Tina und Max bleiben nach einem Ausflug auf dem Heimweg wider aller Vernunft eingeschneit auf dem Jaunpass in ihrem Toyota Corolla stecken. Dort in der Stille und Dunkelheit einer zugeschneiten Fahrerkabine beginnt Max die Geschichte der Königskinder zu erzählen, eine Liebesgeschichte, die im Greyerzerland beginnt, am Vorabend der Französischen Revolution, eine Geschichte, die an den Hof Ludwig XVI führt und wieder zurück in den Schoss der Berge.
Alex Capus wäre aber nicht Alex Camus, wenn er «bloss» eine rührende Liebesgeschichte erzählen würde, bei der die zuhörende Tina immer wieder einmal nachfragen muss, ob Max nicht zu dick auftrage und jener versichert, alles sei aktenverbürgt. Liebesgeschichten passieren, ob jene in und vor der Eisdiele damals mit Tina und Max oder jene zwischen Marie und Jacob vor fast 250 Jahren zwischen der Armut an den Hängen des Jaunpasses und der bröckelnden und stinkenden Feudalkultur am maroden Hof Ludwigs des XVI.
Jacob ist übriggebliebener Sohn einer Bauernfamilie. Er zieht sich auf der Alp seines Vaters zurück, lebt von dem, was die Alpwirtschaft abwirft und kehrt nur zur Übergabe des Viehs zurück ins Dorf, in dem er aufgewachsen war. Bis zu
jenem Tag, als er Marie trifft, aus Blicken und einem Spaziergang in die Nüsse eine Liebe wird, die aber keine Chance hat. Maries Vater ist ein wohlhabender Bauer. Jacob ein «Halbwilder» ohne Familie, viel zu wenig für einen Bauer, der bei der Vermählung seiner Tochter strategisch denkt. Aber die Liebe lässt sich durch keine Strategie durchkreuzen. Marie und Jacob finden sich – aber Jacob muss das Land verlassen, um der Willkür des tobenden Bauern zu entkommen. Er wird Soldat am Ärmelkanal, später Kuhhirt am Hof Ludwig XVI, wo Élisabeth Philippe Marie Hélène de Bourbon, die Schwester des Königs vor den Toren Versailles ein «Landgut» betreibt, eine heile Welt direkt neben der zu Stein gewordenen Machtdemonstration des untergehenden Nachfolgers des einstigen Sonnenkönigs.
«Königskinder» ist ein Buch der Gegensätze. Hier die Geschichte Jacobs, der über Jahre auf einer Alp lebt, den Sommer durch mit Kühen und Rindern, im Winter mit sich allein. Eine Welt, die auch heute schnell ins Licht einer Idylle getaucht wird. Dort die Szenerie am Hofe des französischen Königs, der mit seinem vieltausendgrossen Hofstaat in einem Schloss haust, das kaum eine funktionierende Toilette besitzt. Hier stinkt es allerhöchstens im Stall, dort auch die langen Gängen Versailles, in den verwilderten Gärten und feuchten Zimmern.
Während sich Marie und Jacob dann doch noch finden, zu Königskindern werden, wälzt sich der Pariser Mob auf Versailles zu, tausende von Frauen, denen die vergessenen Soldaten des Königs nichts entgegenhalten können. Während sich eine Liebesgeschichte in der durch Mauern geschützten Idylle eines «Musterhofs» entfaltet, tut dies auch die Unzufriedenheit eines ganzen Volkes, das in den Monaten vor der Französischen Revolution auf den Untergang einer Jahrhunderte alten Monarchie zusteuert.
Alex Capus giesst nicht Öl ins Feuer. Unaufgeregt schildert er die Geschehnisse, die sich ganz automatisch in der Vorstellung des Lesers zum Drama wandelt. Alex Capus braucht weder Brandbeschleuniger noch Tricks, keine überraschenden Wendungen und keine aufschäumende Romantik. Allein sein Erzählen schafft Bilder, die bleiben. Da ist nichts verkrampft, kein Recherchewissen, das mir verkauft werden will. Einfach Erzählfreude, die zu Lesefreude wird, unverdünnt, konzentriert und echt.
Ich las «Königskinder» zusammen mit meinem Literaturzirkel. Zum Austausch über das Buch trafen wir uns in der «Galicia-Bar» in Olten, jenem zur Kultbar gewordenen Treffpunkt, die der Autor von der galizischen Heimwehbar zum Kulturtreff mit Ausstrahlung weit über die Stadtgrenzen hinaus machte.
Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, lebt heute in Olten. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten und Reportagen. Bei Hanser erschienen «Léon und Louise» (2011), «Fast ein bisschen Frühling» (2012), «Skidoo» (Meine Reise durch die Geisterstädte des Wilden Westens, 2012), «Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer» (2013), «Mein Nachbar Urs» (Geschichten aus der Kleinstadt, 2014), «Seiltänzer» (Hanser Box, 2015), «Reisen im Licht der Sterne» (2015), «Das Leben ist gut» (2016) und «Königskinder».
