Angelika Waldis «Ich komme mit», Wunderraum

Als ich dieses Buch Anfang November kaufte meinte die Buchhändlerin: Sie werden sehen, das wird Ihr Buch des Jahres 2018, worauf ich entgegnete, ich lasse mich gerne überraschen aber eigentlich hätte ich meine Wahl bereits getroffen …

Eine Buchbesprechung von Elisabeth Berger, gehalten am 10. Dezember im «Tröchneturm» in St. Gallen, am Bücherabend am Kamin

Ein Leben-bejahendes Buch für jung und alt, in einer ganz jungen Sprache.
Wir lernen Lazar Laval kennen, genannt Lazy, Student und Vita, um die 70.
Die beiden wohnen im gleichen Mehrfamilienhaus und machen sich manchmal Gedanken. Vita etwa, wenn sie die roten Turnschuhe vor der Tür stehen sieht. Lazy, wenn er der etwas schrägen Alten von oben wieder einmal begegnet.
Vita hat irgendwann das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, weil die roten Turnschuhe wochenlang unverändert dastehen. Und so erfährt sie, dass Lazar immer wieder ins Spital muss, weil er Leukämie hat. Nun macht sich Vita noch mehr Gedanken. Ihr Helferinstinkt regt sich. Lazar ist zeitweise so schlecht unterwegs, dass er Vitas Fürsorge immer mehr zulässt. Von den gelegentlichen Wurstbroten anfänglich, geht er später regelmässig bei ihr essen. Und als es noch mehr bergab geht mit ihm, bekommt er das Zimmer von Vitas Sohn Moritz, der in Australien lebt und sich selten meldet. Die beiden reden und schweigen zusammen, können lachen, sich auch in Ruhe lassen und entwickeln ein Art Wortspielerei beim Philosophieren darüber, was Leben eigentlich ist.

Als es Lazy immer mieser geht, sagt er irgendwann: «Wenn die nächste Chemo nichts bringt, dann hau ich ab.» – und Vita sagt: «Ich komme mit.»
Vor der endgültigen Abreise findet Vita, sie könnten aber vorher nochmals richtig verreisen. Und weil Lazy fasziniert ist von allem, was sehr alt ist (weil er es selber nie werden wird, wie er vermutet), geht die Reise in die Türkei zur ältesten Tempelanlage der Welt (Göbekli Tepe), erbaut vor mehr als 11’000 Jahren (7000 Jahre älter als Stonehenge und die Pyramiden von Giseh).
Die Reise ist schwierig. Einerseits hat Lazy eine Begegnung, die ihn wieder Leben spüren lässt, andererseits macht sein Körper immer weniger mit. Und wieder zuhause wollen sie eigentlich das geplante Vorhaben umsetzen … eigentlich …

Trotz der Thematik ist das Buch zu keinem Moment schwer, was am lockeren, aber zu keiner Zeit oberflächlichen Schreibstil liegt. Und am ganz überraschenden Schluss.

Gastbeitrag von Elisabeth Berger

Angelika Waldis liest aus «Ich komme mit» am 18. Februar um 20 Uhr in der Kellerbühne St. Gallen.

© Peter von Felbert

Angelika Waldis ist 1940 geboren und denkt immer noch, sie sei nicht alt. Sie ist in Luzern aufgewachsen, hat an der Universität Zürich eine Weile studiert (Anglistik/Germanistik), ist aber bald abgehauen in den Journalismus und in die Ehe mit ihrer ersten Liebe, dem Gestalter Otmar Bucher. Mit ihm hat sie einen Sohn, eine Tochter und eine Jugendzeitschrift gemacht. Heute hat sie drei Enkel sowie Freuden und Ängste beim Bücherschreiben. Ihr Roman »Aufräumen« (2013) war in der Schweiz ein Bestseller. Was sie häufig tut: in Gartenerde wühlen, mit Wörtern spielen, sich über dumme Zeitgenossen ärgern, neugieren und staunen.

Webseite der Autorin

Lieber Wolf Haas

Ich lief in Zürich der Limmat entlang und sah in Eile diesen Mann, den ich kannte. Ich war schon ein paar Schritte weiter, als es mir in die Erinnerung schoss. Das waren Sie, Wolf Haas, von dem ich eben ein weiteres Buch gelesen, über den ich mich gerade eben im Zug mit einem Freund unterhalten hatte. Ich ging die paar Schritte zurück und schaute durch die grosse Fensterfront. Sie sassen in einem tiefen Sessel, schauten in ihr Mobilephone. Auf dem Tischchen vor ihnen stand ein halb volles Glas Fruchtsaft. Oder zumindest sah es alkoholfrei aus. Ich zögerte einen Augenblick, entschied aber, dass es keiner dieser endlos vielen Augenblicke werden sollte, die ich in meinem Leben unter dem Titel „Ich hätte es tun sollen“ abbuche. Ich betrat das Lokal, überhörte den Gruss der jungen Frau hinter der Theke und stellte mich vor Sie. Ich grüsste Sie mit Namen, wollte die Reaktion prüfen, meine letzten Zweifel beseitigen, sieht doch jemand, den man sonst nur aus Interviews auf dem Bildschirm oder aus Reihe 28 bei einer Lesung in einem riesigen Saal kennt, in der eigenen Realität entscheidend anders aus. Sie hoben den Kopf, grüssten zurück und ich sagte meine Sätze, wie sehr ich ihr Buch mag, wie sehr ich ihr Schreiben bewundere und wie tief ich mich vor ihnen verneige. Sie lächelten, nahmen die Huldigung wie einer entgegen, der sich noch immer wirklich freut, was wiederum mich freute. Ich zog mich wieder zurück, liess sie wieder allein in Zürich an der Limmat, bei einem Fruchtsaft und ihrer Verbindung in den Äther.
Ich war unterwegs ins Literaturhaus, ein paar Blocks weiter. Delphine de Vignan las. Jetzt im Nachhinein frage ich mich, was geworden wäre, wenn ich noch ein paar Bissen Mut mehr gehabt hätte, wenn ich sie frech gefragt hätte, ob ich mich für ein paar Minuten hätte zu ihnen setzen dürfen. Ich tat es nicht, das war gut. Sie schenkten mir einen Blick, ihre Überraschung und ihre Freude. Und einen Augenblick, den ich wohl noch einige Male erzählen und ausschmücken werde, bis er eine Erinnerung wird, jener Moment, als ich Wolf Haas in Zürich traf.

