Margit Schreiner «Mobilmachung. Über das Private III», Schöffling

Seit 1971 werden die Rauriser Literaturtage ausgerichtet – Thomas Bernhard war damals zu Gast, 1972 Peter Handke, 1973 Adolf Muschg, Uwe Johnson und viele andere; die Liste der prominenten Autorinnen und Autoren lässt sich bis in die Gegenwart fortsetzen – über 450 sind es inzwischen geworden. Heuer ist eine der Grossen Margit Schreiner.

„Mobilmachung“ ist nach „Vater. Mutter Kind. Kriegserklärungen“ (2021) und „Mütter, Väter. Männer“ (2022) der dritte Teil einer intensiven Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie, weit über das reine Nacherzählen hinaus. „Margit Schreiner schreibt unerschrocken gegen die Sentimentalität, den Selbstbetrug, die Lebenslüge“, schreibt Karl-Markus Gauß. Und weil die Autorin erst recht bei der eigenen Geschichte den Blick von Innen, der immer ein Blick von Aussen bleibt, braucht, spiegelt „Mobilmachung» die pränatalen und ersten Lebensjahre, jene Zeit, die sonst der Erinnerung verschlossen bleibt.

Meine eigenen Erinnerungen an meine Kindheit reichen nicht sehr weit zurück. Oft kann ich nicht unterscheiden zwischen echten Erinnerungen und jenen die sich aus Fotographien und Erzählungen generieren. Aber eine meiner ersten war mein kleiner Teddy, der vom Hund einer Tante verbissen wurde. Eine Erinnerung, die nicht einmal meine Mutter und schon gar nicht meine Tante zu bestätigen weiss.
Sie kennen Situationen, in denen Erwachsene um die Gunst von Kleinkindern buhlen, indem sie die verrücktesten Gesten produzieren und Laute, von denen Zeugen gar nicht wissen, das jene zu solchen fähig sind. Manchmal denke ich an die kleinen Kinder, was wohl in den Köpfen jener vor sich geht, wenn Buhlende sich im Gluteralen vergreifen.

Margit Schreiner «Mobilmachung. Über das Private III», Schöffling, 2023, 192 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978 3 89561 712 6

Margit Schreiner spinnt den Faden noch viel, viel weiter, bis ins wachsende Bewusstsein eines Fötus, der alles, was dieser wahrnimmt schon im Mutterbauch zu Gedanken formt. Keine Nabelschau, sondern ein Blick in den Uterus, in das Bewusstsein eines Heranwachsenden. Dieser hört und spürt, kombiniert und wertet mit den Gedanken einer Erwachsenen. Dabei spielt keine Rolle, wie weit ein solches Gedankenspiel realistisch ist. Margit Schreiner geht es um die Stimme selbst, die spiegelt. Eine Schwangerschaft im Nachkriegsösterreich, einer Gesellschaft mit klaren, patriarchalen Gesellschaftsstrukturen, einer Gesellschaft, von der man sich in der Moderne verabschiedet glaubt, die uns aber noch immer tief in den Knochen sitzt.

Ein Fötus und Säugling, der zu verstehen sucht und sich mit jeder Frage Stück für Stück emanzipiert, auch wenn dieser weiss, dass die Erwachsenen damit nicht allzu sehr überfordert werden dürfen. Nichts ist heilig, schon gar nicht die Religion, nicht einmal die Muttermilch. Man liest „Mobilmachung“ mit einer seltsamen Mischung aus Belustigung und Betroffenheit, witziger Unterhaltung und demaskierender Verwunderung. Eine „Nestbeschmutzung“ der besonderen Art, eine „Publikumsbeschimpfung“ in bester österreichischer Tradition.

Ich freue mich ausserordentlich auf die Literaturtage im Salzburgischen Rauris. Gäste sind die Spoken Word PerformerInnen Timo Brunke, Elif Duygu, Robert Prosser, die Kinderbuchautorinnen Renate Welsh, Verena Hochleitner, Luka Leben und Martina Wildner, die LyrikerInnen José F. A. Oliver, Anja Utler und Jan Wagner und die AutorInnen Milena Michiko Flašar, Laura Freudenthaler, Matthias Gruber, Sabine Gruber, Amir Gudarzi, Irene Langemann, Gianna Molinari, Tonio Schachinger, David Schalko und Margit Schreiner.

Margit Schreiner wurde 1953 in Linz geboren. Nach längeren Aufenthalten in Tokio, Paris, Berlin, Italien und dann wieder in Linz lebt sie derzeit in Gmünd, Niederösterreich. Sie erhielt für ihre Bücher zahlreiche Stipendien und Preise, u. a. den Oberösterreichischen Landeskulturpreis und den Österreichischen Würdigungspreis für Literatur. 2015 wurde sie mit dem Johann-Beer-Literaturpreis und dem Heinrich-Gleißner-Preis ausgezeichnet, 2016 erhielt sie den Anton-Wildgans-Preis. Mit «Kein Platz mehr» war sie 2018 für den Österreichischen Buchpreis nominiert.

Rauriser Literaturtage vom 3. bis 7. April 2024

Beitragsbild © Patricia Marchart

Cécile Wajsbrot «Mémorial», Wallstein

Während ein Grossteil der Verwandtschaft von Cécile Wajsbrot als Juden in den Jahren des Weltkriegs in den Vernichtungslagern ums Leben kam, gelang ihrem Vater zuerst, später auch ihrer Mutter, die Flucht nach Frankreich. Obwohl Cécile Wajsbrot in Paris aufwuchs und zur Schule ging, ihr Leben sich dort abzuspielen schien, zeugt ihr ganzes literarisches Werk vom Trauma einer gestohlenen Geschichte, einer nicht zu tilgenden kollektiven Vernichtungstat.

Cécile Wajsbrot will mit ihren Büchern nicht unterhalten. Somit ist auch die Lektüre ihres 2008 erstmals erschienenen Romans „Mémorial“ keine Unterhaltung, sondern Auseinandersetzung. Als ich ihren Roman damals las, schien er bei weitem nicht jene Resonanz zu erzeugen, wie er es fünfzehn Jahre später tut. Das mag mit mir selbst zu tun haben, mit meinem Alter, dem Bewusstsein, wie wichtig es ist, zu wissen, woher der Fluss kommt, in dem man schwimmt, dem Fliessen, das irgendwann in ein unendlich grosses Meer münden wird. Vielleicht aber auch mit den Geschehnissen in all den Kriegen, dem Wissen, das dort überall Menschen in Todesangst fliehen, um an einem anderen Ort etwas Neues zu beginnen. Auch wenn es abgebrochen sein wird. Auch wenn die Herkunft genommen wurde. Auch wenn mit allen Mitteln versucht wird zu vergessen, die Schrecken hinter sich zu lassen.

– Wir haben mehrere Leben gehabt.
– Sind mehrmals weggegangen.
– Aber nie angekommen.

Cécile Wajsbrot reist mit dem Zug dorthin, von wo ihre Eltern damals flohen. Die Stadt Kielce im Südosten Polens. Eine Stadt, in der der Jüdische Fiedhof lange ein Fussballplatz war und kaum etwas an die Gräuel des Krieges und darüber hinaus erinnerte. „Mémorial“ ist ein Mahnmal gegen das Vergessen. „Mémorial“ ist die Auseinandersetzung der Generation danach, die den unausgesprochenen Schrecken in der Familie eingepflanzt bekam, die sich selbst mit der Auseinandersetzung nicht befreien kann von dem, was die direkt betroffene Generation einfach nur vergessen, begraben und ruhen lassen wollte. „Mémorial“ ist ein langer Dialog mit den verschiedenen Stimmen der Erinnerungen, Stimmen des Unterbewusstseins und all jener, die man als Erinnerungen mit sich herumträgt; den Vater und seine Schwester, die beide später an Alzheimer erkrankten und in ein schwarzes Loch des Vergessens fielen, an ihre Mutter, die den Tod zweier Geschwister wie einen Mühlstein mit sich herumtrug. Und „Mémorial“ ist der Versuch zu verstehen.

Ich hatte immer den Eindruck gehabt, irrtümlicherweise da zu sein, und dieses Gefühl nahm ich überallhin mit, wohin ich ging.

Cécile Wajsbrot «Mémorial», Wallstein, 2023, aus dem Französischen von Holger Müller Fock, 171 Seiten, CHF ca. 31.90, ISBN 978-3-8353-5528-6

Schon auf dem Bahnhof holen sie Stimmen ein, packt sie der Zweifel und die Mahnung, sie, die alleine reist, von Paris über Warschau nach Kielce. Fast 2000 Kilometer zurück in die Zeit in die Stadt am Fluss, in permanentem Dialog mit Stimmen, die auftauchen und verschwinden, manchmal, als wäre da jemand, der sie begleitet. Wie die Frau aus Oświęcim, dem Ort, der als Auschwitz wie Hiroshima Synonym für sie Schrecken des 20. Jahrhunderts ist und bleiben wird. Mahnungen, die nicht verhindern konnten, dass im 21. Jahrhundert weiter Kriege Mensch und Landschaften auf Generationen hinaus verwüsten. Die Stadt, in der sie ein Hotelzimmer bezieht, ist längst nicht mehr jene, aus der ihre Eltern damals flohen und fast alles zurückliessen. Unter den Menschen könnten die sein, die damals zu den Täter gehörten, bei der Deportation Tausender Juden, beim Friedhofsmassaker von Kielce, bei dem die letzten 45 Kinder von den Besatzern auf dem Friedhof erschossen wurden oder von jene, die nach dem Krieg 1946 im Progrom von Kielce, als man über 40 überlebende Juden ermoderte, nachdem ein Vater das Gerücht in Umlauf gesetzt hatte, sein Junge sei Opfer einer Entführung geworden.

Euer Schweigen wog ebenso schwer wie Worte und vielleicht noch schwerer, denn man konnte sich alles vorstellen.

Reisen ist eine einfache Sache, aber nicht an den Ort des Grauens zurück. Die Autorin weiss, dass es kein Zurückkehren gibt, weil es in der Zeit kein Zurück gibt. Erinnern ist der Versuch des Reisens in die Vergangenheit. Eine notwendige Reise, um den Lauf der Zeit verstehen zu können. Cécile Wajsbrots Reise ist eine mehrfache Reise. Die Reise an den Ort, von dem ihre Eltern einst flohen, eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise zu den Fragen, die nicht verstummen, eine Reise an den Fluss, im Wissen darum, dass selbst der Tod den Schrecken nicht löscht.

„Mémorial“ ist Erinnern. Einmalig gut.

Cécile Wajsbrot, geb. 1954, lebt als Romanautorin, Essayistin und Übersetzerin aus dem Englischen und Deutschen in Paris und Berlin. Sie schreibt auch Hörspiele, die in Frankreich sowie in Deutschland gesendet werden. 2007 war sie Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Sie ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Akademie der Künste in Berlin. 2014 erhielt sie den Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis, 2016 den Prix de l`Académie de Berlin.

Sabine Müller, geb. 1959 in Lauffen am Neckar, übersetzt seit 25 Jahre aus dem Englischen und mit Holger Fock aus dem Französischen u.a. Werke von Patrick Deville, Mathias Enard, Philippe Grimbert, Pierre Loti, Alain Mabanckou, Andreï Makine, Erik Orsenna, Pascal Quignard, Jean Rolin, Olivier Rolin und Cécile Wajsbrot.