Beitragsbild © Sandra Kottonau

Virginia Helbling beschreibt einen mehrfach toten Winkel. Jenen in der Literatur (Als Vielleser ist mir dieses Thema in der Art noch nie zur Lektüre geworden) und jenen in der Gesellschaft, die sich mit der Perspektive des «fehlenden Mutterglücks» schwer tut. Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft werden gerne glorifiziert, in pastellenen Farben geschildert. «Fehlendes Mutterglück», jenes Gefühl, nur ein ausfliessender Krug zu sein, wird mit Undankbarkeit markiert. Gesellschaft und Marketing tun alles, um Mutterschaft zu verklären, ohne je anzuerkennen, was diese Aufgabe wirklich bedeutet. Selbst unter Frauen wird «Muttersein» nicht als geltende Arbeit anerkannt.
Viriginia Helbling wurde 1974 in Lugano geboren. Sie studierte Literatur und Philosophie an der Universität in Fribourg und arbeitete als Journalistin. Sie ist Mutter von sechs Kindern und lebt in Gorduno.
Aber Henning geht es nicht gut. Alles an Pflichten und Erwartungen, seien es äussere oder innere, schnüren an seiner Kehle, drücken auf die Brust. Immer häufiger springt ihn ES an, ein Gefühl, das ihm den Atem nimmt, das Herz aus dem Rhythmus bringt, den Schweiss kalt aus den Poren treibt. Panikattacken, die ihm nicht nur den Schlaf, auch Ruhe und Zuversicht rauben. Zustände, die ihn abdrängen und alles Gleichgewicht pulverisieren. Panikattacken, denen er sich immer mehr ergibt und die seine Frau immer mehr aus der Reserve locken. «Sei ein Mann. Einer, den man lieben kann.»
«Zum Glück gibt es ein einfaches und unfehlbares System, mit dessen Hilfe man ein Arschloch auf den ersten Blick erkennen kann. Ich weiss, dass es funktioniert. Ich hab’s an mir selber ausprobiert.
Charles Lewinsky wurde 1946 in Zürich geboren. Er arbeitete als Dramaturg, Regisseur und Redaktor. Er schreibt Hörspiele, Romane und Theaterstücke und verfasste über 1000 TV-Shows und Drehbücher, etwa für den Film «Ein ganz gewöhnlicher Jude». Für den Roman «Johannistag» wurde er mit dem Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank ausgezeichnet. Sein Roman «Melnitz» wurde in zehn Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u.a. in China als Bester deutscher Roman 2006, in Frankreich als Bester ausländischer Roman 2008. Lewinskys jüngsten Romane wurden für die bedeutendsten deutschsprachigen Buchpreise nominiert: «Gerron» für den Schweizer Buchpreis 2011, «Kastelau» für den Deutschen Buchpreis 2014 und «Andersen» für den Schweizer Buchpreis 2016.
1999 veröffentlichte Claus Beck-Nielsen seinen ersten Roman und im Jahr darauf begann das, was mit der Figur Madame Nielsen 2013 sein «vorläufiges» Ende gefunden hat. Claus Beck-Nielsen löscht einen Teil seines Namens und will damit auch Erinnerungen löschen, lebt ohne Pass, ohne Geld und «ohne Gedächtnis» auf der Strasse am Bahnhof Kopenhagen. 2001 erklärt er Claus Beck-Nielsen für tot und reist mit Anzug und Krawatte als Klaus Nielsen nach Kuwait, in den Iran, den Irak und nach Afghanistan als Mitglied eines «nomadischen Parlaments». 2013 veröffentlicht sie unter dem Namen Madame Nielsen, elegant als Frau gekleidet, stets beängstigend dünn, ihren ersten Roman.
verankerte Industriellenfamilie unterstützt ihn fleissig, um der Agrartechnikfirma nicht zu schaden (Noch heute liest man auf landwirtschaftlichen Maschinen den Namenszug.) Das Argentinien unter Joan Perón, der auch in Europa im Strahlenmeer seiner zur Legende gewordenen Ehefrau Evita so etwas wie Kultstatus geniesst, war Sammelbecken für all jene entflohenen und untergetauchten Nazis, die es mit Geschick verstanden, sich ihrer Verantwortung zu entziehen oder auch nur den Hauch einer Schuld einzugestehen. Peróns Absicht war es, mit Hilfe all der Militärs, Wissenschaftler und Finanzgrössen Argentinien mit Staudämmen, Raketen und Atomkraftwerken auszurüsten und die USA nach der sicheren Niederlage in einem 3. Weltkrieg als Supermacht abzulösen. Man trifft sich bei Gesinnungsgenossen in grossen Landgütern mit Hitlerbüste im Garten und einem Hakenkreuz aus Granit auf dem Grund des Pools.