Lieber Herr Frei-Tomic,
vielen Dank für Ihre Nachricht an Wolf Haas, die wir dem Autor weitergeleitet haben. Herzliche Grüße, der Verlag

Lieber Wolf Haas,
«Junger Mann» ist, was man von einem Haas erwartet. Er muss etwas anders sein, als alles andere, was man liest; der Schauplatz normaler, der Witz direkter,  die Pointen schlagender, das Personal in seiner Art so bieder, dass es einem im Kleid der 70er Jahre schon wieder schräg erscheint. «Junger Mann» ist ein echter Haas; mit Schalk erzählt, so gekonnt konstruiert, als würden Sie einfach bloss aus Ihrem Leben erzählen. Ein Buch, das nach seiner Verfilmung schreit, das im besten Sinn unterhält, ohne nie auch nur einen Hauch Oberflächlichkeit zu verströmen.

Ein Junge wächst auf, wo die High Society ihre Ruhe in grossen Häusern sucht und alle andern sonst nur weg wollen. Und wer es nicht schafft, hofft auf die Wende nach der Ausbildung oder das Geschäft mit denen, die in den Ferien in den grossen Häusern leben. Der Junge macht einen Ferienjob an der Tankstelle, nach einem Beinbruch von allzu viel tröstender Schokolade aufgequollenen einen orangen Overall gezwängt. «Danke Fräulein», piesackt man ihn. So wie Tscho in seinem Truck, wenn der Junge auftankt und das Insektenmassaker von der Frontscheibe putzt. Tschö hat eine Freundin, eine Frau, Elsa, die dem Jungen nach winterlichem Frontscheibenkratzen wie eine Erscheinung unauslöschlich ins Herz schiesst. Aber er, der Junge, von dem Sie, Herr Haas, bei Interviews verraten, dass einiges von Ihnen in der Geschichte steckt, in seiner Speckhülle vom Glück abgetrennt, bleibt weggeschlossen, irgendwie vom Leben abgetrennt. Also beginnt er zu fasten. Und so wie die Kilos schwinden, nimmt ihn das Leben im Dorf immer mehr mit, bis ihn Tscho heisst, in den Truck zu steigen. Er brauche ihn, den Gescheiten, als Dolmetscher. So wird der zweite Teil Ihres Romans ein Roadtripp. Tscho braucht seinen Begleiter aber nicht, um an der Grenze zu dolmetschen. Der Junge soll aber durchaus vermitteln, schlussendlich sogar mit einer Knarre in der Hand.

Lieber Herr Haas, Sie erzählen Geschichten, die anrühren, ohne je kitschig zu sein. Mit Ihrer unverwechselbaren Art des Humors entgehen Sie allen Untiefen der Rührseligkeit. Wer «Junger Mann» gelesen hat, mag Sie noch mehr als zuvor, denn Sie schneiden nie auf, nie. Auch nicht, wenn Sie vor vollem Saal hunderte von Begeisterten verzücken.

Wolf Haas wurde 1960 in Maria Alm am Steinernen Meer geboren. Seine Brenner-Krimis erschienen ab 1996 in acht Bänden, zuletzt «Brennerova» (2014). Der Roman «Das Wetter vor 15 Jahren» erschien 2006, «Verteidigung der Missionarsstellung» 2012 bei Hoffmann und Campe. Wolf Haas lebt in Wien.

Beitragsbild © Josef Perndl

Zaza Burchuladze «Touristenfrühstück», Blumenbar

Georgien war Gastland an der Frankfurter Buchmesse 2018. Über Gäste spricht man nicht schlecht. Aber wenn man den Gesprächen mit dem georgischen Schriftsteller Zaza Burchuladze im Netz folgt, dann wird klar, wie dieses Land am Schwarzen Meer, zwischen Russland und der Türkei eingekeilt, von innen und aussen zerbröselt wird. In „Touristenfrühstück“, vom Verlag als Roman bezeichnet, erzählt Zaza Burchuladze von diesem „Zerbröselungsprozess», nicht nur in seinem Heimatland, sondern als Folge auch ihn ihm selbst.

„Vielleicht werde ich damit leben müssen. Vielleicht ist das meine Prüfung. Vielleicht bin ich verdammt, Tbilissi in mir herumzutragen wie einen Flaschengeist.»

Zaza Burchuladze, der in Georgien als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Autoren gilt, musste sein Land 2014 verlassen, nachdem ihm offen mit dem Tod gedroht und er auf der Strasse verprügelt wurde. Seither lebt der Autor in Berlin. Seine Bücher werden in seinem Heimatland öffentlich verbrannt.

In seinem 2017 ebenfalls bei Blumenbar veröffentlichten Roman «Adibas» erzählt Zaza Burchuladze vom «Fünf-Tage-Krieg» 2008 mit Russland. Während der Himmel über der georgischen Stadt Tiflis von russischen Kampfjets zerrissen wird, vergnügt sich die Mittel- und Oberschicht ausgiebig und ausgelassen. «Es wird gevögelt, gekokst, es wird gelebt, gefeiert, aber wenig nachgedacht.» Ein Bild, das sich nicht nur in Georgien zeigt. Während man anderorts verhungert, verdurstet, während selbst Kinder ertrinken und vergessen werden, verglüht und verraucht hier schnell, was an gewissen Tagen mediales Entsetzen hervorbringt.

Zaza Burchuladze lebt in Berlin, im Ungewissen darüber, ob er je in sein verlorenes Georgien zurückkehren kann. Zaza Burchuladze ist voller Zweifel darüber, dass seine Sprache «klebrig, pampig, wie Beton geworden ist. Sie fliesst nicht mehr so wie früher.» Zweifel darüber, nicht mehr zu wissen, für wen er schreibt.

«Natürlich bin ich nicht der einzige, der die Vergangenheit in sich und mit sich herumschleppt wie eine Flaschenpost auf offener See, wobei es fraglos ist, dass die darin enthaltene Nachricht keinen allgemeinen Wert hat.»