Holger Fock, geboren 1958 in Ludwigsburg, studierte Theaterwissenschaft, Germanistik und Philosophie. Er übersetzt seit 1983 französische Belletristik und wissenschaftliche Literatur, u. a. Gegenwartsautoren wie Andreï Makine, Cécile Wajsbrot (beide zusammen mit Sabine Müller), Pierre Michon und Antoine Volodine. 2011 wurde er zusammen mit Sabine Müller mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet. Er lebt bei Heidelberg.

Sabine Müller und Holger Fock wurden 2011 für ihr gemeinsames Werk mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet. 

Rezension von «Zerstörung» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © privat

Iris Wolff «Lichtungen», Klett-Cotta

„Lichtungen“ ist die Geschichte von Kato und Lev, eine zarte Liebesgeschichte, die Iris Wolff überraschend erzählt, nämlich in neun Kapiteln vom Ende her erzählt. Haben Liebesgeschichten ein Ende? Jene von Kato und Lev nicht, Iris Wolffs Roman nicht, denn der Schluss des ersten Kapitels ist die Frage „Wohin fahren wir?“. Der Anfang ist ein Schluss ist ein Anfang.

Schon in ihren Romanen zuvor ist die Qualität in Iris Wolffs Erzählen die Zartheit ihrer Sprache, dieses filigrane Netz aus Wahrnehmungen, Empfindungen, das Sichtbarmachen des Unsichtbaren. „Lichtungen“ ist die Geschichte einer Freundschaft, zweier Charakteren, die sich wie ein Doppelplanet umkreisen, bis der eine aus dem Gravitationsfeld ausbricht und damit auch die Umlaufbahn des andern zerreisst. Kato reist in den Westen, bricht auf. Lev bleibt im Dorf, bis ihn eine Karte aus Zürich erreicht: „Wann kommst du?“.

Kato und Lev wachsen in Ceaușescus Rumänien auf, das Mädchen Kato mehr oder weniger alleine, zusammen mit einem alkoholkranken Vater, getrieben vom Wunsch auszubrechen, Lev bei seiner Mutter Lis und seinen Grosseltern, seinen beiden Halbgeschwistern, als jüngster Spross einer Familie, in einem kleinen, grauen Ort. Beide sind Aussenseiter, Lev schwächlich, ohne Antrieb, bei all dem Rudelgehabe in der Schule und im Dorf eine Rolle zu spielen, Kato von fast allen gemieden, nicht zuletzt, weil sie sich mit Stift und Papier von all dem absetzt, was die Interessen aller anderen ausmacht. Und weil man Kato dazu verdonnert, dem kranken Lev die Hausaufgaben ans Bett zu bringen, wächst zwischen den beiden etwas, was mit den Jahren immer mehr zu einer Freundschaft wird, die alles andere zusammenzuhalten scheint.

Iris Wolff «Lichtungen», Klatt-Cotta, 2024, 256 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-608-98770-6

Dass Iris Wolff Malerei studiert hat, zeigt sich nicht nur, weil ihre Protagonistin Kato Künstlerin, Zeichnerin, Malerin ist. Iris Wolff hat eine ganz eigene Fähigkeit zu sehen. Sie schreibt aus den Augen ihrer beiden ProtagonistInnen, ohne in ihre Figur hineinzuschlüpfen. Kato entwickelt ihre ganz eigene Art des Sehens, so wie die Autorin selbst. Auch Lev ist ein Sehender, ein Beobachtender, einer, der mehr wahrnimmt als andere und doch das Gefühl nicht wegbekommt, aussen vor zu sein. Ein Gefühl, das ihn restlos einnimmt, als ein Fremder in Fahrradmontur im Dorf auftaucht und Kato dazu bringt, mit ihm das Dorf mit unbestimmtem Ziel zu verlassen. Kato entschwindet und Lev bleibt. Bis er es nicht mehr aushält und ein kläglicher Versuch eines Ausbruchs ihn wieder zurück ins Dorf spült. Bis Lev Jahre später die Karte aus Zürich erhält und endlich aufbricht.

Vielleicht beschreibt der Titel „Lichtungen“ auch die Art der Freundschaft der beiden. So wie das, was zwischen Kato und Lev über die Jahre entstanden ist, genau das, was „Lichtungen“ in seinem Leben ausmacht. Für Lev ist Kato die Tür zur Welt, für Kato Lev ein Stück Zuhause, etwas, das ihr im Vergleich zu allem anderen nicht genommen werden kann.

Lev, der die Schule abbricht, als Soldat nur schwer zurechtkommt, als Waldarbeiter in die Tiefen der rumänischen Wälder geschickt wird und nur überlebt, weil er Freundschaft mit Imre schliesst, einem Mann, der sich dort selbst bestraft und in dessen Sägerei er später Arbeit findet, wird durch ein Leben geschoben. Kato, die sich ihre Welt mit ihrem Stift, mit Pinsel oder Kreide macht, die mit ihrer Leidenschaft immer am Fenster zur Welt steht, zieht es weg. Eine Freundschaft in Gegenseitigkeit. Eine Freundschaft, die in Liebe eingetaucht ist, in die sich Leidenschaft mischt, die aber immer zuerst Freundschaft bleibt, bis zu diesem einen Satz „Wohin fahren wir?“.

Ihre Strategie, die Geschichte von Kato und Lev in ihrer Chronologie zurückzuerzählen, scheint experimentell. Aber ein Blick zurück, auf ein Leben, eine Geschichte, auch auf die Geschichte eines Landes, jener Ecke Rumäniens, die die nationale Zugehörigkeit immer wieder wechseln musste, ist immer ein Blick zurück. Nur die meist gewählte Erzählrichtung liegt in der Gegenrichtung. Aber während des Lesens von „Lichtungen“ erschliesst sich Schicht um Schicht, erklärt sich Bild um Bild.

Warum „Lichtungen“ ein ähnliches Lesegefühl wie „Die unendliche Leichtigkeit des Seins“ von Milan Kundera bei mir auslöst, weiss ich nicht wirklich. Aber beim Lesen, ich las den Roman gleich zweimal hintereinander, war da das Gefühl, an etwas Besonderem teilhaben zu dürfen.

Interview

Ich bin begeistert und schwer beeindruckt. Zum einen ist es eine Geschichte, in der viele Themen eingebunden sind. Aber genauso deine Art des Erzählens, die Zartheit deiner Sprache, die mich ans Zeichnen erinnert. Es sind keine opulenten, mit Öl gemalten Bilder, sondern Zeichnungen in Pastellfarben, ohne je rührselig oder kitschig zu wirken, fein skizziert, mit vielen Zwischenräumen, Zeichnungen in der perfekten Mischung aus Schmeichelei und Herausforderung. Wie passiert Schreiben bei Iris Wolff? Was sind die Zutaten, dass es klappt? Gibt es Dinge, die du um jeden Preis vermeidest?

Die wichtigste Zutat ist Stille. Sprachliche Äußerungen deuten Wirklichkeit, reduzieren sie, verfehlen sie manchmal haarscharf. Es ist schwer, etwas wirklich Neues zu denken und zu schreiben; nicht immer dieselben Erfahrungen zu machen, weil sich die Zukunft aus den Mustern der Vergangenheit wiederholt. Er wolle malen, was er sehe, und nicht, was er wisse, soll William Turner formuliert haben – dabei ist es geradezu unmöglich, die Welt zu sehen, wie sie an sich ist, weil sich alles immerzu in unsere Gedanken einfärbt. Was mir hilft ist Stille. Dort sind Dinge und Erfahrungen noch nicht beurteilt, zergliedert, analysiert. Sie sind einfach da; sie sind groß, überwältigend, mitunter widersprüchlich. Aus dieser Kraft heraus sind Sätze möglich, die jene Balance halten zwischen Präzision und Offenheit, zwischen Gesagtem und Angedeuteten. Was ich unbedingt vermeiden möchte: Meine Figuren festnageln, ausdeuten ins grellste Licht zerren. Ich möchte ihnen möglichst unvoreingenommen begegnen; sehen, was sich verbirgt, zeigen, was ungesagt ist, aber doch auch gleichzeitig das Verborgene, ihr Geheimnis hüten.

Landschaft im Iza-Tal, © Iris Wolff

Die Freundschaft zwischen Kato und Lev ist ein feinmaschiges Geflecht, das den beiden ganz unterschiedliche Positionen erlaubt. Obwohl es zwischendurch ganz ordentlich knistert und Eros schon früh mitspielt, lassen sich die beiden nie bis zur letzten Konsequenz auf den anderen ein. Weil sie ahnen, dass Leidenschaft Leiden schafft?

Mir war es wichtig, in der Schwebe zu lassen, ob es Liebe oder Freundschaft ist. Jeder Freundschaft ist Liebe beigemischt, und jeder Liebe Freundschaft. In der Malerei gibt es in der Moderne die Tendenz, den Rand freizulassen. Es wird nicht etwas gezeigt, sondern das Bild zeigt sich. So wie in Katos Skizzen die Strichführung sichtbar ist, ihre Spontaneität, Wucht, Feinteiligkeit, möchte ich auch in der Literatur mit offenen, unbeschriebenen Rändern schreiben – einen weiten Raum öffnen. So können sich Leserinnen und Leser zu einer Geschichte in Beziehung setzen (mit ihren Fragen, inneren Bildern) und letztlich selbst entscheiden, was das zwischen Lev und Kato ist. 

Weder Lev noch Kato wachsen in klassischen Familien auf, in Familien, die einem Muster entsprechen. Beide fühlen sich nie ganz und gar zuhause, sicher, aufgehoben. Da ist bei beiden die Sehnsucht nach mehr. Nur manifestiert sich diese Sehnsucht ganz unterschiedlich. Bei üblicher Erzählweise frage ich gerne, ob während des Schreibens der Weg oder gar das Ende klar vor Augen war. Du erzählst zuerst den Schluss. Warum diese Strategie?

Ich habe Lev im Bett liegend kennengelernt, als kleinen Jungen, der nach einem Unfall seine Beine nicht mehr bewegen kann. In dieser reduzierten Welt, bestehend aus Bett, Haus und Familie, aus Geschichten und Geräuschen, war alles enthalten. Ich wusste: Sein Leben wird rückwärts erzählt, denn so begegnen wir einander auch im „echten Leben“. Man lernt jemanden kennen, und wenn sich die Begegnung verstetigt, erfährt man nach und nach, was denjenigen zu dem Menschen gemacht hat, der er heute ist. Die Form setzt den Rahmen für bestimmte Fragen. „Jedes Jetzt enthält das Vergangene“ – das ist eine Erkenntnis, die Lev in Zürich, am Anfang des Romans hat. Ich habe mir gewünscht, dass er die Traumata seiner Kindheit eines Tages hinter sich lassen und dass er neu beginnen kann. Ohne Kato wäre ihm das nie gelungen. Erzählerisch war diese Strategie eine Herausforderung, und habe mir vorgenommen, es mir beim nächsten Buch leichter zu machen 😉

Man muss sich aufmachen. Kato und Lev tun es. Du tust es mit jedem Buch. Du machst dich auf in dein Herkunftsland, eine Geschichte, in „fremdes“ Leben. Angesichts der aktuellen Geschichte, der Probleme, die ungelöst anstehen, scheint mir die einzig wirksame Losung zu sein, sich aufzumachen. Weder in der aktuellen Politik noch in Klimafragen spüre ich diesen unbedingten Willen. Vielleicht deshalb meine Überzeugung, dass die Literatur, die Kunst, dieses Aufmachen initieren kann. Wer liest, macht sich auf in andere Welten, öffnet sich. Oder ist Schreiben doch nur Selbstzweck?

