionen und den Triaden auf das elitäre Gehabe der Politik und dem Spiessbürgertum, sondern weil da Wein, Drogen und Gesellschaft Freiräume versprachen. Und er, Vincent, stand da, wie vom Donner gerührt, spürte die Droge Faszination, die Wallungen des Verliebtseins. Was damals als leidenschaftlicher Entwurf begann, wurde schon am nächsten Tag durch einen Unfall zu Nichte gemacht.

«Pretending I’m doing well … I’m lonely but no one can tell.»

Ulrich Woelk erzählt von der Macht der Erinnerung, davon wie dünn die Schicht aus Sicherheit und zusammengesetzten Wahrheiten ist. Ein Buch, das von einer Zeit erzählt, als Jugend und Revolte untrennbar voneinander waren und sich ein Vater fragt, warum in der Jugend seiner Tochter jetzt davon so wenig geblieben ist. Ein Buch über das Erwachen und die Ernüchterung. Ulrich Woelk umschifft gekonnt alle Gefahren der Sentimentalität. Er besitzt den klaren Blick, erzählt unverblümt, dicht und mit bewundernswerter Leichtigkeit. Ein wunderbares Buch von einem Autor, von dem man unweigerlich noch viel mehr lesen will. Ich tus!

© Bettina Keller

Ulrich Woelk, 1960 geboren, in Köln aufgewachsen, studierte in Tübingen Physik und promovierte 1991 an der TU Berlin, wo er bis 1994 als Astrophysiker tätig war. Literarische Arbeiten seit den 1980er Jahren; »Aspekte«-Literaturpreis für das Debüt «Freigang» (1990). Seither erschienen Romane, Erzählungen, Theaterstücke. Der Roman «Die letzte Vorstellung» wurde mit Heino Ferch und Nadja Uhl für das ZDF verfilmt (›Mord am Meer‹). Ulrich Woelk lebt in Berlin.

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Leander Steinkopf «Stadt der Feen und Wünsche», Hanser Berlin

Leander Steinkopf erzählt von einem Mann und seiner Stadt. Von einem, der die Hast gegen Langsamkeit getauscht hat, sich selbst einen Gescheiterten nennt. Von einem Mann in Berlin. Er flaniert durch die Stadt, saugt sie in sich ein. Für einmal ein Stadtneurotiker, der nicht zerbricht, nicht leidet, sich nicht quält. Einer, der offenen Auges durch die Metropole geht, der Eile entgegen, sich nie aufdrängt und so den Blick für das Feine, Unscheinbare behält, den Blick den es braucht, um ihn in einer lärmenden Stadt nicht einfach über Oberflächlichkeiten schweifen zu lassen.

«Stadt der Feen und Wünsche» ist eine Liebesgeschichte. Eine Erzählung über die Liebe zu einer Stadt, zu Berlin, einem Kosmos von Möglichkeiten, auch jener, ob man sich von ihr einnehmen lässt oder ihr begegnet, wie er den Frauen begegnet; irgendwie schüchtern, nie aufdringlich, nie entblössend.
Er ging nach Berlin und es ging ihm in der Stadt der Plan abhanden, der Plan, mit dem er sich einst in die Stadt aufmachte. Nicht als Tourist, denn Touristen entstellen eine Stadt. Sie shoppen ein paar Tage dort, wo andere zu leben versuchen. Er begegnet den Menschen und bleibt doch allein. Menschen begegnen ihm, bleiben mit ihren eigenen Geschichten aber auf Distanz.

«Ich weiss gar nicht, woran ich gescheitert bin, nicht einmal worin. Aber ich merke, dass irgendwas falsch ist mit mir.»

Die Qualitäten der Erzählung liegen nicht nur in ihrer Sprache, der Unmittelbarkeit, dem Sound. Leander Steinkopf überzeugt durch seine Ehrlichkeit, die Direktheit, jegliches Fehlen von Wehleidigkeit und Selbstzerfleischung. Leander Steinkopf weiss, dass die Gefühle des Versagens, des Nicht-wissens-wo-man-hingehört in jeder und jedem steckt.

Ein Mann, der seiner Welt, der Stadt begegnet, den Menschen, den Momenten, ohne ihr und ihnen zu nahe zu treten, schon allein darum, weil er dann die Sehnsucht vermissen würde, käme er zu nahe.