Als Leser begleite ich in «Touristenfrühstück» den Autor auf seinen Gängen durch Berlin, in seinem Alltag in einer Stadt, die ihm die Entfernung zu seiner Heimat unsäglich unendlich scheinen lässt, ein ander Mal nur durch Oberflächlichkeiten verborgen. Auf dem Weg zu seinem Arzt zur Interferonbehandlung von Hepatitis C, in Deutschland durch Kassen finanziert, in Georgien ein Grund, die Existenz zu verlieren. Zum Treffen mit seinem Verleger, der den Zweifel schürt, ans Bett seines Kindes, das eine Geschichte erzählt bekommen will, das unbekannte Begriffe wie glänzende Kiesel mit nach Hause bringt. Ein Leben zwischen Vergangenheit, Gegenwart und ungewisser Zukunft, hin- und hergerissen zwischen Zorn und Sehnsucht, Bitterkeit und verblassenden Träumen, aufgerieben in Gegensätzen.

«Vielleicht spiele ich hier mit Allgemeinplätzen, aber das Fazit ist doch, dass der ‹homo civis› hier in Berlin nur in besonderen Ausnahmefällen gegen die Ordnung verstösst, wir Georgier aber nur in besonderen Ausnahmefällen die Ordnung einhalten.Wenn keines von beiden eine Perversion ist, muss es eine Frage der Ehre sein»

Dass auf dem Buchdeckel «Roman» geschrieben steht, muss nach «Adibas» eine verkaufstechnische Notwendigkeit gewesen sein, Strategie des Verlags, um den Sog des einen Buches ausnützen zu können. «Touristenfrühstück» ist ein Berlin-Tagebuch, ein Buch der Auseinandersetzung, der Konfrontation. Ein Buch, das es mir zu Beginn schwer machte, bis der Autor zu meinem Begleiter wurde und mich neugierig auf «mehr» machte.

© Ira Koklozin

Zaza Burchuladze, 1973 in Tbilissi geboren, übersetzte Fjodor Dostojewski und Daniil Charms ins Georgische. Heute lebt und arbeitet er in Berlin. Für seine Romane wurde er mehrfach ausgezeichnet. Bei Blumenbar erschien 2015 sein Roman »adibas«, der von der Stiftung Buchkunst zum »schönsten Buch des Jahres« gewählt wurde. 2017 folgte sein Flucht- und Heimatroman „Touristenfrühstück“, für den er 2018 mit dem Brücke-Berlin-Preis ausgezeichnet wurde.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Norbert Gstrein «Die kommenden Jahre», Hanser

Richard und Natascha sind ein Paar, Fanny ist ihr Kind. Richard ist Glaziologe, Gletscherforscher, Natascha Schriftstellerin. Es gab eine Zeit, da interessierten sich sich für die Welt des anderen. Das Interesse ist Sache geworden, Intimität entglitten, Missverständnis und Negativdeutung der Normalfall. Und als Natascha im Sommerhaus am See eine syrische Familie einquartiert, droht alle Selbstverständlichkeit zu kippen.

Norbert Gstrein scheut sich nicht, politische und gesellschaftliche Themen zu den seinen zu machen. Sein Roman ist vielschichtig. Es sind Szenen einer auseinanderbrechenden Ehe. Was tun, wenn das Schicksal geflüchteter Familien plötzlich zum eigenen Schicksal wird? Wenn die Bedrohungen von Fremdenfeindlichkeit, diffusen Ängsten und Hass bis in die eigene Familie wirken? «Die kommenden Jahre» ist ein Roman über einen Mann, der sich meine Sympathie durch Feigheit verspielt. Es ist gar nicht so einfach, den Protagonisten zu mögen, denn ich würde ihn gerne aus seiner Lethargie schupsen. Ein Krisenroman; über die Klimakrise in Ehe und auf den schwindenden Gletschern, in Krisen innen und aussen.

Richard ist oft weg von seiner Familie, auf Forschungsreisen und Kongressen. Und seit seine Frau in ihrem Wunsch, etwas Positives in einer immer akuter werdenden Gesellschaftskrise zu tun, einer syrischen Flüchtlingsfamilie das Sommerhaus als vorübergehenden Wohnsitz einrichtet, wird seine Abwesenheit immer mehr zur Flucht, zu einem Absprungbrett in seinem Kopf. Was wäre wenn?

Da ist sein kanadischer Freund Tim, der sich nicht binden lässt. Ein Mann, der an seine Grenzen geht und darüber hinaus. Etwas, was Richard nicht gelingen will, schon gar nicht in seiner Ehe, im Konflikt um das Sommerhaus am See. Da ist seine mexikanische Kollegin Idea, wie Tim ebenfalls Gletscherforscherin. Eine Frau, die ausspricht, was er kaum zu denken wagt, eine Frau, die seine Feigheit spürt und sie mehr als deutlich spiegelt. Eine Frau, zu der sich Richard hingezogen fühlt, genauso wie zu Nataschas Zwillingsschwester, die vor Jahren bei einem tragischen Unfall starb. Ein Unfall, bei dem Richard Schuld mit sich herumträgt.

Da ist diese Familie aus Damaskus, zu der Natascha Nähe sucht, zur Beschützerin wird, mit der ihr Schreiben verwickelt wird, an der sich die Ehe zerreibt. Das Haus am See, einst Ferienasyl der Familie, nun Asyl einer vom Krieg vertriebenen Familie. Brennpunkt von Auseinandersetzungen, Schauplatz in Zeitschriften und Zeitungen, bis Gefühle überkochen und ein Schuss fällt.

Ein Roman über Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Bin ich das, was ich will? Ist das, was ist, die Wahrheit? Wie viel spiele ich mir selbst vor? Habe ich Angst vor Entscheidungen? Lebe ich das Leben, das mir zusteht, von dem ich will, das es meines ist?

Auch wenn es vordergründig um eine Flüchtlingsfamilie geht, darum, was aus Hilfe werden kann, wie gute Absichten schlechte Auswirkungen nach sich ziehen können – auch wenn es die Geschichte eines Unentschlossenen, eines Feiglings ist, ist «Die kommenden Jahre» in erster Linie ein hervorragender Eheroman. Die Geschichte von Verfahrenheit und Ausweglosigkeit. Norbert Gstrein malt nicht aus, bringt Unordnung in das eigene Denken, stösst mich als Leser wie das Leben selbst in Situationen, aus denen es eigentlich keine Rettung gibt.