Diese Frage berührt den Kern des Buches. Lev und Katos Geschichte ist als Reise in die Vergangenheit angelegt, weil Erkenntnis am leichtesten rückwirkend geschehen kann. Umso frustrierender, wenn wir merken, dass der Mensch anscheinend nicht fähig ist, aus den vergangenen Jahrhunderten mit seinen Kriegen und Diktaturen zu lernen. Der Blick zurück ist wichtig. Aber wahre Veränderung ist nur möglich, wenn man sich traut, radikal neu zu denken. Es kommt mir vor, als laborierten wir an Systemen herum, die grundsätzlich nicht mehr taugen. Nehmen wir das Beispiel Klimaschutz oder unser Umgang mit der Tierwelt. Wir gehören zur Natur, sind abhängig von anderen Lebewesen. Aber die menschliche Gier setzt sich über diese Einsicht hinweg. Dabei haben wir eine gemeinsame Geschichte, eine Übereinkunft: dass das Leben nur im Verbund möglich ist. Aber statt eine neue Tier-Ethik aufzustellen oder den Mut zu haben, Klimaschutz als oberste Priorität zu setzen, werden nur ab und an (oft genug nicht einmal das) Gesetze verabschiedet, die etwas verbessern sollen. Man könnte, wenn man hier in die Tiefe geht, leicht verzweifeln. Was Bücher auf einzigartige Weise können ist: Empathie erzeugen. Weil wir mit Büchern die Welt aus den Augen eines anderen Menschen sehen. Das gilt generell für Kunst: Wir weiten – für die Dauer eines Films, eines Buchs, eines Musikstücks – die Grenzen unseres fest gefügten Selbst und begreifen vielleicht, wie sehr alles miteinander verbunden ist. 

„Lichtungen“ ist auch ein Buch der Auslassungen, der Ungewissheiten. Du leuchtest die Szenerien nicht aus. Dein Roman will nicht erklären. Es sind „Lichtungen“, die du beschreibst. So wie die eine Szene im Wald, der Kampf zwischen zwei Wölfen. Eine Szenerie, die nicht verdeutlicht, aber eine Stimmung erzeugt, eine Ahnung, Diskussionsstoff für ganz viele Leserunden, die sich mit deinem Buch zusammensetzen. Wie sehr ist dein Schreibprozess, dieses Buch, der Spiegel deiner ganz eigenen Prozesse? Oder wie sehr öffnest du dich im Schreiben der Einmischung und Beeinflussung?

Jedes Buch ist wie ein weiterer Jahresring eines Baums. Bücher sind Wachstumsprozesse. Es kann mitunter befremdlich sein, aus früheren Werken zu lesen; ein wenig so, als würde man alte Fotoalben durchblättern. Jeder neue Text verhandelt Fragen und bezeugt sicher auch Veränderungen der Weltwahrnehmung. Ich habe in Lichtungen mit Lev gelernt, dass das Gegenteil von Sprechen nicht Schweigen ist, sondern Hören. Dass es wichtig ist, ab und an zu überprüfen, ob Glaubenssätze und Selbstbilder einen am Gehen hindern. Und was den Schreibprozess anbelangt: Ich habe das Manuskript lange für mich behalten, weil ich Angst hatte, dass mir jemand das Rückwärtserzählen ausreden wird. Gleichzeitig bin ich immer offen für Einmischung. Die besten Hinweise begegnen einem zufällig. Wenn man auf „Empfang“ gestellt ist, arbeitet das Leben, der Zufall, die Natur, andere Menschen an der Geschichte mit. 

Iris Wolff liest am 8. Juni in Frauenfeld CH!

Iris Wolff, geboren 1977 in Hermannstadt, Siebenbürgen, studierte Germanistik, Religionswissenschaft, Grafik und Malerei. Sie ist Mitglied des internationalen Exil-PEN und erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Marieluise-Fleißer-Preis und den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis für ihr Gesamtwerk. Für «Die Unschärfe der Welt» (2020) erhielt unter anderem den Solothurner Literaturpreis. Ausserdem wurde der Roman sowohl von deutschen als auch von Schweizer Buchhändlern zu einem der fünf beliebtesten Bücher gewählt. Iris Wolff lebt in Freiburg im Südwesten Deutschlands.

Rezension von «So tun, als ob es regnet» auf literaturblatt.ch

«(Er)zählen», Iris Wolff, Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © Max Gödecke

Jon Fosse «Das ist Alise», Mare

„Das ist Alise“ ist ein seltsames Buch. Jon Fosse geht es nicht darum, eine dramatische Geschichte zu erzählen. Es sind traumhafte Bilder, Erinnerungen, die sich in der Zeit vermischen, ein langes Gebet über die Unergründlichkeit des menschlichen Schicksals, ein langes Gebet. 

Signe erinnert sich. Sie ist alleine alt geworden und wohnt in einem keinen Haus über dem Fjord. Sie liegt auf der Bank im Haus, ihren Blick zur Decke gerichtet, manchmal zum Fenster und erinnert sich an den Tag, als ihr Mann nicht vom Meer zurückkam, als Asle, ihr Mann, auf dem Meer, in den Wellen, der Dunkelheit, dem Regen und der Kälte verschwand und nicht zurückkehrte. Vor fast einem Vierteljahrhundert, in dem sie mit dem Warten nie ganz aufgehört hat.

Asle wohnte in dem Haus sein ganzes Leben lang, als Kind mit seinen Eltern, als Ehemann mit Signe. So lange wie er verschwunden ist, kannten sie sich, bevor sie heirateten. Zwanzig Jahre lang waren sie gemeinsam in dem Haus, in das Asle nicht zurückkehrte. Signe sieht ihn am Fenster stehen, den Mann, der sich schon vor seinem Verschwinden zu entfernen begann, der immer schweigsamer, immer seltsamer wurde.

Jon Fosse «Das ist Alise», Novelle, Mare, 2023, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, 128 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-86648-743-

Damals war Asle draussen. Schlechtes Wetter. Nichts hat ihn gezwungen, in sein schmales Holzboot zu steigen und hinauszufahren. Und doch stieg er in sein Boot, musste wohl. Einem Boot, das für einen Sturm viel zu klein war, ein Ruderboot.

Draussen, bevor er in sein Boot stieg, auf seinem Spaziergang durch die Dämmerung, sah er Alise, seine Ururgrossmutter mit einem Kind im Arm. Eine Erscheinung. Mit einem toten Kind im Arm, das in dieser Bucht ertrank, ihrem Enkel Asle, seinem Vorfahr, nachdem er getauft wurde.

Jener Asle, der damals ertrank, bekam von seinem Vater zum siebten Geburtstag am 17. November 1897 ein kleines, selbst gebautes Holzboot. Ein Boot, mit dem er noch an seinem Geburtstag im Wasser, im Fjord spielte, Wellen machte mit einem langen Stecken, irgendwann die Hose auszog, um das Boot zurück ans Ufer zu holen – und ertrank.

Im November 1979 stieg Asle in sein Boot, als ob ihn das Boot, das Meer gerufen hätte, und kam nicht wieder. Am nächsten Tag fand man das leere Ruderboot am steinigen Ufer. Fast ein Jahr blieb es dort liegen, bis zwei Jungen aus dem Nachbardorf darum baten, das Boot beim Johannisfeuer verbrennen zu dürfen.

„Das ist Alise“ ist mehrperspektivisch erzählt, kümmert sich nicht um Chronologie, setzt in seiner Erzählart kaum ab, macht selten Punkte, spricht zu mir wie eine Stimme aus dem Off, aus dem Unterbewusstsein. Liest man das Buch laut und ganz langsam, dann spricht jemand. Ein Stimme, die keine Geheimnisse ergründen will, aber dem nachspüren will, was die Menschen in dieser rauhen Gegegend immer wieder aus dem Alltag reisst. Ein archaisches Leben, eine Natur, die nimmt und gibt, von der man keine Logik fordert.

Jon Fosses Novelle liest sich wie ein Meditation, eine Vergegenwärtigung. Da schreibt jemand, der keine Geschichte erzählen will, sondern Gefühle malt, innere Bilder, Stimmungen erzeugen will. Literatur, die sich wie die Musik von Arvo Pärt gängigen Mustern entzieht. Literatur, die nicht abbilden will, wie die Malerei von Gerhard Richter. Literatur, die mich in einen ganz eigenen Sound hineinzieht.

So schmal dieses Buch ist, so beglückend die Lektüre, so nachhaltig die Bilder, die auf der Netzhaus der Erinnerung hängen bleiben.

Jon Fosse, 1959 in der norwegischen Küstenstadt Haugesund geboren und am Hardangerfjord aufgewachsen, gilt mit seinem vielfach ausgezeichneten und in über 40 Sprachen übersetzten literarischen Werk als einer der bedeutendsten Schriftsteller unserer Zeit. Seine mehr als 30 Theaterstücke werden weltweit aufgeführt. Er lebt heute in der »Grotte«, einer Ehrenwohnung des norwegischen Staates am Osloer Schlosspark, in Frekhaug bei Bergen und in der niederösterreichischen Gemeinde Hainburg an der Donau. 2023 erhielt Jon Fosse den Nobelpreis für Literatur.

Hinrich Schmidt-Henkel, geboren 1959 in Berlin, übersetzt aus dem Norwegischen, Französischen und Italienischen. Zu den von ihm ins Deutsche übertragenen Autoren zählen Louis-Ferdinand Céline, Jean Echenoz, Tomas Espedal, Henrik Ibsen, Édouard Louis und Tarjei Vesaas. Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Jane Scatcherd-Preis, dem Paul-Celan-Preis des Deutschen Literaturfonds, dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW (zusammen mit Frank Heibert) und dem Königlich Norwegischen Verdienstorden.

Beitragsbild © Agende Brun/Det Norske Samlaget

Simone Meier «Die Entflammten», Kein & Aber

Leidenschaft allein reicht nicht. Aber Genialität allein ebenso nicht. Gina, eine junge Frau, schreibt zwischen Lähmung und Selbstzerstörung, über Lebensentwürfe, die nach ihrer Erfüllung rufen. In „Die Entflammten“ prallen Welten aufeinander.

Sie kennen Vincent van Gogh mit Sicherheit. Wahrscheinlich kennen sie auch Theo van Gogh, seinen jüngeren Bruder, Kunsthändler und -sammler, ohne den sein genialer Bruder nie und nimmer jene Bilder hätte malen können, die ihn unsterblich machten. Aber wahrscheinlich lernen sie Jo van Gogh-Bonger, die Frau von Theo, erst durch den Roman von Simone Meier kennen. Eine Frau, die es sich nach dem frühen Tod der beiden Brüder zur Lebensaufgabe gemacht hatte, Vincent van Goghs Bilder dorthin zu bringen, wo sie hingehören; in die grossen Museen der Welt. Vincent van Gogh war einzig und allein an seiner Malerei interessiert, unkonventionell und mit totaler Hingabe. In einer Hingabe, die gekoppelt mit seiner desaströsen Lebensweise schon früh auf eine Katastrophe hinzielte und mit dem frühen Tod seines Bruders, der ihn in jeder noch so zerstörerischen Lebensphase unterstützte, leicht ins grosse Vergessen hätte münden können. Wenn nicht Johanna van Gogh-Bonger gewesen wäre.

Simone Meier erzählt aber nicht einfach die Geschichte jener Frau nach, die die Sehnsucht nach Liebe an die Seite der berühmten Brüder brachte, der die Kunstwelt verdankt, dass jenem Künstler, der viel mehr als einfach abbilden wollte, jener Platz an den Wänden der Welt sicherte.