Ein Mann und Berlin, das Einzige, was den Bogen über die Erzählung ausmacht. Denn auf dem Buchumschlag müsste «Erzählungen» stehen. Einer spaziert, wandelt und schlendert durch seine Stadt, die sich Zeit lässt, die seine zu werden. Er begegnet Menschen und Momenten, lässt sie zu Miniaturen werden, Kleinsterzählungen, manchmal nebenbei erzählt, manchmal lärmend inszeniert. Lakonisch, aber mit viel Tiefe erzählt. Keine Nabelschau, auch kein Schürfen nach Gründen, warum er eigentlich allein, eigentlich einsam, trotz der Bewegungen statisch bleibt. Es mischen sich Gedanken ein, die sich um Gesellschaft und Philosophie drehen, Gedanken, die den Protagonisten bewegen, auch in seinen Gängen durch die Stadt, aber niemals dazu, dem «Fort-Schritt» zu genügen.

Leander Steinkopf will erzählen und tut dies meisterhaft! Der Verzicht auf einen grossen Erzählbogen hilft den Miniaturen im Text, ihren Glanz zu entwickeln. So wie dem Protagonisten in seinem Leben das grosse Ganze abhanden gekommen ist, passt das Muster seiner Lebens zum Schnittmuster der Erzählung. Ein Buch, das entschleunigt – ein besonderes Buch! Unbedingt lesenswert!

«Können sie mir die Seele etwas enger machen und das Stück abschneiden, das immer auf dem Boden schleift?»

Ein Interview mit Leander Steinkopf:

„Niemand hat die Absicht, eine Geschichte zu schreiben. Es reicht, ein Leben zu leben und dessen Zerfallsprodukte in Worte endzulagern“, lamentiert ein Mann, der ihrem Protagonisten auf seinen Streifzügen durch Berlin begegnet. Genau das tun sie. Und doch schreiben sie Geschichten. Eine nach der andern, Abschnitt für Abschnitt, manche über eine Seite und mehr, andere bloss ein paar Worte lang. Ihr Protagonist sammelt sie ein, als zöge er ein Netz hinter sich her. Waren zuerst die vielen Geschichten, Beobachtungen, Begegnungen und suchten eine Form, die jetzt auf dem Buchcover „Erzählung“ heisst?

Zwei Dinge waren von Anfang an da: Eine Fülle von Beobachtungen, Gedanken, Geschichtchen in Notizbüchern und ein Grundgefühl, das ich mit der Stadt und einer bestimmten Lebensphase verbinde, nämlich jene haltlose Offenheit, aus der heraus alles möglich scheint, aber nichts gesichert ist. Es ging mir vor allem darum jenes Gefühl einzufangen und beim Leser zu erzeugen. Mein Hauptwerkstoff waren besagte Notizen, dann brauchte ich einen Protagonisten, der die Arbeit macht, die vor allem in Untätigkeit besteht, der offen haltlos, sehnsüchtig unschlüssig durch den Tag geht. Ich suchte also eine Form für ein Gefühl und dachte mir sie sollte kurz sein, eine Erzählung, damit der Leser den Rest des Tages noch etwas von diesem Gefühl hat.

Sie promovierten über den Placeboeffekt. Ihr Protagonist leidet an der Stadt, von der er nicht lassen kann. Das einzige, was ihm zu helfen scheint, sind seine Begegnungen mit Frauen. Aber auch sie sind nicht einfach kleine Liebesgeschichten, auch sie helfen ihm nicht, richten ihn höchstens auf. Er krankt nicht nur an der Stadt, auch an der Gesellschaft und vor allem sich selbst. Da hilft nichts mehr. Ist ihr Protagonist verkümmert? Ein einsamer Leidender?