© Gustav Eckart

Norbert Gstrein, 1961 in Tirol geboren, lebt in Hamburg. Er erhielt unter anderem den Alfred-Döblin-Preis und den Uwe-Johnson-Preis. Bei Hanser erschienen «Die Winter im Süden» (Roman, 2008), «Die englischen Jahre» (Roman, Neuausgabe 2008), «Das Handwerk des Tötens» (Roman, Neuausgabe 2010), «Die ganze Wahrheit» (Roman, 2010), «In der Luft» (Erzählungen, Neuausgabe 2011), «Eine Ahnung vom Anfang» (Roman, 2013) und «In der freien Welt» (Roman, 2016).

Linn Ullmann an der BuchBasel

Linn Ullmann letztes deutsch erschienenes Buch «Die Unruhigen» erzählt von ihren drei grossen Lieben. Jener zu «Hammars», dem Ort am Meer, an dem ihr Vater ein Haus gebaut hatte. Der Liebe zu ihrem Vater, dem Filmemacher Ingmar Bergmann und jene zu ihrer Mutter, der Schauspielerin Liv Ullmann. Drei Lieben, bei denen es kaum gemeinsame Liebe gab, kein Familienidyll, kein Bild von Vater, Mutter und Tochter.

Ob nacherzählt oder Fiktion, ob erinnert oder gewoben, spielt keine Rolle. «Die Unruhigen» ist ein ganz eigener Familienroman, ein behutsame Annäherungen an Menschen, die unglaublich viel Raum für sich beanspruchen. Ein Familienbuch. Das Buch einer Annäherung. Ein Buch der Tochter über ihre Liebe zu ihrem Vater, der Liebe zu ihrer Mutter, auch wenn die Liebe der beiden Eltern untereinander irgendwann abhanden kam.

«Ich bin ein vierundsiebzig Jahre alter Mann, und erst jetzt beschliesst Gott, mich aus dem Kinderzimmer zu werfen.»

Linn Ullmann nennt weder ihren Vater Ingmar Bergmann (Drehbuchautor, Film- und Theaterregisseur, 1918 – 2007) noch ihre Mutter Liv Ullmann (geb. 1938, Schauspielerin und Regisseurin) mit Namen. Nicht bloss aus Respekt, sondern weil ihr Erzählen fiktionalisiert ist. Es geht nicht darum, den voyeuristischen Blick jener zu stillen, die nach Enthüllungen gieren. Auch wenn «Die Unruhigen» kein Buch über eine «normale» Familie ist, denn der Vater ist berühmt, umgeben von Frauen, die Mutter ebenfalls berühmt und viel unterwegs, in der Kindheit des Mädchens lange nicht anwesend und die Tochter einmal da, einmal hier, umgeben von Kindermädchen, die in ihrer Not mit dem Kind die Flinte ins Korn werfen.

Am Ursprung des Buches lag ein gescheitertes Buchprojekt. Ein Buch, dass Linn Ullmann zusammen mit ihrem alt und krank gewordenen Vater schreiben wollte, ein Buch über Erinnerungen, Träume, Ängste und Bilder. Ein Buch, an dessen Beginn ein kleines Aufnahmegerät stand, dass die Fragen und Antworten zuverlässig hätte aufzeichnen sollen, Fragen, die angesichts der fortschreitenden Krankheit zu spät gestellt wurden und im Vergessen des Vaters verloren gingen. Aufnahmen, die in Nebengeräuschen zu verschwinden drohten, so unbrauchbar schienen, dass sie auf einem Dachboden vergessen gingen, bis der Zufall sie wieder in die Hände der Tochter zurückbrachte. So wie das verschwommene Foto auf dem Cover des Romans. Ein Bild, das die Autorin lange mit sich auf ihrem Mobilphone herumtrug.

«Er sagte, dass Dinge fort waren. Er sagte, dass die Worte verschwanden. Wäre er jünger gewesen, hätte er ein Buch darüber geschrieben, alt zu werden. Doch jetzt, da er alt war, schaffte er das nicht.»

So sassen Tochter und Vater in den letzten Monaten eines langen Lebens im selbst gebauten Haus auf der Ostseeinsel Fårö zusammen, um festzustellen, dass Erinnerung vergessen geht. Die Erzählerin will all die Bilder ihres Lebens nicht verblassen lassen, nicht noch unschärfer werden lassen.

«Die Unruhigen» ist komponiert, unterteilt in sechs Kapitel, wie die sechs Violoncellosuiten von Johann Sebastian Bach. So wie jede Suite ihren Ton, ihr Temperament hat, zeigt sich dies auch in den sechs Kapiteln des Romans, deren Tonarten nicht dem Zufall überlassen sind, die beweisen, wie behutsam und mit wie viel formalem Bewusstsein sich die Autorin ihrem Vater und ihrer Mutter annähern will.

«Um über wirkliche Personen zu schreiben wie Eltern, Kinder, Geliebte, Freunde, Feinde, Onkel, Brüder oder zufällige Passanten, ist es notwendig, sie zu fiktionalisieren. Ich glaube, dies ist der einzige Weg, ihnen Leben einzuhauchen. ‹Sich erinnern› heisst, sich umzuschauen, immer wieder, jedes Mal von Neuem erstaunt.»

© Agnete Brun

Linn Ullmann ist eine der bedeutendsten Autorinnen Skandinaviens. Ihre Romane sind vielfach preisgekrönt und in 30 Sprachen übersetzt. 2017 erhielt sie von der Schwedischen Akademie den Doubloug-Preis für ihr Gesamtwerk. Bei Luchterhand erschien zuletzt „Das Verschwiegene“ – unter dem Titel „The Cold Song“ u.a. auf der Jahresbestenliste der New York Times und eines der Lieblingsbücher von James Wood (New Yorker). Für „Die Unruhigen“ erhielt sie den Hörerpreis des Norwegischen Rundfunks, der Roman war für den Kritikerpreis und den Nordischen Literaturpreis nominiert. Eine Bühnenfassung wird im Herbst 2018 am Königlichen Dramatischen Theater Stockholm unter der Regie von Pernilla August ihre Uraufführung haben.

Paul Berf, geboren 1963 in Frechen bei Köln, lebt nach seinem Skandinavistikstudium als freier Übersetzer in Köln. Er übertrug u. a. Henning Mankell, Kjell Westö, Aris Fioretos und Selma Lagerlöf ins Deutsche. 2005 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Schwedischen Akademie ausgezeichnet.