Über hundert Jahre später stösst die junge Kunsthistorikerin Gina auf die Geschichte dieser Frau. Sie taucht immer tiefer ein in die Biografie dreier Leben, die in ihrer Radikalität und Besessenheit auch im stummen Untergang hätten enden können. Was wäre geschehen, hätte Vincent seinen Bruder Theo nicht gehabt? Was wäre geschehen, hätte Jo das Lebenswerk beider nicht weitergeführt? Was wäre geschehen, wenn das Selbstzerstörerische des Malers, die Syphilis seines Bruders die junge Witwe mit ihrem kleinen Sohn mitgerissen hätte? Gina folgt einem Leben, sucht nach dieser Stimme und findet sie.

Simone Meier «Die Entflammten», Kein & Aber, 2024, 272 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-0369-5029-7

Gina sucht aber auch nach den Rätseln in ihrer eigenen Familie. Warum scheiterte die Ehe ihrer Eltern? Warum schafft es ihr Vater in dem kleinen Haus am Meer nicht endlich, aus den vielen Anfängen einen zweiten Roman zu schreiben, nachdem der Ruhm des ersten schon seit Jahrzehnten verflogen ist? Gina zieht für eine begrenzte Zeit in das kleine Haus ihres Vaters, wohl nicht zuletzt darum, weil sie hofft, dass sie mit ihrem Schreiben die Fesseln ihres Vaters lösen kann.

Das Reizvolle an diesem Roman sind die  Prozesse der Begegnungen. Im Vordergrund steht jene zwischen Jo und Gina, zweier Frauen in ganz unterschiedlicher Zeit, obwohl doch eigentlich nur etwas mehr als ein Jahrhundert zwischen den beiden Frauenleben liegt. Gina rutscht mit Recherche und Schreiben immer tiefer in das Leben einer Frau, die ihr Dasein nach dem Tod der van Goghs immer entschiedener in den Dienst einer Sache stellt. Eine Kompromisslosigkeit, von der die Schreibversuche ihres Vaters diametral entfernt sind und wehleidig groteske Züge angenommen haben. Je tiefer Gina forscht und sich in das Leben Johannas hineinversetzt, desto mehr schwinden Barrieren, bis Jo und Gina im letzten Teil des Buches in einen Dialog treten, der die Grenzen schwinden lässt.

Wo sind die Grenzen zwischen Eigensinn und Genialität? Wie schafft es Genialität an die Oberfläche, zwischen all die Banalitäten des Lebens? Simone Meier geht es um mehr als Aufklärung über eine Frau, die seit einem Jahrhundert im Schatten „ihrer“ beiden Männer steht. „Die Entflammten“ ist ein Buch über Entflammte, die in ihrem selbstzerstörerischen Tun alles mit sich reissen und über „Entflammte“, die das einst entfachte Feuer nie erlöschen lassen.

Interview

Was war zuerst; die Faszination für die Person Johanna Bonger, später van Gogh oder die Geschichte einer jungen Frau, die sich in ihrer Suche nach einer eigenen Stimme mit dem Scheitern ihres Vaters konfrontiert?
Keine von beiden. Zuerst war Ginas Vater da. Nach meinem letzten Buch war ich frustriert, ich hatte die Ausläufer des Corona-Tiefs schwer unterschätzt, besonders in Deutschland. Man kriegt nun mal keine Sichtbarkeit hin, wenn die Buchhandlungen ganz oder teilweise geschlossen sind. Die Zugänge zu Lesungen waren beschränkt und die Leute blieben vorsichtshalber lieber zuhause. Aus therapeutischen Gründen wollte ich zuerst eine Literaturbetriebssatire schreiben. Einfach um Wunden zu lecken. Das sollte man natürlich unterlassen, das habe ich relativ schnell gemerkt. Und dann kam Jo. Ganz plötzlich, aber sehr bestimmend, und ich wusste, wenn ich mich jetzt nicht ganz in den Dienst dieser Figur stelle, bin ich die blödste schreibende Person weit und breit. Gina kam erst danach, allerdings enorm selbstverständlich, und aus dem Vater wurde aus einer lächerlichen eine gute Figur.

Über ein Jahrzehnt nach dem Suizid des einen und dem Syphilistod des andern war Vincent van Goghs Kunst nur einem ganz kleinen Kreis ein Begriff. Heute werden, wenn ein Bild überhaupt zum Verkauf steht, exorbitante Summen bezahlt, die mit Kunstverstand oder Sammelleidenschaft nichts mehr zu tun haben. Doch eigentlich eine Watsche an Künstler, eine an die Kunstszene, profitiert doch die Kunst selbst nie von solchen Preisen und eine Watsche ins Gesicht all jener, deren Genialität nie an die Oberfläche gelangt.
So what? Im stillen Kämmerchen sind wir alle in irgendwas genial. Ich war mal eine geniale Blockflötistin. Aber braucht die Welt das? In den allermeisten Fällen nicht. In meinen 28 Jahren als Kulturjournalistin sind mir wohl erst zwei lebende Menschen untergekommen, von denen ich sagen würde, sie sind genial und ihre Kunst bringt uns wirklich was. Vorherrschend ist ja immer und überall solides, stabiles Mittelmass. Ich persönlich bin kein Van-Gogh-Fan, mir ist das zu aufdringlich, aber in der Beschäftigung mit ihm für das Buch habe ich verstehen gelernt, wie echt revolutionär er war und was die Menschen in ihm sehen konnten, was sie begeisterte. Tragisch für ihn, dass er das nicht erlebte, Picasso und Warhol hatten mehr von ihrem Ruhm. Aber wenn besonders Viele einen Einzelnen besonders grossartig finden, kommt es unweigerlich irgendwann zu diesen perversen monetären Exzessen, egal ob in der Kunst, im Fussball, in Hollywood oder in Chefetagen. Offenbar haben wir noch nicht gelernt, unsere Wertschätzung anders auszudrücken. 

Das Literaturhaus St. Gallen lädt ein!

Gina setzt sich einigem aus, nicht zuletzt dem Stolpern ihres Vaters, der, statt seinem einstigen Brotberuf nachzugehen, vom Leben eines erfolgreichen Schriftstellers „besessen“ ist. Muss man besessen, entflammt sein, um mit seiner Kunst eine Bühne zu finden?
Für seine Arbeit entflammt zu sein, garantiert noch lange keine Bühne, hilft aber sicher. Was ich jedoch weiss, ist, dass es kein Entkommen vor einer gewissen Besessenheit, einer Auslieferung gibt, wenn man es mit seiner Kunst wirklich ernst meint. 

Jo findet schlussendlich ihre Bestimmung in der Kunstvermittlung, mit ihrer Strategie, die Werke ihres Schwagers nicht einfach gewinnbringend zu verscherbeln, sondern den Bildern jenen Platz zu geben, der ihnen durch ihre Einzigartigkeit zusteht. Ein typisch «weibliches Prinzip»?
Ist diese Frage ernst gemeint? Ich hoffe nicht! Das Einzige, was Jo an Weiblichkeitsklischees wie diesem interessierte, war, sie aus der Welt zu schaffen. Zum Glück hatte sie dank Theo, aber auch dank ihrem späteren Umfeld ganz unweibliche Einblicke in den damals zu hundert Prozent von Männern beherrschten Kunstmarkt. Sie sah, wie man es eben nicht machen sollte. Und sie war ein totaler Kontrollfreak. SIE wollte das Narrativ bestimmen, niemand sonst. Das Praktische an Vincent van Gogh war ja nun mal, dass er schon tot war und nicht mehr von seiner Kunst zu leben brauchte, sie konnte die Nachlassverwaltung entsprechend gründlich und langfristig angehen. Und sie legte sich einen genialen Dreiphasenplan zurecht: Sichtbarkeit schaffen, Rarmachen auf dem Markt, am Mythos basteln. Die breitestmögliche Sichtbarkeit erreichte sie, indem sie Zeit ihres Lebens über 100 Ausstellungen organisierte und dabei immer darauf achtete, dass Leute, die wenig verdienten, weniger Eintritt zahlen mussten. Da war sie ganz Sozialistin, wie übrigens die meisten im Van-Gogh- und Bonger-Clan damals glühende Sozialisten waren, was in der Van-Gogh-Rezeption natürlich gerne unterschlagen wird. Am Mythos bastelte sie bei ihrer Herausgabe der Briefe der Brüder, zu der sie selbst den alles entscheidenden Essay schrieb, der das Bild von van Gogh nachhaltig prägte. Und mit dem Zurückhalten besonders beliebter Bilder vom Markt befriedigte sie einerseits die Museumsbesucherinnen und -besucher und schuf andererseits noch grössere Begehrlichkeiten bei den abgewiesenen Käufern. So kam der immer lautere «Buzz» um van Gogh zustande.

Im zweiten Teil ihres Buches mischen sich die Stimmen der beiden Protagonistinnen Jo und Gina zu einem Dialog über Zeit und Raum hinaus. Eigentlich eine virtuelle Begegnung. Ist das nicht genau das, was die Literatur kann? Warum muss die Grenze des Möglichen ausgerechnet auch für die Literatur gelten? 
Mich müssen Sie das nicht fragen, ich bin eh das Schmuddelkind, das sich nicht um die Genregrenzen und die albernen Reinheitsgebote der deutschsprachigen Literaturkritik kümmert. In jeder anderen Weltliteratur ist diese Art der Kunstfreiheit, des ’magischen Realismus’, des kreativen Ausserkraftsetzens von Zeit, Raum und Konventionen völlig normal und anerkannt. Bei uns nicht.

Simone Meier, geboren 1970, ist Autorin und Journalistin. Nach einem Studium der Germanistik, Amerikanistik und Kunstgeschichte arbeitet sie als Kulturredakteurin, erst bei der WochenZeitung, dann beim Tages-Anzeiger, seit 2014 bei watson. 2020 und 2022 wurde sie zur »Kulturjournalistin des Jahres« gewählt. Bei Kein & Aber erschienen ihre Romane «Fleisch«, «Kuss» und «Reiz». Simone Meier lebt und schreibt in Zürich.

Beitragsbild © Ayse Yavas

Terézia Mora «Muna oder Die Hälfte des Lebens», Luchterhand

„Muna oder Die Hälfte des Lebens“ ist vieles; eine Liebes- und Leidensgeschichte, ein Versuch einer Emanzipation, die Geschichte eines deutschen Lebens vor und nach der Wende und ein emotionaler Erklärungsversuch. Térezia Mora erzählt vielschichtig, taucht tief in die Psyche einer Frau und zeigt die Unaufhaltsamkeit menschlichen Schicksals.

Muna wächst als Einzelkind vor der Wende in einer ostdeutschen Kleinstadt auf. Der Vater starb früh an Lungenkrebs, die Mutter versucht sich an ihrem Engagement am örtlichen Theater festzuhalten, schwankt zwischen Alkohol und Depression und überlässt ihre Tochter sich selbst. Eine Kindheit zwischen Einengung und Verlorenheit. Kaum ist der 18. Geburtstag von Muna vorbei, muss die Mutter mit einer Alkohol- und Tablettenvergiftung notfallmässig ins Spital gebracht werden, lässt Muna im Ungewissen darüber, was wirklich passiert ist. Die eine Woche zwischen Geburtstag und Einweisung der Mutter ist für Muna eine Woche voller Glück. Endlich tut sich eine Tür auf.

«Es wird Zeit, dass du etwas aus deinem Leben machst.»