«Ende der Spielzeit» ist die Geschichte einer Künstlerin, die sich mit ihrem Sehnen nach künstlerischen Ausdruck auf eine endlos scheinende Reise begibt. Mit dem Theater auf Bühnen in Lausanne, Hamburg, Zürich, Bochum, Wien oder München. Als Musikerin auch in die Provinz. Meist allein, allein mit sich selbst, unter den Scheinwerfern, auf einer Bühne, weit weg vom Publikum, ihnen allen etwas vorspielend. Eine junge Frau, die, wenn es nicht mehr zu vermeiden ist, möglichst Fragen stellt, um nicht über sich selbst sprechen zu müssen. Eine junge Frau, die in ihrer einzigen grossen Liebe, in ihrer allernächsten Nähe verletzt wurde und sich trotz Theater und Musik in sich selbst zurückzieht. Eine junge Frau, der man alles Zuhause genommen hat und die sich nur dort geborgen fühlt, wo Ruhe ist, im Schminkraum, in der Garderobe, im Hotelzimmer.
Marie Modiano ist Musikerin, Schriftstellerin, Schauspielerin. Geboren 1978 in Paris, Schauspielausbildung an der Royal Academy, London. Weitere Auslandsaufenthalte, u.a. in den USA und in Berlin. Verschiedene Filmrollen und Theaterengagements, Zusammenarbeit u.a. mit Luc Bondy; Veröffentlichung mehrerer Bücher und CDs mit Chansons. Ende der Spielzeit ist Modianos zweiter Roman und die erste Buchveröffentlichung auf Deutsch.
Von einem Moment auf den anderen ist Ali unauffindbar, geschluckt von den schrecklichsten Ahnungen. Der Augenstern einer ganzen Familie, der mit seinem Verschwinden tausend Fragen offen und eine verzweifelte Familie zurücklässt. Eine weitere Facette des Romans; die Geschichte einer aufgeladenen Schuld. Was geschieht mit all jenen, die aus welchen Gründen auch immer ihrer Heimat meist für immer den Rücken kehren und andere zurücklassen, die nicht folgen können oder wollen? Wie weit zieht man mit Flucht seine Familie mit ins Unglück? Wie ist das Leben in dieser perfekt scheinenden Kulisse zu ertragen? Auch hier ein Buch der Kontraste. Über einen Mann, der den Westeuropäer, den Schweizer zu verstehen versucht, dem vieles ein Rätsel bleibt.
Usama Al Shamani, geboren 1971 in Bagdad und aufgewachsen in Qalat Sukar (Al Nasiriyah), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert, er publizierte drei Bücher über arabische Literatur, bevor er 2002 als Flüchtling in die Schweiz kam. Er arbeitet heute als Dolmetscher und Kulturvermittelter und übersetzt ins Arabische, u. a. «Fräulein Stark» von Thomas Hürlimann und «Der Islam» von Peter Heine. Usama Al Shamani lebt mit seiner Familie in Frauenfeld.
Aber irgendwann schafft es die kleine Marie, die gehärtete Seele ihrer Tante zu erweichen. Nicht durch Überzeugung, aber mit der Erkenntnis, es den Pflanzen gleichtun zu müssen, freundlich zu erblühen, selbst mit ganz wenig Wasser.
Claudia Schreiber wurde 1958 als das vierte von fünf Kindern geboren, die Eltern waren Landwirte, Obstbauern und später Konservenfabrikanten. Nach dem Studium wurde sie 1985 Redakteurin und Reporterin beim Südwestfunk Baden-Baden, später Redakteurin, Reporterin und Moderatorin beim Zweiten Deutschen Fernsehen Mainz, wo sie die Kinder-Nachrichtensendung logo! realisierte. 1992 begann – in Moskau – ihre Arbeit als Autorin, seit 1998 lebt und arbeitet Claudia Schreiber in Köln.
Wolfgang ist sechzehn. Nicht einmal sein Geburtstag ist Grund zur Hoffnung oder Freude. Wolfgang hat längst resigniert, den väterlichen Terror zur Selbstverständlichkeit erklärt. So sehr er die blauen Flecken seiner Mutter, ihr stundenlanges Beten im Bügelzimmer, seine permanete Angst und Verunsicherung, seinen blinden Gang auf dem Minenfeld hinnehmen muss, so sehr wird er zum Beschützer seiner kleinen Schwester Leonie, deren Auflehnung gegen ihren Vater irgendwann in der Katastrophe enden muss.
Michèle Minelli wurde 1968 in Zürich geboren und arbeitete zuerst als Filmschaffende, später als freie Schriftstellerin. Sie schreibt Romane, Sachbücher und probiert gerne verschiedene Textformen aus. Mit vierzig absolvierte sie das Eidgenössische Diplom als Ausbildungsleiterin und unterrichtet seither regelmäßig „Kreatives Schreiben“ und andere Themen in literarischen Lehrgängen.