Beitragsbild © Ben Koechlin

Karl-Heinz Ott «Und jeden Morgen das Meer», Hanser

Sie ist abgetaucht, hat mit ihrem alten Leben gebrochen, radikal und unumkehrbar. Die Frau, die im Lindenhof am Bodensee zusammen mit ihrem Mann einen Gourmettempel führte, wo sich die Prominenz die Klinke gab, führt inkognito ein altes, ausgezehrtes Hotel an der walisischen Küste und versteckt sich vor allen, auch vor sich selbst.

Kann man seiner Vergangenheit den Rücken kehren? Kann man neu beginnen oder ist aller scheinbarer Neubeginn eine Flucht vor dem Alten, von dem man sich nicht wirklich lösen kann?
Sonja war 30 Jahre an der Seite ihres Mannes Bruno Chefin eines Hotels, sie an der Front, Bruno in der Küche. Der Fluch begann an jenem Tag, als Bruno für seine Küche einen Stern bekam. Was dem Gast Massstab ist, von der Öffentlichkeit als Adelstitel auf Zeit interpretiert wird, was zum Tor zur Öffentlichkeit werden kann, war für Sonja und Bruno der Beginn des Untergangs. Das Leben, das bis zum Stern schon hart genug war, nimmt nach der Auszeichnung an Härte nur noch zu. Erwartungen steigen ins Unermessliche, alles soll perfekt sein. Nicht bloss das Essen auf dem Teller, sondern das ganze Haus, das nicht nur nach Pinsel und Farbe schreit, sondern nach einer rigorosen Sanierung. Aber woher das Geld, wenn der Betrieb alle Einnahmen schluckt? Woher die Energie, wenn die Arbeit alles frisst, selbst das wenige, das vom Eheleben übrig geblieben ist.

Wärs nur die Geschichte eines unaufhaltsamen Untergangs. Aber es ist auch die Geschichte unendlicher Herablassung, denn niemand anders als Brunos Bruder zwingt Sonja das Jahrzehnte alte Zentrum ihres Daseins von einem Tag auf den anderen zu verlassen. Eine Mischung aus Zwang, Erniedrigung und Nötigung lässt Sonja überstürzt die Koffer packen, alles stehen und liegen lassen und an einen Ort ziehen, von dem sie nicht einmal die Ortsnamen aussprechen kann.

Alles, was sie an dem öden Ort hält, ist das Meer, der Blick in die Weite. Hier scheint ihr nutzlos gewordenes Leben in bester Gesellschaft zu sein, ein Ort, an dem nichts nach Effizienz und Perfektionismus gemessen wird. Auch wenn sie sich dort fremd fühlt, ist das marode Hotel am Ufer des Meeres genau jener Spiegel, den Sonja braucht. Was zählt, ist nicht mehr bloss Fassade und Inszenierung, sondern jener Moment, in dem man ganz bei sich ist. Mit dem Blick aufs Meer, der ein Blick in die Ruhe, in die Weite, in die Tiefe, ein Blick zurück ist.

Sonja resümiert. Ein Mann, den seine Arbeit in den Tod stiess. Eine Ehe, die längst den Zauber verloren hatte, keine Kinder, keine Familie, nicht einmal Freundschaften, die sie über die letzte Krise hinausgetragen hätten. Schuldgefühle nach dem Tod ihres Mannes, Schuldgefühle sich selbst gegenüber, weil sie sich mehrfach durch den Bruder ihres Mannes bedrängen liess.

Karl-Heinz Otts Blick auf das Geschehen ist weder melancholisch noch tiefenpsychologisch. Seine Schilderungen des Daseins einer Highendküche, dem perfekten Betrieb auf einem Kreuzfahrtschiff, dem katholischen Internat, in dem Sonja schon früh genug gezeigt wurde, was richtig und falsch war und der Ödnis walisischer Küstenprovinz sind herrlich, sinnlich und entlarvend.
So kurz der Roman, so tief der Blick!

Karl-Heinz Ott, 1957 in Ehingen an der Donau geboren, wurde für sein Werk mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Förderpreis des Friedrich-Hölderlin-Preises (1999), dem Alemannischen Literaturpreis (2005), dem Preis der LiteraTour Nord (2006), dem Johann-Peter-Hebel-Preis (2012) und dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2014). Zuletzt erschien bei Hanser sein Roman «Die Auferstehung» (2015).

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Judith Schalansky «Verzeichnis einiger Verluste», Suhrkamp

Buchkunst – inhaltlich und formal! Judith Schalansky nimmt mich mit auf eine Reise durch Raum und Zeit. In zwölf Kapiteln in zwölf Welten, jedes Kapitel im Buch je ein Bund, zu einem grossen Ganzen gebunden. Zwölf Reisen in zwölf verschiedene Welten, von den Rändern der Mondkrater über ihre Heimat rund um Greifswald bis zu einem untergegangenen Atoll mitten im Ozean. Judith Schalansky ist eine Türöffnerin und literarische Weltenbummlerin.

Ich traf Judith Schalansky im vergangenen Sommer am Literaturfestival in Leukerbad. Während eines Interviews über ihre Arbeit als Herausgeberin der  Naturkunden-Reihe, einer ganz speziellen Sachbuchreihe, mit der der Berliner Verlag Matthes und Seitz seit ein paar Jahren Furore macht, erzählte mir Judith Schalansky von ihrem neuen Buchprojekt bei Suhrkamp. Ein Buch, das bald herauskommen werde, aber noch gar nicht zu Ende geschrieben sei. Aber da sprach weder Hektik noch Sorge. Judith Schalansky ist Sammlerin. So wie sie in ihrem Buch «Fraktur, mon amour» (2006) Schriften sammelte oder «Atlas der abgelegenen Inseln. 50 Inseln, auf denen ich nie war und nie sein werde.» (2009) Eilande mit phantastischen Geschichten, sammelt die Autorin in «Verzeichnis einiger Verluste» Abhanden-Gekommenes, Nachgesagtes und Legenden, Vergessenes.

Doch diesmal ist es nicht blosses Sammeln und Fantasieren. Judith Schalansky setzt jede Erzählung in ein Leben, gibt den Protagonisten mit schlafwandlerischer Sicherheit eine eigene Stimme, Kapitel für Kapitel, Bund für Bund. So wie auf den beiden Raumsonden Voyager I und II zwei goldenen Platten die Zeichen unserer Zivilisation in den galaktischen Raum getragen werden, beschreibt die Autorin die schattenhaften Errungenschaften der Menschheit, hinausgetragen aus dem Astralleib des Vergessenen in eine dargebotene Perle der Literatur.