Leben ist permanente Unsicherheit. Nichts an Munas Leben gab ihr Sicherheit. Am ehesten noch die Träume von einer Befreiung, von Ausbildung, von einem eigenen Leben, weit weg vom alten. Sie erfährt schon früh von ihrem Geschick zu schreiben, arbeitet als Praktikantin in einer Redaktion und glänzt bei kleinen Schreibwettbewerben. Bis sie auf eben einer solchen Redaktion Magnus kennenlernt, Lehrer und Fotograf. Sie verliebt sich in den um einiges älteren Mann, obwohl der sie kaum beachtet, sich kühl und distanziert gibt. Und als wäre der Unerklärbarkeiten nicht genug, verschwindet Magnus nach der ersten und einzigen gemeinsamen Nacht.

Terézia Mora «Muna oder Die Haelfte des Lebens», Luchterhand, 2023, 448 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-630-87496-8

Muna beginnt Literatur zu studieren und hält sich mit vielerlei Jobs über Wasser. Sie arbeitet an Forschungsprojekten zu Frauenrechten, zieht von Berlin über London nach Wien, immer auf der Suche nach einem festen Stand, mit der Sehnsucht nach Ankommen und der Hoffnung, dereinst Magnus wiederzusehen, dem sie Briefe schreibt, die sie bei einem Freund von ihm hinterlegt.
Sieben Jahre nach seinem Verschwinden trifft sie ihn wieder, im Foyer eines Theaters. Sie setzt alles daran, wieder mit ihm zusammenzukommen, manövriert sich von einer zur nächsten Abhängigkeit, reist ihm von Stadt zu Stadt nach, bis nach Übersee und blendet geflissentlich aus, dass Magnus längst nicht der Mann ist, der sie auf Händen trägt. Ganz im Gegenteil. Es fliesst Blut.

«Begehren, sagte er schließlich. Das glaube ich. Dass das ziemlich zuverlässig funktioniert. Der Rest ist Schwulst.»

Der Roman ist konsequent aus der Sicht von Muna geschrieben. Sie versucht sich zu erklären, schreibt eine 400seitige Rechtfertigung, immer wieder mit gedanklichen Einschüben, Korrekturen, die sich im Text niederschlagen, bis hin zu Schwärzungen. Da ist ihr fatales Manövrieren in einer toxischer Abhängigkeit, der unbändige Wunsch nach einem emotionalen Zuhause, nach Geborgenheit und Liebe. Da ist der jahrelange Versuch einer Frau, sich von einer Mutter, einer Herkunft zu emanzipieren, in einer akademischen Welt Fuss zu fassen, was nicht klappen kann und will angesichts der Turbulenzen, die ihre Abhängigkeit von Magnus verursacht.

Die Lektüre dieses Romans erzeugt Schmerz, weil es nur schwer erklär- und ertragbar ist, dass eine intelligente Frau nicht erkennt, was passiert, selbst dann, wenn ihr Nahestehende schonungslos spiegeln, wie perspektivlos sie in eine ungewisse Zukunft torkelt.

„Muna oder Die Hälfte des Lebens“ ist ergreifend, eine Geschichte, die unter die Haut geht, in einer Sprache, die grosse Meisterschaft verrät, so souverän erzählt wie das Leben Munas in Zwängen eingeschlossen ist.

Im Sommer ist Terézia Mora Gast im Literaturhaus St. Gallen.

Terézia Mora wurde 1971 in Sopron, Ungarn, geboren und lebt seit 1990 in Berlin. Für ihren Roman «Das Ungeheuer» erhielt sie 2013 den Deutschen Buchpreis. Ihr literarisches Debüt, der Erzählungsband «Seltsame Materie», wurde mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Für ihr Gesamtwerk wurde ihr 2018 der Georg-Büchner-Preis zugesprochen. Terézia Mora zählt ausserdem zu den renommiertesten Übersetzer*innen aus dem Ungarischen.

Beitragsbild © Antje Berghäuser

Lana Lux «Geordnete Verhältnisse», Hanser Berlin

Immer wenn sich Beziehungskatastrophen ereignen, stellt sich die Frage, wann und wo man etwas hätte tun können, noch tun können, um das schlimme Ende zu verhindern. Lana Lux dritter Roman „Geordnete Verhältnisse“ spielt das, was den Beobachtern sonst verborgen bleibt und zeigt, dass selbst 290 Seiten niemals für eine Erklärung reichen.

Es hätte auch eine Liebesgeschichte sein können. Es war über weite Strecken auch eine Liebesgeschichte. Aber wir wissen von klassischen Theaterstücken, wie unabwendbar eine Liebe in ein Drama, in eine Tragödie umschwenken kann und wieviel Leid von dieser Lawine mitgerissen wird.

Noch in der Grundschule kommt Faina aus Russland zu Philipp in die selbe Klasse. Sie beide sind Aussenseiter, beide rothaarig und sommersprossig. Philipp ist schon als Junge eingesperrt in seine Marotten. Und obwohl er sich nichts mehr wünscht als Freundschaft, bleibt er in der Schule aussen vor. Weder seine Tante Martha, bei der er lange Zeit wohnt, noch seine Lehrerin und schon gar nicht seine alkoholkranke Mutter finden einen Zugang zu Philipp, der sich mehr und mehr in seiner immer enger werdenden Welt zurückzieht.

Bis Faina auftaucht und sie von der Lehrerin gezwungen wird, sich mit ein paar radebrechenden Sätzen vor der lachenden Klasse vorzustellen. Faina ist mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen, in ein fremdes Land, mit fremden Sitten. Und weil Faina genauso wie Philipp jemanden braucht, der sie schützt, schliessen sich die beiden zusammen. Philipp im Glück, jemandem etwas zu bedeuten, Faina im Glück, jemanden an ihrer Seite zu wissen, der ihr hilft, wenn auch damals schon ausschliesslich und fordernd.

Vielleicht hätte damals jemand oder etwas helfen können. Aber die beiden waren sowohl in Familie und Schule derart isoliert, unverstanden und von Erwartungen gepeitscht, dass sie sich in ihrer Not immer mehr aneinanderklammerten, in guten und in schlechten Zeiten.

Lana Lux «Geordnete Verhältnisse», Hanser Berlin, 2024, 288 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-446-27955-1

Beide kommen weiter ins Gymnasium, Philipp von den Eskapaden seiner Mutter gebeutelt und Faina von den Erwartungen ihrer Familie, die in sehr beengten Verhältnissen von Sozialhilfe lebt. Es ist logische Konsequenz, dass die beiden im Duett durchs Leben schreiten, auch wenn sich immer deutlicher abzeichnet, dass sich die Vorstellungen von „Leben“ bei den beiden immer weiter auseinderbewegen. Philipp will sich von einer Welt absondern, die er nie zu lesen verstanden hat und Faina möchte eintauchen in ein Leben, von dem sie fürchtet, es könnte ohne sie an ihr vorbeiziehen. Auch in der Beziehung zwischen Faina und Philipp ändern sich die Vorzeichen. Während sich Faina immer mehr nach Zärtlichkeiten und körperlicher Geborgenheit zu sehnen beginnt, macht Philipp unmissverständlich klar, dass er von dem ganzen Getue gar nichts hält, schon gar nichts von Sex.

Es kommt zum ersten, grossen Zerwürfnis. Faina verlässt Philipp. Philipp leidet. Mit dem Verschwinden seiner Freundin ist ihm sein Lebensinhalt genommen. Bis sie Jahre später wieder vor seiner Tür steht, schwanger, mit Schulden, einem kaputten Leben. Bei ihm, der sich in seinem gestylten Schneckenhaus zurückgezogen hatte. Was dann aus den beiden wird, ist ein toxisches Gemisch zwischen Abhängigkeiten, Liebe, Wahnsinn, Wut und Obsession. Bis zur Katastrophe.

„Geordnete Verhältnisse“ schmerzt, weil Lana Lux nicht aus auktorialer Erzählperspektive schildert, sondern aus der Sicht der beiden in der Ich-Perspektive. Somit auch in ihrer jeweiligen Sprache, ihrer Weltsicht, ihrem eigenen Schmerz. Ich verstehe als Leser vieles, weiss, dass jede Handlung, die auf eine Katastrophe hinzielt, die Summe vieler kleiner und grösser Ursachen ist und irgendwann eine selbst- und fremdzerstörerische Eigendynamik ergibt, die kaum mehr aufzuhalten ist. „Geordnete Verhältnisse“ ist das Protokoll einer Katastrophe, die kein Einzelfall ist, die über Jahrhunderte verharmlost und verschwiegen, den Frauen selbst in die Schuhe geschoben wurde. „Geordnete Verhältnisse“ ist ein ungeheuer mutiges Buch ohne Schuldzuweisung. Lana Lux reisst Fassaden nieder!

Lana Lux ist eine deutschsprachige Schriftstellerin, Illustratorin und Moderatorin ukrainisch-jüdischer Herkunft. Sie ist 1986 in Dnipro geboren, emigrierte 1996 ins Ruhrgebiet und lebt seit 2010 in Berlin. 2017 ist ihr Debütroman «Kukolka» erschienen, 2020 ihr zweiter Roman «Jägerin und Sammlerin«. Geordnete Verhältnisse ist ihr erster Roman bei Hanser Berlin.

Beitragsbild © Paula Winkler

Martin Frank «ter fögi ische souhung», Der gesunde Menschenversand

Als „ter fögi ische souhung“ von Martin Frank 1979 erschien, war der Roman Sensation und Skandal zugleich. Der Roman bestach erst recht damals mit seiner absoluten Eigenwilligkeit, seiner Unverblümtheit und als erster queerer Mundartroman aus der Schweiz. Auch über vier Jahrzehnte nach seinem Ersterscheinen ist „ter fögi ische souhung“ ein Ereignis!

Beni ist fünfzehn und irgendwo zwischen Kindheit und Erwachsensein, zwischen Pflichten und Rebellion, zwischen Rausch und Zorn. Die Beziehung mit seinen Eltern ist schwierig. Sie haben resigniert, ihren Sohn auf den richtigen Weg zu bringen. Nicht einmal ein arrangiertes Treffen mit dem erfolgreichen Onkel bringt Beni zurück auf den tugendhaften Weg. Beni hat ganz andere Vorstellungen von Leben, einem Leben, das gar nichts zu tun haben will mit den Konventionen der Zeit.

Beni will sein wie Fögi. Wie Fögi Musik machen. Musik wie die Stones. Wie Fögi die Welt sehen. Wie Fögi das Leben geniessen und abhängen. Fögi ist zehn Jahre älter als Beni und versucht sich mit seiner Band über Wasser zu halten, was ihm mehr schlecht als recht gelingt. Es geht nicht ohne das Verticken von Stoff, den er für sich und seine Band, für Beni und zum Verkauf besorgt, mit Connections bis in den Libanon und nach Schweden. Beni vergöttert Fögi als seinen ganz persönlichen Guru. Er liebt ihn, ist ihm verfallen. Er liebt ihn über alles, nur schon deshalb, weil Fögi ihm alles gibt, was ihm sein Leben sonst verweigert. Beni fühlt sich getragen und begehrt, verstanden und geliebt.

«mängisch chunntermer for wine guru odere zem meischter so öpis fo rue giz eifach nid.»

Zusammen mit Fögi taucht er immer öfter und intensiver ab in den Rausch, erlebt die Fahrten in den Taumel zusammen mit seinem Freund wie ein weiches grosses Bett, ein in weiche Decken gepolsterter Himmel des Glücks. Und wie alle, die sich solchen Zuständen ergeben mit dem Glauben, alles vollkommen im Griff zu haben.

