Juli Zeh «Neujahr», Luchterhand

Ein Familienurlaub auf Lanzarote über Weihnachten und Neujahr. Henning ist mit Neujahrsvorsätzen auf einem geliehenen Rad vom Ferienhaus unterwegs hinauf nach Femés. Was als Fahrradtripp beginnt, wird zum Alptraum. Henning öffnet die «Büchse der Pandora», jenes schwarze Loch mit der Angst, damit sein ganzes Leben, seine Familie, seine Ehe aus den Angeln zu heben.

Henning ist verheiratet und hat zwei Kinder. Eigentlich geht es ihm gut, gemessen an anderen sowieso. Der Urlaub auf Lanzarote soll Aufschub gewähren vor dem, was er in seinem Leben nicht mehr abwenden zu können scheint; der zunehmende Stress in seinem Beruf, die immer enger werdenden Pflichten, all das, was er nicht mehr auf die Reihe bringt, was an Hoffnungen und Wünschen auf der Strecke bleibt.
Er und seine Frau haben sich arrangiert. Familien- und Erwerbsarbeit sind auf beider Schultern verteilt, ein kleines Studio ganz oben unter dem gleichen Dach Rückzugs- und Arbeitsort, beide verdienen ganz passabel und die Kinder gedeihen prächtig.

Aber Henning geht es nicht gut. Alles an Pflichten und Erwartungen, seien es äussere oder innere, schnüren an seiner Kehle, drücken auf die Brust. Immer häufiger springt ihn ES an, ein Gefühl, das ihm den Atem nimmt, das Herz aus dem Rhythmus bringt, den Schweiss kalt aus den Poren treibt. Panikattacken, die ihm nicht nur den Schlaf, auch Ruhe und Zuversicht rauben. Zustände, die ihn abdrängen und alles Gleichgewicht pulverisieren. Panikattacken, denen er sich immer mehr ergibt und die seine Frau immer mehr aus der Reserve locken. «Sei ein Mann. Einer, den man lieben kann.»

Aus einer Laune heraus besteigt Henning am Neujahrstag ein Mietfahrrad. Und obwohl er schlecht ausgerüstet ist, weder Wasser noch etwas zu Essen bei sich hat, das Tshirt schon bald an seiner Haut klebt und der Wind und der wachsende Schmerz in seinen Muskeln unmissverständlich machen, wie unvernünftig der Tripp ist, pedalt sich Henning in einen wahren Rausch hinauf auf einen Pass. Die wiegenden Bewegungen auf dem Rad werden zu einem Stampfen gegen alle Zwänge, der Pass oben am Horizont das Fadenkreuz seines Lebens. So sehr die Muskeln schmerzen, so sehr Hunger und Durst nagen, der letzte Schweiss aus den Poren tropft, so sehr scheint er mit der wachsenden Distanz alles hinter sich liegen lassen zu können. Erst recht, als ihn oben, völlig entkräftet, eine SMS erreicht, die ihm alles wegzureissen scheint.

Wie damals. Denn auf dem Pass, über allem, was sein Leben ausmacht, im Delirium von Unterzuckerung und totaler Erschöpfung, in der Angst, dass ihn das ES ein weiteres Mal in die Zange nimmt, trifft er an einem Ort ein Haus. Ein Haus und einen Ort, den er zu kennen glaubt, ein Déjà-vu. Mit einem Mal zerrt die verdrängte Vergangenheit einen Vorhang nieder, öffnet sich die Büchse der Pandora.

Ist das, was man sieht und fühlt, das, was wirklich ist? Juli Zeh spürt einer Existenz nach, die sich vergessen hat, beweist einmal mehr wie viel menschlichen Durchblick sie umzusetzen weiss, wie nahe sie den direkten Problemen des modernen Menschen ist. Henning ist ein männlicher Archetyp; angepasst, modern, verantwortungsbewusst, gestresst und unglücklich. «Neujahr» ist aber nicht eindimensional. Henning stellt sich weder der Gegenwart noch der Vergangenheit. Erst wenn ihn die Konfrontation dazu zwingt – dann aber umso heftiger! «Neujahr» schmerzt beim Lesen, weil Juli Zeh von frühkindlichen Verletzungen erzählt, dessen seismischen Folgen  unaufhörlich Hennings Leben erschüttern. «Neujahr» erfrischt beim Lesen, weil Juli Zeh glasklar erzählt. Juli Zeh ist ein literarisches Ereignis!

© Peter von Felbert

Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, studierte Jura in Passau und Leipzig. Schon ihr Debütroman «Adler und Engel» (2001) wurde zu einem Welterfolg, inzwischen sind ihre Romane in 35 Sprachen übersetzt. Ihr Gesellschaftsroman «Unterleuten» (2016) stand über ein Jahr auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Juli Zeh wurde für ihr Werk vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Rauriser Literaturpreis (2002), dem Hölderlin-Förderpreis (2003), dem Ernst-Toller-Preis (2003), dem Carl-Amery-Literaturpreis (2009), dem Thomas-Mann-Preis (2013), dem Hildegard-von-Bingen-Preis (2015) und dem Bruno-Kreisky-Preis (2017) sowie dem Bundesverdienstkreuz (2018).

Rezension «Unterleuten» auf literaturblatt.ch

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Beitragsbild © Sandra Kottonau