Judith Schalansky kann sich regelrecht in Rage schreiben, wenn sie von ihren Beobachtungen, Forschungen und Begegnungen erzählt, als Zeuge in einem Stall bei der Geburt eines jungen Schafs, auf der Suche nach Monstern im Wallis, über dem Wunder zerstörter Architektur oder einem bei gezeigten Film. Ob in der Haut der alt gewordenen Garbo, einer schlecht gelaunten, alten Schachtel mitten in Manhatten auf der Suche nach Trost oder in jener einer jungen Mutter, die mit dem Kind im Arm auf den scheinbar untreuen Mann wartet – Judith Schalansky schafft sie alle.

Und jedem Kapitel, jedem Bund ist ein Vorsatz vorangestellt ein grauschwarz schimmerndes Papier mit dem gerade noch sichtbaren Bild zu den jeweiligen verloren gegangenen Dingen, dem Palast der Republik, dem Kaspischen Tiger oder dem Kosmos eines Armand Schulthess, der in den 70er Jahren im Tessiner Valle Onsernone seine ganz eigene Weltordnung errichtete. Bilder, die verschwinden. Geschichten, die Judith Schalansky vor dem Vergessen rettet, zurückholt, und dabei aber alle Endlichkeit deutlich macht.

Aber nicht einfach geflissentlich produzierte Recherchestücke, Splitter aus dem Suchen der Autorin, weder chronologisch, noch logisch, dafür alle mehrschichtig im Leben der Schriftstellerin und «Buchmacherin» verankert, ob mit unauslöschlichen Kindheitsbildern oder mit lebendig gewordener Geschichte!

«Wie alle Bücher ist auch das vorliegende Buch von dem Begehren angetrieben, etwas überleben zu lassen, Vergangenes zu vergegenwärtigen, Vergessenes zu beschwören, Verstummtes zu Wort kommen zu lassen und Versäumtes zu betrauern. Nichts kann im Schrieben zurückgeholt, aber alles erfahrbar werden.» Judith Schalansky

Was für ein Buch!

Judith Schalansky, 1980 in Greifswald geboren, studierte Kunstgeschichte und Kommunikationsdesign. Ihr Werk, darunter der international erfolgreiche Bestseller Atlas der abgelegenen Inseln sowie der Roman Der Hals der Giraffe, ist in mehr als 20 Sprachen übersetzt und wurde vielfach ausgezeichnet. Sie ist Herausgeberin der Naturkunden und lebt als Gestalterin und freie Schriftstellerin in Berlin.

Grosses literaturblatt-Interview mit Judith Schalansky zu ihrer Arbeit als Herausgeberin der «Naturkunden»-Reihe bei Matthes & Seitz

Beitragsbild © Sandra Kottonau

«Menschenrechte. Weiterschreiben», herausgegeben von Svenja Herrmann und Ulrike Ulrich, Salis Verlag

Die Menschenrechte werden 70, erreichen das Greisenalter, drohen zu sterben, auch wenn die hohen Hallen der UNO Ewigkeiten ausstrahlen. Svenja Hermann und Ulrike Ulrich, zwei Schriftstellerinnen, die sich vor zehn Jahren schon einmal daran machten, als Herausgeberinnen den Menschenrechten zu einem Jubiläum eine literarische Stimme zu geben, luden zusammen mit Amnesty International und dem Literaturhaus Zürich zur Buchtaufe von „Menschenrechte. Weiterschreiben“ ein.

Art. 1
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

Vor 70 Jahren, von den Schrecken eines Weltkriegs gebrannt, im Wissen darum, dass nur Toleranz und Völkerverständnis, gleiche Rechte für alle und ein einigermassen verbindliches Gefühl für Sicherheit eine weitere kriegerische Katastrophe verhindern kann, formulierte man 30 Artikel allgemein gültiger Menschenrechte. Die UNO machte sich zum Hüter des Grals, baute hohe Häuser, hisste viele Fahnen, schützte sich mit blauen Helmen und glaubte daran, dass Dialog der einzige Weg sein müsste, die Welt vor einem erneuten Aufflammen globalen Krieges zu schützen.

Art. 5
Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.

Statt dessen sind Politik und Wirtschaft der Welt der Arroganz wie niemals zuvor ausgeliefert. Wer die 30 Artikel der Menschenrechte liest, schüttelt den Kopf. Nicht über deren Inhalt, sondern über ihre Bedeutungslosigkeit angesichts selbstverliebter Potentaten und allmächtiger Konzerne. Wer sie wirklich liest und sich auf sie einlässt, spürt die Hoffnung, die darin steckt, den Glauben an die Menschheit, den ungebrochenen Glauben an eine menschenwürdige Zukunft, dass Wissen, dass einzig Toleranz und Respekt einer drohenden Katastrophe entgegenwirken können. Das Lesen der 30 Artikel der Menschenrechte schmerzt, tut weh, dieser selbstverständliche, gradlinige Ton, diese Sätze, die offensichtlich und überall mit Füssen getreten werden, sei es von den eigenen Politikern im Land, den umsatz- und wachstumsgeilen Wirtschaftskäpitänen oder selbstverliebten Staatsoberhäuptern diesseits und jenseits der grossen Wasser. Die Distanz und Diskrepanz zwischen formuliertem Recht und globaler Wirklichkeit sind hanebüchen.

Art. 12
Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.

30 Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus allen Landesteilen der Schweiz wurden von den Herausgeberinnen angefragt und durch das Los an einen der 30 Artikel der allgemeinen Menschenrechte zugeteilt. Entstanden sind 30 unterschiedlichste Texte, Geschichten, Gedichte, Gedanken, Essays. Literatur als Trägerin universeller Werte, die durch die Menschenrechtserklärungen verdeutlicht werden. Ein Zeugnis davon, wie weit diese Erklärungen gefasst werden können, wie leidenschaftlich sich die und der Schreibende dazu äussert.

Art. 23
Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit. Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit. Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmaßnahmen. Jeder hat das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten.