Eben sagte ich noch, es ginge mir vor allem um ein Gefühl. Worum es mir aber natürlich auch geht, so selbstverständlich und jederzeit, dass ich es manchmal zu erwähnen vergesse, ist die Gegenwart. Ein Stück weit lebt der Protagonist seinen Traum, denn er schätzt die Schwere und die Süße der Sehnsucht und verweigert sich deshalb der Erfüllung. Das macht unglücklich, aber irgendwie will er das auch. In anderer Hinsicht verkörpert er gewisse Leiden der Gegenwart und, wenn man so will, kann man das als Verkümmerung betrachten. Er zweifelt so sehr an sich, dass er die Zuneigung anderer nicht annehmen kann. Sein Empfinden eigener Wertlosigkeit kompensiert er, indem er andere abwertet. Er will nirgends dabei sein, will sich nicht einordnen, weil er sich dann nicht mehr einzigartig fühlte. Es ist eine konzentrierte Form des Narzissmus, der die Menschen der Gegenwart plagt. Man übersetzt Narzissmus gerne mit Selbstverliebtheit also einem Zuviel, aber – und hier spricht vielleicht der promovierte Psychologe – es ist ein Mangel. Man empfindet sich als ungenügend, meint nicht für sich selbst sondern nur für seine Leistungen liebenswert zu sein, glaubt einen grandiosen, undurchdringlichen Schein aufrechterhalten zu müssen, damit niemand das kümmerliche Dahinter entdeckt. Und, ja, das kann auch zum einsamen Leiden führen, weil man sich niemandem so recht öffnen kann. Aber trotzdem, trotz all dieser Macken ist der Protagonist glücklich, denn er hat Menschen, die ihn so nehmen, wie er ist, und in manchen Momenten kann er sich selbst auch so annehmen. In so einem Moment endet auch das Buch.

Es sind lange Spaziergänge. Ein Mann geht durch die Stadt. „Er behütet sein Alleinsein“, schreiben sie. Er wohnt alleine. WGs sind im zuwider. Er wandelt durch die Stadt, trifft die Leserin mit dem Buch (auch so eine aussterbende Rasse), Dostojewski in der Bar, dem biertrinkenden Bettler nach Feierabend in der U-Bahn. Sind sie ein Spaziergänger? Trifft man Sie in der Stadt auf Bänken sitzend, in ein kleines Büchlein schreibend?

Zunächst zum kleinen Büchlein: Ich benutze seit einer Weile das Format B5, Softcover, also es ist eher mittelgroß als klein. Spaziergänge der entdeckerischen Art mache ich kaum noch, was an München liegt, daran, dass ich nun schon drei Jahre hier bin und an anderen Anforderungen meines aktuellen Arbeitens. Gehen und kleine Fluchten ins Grüne sind ja eigentlich für jeden wichtig, nur ich habe in meinem aktuellen Beruf die Möglichkeit mir diese Freiheiten jederzeit zu nehmen. Wenn man im Denken nicht vorankommt, löst Gehen, Ruhe, Ablenkung die Blockade. Gehen ist nur effizient. Ich kann mich stundenlang am Arbeitsplatz mit einer Stelle quälen. Oder ich gehe kurz raus und das meiste ist gelöst. Ich beobachte natürlich noch, nehme sehr viel meiner Umwelt auf, aber ich habe gerade andere Prioritäten bei dem, was ich schreibe. Für meine Zeit in Berlin gilt ihre Vermutung viel mehr – und darauf bezog sie sich ja auch. Da war sogar auch mein Notizbuch kleinformatiger.

Ihr Protagonist heisst sich selbst einen, der gescheitert ist. Ein Enttäuschter, Zurückgezogener, Einsamer mitten in der Millionenmetropole Berlin. Aber statt in Weltschmerz und einer endlosen Nabelschau zu verfallen, scheint sein Blick auf die Welt trotz allem ein heiterer zu bleiben. Ist Heiterkeit ein probates Mittel gegen all den Schwachsinn, der rund um uns sein Unwesen treibt?

Heiterkeit ist ein gutes Wort, denn allzu oft, wenn behauptet wird, man solle die Welt mit Humor nehmen, dann ist Ironie und letztlich Zynismus gemeint. Ich sehe gerade zu viel Ironie, zu wenig Ernsthaftigkeit, kluge Menschen, die ihre Kraft, Arbeit, Hoffnung, Liebe an den nächsten Scherz auf Twitter verschenken, dann menschliche Annäherungen als Abtausch von Frotzeleien, Unterhaltungen als Schlagfertigkeitsschlachten zur Vermeidung echten Gesprächs. Es ist eine Epidemie der Coolness, weil Ernst und Bestimmtheit angreifbar machen, siehe oben: fragiles Selbst. Ein anderes Phänomen unserer Zeit oder eine andere vorherrschende Verhaltensweise ist das ständige Entdecken von Krisen und Katastrophen. Manche scheinen sich ja bedeutsam zu fühlen in diesem permanenten Alarmmodus, Selbstwert daraus zu schöpfen, zum Kämpfen bereit zu sein in diesen gefährlichen Lagen. Aber letztlich glaube ich, dass die heiter Gelassenen die Welt täglich retten, nicht die Krisenprediger mit dem Blaulicht auf dem Kopf. Es ist doch eigentlich ganz nett hier.