Marin Frank «ter fögi esche souhung», Der gesunde Menschenversand, 2023, Neuauflage, 104 Seiten, CHF ca. 27.00, ISBN 978-3-03853-144-9

Da ist die Geschichte eines Jugendlichen, der in eine Zwischenwelt ab- und eintaucht. Aber da ist auch die absolute Selbstverständlichkeit, mit der sich Beni seinen Neigungen hingibt, seiner Liebe zu Fögi, seinem Traum einer ganz eigenen Zweisamkeit. Als der Roman 1979 erschien, entsprach die Welt der meisten so gar nicht der, die Beni und Fögi auslebten. Dass Martin Franks Art über alternative Lebensvorstellungen und die Schwulenszene zu schreiben später unter den Eindrücken und Schreckensszenarien von Aids wieder verwässert wurde, ist nicht verwunderlich. Verwunderlich hingegen ist es, dass dieser Roman, der wie „Mars“ von Fritz Zorn (erschienen 1977) in vielerlei Hinsicht einzigartig ist in der Schweizer Literaturgeschichte.

Neben Geschichte, Szenerie und Selbstverständlichkeit ist es aber vor allem die Sprache, die Mundart, die in Schrift gefasste Mundart, beinah phonetisch, die Martin Frank zu einer Kunstsprache macht, ermachis eifach uf guet Glük. Ein Unterfangen, dass das Lesen nicht einfach, aber – wer genug Geduld aufbringt – zu einem ganz besonderen Lesegenuss macht, einem Lesen zwischen kindlicher Freude und einer Authentizität, die sonst in der geschriebenen Sprache kaum erreichbar ist.

«tagen unächt schpile lose schite trip ufoglen uaues he zech ufglöst inen uferlose fluss womer trin tribe si oder no bessere teil fo üsem tanz fürnen übermächtige go.»

„ter fögi ische souhung“ ist ein Stück Geschichte, Literatur- und Kulturgeschichte. Ein ganz spezieller Genuss!

Martin Frank, geboren 1950, aufgewachsen in Bern und Zürich. Ab 1970 Reisen in Süd- und Nordindien, wo er Hindi, Urdu und Tamil lernte. Die Erzählungen «Blinde Brüder» erhielten 2001 den Buchpreis der Stadt Bern. Martin Frank schreibt Schweizerdeutsch, Deutsch und Englisch. Letzte Veröffentlichung: «Venedig, 1911» (Rimbaud Verlag, 2021).

Webseite des Autors

Beitragsbild © Ayse Yavas

Helga Bürster «Als wir an Wunder glaubten», Insel

„Als wir an Wunder glaubten“ ist ein Roman darüber, wie sehr wir Menschen uns von scheinbaren Gewissheiten leiten lassen wollen, wie leicht wir uns in Ausweglosigkeiten verrennen und wie naiv das Sprichwort ist, Zeit würde Wunden heilen. Die Zeit heilt nichts. Was nicht ausgestanden ist, sickert nur tiefer, selbst wenn wir darüber eine heile Welt errichten.

Das der 2. Weltkrieg mit der Kapitulation zu Ende ging, liest man wohl in Geschichtsbüchern, hat aber mit der Realität nichts zu tun. Genauso wie die Vorstellung, die Menschen des 20. und 21. Jahrhunderts hätten sich endgültig vom irrigen Glauben verabschiedet, die Welt wäre durchsetzt von bösen und unheilvollen Kräften. Wir brauchen Erklärungen und wenn nötig Schuldige, denen wir das eigene Unvermögen, all das Unerklärliche, das sich nicht leugnen lässt, aber auch die eigene Dummheit und die eigenen Fehler unterjubeln lassen.

Als das Tausendjährige Reich in Schutt und Asche lag, war das Leiden noch lange nicht zu Ende. Da war der Schmerz über all das Leid, das der Krieg und der Nationalsozialismus über Europa und die ganze Welt brachte, die Verwundeten an Leib und Seele, das Grauen, das sich nicht nur in Lagern abspielte, sondern überall, nicht zuletzt auch in den Herzen und Köpfen der Betroffenen. Da waren Heerscharen an Leib und Psyche Verwundeter, Versehrter und Verkrüppelter, die aus dem Krieg oder Jahre oder Jahrzehnte später aus Lagern zurückkehrten, unfähig, dort weiterzumachen, wo man sie herausgerissen hatte. Da waren die Zurückgebliebenen, Frauen und Familien, die nicht nur das Leben aufrecht zu erhalten hatten, sondern auch den Glauben an eine bessere Zukunft. Da war eine Nation, ein „Volk“, das man zum Führerglauben erzogen hatte, das in strengem Gehorsam Wegschauen und Verdrängen gelernt hatte. Wie hätte man vom strammen Glauben an einen Endsieg so einfach das eigene Denken reaktivieren sollen, die Selbstverantwortung.

Foto © Emsland Moormuseum, Fotoarchiv

Man hatte den Massen jahrzehntelang eingebleut, dass Andersgläubige und Andersdenkende für das eigene und kollektive Versagen und Unvermögen verantwortlich wären. Wie sollten jene Massen mit dem erklärten Ende des Krieges so einfach aus einem „bösen“ Traum erwachen, wenn man sie ein halbes Leben in die eine Richtung drillte?

Helga Bürster «Als wir an Wunder glaubten», Insel, 2023, 285 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-458-64388-3

Helga Bürster erzählt von einem Moordorf; Unnenmoor, nicht weit von Oldenburg. Noch vor dem Krieg heirateten die beiden Freundinnen Edith und Annie. Aber von beiden Männern kam ziemlich schnell kein Zeichen mehr von der Front. Während sie als verschollen galten, hatten die beiden Frauen in der Heimat zu kämpfen; Edith gegen das Klischee, das man mit ihren flammend roten Haaren verband und Annie mit dem stummen Sohn Willi, den sie kaum zu bändigen weiss. Beide sind eingespannt in ihre Pflichten als Zurückgelassene und ausgesetzt als Frauen, die man für eigene Zwecke einspannen will. Im Dorf, etwas ausserhalb, lebt Guste, die ihren Mann schon während des ersten Weltkriegs verloren hatte, die ihr Alter längst vergessen hat und in ihrer Kate lebt, als wäre sie noch Jahrhunderte vom anbrechenden Fortschritt entfernt. Betty, Ediths Tochter, die Guste immer wieder mal einen Topf mit Suppe bringt, freundet sich mit der alten Guste an, eine Freundschaft, die ebenso argwöhnisch beobachtet wird, wie die Tatsache, dass sich ihre Mutter mit dem Dorfjournalisten anfreundet, wo doch nicht einmal klar ist, ob Ediths Mann aus dem Krieg zurückkehren wird.

Eines Tages kehrt dann wirklich einer zurück. Einer, der nicht nur beide Beine in einem russischen Sumpfloch zurückgelassen hatte, sondern sämtliche Erinnerungen. Das einzige, was blieb, war ein Ring mit eingraviertem Namen, der aber auf keinen seiner Finger passte. Je näher der Versehrte der Gegend kommt, in der man seine Sprache spricht, desto mehr bricht Erinnerung hervor. Erst glaubt er Otto, der Mann einer Edith zu sein, bis Annie feststellt, dass es Joseph, ihr Mann ist. Da ist einer zurückgekehrt. Aber schon nach wenigen Wochen bricht durch, was der Versehrte an Grauen mit aus dem Krieg nahm. Genauso wie das, was im Dorf und im Lager am Rande des Dorfes in den verwundeten Seelen der Einwohner weiterwirkt. 

Edith soll für alles Mögliche und Unmögliche im Dorf verantwortlich sein, sie sei eine Hexe, so wie die alte Guste, und mit Sicherheit auch Ediths Tochter Betty. Während Joseph sich kaputtsäuft, der ehemalige Lageraufseher Fritz Renken als «Spökenfritz» und Wunderheiler den Dorfbewohnern die Welt erklärt und sie gegen Edith aufhetzt, während man mit einem riesigen Moorpflug, dem Mammut, die Untiefen der Moorlandschaft in fruchtbare Wiesen umzugraben beginnt und damit dem Fortschritt den Weg ebnen will, heizen sich die Geister, die wirklichen und unwirklichen, an den Verschwörungstheorien der Unbelehrbaren auf. 

© Helga Bürster

Helga Bürsters Roman wird zur atemlosen Lektüre, vielschichtig ineinander verschränkt , von ungeheurer Unmittelbarkeit. Die Autorin spiegelt die Gegenwart ebenso, wie sie Unverdautes an die Oberfläche reisst. “Als wir an Wunder glaubten“ ist sowohl dramaturgisch wie sprachlich Feinkost.

Interview

Ihr Buch beruht auch auf einem Prozess, der 1956 gegen einen Mann geführt wurde, der es mittels fragwürdiger Methoden und Behauptungen schaffte, ein ganzes Dorf durch Aberglauben und Hexenbanner-Tätigkeit gegen einzelne Frauen aufzuwiegeln. Kein Mittelalterprozess, sondern ein Teil des 20. Jahrhunderts. Die Coronazeit hat verdeutlicht, dass auch die Gegenwart nicht vor den abstrusesten Verschwöhrungs- und Erklärungsversuchen gefeit ist. So wie es die Religion für Jahrhunderte schaffte, auf schwierige Fragen einfache Antworten zu geben, schaffen dies auch Diktaturen bis in die Gegenwart. Dort hocken die Schuldigen, vernichten wir sie. Wir schaffen es zwar auf den Mond, aber erliegen der grassierenden Dummheit trotzdem. Macht sie das nicht manchmal mutlos.
Um ehrlich zu sein: Ja, es frustriert mich. Wenn es eng wird, wird das Denken, so scheint es, zur Qual. Es wird anstrengend, die vielen Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß, die Zwischentöne in all dem Gebrüll, noch wahrzunehmen. Zu viel Komplexität verwirrt. Einfache Antworten sind gefragt. Der Diskurs wird unversöhnlich, befeuert noch vom Barbarismus im Internet. In unseren Köpfen brennen die Scheiterhaufen. Aber, um auch dies zu hinterfragen: Wir dürfen die vielen Menschen nicht vergessen, die tagtäglich dagegen anleben. Es gibt, wie immer, Hoffnung. 