Das Buch soll zum Nach- und Weiterdenken anregen, beweisen, dass nicht gezweifelt wird an ihrer Relevanz und Stärke. In einer Zeit, in der es 70 Jahre nach der Verschriftlichung nicht mehr um Forderung, sondern um bitternotwendige Verteidigung geht. Menschenrechtskriege, Menschenrechtsverletzungen geschehen nicht nur in der Ukraine, in der Türkei, in den Strassenschluchten amerikanischer Grossstädte und staatlich organisiert an Völkern wie den Uiguren in China. Wer die Menschenrechte liest, und dazu braucht es keiner besonderen Interpretationen, stellt fest, dass es vor der Haustüre brennt, dass man uns selbst in der Schweiz fast jedes Jahr dazu zwingt, an der Urne gegen die gesetzlich verankerte Verletzung anzukämpfen.

„Das Gewissen ist ein Gefäss mit Löchern.“ Gianna Molinari

Autorinnen und Autoren:
(D) Amina Abdulkadir, Sacha Batthyany, Urs Faes, Catalin Dorian Florescu, Lea Gottheil, Petra Ivanov, Daniel Mezger, Gianna Molinari, Werner Rohner, Ruth Schweikert, Monique Schwitter, Eva Seck, Henriette Vásárhelyi, Benjamin von Wyl, Julia Weber, Yusuf Yeşilöz
(F) Odile Cornuz, Isabelle Capron, Daniel De Roulet, Heike Fiedler, Max Lobe, Noëlle Revaz, Sylvain Thévoz
(I) Laura Accerboni, Vanni Bianconi, Francesco Micieli, Alberto Nessi, Fabio Pusterla
(R) Göri Klainguti, Leo Tuor
Svenja Herrmann, 1973 in Frankfurt a. M. geboren, Schriftstellerin, Studium der Germanistik und Rechtsgeschichte, Schriftstellerin (Lyrik), seit vielen Jahren als Begabungsförderin im Bereich Literatur tätig, vor mehr als zehn Jahren hat sie »Schreibstrom« ins Leben gerufen: Ein Projekt für kreatives und literarisches Schreiben für Kinder und Jugendliche in und um Zürich, Lerntherapeutin i.A.  Jüngstes genreübergreifendes Vermittlungsprojekt in Zusammenarbeit mit der Regisseurin Bettina Eberhard: Video Poem für Jugendliche. Für ihre literarischen Arbeiten wurde Svenja Herrmann mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit einem Atelierstipendium der Landis & Gyr Stiftung (2015) und mit einem Werkbeitrag des Kantons Zürich Herbst 2015.
Ulrike Ulrich, 1968 in Düsseldorf geboren, Studium der Germanistik, Kunstgeschichte und Publizistik. Seit 2002 lebt und arbeitet sie in der Schweiz. 2010 erschien ihr Romandebüt »fern bleiben« im Luftschacht Verlag in Wien. 2008 erschien die Anthologie »60 Jahre Menschenrechte – 30 literarische Texte« im Salis Verlag. Sie ist Mitglied der Literaturgruppe index (www.wortundwirkung.ch). Ihre Texte wurden mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie 2010 den Walter Serner-Preis und einen Anerkennungspreis der Stadt Zürich, 2011 den Lilly-Ronchetti-Preis.

Karl Rühmann «Glasmurmeln, ziegelrot», rüffer & rub

Eine Kindheit im Jugoslawien Titos. Ein kleiner Junge, der seine Welt zu verstehen versucht und mit seinem kindlichen Blick mehr entlarvt als die abgeklärten Blicke der Erwachsenen. Der Junge versteht vieles nicht. Aber im Gegensatz zu den Erwachsenen geht dieser mit seinem Unverständnis  kreativ um, macht seine Geschichten zu einer Welt, die ihn zu tragen vermag.

Karl Rühmann ist mit seinem Roman «Glasmurmeln, ziegelrot» ein ungeheuer poetisches Geschichtenbuch gelungen, das in seiner mosaikartigen Erzählweise, den schimmernden Miniaturen, die sich zu einem wunderbaren Ganzen fügen, ein überaus beeindruckender Wurf ist. Ein Buch, dem ich von Herzen jene Aufmerksamkeit wünsche, die es verdient. Ein Verlag, dem mit diesem Roman Türen geöffnet werden sollen. Und ein Autor, der zwar schon lange schreibt, aber nun endlich mit jenem Wurf, der ihm Ehre gebührt.

Karl Rühmann erzählt vom Kind, manchmal in der ersten, manchmal in der dritten Person, oft im gleichen Abschnitt wechselnd, was dem Text etwas Flimmerndes gibt und ihn wegträgt von den Gefahren einer reinen Selbstreflexion. Mama ist eine Oberfee und das kleine Haus auf der Anhöhe eine schwebende Feenburg. Und die Grossmutter erzählt in Geschichten eingepackte Weisheiten, die der Junge mit sich trägt, die wirken, auch wenn er sie mit den erzählten Bildern kombiniert.

«Wenn man klein ist, hat man grosse Träume, viel grösser als man selbst und als der grösste Baum, auf den man je geklettert ist. Wenn man wächst, werden die Träume kleiner, und dann rutschen sie hinter die Kommode oder unters Bett, oder sie rollen ins Mauseloch, oder jemand steht darauf, ohne es tu bemerken.»

Das Kind versteht die Welt der Erwachsenen nicht, schon gar nicht die Bedeutung von Wörtern, die immer wieder gebraucht werden; Pflicht, Asyl, Zugeständnisse, zwecklos. Die Lehrerin wird zu einer Piratenfrau mit Goldzahn und ein Zug, den der Junge «Kennedy-Lok» nennt, nach dem amerikanischen Ritter, was ihn in der Schule nicht das einzige Mal vor den Direktor bringt.

Ein Kind, das seine Welt nicht versteht, das nicht verstanden wird, dem die Hauswartin, der Drache, nachschreit: «Was glotzt du! Du bist der Schlimmste von allen, du verfluchter Schwabe!» Der kleine Junge ficht Kämpfe aus, die man nur als Kind bestehen muss, in einer Welt, die für Erwachsene unsichtbar geworden ist. Die Schule eine Burg mit vielen Soldaten und wenigen Offizieren! Ein ganzes Land, ein ganzer Staat, jenes Tito-Jugoslawien, ein «sozialistischer» Vielvölker- und Einmannstaat, der in seiner restriktiven, staatlichen Paranoia gefangen ist.