In ihrer Erzählung machen sie sich viele Gedanken um den Begriff der Freiheit. „Der Zaun gibt den Schweinen ein Stückchen Wald zum Grunzen und ausserhalb bin ich in die Freiheit gesperrt … Wenn man aber in die Freiheit gezwungen wird, ist da nichts, was wütend macht, ausser das eigene Unvermögen, die Freiheit zu nutzen.“ „Freiheit“ ist ein arg strapazierter Begriff. Aber ausgerechnet in einer Zeit, in der sie so nah wie noch nie ist, ketten wir uns an Manipulationen aller Art. Wo nehmen sie sich ihre Freiheiten?

Sie sind Schweizer und ich habe die naive Vorstellung von Schweizern, dass sie die Freiheit mehr schätzen, besser mit ihr umgehen können, weil sie sie schon länger genießen dürfen, von ihr schon länger gefordert sind. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Die Deutschen jedenfalls kommen mit der Freiheit nicht klar, sie brauchen die Obrigkeit, den Staat, der ihre Probleme löst. Ein Satz, den hier Politiker häufig sagen, ist: „Die Leute wollen, dass wir ihre konkreten Probleme im Alltag lösen“. Und ich denke mir: „Nein, haut ab! Das ist mein Leben!“ Und da wären wir wieder beim Selbst. Man kann die Probleme des Lebens als Herausforderungen betrachten, denen man sich als starkes Individuum stellt, dabei mal scheitert, mal gewinnt. Oder man kann aus der Freiheit flüchten, die Verantwortung anderen übertragen. Oder man kann an der Tatsache verzweifeln, dass zum freien Leben auch das Scheitern gehört. Freiheit ist eben eine große Herausforderung. Und in Deutschland wird man nun mal nicht zum Leben in Freiheit erzogen, sondern zum Angestelltendasein im Dienste der Exportnation. Ich nehme mir die Freiheit gerade nicht Teil davon zu sein. Ich will mir erlauben der deutschen Tendenz zum Einheitsdenken – In Deutschland findet ja kein Austausch von Argumenten statt, stattdessen kippen Stimmungen unvermittelt – ein paar eigene Gedanken entgegenzusetzen, mich für Vielfalt einsetzen. Ich möchte mit Lust die Freiheit auskosten, die uns der liberale Rechtsstaat schenkt. Die meisten Pflichten, die man um sich sieht, sind ja keine mehr, wenn man sie hinterfragt.

Vielen, herzlichen Dank für das spannende Interview!

Leander Steinkopf, 1985 geboren, studierte in Mannheim, Berlin und Sarajevo, promovierte schließlich über den Placeboeffekt. Er arbeitet als freier Journalist für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» und die «Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung», veröffentlicht literarische Essays im «Merkur» und schreibt Komödien für das Theater. Er lebt in München.

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Beitragsbild © Sandra Kottonau

Tanja Maljartschuk «Überflutet», Edition Thanhäuser

Sie lieben Bücher!? Sie lieben eine gut erzählte Geschichte, die beim Lesen Welten preisgibt!? Sie lieben das schöne Buch, Bücher, bei denen man immer wieder mit der flachen Hand über den Deckel streicht!? Sie lieben Bücher, die in der Hand, beim Lesen zum Gesamtkunstwerk werden!? Dann lieben sie «Überflutet» der Ukrainerin Tanja Maljartschuk, erschienen in der Edition Thanhäuser!

Tanja Maljartschuk erinnert sich an einen ganz besonderen Sommer in ihrem Dorf. Es regnete fast ununterbrochen, der Fluss trat über die Ufer, die Brunnen quollen über und das trübe Wasser bedeckte Felder und Strassen. Sie erinnert sich an einen Sommer, den sie nachts im Bett an der Seite ihrer Grossmutter teilt. Den Sommer ihrer ersten grossen Liebe, dem ersten Kuss, dem Sehnen nach der Leidenschaft, der grossen, wahren Liebe, dem grossen Fisch, den sie an Land ziehen würde, sich nach Zärtlichkeiten und Berührungen sehnend, dem Rausch der Gefühle.
So sehr die Grossmutter sie während des Tages in Aufgaben einspannt, so entschlossen hält sie Ausschau nach ihrem Prinzen, den sie findet, aber gar nicht will, wie ein Fisch an der Angel.