Viele leben im irrigen Glauben, der 2. Weltkrieg wäre mit der Kapitulation des Dritten Reichs zu Ende gegangen. Ihr Roman ist die Verdeutlichung dieses Irrglaubens. Kriege hallen und wirken nach. Unrecht hallt und wirkt nach. Nicht auszudenken, was mit all den Wunden passiert, die aktuelle Kriege aufreissen. Wer heute durch Berlin geht und nicht viel über das vergangene Jahrhundert weiss, sieht nichts. Da steht wohl ein Mahnmal, dort ein Museum. Aber man sieht nur, wovon man weiss. War das Schreiben dieses Romans Museum und Mahnmal zugleich?
Kriege gehen nie mit dem Friedensschluss zu Ende. Zwar fallen keine Bomben mehr, aber die Schrecken wirken über Generationen weiter. Von transgenerationellen Tramata ist hier die Rede. Ich kenne das aus meiner eigenen Familie. Die Aufarbeitung, wenn sie überhaupt stattfindet, ist zäh, schmerzvoll und schambehaftet. Warum sollte man im Frieden noch am Krieg leiden? Nach den Lesungen kommen immer Menschen, die ihr eigenes Erleben erzählen. Oft wissen Betroffene gar nicht, dass die Panik, die sie manchmal überfällt (um nur ein Beispiel zu nennen) nicht ihnen gehört, sondern der Mutter, dem Grossvater, Onkel und Tanten, die im Krieg Schreckliches erlebt haben. Um besser damit umgehen zu können, bräuchte es Bildung, Bildung und nochmal Bildung. Wie hängen die Dinge zusammen, was war vor uns, woher kommen wir, wohin gehen wir. Nur so könnten wir, um in Ihrem Beispiel zu bleiben, einer Berliner Fassade seine Geschichte ablauschen. Oder einer räudigen Moorhütte. So gesehen ist der Roman Museum und Mahnmal zugleich und ein bisschen auch Therapie.

eine trocken gelegte Moorlandschaft © Helga Bürster

Jeder, der in einem Dorf aufgewachsen ist, weiss von der Eigendynamik einer Dorfgemeinschaft. Einer Gemeinschaft, die wirklich Gemeinschaft sein kann, aber in seiner Enge und Nähe auch unkontrollierbare Feuer entfachen kann. Hier die dörfliche Unausweichlichkeit, dort die Anonymität der Stadt. Magazine wie „Landleben“ nähren eine Sehnsucht; jene nach Unmittelbarkeit und Authentizität. Die Stadt suggeriert „unbegrenzte Möglichkeiten“. Sind wir nicht genauso Opfer unserer Sehnsüchte wie unserer Ängste?
Ich wüsste nicht, wie wir das vermeiden könnten. Ich habe in der Stadt gelebt und mich nach dem Land gesehnt, nun lebe ich auf dem Land und sehne mich immer mal wieder nach der Stadt. Habe ich ein paar Tage Berlin hinter mir, bin ich froh, in mein stilles Dorf zurückzukehren. Sitze ich wochenlang einsam an meinem Schreibtisch, muss ich raus in die Grossstadt, um zu spüren, dass ich noch lebe. Es kommt darauf an, wie ich damit umgehe. Mein Rezept heisst Abstand von mir selbst und ein Schuss Selbstironie. Solange ich mich selbst hinterfrage, bin ich kein Opfer. Aus solchen Ambivalenzen entstehen Stoffe für Geschichten. Es ist anstrengend, aber ich liebe es. 

Katie, eine Hausiererin, von vielen argwohnisch beobachtet, taucht eines Tages nicht mehr mit dem Handwagen vor Ediths bescheidenem Hof auf, sondern aufgemotzt mit einem Auto und dem Versprechen, auch Edith etwas von dem Wohlstand ins Haus zu bringen. Edith soll Spitzenwäsche schneidern, neben erotischen „Hilfsmitteln“ ein neues Geschäftsfeld von Katie, die so etwas wie eine Freundin Ediths wurde. Ein bisschen die Geschichte von Beate Uhse. Eine Frau, der der Erfolg Recht gab, die aber an ihrer Kollaboration mit den „Dorfhexen“ hätte scheitern können. Warum schafft Beate Uhse, was in der kleinbürgerlich verklemmten Gesellschaft der Nachkriegsjahre so gar nicht hineinzupassen schien?
Was mich bei den Recherchen fasziniert hat, war der Umstand, dass es nach dem Krieg ein grosses weibliches Bedürfnis nach sexueller Freiheit gab und ich war überrascht, wie offen und modern die vermeintlich muffigen 50er Jahren auch waren. Die Frauen, im Krieg als Gebärmaschinen und Lückenbüsser missbraucht, hatten die Nase gehörig voll. Beate Uhses «Schrift X», ein Aufklärungsheftchen, in dem es u.a. um Verhütung ging, fiel da auf sehr fruchbaren Boden, nicht nur in der Stadt. Es wurde zum heimlichen Bestseller. Die Frauen hatten gewaltig an Selbstbewusstsein gewonnen. Die Scheidungsrate war immens hoch. Es brodelte so gewaltig in der Gesellschaft, dass sich sogar der Bundestag mit dem «Zerfall der Familie» beschäftigte. Ich war erstaunt, dass dies heute so wenig bekannt ist. Aus diesem Grunde habe ich Katy ein bisschen von der Biografie Beate Uhses angedichtet, obwohl Frau Uhse nicht als Einzige in Sachen Erotik unterwegs war, aber sie war die erfolgreichste. 

Moorsee © Helga Bürster

Männer sind tot oder Fracks, verwundet, traumatisiert, aus den Angeln gehoben oder Verdränger. Nach einem Krieg, der sechs Jahre dauerte und Millionen von Toten forderte, kein Wunder. Frauen halten zusammen, was übrig blieb, kompensieren, räumen auf. Auch in den Kriegen der Gegenwart sind Rollenverteilungen alles andere als „modern“. Ändert sich nicht erst dann wirklich etwas, wenn man „Menschsein“ über das Rollenmodell und das Geschlechtliche hinaus zu leben beginnt?
Auf jeden Fall. Wenn wir nicht mehr in Geschlechtern denken, wenn Stereotype, dass eine Frau besser pflegen und ein Mann besser den Hammer schwingen kann, endlich der Vergangenheit angehörten, wenn alle Arbeit gerecht verteilt wäre, je nach Fähigkeit und Neigung, erst dann hätten wir echte Gleichberechtigung. Eine schöne Vorstellung. 

Helga Bürster, geboren 1961, ist in einem Dorf bei Bremen aufgewachsen, wo sie auch heute wieder lebt. Sie studierte Theaterwissenschaften, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, war als Rundfunk- und Fernsehredakteurin tätig, seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Sachbücher und Regionalkrimis, zudem wurden von Radio Bremen/ NDR sowie vom SWR Hörspiele von ihr ausgestrahlt. 2019 erschien ihr literarisches Debüt «Luzies Erbe«.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Uwe Stalf/Insel 

Christoph Peters «Krähen im Park», Luchterhand

„Krähen im Park“ sticht mitten in die Zeit. Christoph Peters verwebt ein Geschehen vieler ProtagonistInnen an einem einzigen Tag, Lebensläufe, die sich manchmal streifen oder auch nur in der gleichen Stadt, ab diesem 9. November 2021 in Berlin, abspielen, meisterhaft gespiegelt in den verschiedensten Perspektiven, die Oberflächlichkeiten einer Gesellschaft am Wendepunkt entlarvend.

Zu Besuch in der Stadt meines Freundes stand ich nachts manchmal am Fenster seiner Wohnung oder auf dem kleinen Balkon, auf dem nur ein Stuhl Platz hatte. Bei Dunkelheit sah man in all die Wohn- und Schlafzimmer auf der Gegenseite, die die Sicht nicht mit Gardinen versperrten. Ich sah für eine Weile in die Leben all der mir Unbekannten, ein ins Licht gesetztes Szenario vieler gleichzeitiger Leben, die nichts miteinander zu tun hatten. Damals nahm mich mein Freund weg vom Fenster, weil er Kommentare fürchtete. 

Ganz anders Christoph Peters mit „Krähen im Park“. Er nimmt mich mitten hinein in die Leben vieler, erzählt vom erfolglosen Schriftsteller Urban, dem es seit Jahren nicht gelingt, wieder zurück in jene Spur zu kommen, die mit zwei Romanen so vielversprechend begonnen hatte. Von einer Frau Irma, einer ehemals erfolgreichen Schauspielerin, nun Influencerin, die alles versucht, nun wenigstens ihre Tochter Leonie gewinnbringend zu vermarkten. Von Joyce, einer Fluggastkontrolleurin, enttäuscht von den Männern, enttäuscht vom Leben, enttäuscht von ihrer Tochter Dina, die sich unverständlicherweise an einen Türken gehängt hat. Von Dina selbst, mit achtzehn nach dem Abitur von Emre schwanger geworden, eigentlich glücklich und doch ganz verunsichert, wie sie an diesem Tag zum Arzt geht, um sich ihrer Schwangerschaft sicher zu sein und aus ihrem Glück gerissen wird. Von Emre, dem türkischen Paketboxer, der eigentlich Dina zum Arzt hätte begleiten sollen, dem aber die Tekwando-Prüfung wichtiger ist, sich gleichzeitig aber in seinen schlechten Gefühlen windet. Von Ali Zayed, einem afghanischen Flüchtling, erst seit ein paar Stunden von Belarus kommend in der ihm vollkommen fremden Stadt, auf der Suche nach seinem Cousin… 

Christoph Peters «Krähen im Park», Luchterhand, 2023, 320 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-630-87752-5

Was wie ein Wimmelbild erscheinen mag, ist ein sorgfältig konstruierter Teppich aus unterschiedlichsten Biographien, ganz und gar nicht wirr zu lesen, so glasklar arrangiert und inszeniert, dass ich staune, wie gut es dem Autor gelingt, die verschiedenen Charaktere auch aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen. Wie scheinbar Objektives aus der Sicht eines andern meinen permanenten Versuch einzuordnen unterbricht. Wie tief man in sich selbst versenkt ist und es nicht schafft, den eigenen Tunnel zu verlassen.

Zusammengehalten werden all die Leben durch den Besuch des französischen Starschriftstellers Bernard Entremont, der aus Paris angereist ist, um einen mit 30 000 Euro dotierten Literaturpreis entgegenzunehmen. Eine Veranstaltung in den Coronabeschränkungen, vielleicht die letzte ihrer Art, mit einem Schriftsteller, den man hasst oder vergöttert, der sich gelangweilt zeigt und sich über sich selber wundert, dass er nicht einfach via Leinwand ein kurzes Lächeln hätte zeigen können. Entremont (unschwer als Michel Houellebecq zu erkennen) in seinem nachlässigen Parka, dauernd rauchend, auch wenn sich sonst alle an Verbote halten, immer nach einem attraktiven Gegenüber suchend.

Die Kulturschickeria ist in heller Aufregung. Während sich die einen um jeden Preis ihre ganz persönliche Scheibe von dem Literaturspektakel abschneiden wollen, sich der geehrte Bernard Entremont sich in seiner Langeweile suhlt, geht es im gleichen Moment nicht unweit vom diesem Geschehen ums unmittelbare Überleben, knallen kleine und grosse Katastrophen.

Corona hat unsere Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttert. Auch wenn sich die Wellen scheinbar geglättet haben, wissen wir alle, wie dünn das Eis, wie filigran die Normalität, wie flüchtig das Glück ist. Christoph Peters Roman ist eine Gesellschaftsstudie ohne Analyse. Und doch wird klar, wie sehr wir uns in einer künstlichen Blase bewegen, die einen innerhalb, die andern auf immer ausgeschlossen. Auch wenn es Christoph Peters vermeidet zu moralisieren, schmerzt die unmittelbare Nähe all der wirklichen und eingebildeten Katastrophen. Christoph Peters verblüfft und überrascht. Sein Roman ist ein oppulentes Sittengemälde einer Zeit, die sich mit aller Macht über Wasser hält.

Interview

Es geht ihnen nicht um ihre eigenen Befindlichkeiten, aber sehr wohl um die Befindlichkeit der Welt. Ich spüre ihre Betroffenheit. Aber es ist eine in den beschriebenen Personen gespiegelte Befindlichkeit. Nicht zuletzt auch jene der Ausweglosigkeit. 
Es gab in den schwierigen Zeiten der Pandemie und mit den grossen Friedens- und Klimademonstrationen kurz davor auch die kleine Hoffnung, es würde sich etwas ändern. Ist ihr Roman auch ein Bild dessen, wie wir weiter feiern auf dem lecken Dampfer?