«Glasmurmeln, ziegelrot» ist bezaubernd. So wie man die Welt durch eine Glasmurmel betrachten kann. Durch all die Verzerrungen einer kindlichen Wahrnehmung, durch die ungebrochene, naive Betrachtungsweise werden gar dunkle Seiten, bedrohliche Situationen und explosive Momente in ein schillerndes, letztlich leuchtendes Licht getaucht. Ein Blick, den sich der Autor bewahren musste, um so schreiben zu können. Uneingeschränkt empfehlenswert!

Rüffer und Rub? Ja, Rüffer und Rub, auch wenn der Verlag bis vor Kurzem ein reiner Sachbuchverlag war. Mutig und gut in Zeiten, in denen es Kleinverlagen, die sich auf das dünne Eis der Literaturveröffentlichungen wagen, immer schwerer fällt, sich neben Grossverlagen und in Grossbuchhandlungen zu behaupten. Ich wünsche dem Verlag mehr als Glück. Mit «Glasmurmeln, ziegelrot» ist ein vielversprechender Titel da!

Karl Rühmann (1959) verbrachte seine Kindheit in Jugoslawien und studierte Germanistik, Hispanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft in Zagreb und Münster. An der Story Academy der SAL in Zürich leitet er die Lehrgänge Literarisches Schreiben und Drehbuchautor/-in und arbeitet als Literaturübersetzer und freier Autor.

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Buchtrailer

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Alex Capus «Königskinder», Hanser

Tina und Max bleiben nach einem Ausflug auf dem Heimweg wider aller Vernunft eingeschneit auf dem Jaunpass in ihrem Toyota Corolla stecken. Dort in der Stille und Dunkelheit einer zugeschneiten Fahrerkabine beginnt Max die Geschichte der Königskinder zu erzählen, eine Liebesgeschichte, die im Greyerzerland beginnt, am Vorabend der Französischen Revolution, eine Geschichte, die an den Hof Ludwig XVI führt und wieder zurück in den Schoss der Berge.

Alex Capus wäre aber nicht Alex Camus, wenn er «bloss» eine rührende Liebesgeschichte erzählen würde, bei der die zuhörende Tina immer wieder einmal nachfragen muss, ob Max nicht zu dick auftrage und jener versichert, alles sei aktenverbürgt. Liebesgeschichten passieren, ob jene in und vor der Eisdiele damals mit Tina und Max oder jene zwischen Marie und Jacob vor fast 250 Jahren zwischen der Armut an den Hängen des Jaunpasses und der bröckelnden und stinkenden Feudalkultur am maroden Hof Ludwigs des XVI.

Jacob ist übriggebliebener Sohn einer Bauernfamilie. Er zieht sich auf der Alp seines Vaters zurück, lebt von dem, was die Alpwirtschaft abwirft und kehrt nur zur Übergabe des Viehs zurück ins Dorf, in dem er aufgewachsen war. Bis zu jenem Tag, als er Marie trifft, aus Blicken und einem Spaziergang in die Nüsse eine Liebe wird, die aber keine Chance hat. Maries Vater ist ein wohlhabender Bauer. Jacob ein «Halbwilder» ohne Familie, viel zu wenig für einen Bauer, der bei der Vermählung seiner Tochter strategisch denkt. Aber die Liebe lässt sich durch keine Strategie durchkreuzen. Marie und Jacob finden sich – aber Jacob muss das Land verlassen, um der Willkür des tobenden Bauern zu entkommen. Er wird Soldat am Ärmelkanal, später Kuhhirt am Hof Ludwig XVI, wo Élisabeth Philippe Marie Hélène de Bourbon, die Schwester des Königs vor den Toren Versailles ein «Landgut» betreibt, eine heile Welt direkt neben der zu Stein gewordenen Machtdemonstration des untergehenden Nachfolgers des einstigen Sonnenkönigs.

«Königskinder» ist ein Buch der Gegensätze. Hier die Geschichte Jacobs, der über Jahre auf einer Alp lebt, den Sommer durch mit Kühen und Rindern, im Winter mit sich allein. Eine Welt, die auch heute schnell ins Licht einer Idylle getaucht wird. Dort die Szenerie am Hofe des französischen Königs, der mit seinem vieltausendgrossen Hofstaat in einem Schloss haust, das kaum eine funktionierende Toilette besitzt. Hier stinkt es allerhöchstens im Stall, dort auch die langen Gängen Versailles, in den verwilderten Gärten und feuchten Zimmern.

Während sich Marie und Jacob dann doch noch finden, zu Königskindern werden, wälzt sich der Pariser Mob auf Versailles zu, tausende von Frauen, denen die vergessenen Soldaten des Königs nichts entgegenhalten können. Während sich eine Liebesgeschichte in der durch Mauern geschützten Idylle eines «Musterhofs» entfaltet, tut dies auch die Unzufriedenheit eines ganzen Volkes, das in den Monaten vor der Französischen Revolution auf den Untergang einer Jahrhunderte alten Monarchie zusteuert.

Alex Capus giesst nicht Öl ins Feuer. Unaufgeregt schildert er die Geschehnisse, die sich ganz automatisch in der Vorstellung des Lesers zum Drama wandelt. Alex Capus braucht weder Brandbeschleuniger noch Tricks, keine überraschenden Wendungen und keine aufschäumende Romantik. Allein sein Erzählen schafft Bilder, die bleiben. Da ist nichts verkrampft, kein Recherchewissen, das mir verkauft werden will. Einfach Erzählfreude, die zu Lesefreude wird, unverdünnt, konzentriert und echt.

Ich las «Königskinder» zusammen mit meinem Literaturzirkel. Zum Austausch über das Buch trafen wir uns in der «Galicia-Bar» in Olten, jenem zur Kultbar gewordenen Treffpunkt, die der Autor von der galizischen Heimwehbar zum Kulturtreff mit Ausstrahlung weit über die Stadtgrenzen hinaus machte.

Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, lebt heute in Olten. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten und Reportagen. Bei Hanser erschienen «Léon und Louise» (2011), «Fast ein bisschen Frühling» (2012), «Skidoo» (Meine Reise durch die Geisterstädte des Wilden Westens, 2012), «Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer» (2013), «Mein Nachbar Urs» (Geschichten aus der Kleinstadt, 2014), «Seiltänzer» (Hanser Box, 2015), «Reisen im Licht der Sterne» (2015), «Das Leben ist gut» (2016) und «Königskinder».

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Beitragsbild © Sandra Kottonau