Die Landschaft, die Felder, die Keller und Häuser ertrinken im trüben Wasser des Flusses. Das Mädchen ist überflutet von Gefühlen, der Heftigkeit der Erkenntnis, dass sich nichts nach ihren Vorstellungen richtet. So sehr das Wasser das Dasein der Grossmutter, der Familie bedroht, so sehr kann das Mädchen alles ausserhalb ihrer Gedankenwelt ausblenden. Die Grossmutter suhlt sich in ihrer Angst vor dem Verhungern, in Schreckensszenarien, das Mädchen in der Angst, vom Verliebtsein allein nicht satt zu werden.

Grossmutters einstige Liebe, der Soldat, dem im Krieg ein Bein abgerissen wurde, liess sie damals alleine zurück, in einer Zeit, die für Träumereien und Schwärmereien keinen Platz hatte. Im Haus der Grossmutter steht ein Foto, das die Grossmutter jung und hübsch zeigt. Das Mädchen fragt die Grossmutter nach ihrer Liebe, dem Mann, ihrer Hochzeit. Und es prallen Welten aufeinander, obwohl das Wasser auch die Gegenwart bedroht.

Tanja Maljartschuks Erzählung lebt von Gegensätzen, vom grenzenlosen Optimismus der Enkelin und dem ebenso grenzenlosen, vorgeschobenen Pessimismus der Grossmutter. «Überflutet» ist ein schmaler Erzählband, zweisprachig deutsch und ukrainisch, über die Sehnsucht, den Verlust und die Ernüchterungen der Liebe.

So schmal das Büchlein, so gross das Vergnügen, so deutlich die Kunst, mit der sich eine junge, aber gereifte Autorin der Sprache bedient und der Verleger und Gestalter Christian Thanhäuser die Erzählung mit seinen Tintenbleizeichnungen bebildert.
Überflutet» ist weit mehr als eine gedruckte, zwischen zwei Buchdeckel gebannte Erzählung. Christian Thanhäuser, Verleger, Buchgestalter und Künstler schuf zusammen mit der Schriftstellerin und dem Übersetzer Harald Fleischmann ein Kunstwerk, das mich sprachlich, literarisch, gestalterisch und haptisch überzeugt und berührt. Ein Kleinod, dem ich in meiner Bibliothek einen besonderen Platz gebe!

Tanja Maljartschuk, geboren 1983 in Iwano-Frankiwsk/Ukraine, arbeitete einige Jahre als Fernsehjournalistin in Kiew. Seit 2011 lebt sie in Wien. 2015 war sie Ranitz-Stipendiatin in Ottensheim. Letzte Veröffentlichungen: 2009 erschien ihr erster Erzählband „Neunprozentiger Haushaltsessig“, 2013 der Roman „Biografie eines zufälligen Wunders“ (beide Residenz Verlag) und 2015 der Erzählband „Von Hasen und anderen Europäern“ (Edition Fototapeta).

Überflutet» ist eine zweisprachige Erstausgabe, aus dem Ukrainischen von Harald Fleischmann

 

Titelbild: Tintenbleizeichnung von Christian Thanhäuser

Daniel Magariel «Einer von uns», C. H. Beck

Familie kann zur Hölle werden. Aber Familie ist Familie. Vater bleibt Vater. Bruder bleibt Bruder. Und wenn der Hass auf die Mutter und Ex-Frau, die Angst vor der Polizei den Ort der vermeintlichen Sicherheit zum Gefängnis macht, werden aus Banden Fesseln, aus Verzweiflung Resignation. Trotzdem strotzt der Roman «Einer von uns» von Kraft – nicht zuletzt von der Kraft der Sprache.

«Einer von uns» ist keine leicht verdauliche Kost. Es schnürt einem während des Lesens die Kehle zu. Nicht nur wegen der über zwei Brüder hereinbrechenden Gewalt eines drogensüchtigen, vollkommen unberechenbaren Vaters, sondern weil eine ungebrochene fatale Sehnsucht nach Sicherheit, Geborgenheit und Liebe die beiden Brüder aushalten lässt, was für mich als lesenden Zeugen beinahe unerträglich ist. Genau das ist die literarische Qualität dieses Romans. Nicht der Voyeurismus, nicht der Rapport eines Martyriums, sondern die feine, exakte Beschreibung jener hellen und finsteren Zwischenräume inmitten absoluter Verzweiflung, familiärer Apokalypse und kindlicher Freude, wenn zwischen all den Ausbrüchen Momente der Entspannung, naiver Hoffnung aufblitzen.