Soweit ich mich selbst erinnere und wenn ich dann noch die Erzählungen meiner Eltern und Grosseltern dazunehme – zwei Weltkriege, Weltwirftschaftskrise, der Verlust von allem, was sie besessen haben, im Bombenhagel -, war der Dampfer eigentlich immer leck. Die Menschen haben trotzdem gefeiert. Neulich habe ich eine Dokumentation über die 1950er Jahre gesehen: Da wurden überall Atombunker gebaut und ABC-Waffen-Trainings durchgeführt, gleichzeitig kam der Rock ’n’Roll auf – der bis dahin vermutlich wildeste Tanz der Neuzeit. Während der 1980er, als ich selbst erwachsen wurde, standen neben der weiterhin dramatischen Atomkriegsdrohung Waldsterben, Ozonloch, tote Flüsse im Fokus der Weltuntergangsszenarien. Auch wir haben damals in der permanenten Angst gelebt, die „letzte Generation“ zu sein, sind zu politischen Aktionsgruppen und Demonstrationen gegangen, aber am Wochenende eben auch in die Grossraumdisco. Da, wo im Roman gefeiert wird – bei der Preisverleihung zu Ehren des französischen Starliteraten Bernard Entremont in der Akademie der Künste und auf der halboffiziellen After-Show-Party im Haus der Schauspielerin und Salonniere, Mariann Krüger –, ist es eher der Versuch, trotz der heiklen Lage, die Rituale bougeoisen Kulturlebens aufrecht zu erhalten, beziehungsweise vorsichtig wieder aufzunehmen. Das klappt natürlich nur teilweise. Einige der Figuren interessieren sich ohnehin nur am Rande für die globale Lage, sondern sind hauptsächlich mit ihren eigenen, persönlichen Problemen beschäftigt, wie das ja auch im wirklichen Leben nicht selten der Fall ist.

Was mich an ihrem Roman auch fasziniert, sind die verschiedenen Perspektiven. Während sie stets sehr nahe an ihrem Pesonal schreiben, die Welt aus ihrer Sicht schildern, relativiert sich diese Ansicht bei einem Szenenwechsel, wenn das Licht auf eine andere Bühne gerichtet wird. Alles ist sowohl als auch, selbst bei der Person des afghanischen Flüchlings Ali Zayed, dessen Geschichte bewusst macht, dass es gleich neben Luxus, Hochglanz und kalt gestelltem Sekt um Leben und Tod geht. Es scheint ihnen um viel mehr zu gehen, als nur eine Geschichte zu erzählen.

© Christoph Peters

Ich habe versucht, eine Art Momentaufnahme der Gesellschaft im Brennpunkt und Schmelztiegel Berlin zu Beginn des 2. Corona-Winters zu zeichnen. Es gibt viele, etwa gleich wichtige Figuren aus sehr verschiedenen Milieus – Kulturschickeria, Gross- und Kleinbürgertum, Migranten, junge und alte Paare unterschiedlicher Orientierung, einige, die im Westen, andere die im Osten sozialisiert sind. Einerseits leben sie alle in ihren eigenen Welten, andererseits greifen diese Welten dann doch stärker ineinander, als man auf den ersten Blick vermuten würde, teils zufällig, teils – wenn man so will – fast schicksalhaft. Das Private wird politsch und der Politiker wird von seinen privaten Konflikten eingeholt. Für andere, wie den afghanischen Flüchtling Ali Zayed oder den Paketfahrer Emre, spielt das alles kaum eine Rolle. Der eine versucht, sich irgendwie in der Fremde zu orientieren, der andere hat eine junge Freundin, Dina, die schwanger ist, und träumt vom künftigen Familienglück. Fast alle sind auf der Suche nach etwas, das dem eigenen Leben eine Wendung zum entschieden Besseren geben könnte, wobei jeder andere Vorstellungen hat, was es sein könnte. In gewisser Weise ist der Roman auch der Versuch, aus den sogenannten „Blasen“, in denen wir uns mehr und mehr abgekapselt haben, herauszukommen und einen etwas grösseren Ausschnitt aus den vielen, extrem heterogenen Lebenswelten zu zeigen, aus denen unsere nach-postmodernen Grossstädte bestehen.

Ausgerechnet der Sohn von Professor Bernburger, der Gesundheitspolitiker mit Ambitionen ist und Verfechter einer rigorosen Impfpflicht, entpuppt sich als Coronakritiker und Anhänger kruder Verschwörungstheorien. Eine Szenerie, die wir sehr gut kennen; Familien, in denen der Coronatsunami tektonische Verschiebungen verursacht hat. Trotzdem ist ihr Roman kein Coronaroman. Und doch ist der Vius da. Ein schreibender Freund meinte einmal, es wäre unmöglich, einen vernünftigen Coronaroman zu schreiben. Mussten sie sich um eine richtige Dosierung bemühnen?

Als ich wusste, dass ich diesen Roman schreiben würde und dass er am 9. November 2021 spielen sollte, sah es noch ganz so aus, als wäre Corona bis dahin kein grosses Thema mehr. Ursprünglich wollte ich erzählen, wie das Leben nach der Krise allmählich wieder zur vor-pandemischen Normalität zurückkehrt. Als sich dann abzeichnete, dass das Virus doch hartnäckiger sein würde als erhofft, habe ich entschieden, diese zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen einfach als gegeben hinzunehmen – ein bisschen wie eine schwierige Wetterlage. Corona und die Art, wie die Figuren im Roman darauf reagieren, spielt also eine Rolle, ist aber nicht der alles determinierende Faktor. Zu diesem Zeitpunkt dauerte die Pandemie ja auch schon gut anderthalb Jahre und man hatte sich allmählich daran gewöhnt. Da ich diese vielen verschiedenen Protagonisten hatte, konnte ich von sehr unterschiedlichen Arten erzählen, wie die Leute mit dem Virus umgehen: Von der panischen Sorge, über gelassene Bereitschaft, sich den Regeln entsprechend zu verhalten, bis hin zu verschwörungsgläubigem Verfolgungswahn. Nicht wenige der Figuren haben aber bereits wieder oder von vorneherein ein achselzuckendes Desinteresse dem ganzen Themenkomplex gegenüber. Dadurch musste ich nicht ständig aufpassen, dass das Virus den Text vollständig unter seine Kontrolle brachte. 

Nicht zuletzt ist ihr Roman auch eine Auseinandersetzung mit dem Literaturbetrieb. Auf der einen Seite der erfolgsverwöhnte Misanthrop und Lebemann Bernard Entremont, um den eine bunte Schar Kulturbeflissener Bücklinge macht, auf der anderen Seite Urban Fischer, ein fast vergessener Schriftsteller, dessen Selbstverständnis mehr als angekratzt ist. Auf der einen Seite ein aufgeblasener Hype um einen grossen Namen, der Aufmerksamkeit generiert, auf der anderen Seite die pure Selbstzerfleischung. Beide haben die Bodenhaftung verloren. Aber ist nicht Bodenhaftung eine Unabdingbarkeit für gute Literatur?

„Bodenhaftung“ finde ich einen eher schwierigen Begriff im Zusammenhang mit Literatur. Er suggeriert, dass Literatur eine realistische, gesellschaftspolitisch reflektierte, auf genauer Beobachtung der Verhältnisse durch einen souveränen Autor basierende Perspektive haben sollte. Diese Art des „relevanten Realismus“ ist aber nur eine von sehr vielen Möglichkeiten interessante Texte zu schreiben. Grundsätzlich kann der Blick eines Autors natürlich hauptsächlich nach Aussen gehen, sich also der möglichst genauen Wahrnehmung der menschlichen Verhältnisse um ihn herum in seiner Zeit zuwenden. Andererseits bietet aber auch die radikale Selbstbeobachtung bis hin zur völligen Isolation von Autor, Erzähler und/oder Protagonisten Möglichkeiten, Dinge aus innerseelischen Dunkelkammern und psychischen Grenzbereichen ans Licht zu bringen und gerade dadurch neue Perspektiven auf die menschliche Existenz zu öffnen. Das Imaginieren, Phantasieren, der Entwurf völlig anderer Welten und Wirklichkeiten ist eine weitere Möglichkeit, so alt wie die Literatur selbst und ebenso berechtig wie wichtig, um Alternativen zu den gegebenen Verhältnissen ins Auge zu fassen oder Fluchtrouten aufzuzeigen. Daneben kann sich der Fokus auf die Sprache selbst, ihre Strukturen, Grenzen und Entgrenzungen richten und gerade dadurch neue Zugänge zur inneren und äusseren Welt ermöglichen, die verschlossen bleiben, solange der Autor am „Boden haftet“.

in der Akademie der Künste © Christoph Peters

Es gibt eine Szene in ihrem Roman, in der der Afghane Ali Zayed in einem der vielen Berliner Parks sitzt und Krähen beobachtet. Afghanische und deutsche Krähen scheinen sich genauso zu unterscheiden wie afghanische und deutsche Menschen. Aber zumindest können deutsche Krähen mit den Abfällen aus Mülleimern in Parks ganz gut leben. In vielem tönen sie nur an. Auch die Geschichte von Ali Zayed ist „nicht zu Ende erzählt“. Das Personal ihrer Romane kommt immer wieder mal vor, wenn auch mit anderem Gewicht. Was entscheidet, ob eine Figur wie Ali Zayed wieder auftauchen wird?

Die Unterschiede zwischen afghanischen und berliner Nebelkrähen sind ornithologisch nicht hundertprozentig abgesichert: Ich habe in Pakistan immer wieder grosse Schwärme dieser Art gesehen und bin einfach mal davon ausgegangen, dass in Afghanistan eher der pakistanische Typ verbreitet ist: etwas kleiner, schlanker, insgesamt eleganter im Erscheinungsbild und das Grau ein bisschen blaustichig – was gut zu den „crows which are blue“ des Edith-Stein-Mottos zu Beginn des Romans passt. Ob sich die Charakteristika der Krähen auf die Menschen übertragen lassen, sei mal dahingestellt. – Tatsächlich wandern gelegentlich Figuren von Text zu Text weiter oder tauchen nach Jahren, manchmal Jahrzehnten plötzlich wieder auf. Wie genau es dazu kommt, weiss ich nicht. Irgendwie haben alle diese Gestalten eine Art Eigenleben in meinem Kopf oder sonstwo, und dort gehen sie, auch wenn ich sie gerade nicht erzählend im Blick habe, ihren jeweiligen Beschäftigungen nach. Manche widersetzen sich gezielt den Lebensplänen, die ich für sie gedacht hatte. So ist der Yakuza Fumio Onishi ursprünglich nur Protagonist einer Kurzgeschichte, „Maneki neko“, gewesen, die im Berliner Hauptzollamt spielte und eigentlich mit seinem Tod enden sollte. Dazu kam es dann aber nicht, so dass Fumio zur Hauptfigur in „Der Arm des Kraken“ wurde, wieder mit der Aussicht, am Ende getötet zu werden. Doch er hat auch den Roman überlebt und sich nach Tokio bzw. in „Das Jahr der Katze“ geflüchtet. Aktuell agiert er vermutlich in der Unterwelt von Los Angeles. Ich würde ihm eigentlich sehr gern dabei zuschauen, aber bislang hat er mir seinen genauen Aufenthaltsort nicht verraten. Ob Ali Zayed sich noch einmal melden wird, kann ich momentan nicht sagen – ausgeschlossen ist es nicht.

Des Autors Schreibtisch © Christoph Peters

Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018), dem Thomas-Valentin-Literaturpreis der Stadt Lippstadt (2021) sowie dem Niederrheinischen Literaturpreis (1999 und 2022). Christoph Peters lebt heute in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm bei Luchterhand «Tage in Tokio» (2021) und «Der Sandkasten» (2022).

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Beitragsbild © Peter von Felbert