Der eine Bruder, aus dessen Sicht die Geschichte erzählt wird, ist zwölf. Sein älterer Bruder ein paar wenige Jahre älter. Gerade so alt, dass er mit dem Geld, das er im Supermarkt verdient, die Familie über Wasser halten kann. Eine Familie, die vom Hass auf Mutter und Ex zusammengehalten wird. Von einem Hass, der immer wieder vom Vater geschürt wird. Ein Hass, der die Brüder bei der Kampfscheidung die Mutter mit Falschaussagen um das Sorgerecht brachte. Ein Hass, der alles zerstören sollte, was die beiden Brüder zurück zur Mutter bringen könnte. Hass geschürt von einem Vater, der mit seinen Jungs alles hinter sich zurücklässt, von zuhause aus zu arbeiten versucht und nicht davon zurückschreckt, seine Söhne für alles Mögliche und Unmögliche zu instrumentalisieren.

Obwohl der Vater zwischendurch alles tut, um Zweckoptimismus zu erzeugen und sich Momente scheinbarer Idylle wie Hoffnungsschimmer abzeichnen, werden die Ausbrüche und Übergriffe des Vaters immer unberechenbarer, immer einschneidender, immer zwiespältiger. Daniel Magariel zeigt, dass Familienbanden fatalistisch zusammenschweissen können, dass die Angst vor dem Verrat, die Ungewissheit einer leeren Zukunft bewegungsunfähig macht. Die Brüder sind mehr als nur Leidensgenossen. Sie sind allein, von der Welt abgeschlossen, angekettet von einem Vater, der seine Söhne zu Komplizen macht, sie bei der Scheidung zu Falschaussagen zwang, die ihm das Sorgerecht brachten, den Söhnen aber immer wieder aufbrechendes Schuldgefühl und die Unmöglichkeit einer Rückkehr.

© Foto: Lucas Flores Piran

Daniel Magariel stammt aus Kansas City. Er hat einen B.A. von der Columbia University und einen M.F.A. von der Syracuse University, wo er Cornelia Carhart Fellow war. Er hat in Kansas, Missouri, New Mexico, Florida, Colorado, und Hawaii gelebt. Derzeit lebt er zusammen mit seiner Frau in New York. «Einer von uns» ist sein erster Roman.

Der Übersetzter Sky Nonhoff ist Kulturjournalist, Autor («Die dunklen Säle», «Don’t Believe the Hype») und Kolumnist beim MDR. Er hat u. a. Romane und Erzählungen von Jonathan Coe, Gay Talese und Dennis Lehane ins Deutsche übertragen. Für C.H.Beck übersetzte er u. a. Caitlin Doughtys «Fragen Sie Ihren Bestatter» (2016) und Souad Mekhennets «Nur wenn du allein kommst».

Titelfoto: Sandra Kottonau

Anna Galkina «Das neue Leben», Frankfurter Verlagsanstalt

Anna Galkina schreibt auch in ihrem zweiten Roman von der zur jungen Frau gewordenen Nastja. Einer Frau, die man bei der Ausreise von Lettland nach Deutschland nicht fragte, wo und wie sie ihre Zukunft beginnen möchte. Einer nach Leben und Ankunft dürstenden jungen Frau, der es im Land des Überflusses alles andere als leicht gemacht wird, sich wenigstens in den Menschen heimisch zu fühlen. Einem Leben, das immer wieder zu brechen droht, es aber nie tut, weil immer Kraft übrig bleibt, sich neu aufzurichten.

Nastja kommt Anfang der Neunziger als Kontingentflüchling mit ihrer Familie von Lettland nach Deutschland. Weil Nastjas Familie jüdisch ist und eine Einreise nach Deutschland im Rahmen der «Politik der Wiedergutmachung» leicht genug, verabschiedet sich die Familie aus einem unabhängig gewordenen Lettland, das alle russisch stämmigen Bürger zum kollektiven Feindbild erklärte.

«Wenn die Welt einem plötzlich fremd vorkommt, dann erkennt man alles andere auch nicht mehr wieder.»

In Deutschland angekommen, erwartet sie niemand. Man wird von einer gelangweilten Lagerleitung in ein verdrecktes Lagerzimmer mit Etagenbetten gesteckt, in Zimmer, die von allen möglichen und unmöglichen Gästen bewohnt werden. Es beginnt das lange Warten, das Anstehen bei Ämtern, der Spiessrutenlauf, das Ausgesetzt-sein.

«Ich bin LOS! StaatenLOS, arbeitsLOS, obdachLOS, sprachLOS!»

Man ist gezwungen, sich mit allerlei anderen Einwanderern mehr oder weniger zu arrangieren, auf engstem Raum, in einer Gemeinschaftsküche, Wand an Wand, immer in der Hoffnung, irgendwann einen unbegrenzten Aufenthalt zu erwirken, eine eigene Wohnung zu bekommen, permanent ernüchtert, weil von dem, was man sich erhofft oder einem in Aussicht gestellt wird, nicht viel oder gar nichts bleibt.
Aber Nastja lässt sich nicht entmutigen, schöpft Kraft, wo andere längst resignieren. Selbst in der Einsicht, dass sie letztlich nur auf sich selbst bauen kann. Da hilft niemand, weder der Stiefvater, der an fünf Tagen der Musterflüchtling ist und an den Wochenenden im Alkohol ertrinkt, noch die Mutter, die sich an ihren Traum klammert, dass Kultur die Völker verbinde. Weder die Grossmutter, die schwerhörig auf einem Stuhl das Geschehen auf dem Hof verfolgt, noch Grischa, der angebliche Arzt und Lagermitbewohner, der Teppiche sammelt und in der Gemeinschaftsküche Monologe über Weltreligionen und Ernährungswissenschaft hält und eigentlich bloss auf Nastja hofft. Dort in der Gemeinschaftsküche brodeln, dampfen und kochen nicht nur Pfannen und Töpfe. Nicht einmal von ihrem einzigen wirklichen Freund Max, mit dem sie zuerst das Lager, dann auch die Stadt erobert, irgendwann den Zwischenraum zwischen ihnen und später sogar die Liebe, erfährt sie Beständigkeit, das, was Freundschaft oder Liebe ausmachen könnte.

«Es gibt kein Entkommen, und verstecken kann ich mich auch nirgendwo. Gefangen. Ausgeliefert. Nackt.»

Der Ort, der das Ziel einer Flüchlingsfamilie war, wird selbst nach Jahren immer fremder. Hass steigt auf. Nicht nur dort, wo er Nastja in Ämtern oder bei Gelegenheitsjobs begegnet, sondern auch bei ihr selbst. Ein Hass, der sich einfrisst.
Die Flüchtlinge warten, stehen und schauen. Oder sie gehen in die Offensive, bemühen sich mit den entsprechenden Bescheinigungen um Arbeit, bei der ihnen unverblümt klar gemacht wird, was sie immer bleiben werden in einer Welt, die diametral von der entfernt scheint, in der ich auf meinem Sofa zuhause liegend den Roman lese.

«Ich will nach Hause, aber ich habe kein Zuhause mehr. Es scheint, als wäre das Dach undicht. Oder sind das etwa Tränen?»

Anna Galkina verfällt weder der Anklage noch dem Klischee. Ihr Erzählen ist erfrischend und direkt, durchdrungen von ungeheurer Kraft und nie versiegendem Humor. Kein Selbstmitleid, keine Erklärungsversuche. Anna Galkina erzählt von einer jungen Frau, die sich nich ergibt, nicht aufgibt. Über die Ernüchterung, das übermässige Erwähne aus Träumen. Sie erzählt auch von der Willkür der Ämter, der Kalte des Wartens und der Unmöglichkeit, sein Leben wirklich in eigene Hände zu nehmen. Von der Konfrontation zu Zeiten Helmut Kohls mit dem blanken Hass, dümmlichem Volksbewusstsein und der Angst, irgendwer schneide jenes Stück Glück kleiner, auf das man ein Recht zu haben scheint.

Anna Galkina, geboren und aufgewachsen in Moskau, kam nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nach Deutschland. Sie lebt als freie Schriftstellerin und Künstlerin in Bonn. 
2016 erschien ihr Debütroman «Das kalte Licht der fernen Sterne«» in der FVA, 2017 folgte ihr zweiter Roman «Das neue Leben».

Kurzrezension von «Das kalte Licht der fernen Sterne» auf literaturblatt.ch

Titelfoto: Sandra Kottonau