Patrick Tschan «Der kubanische Käser», Zytglogge, Gast in Amriswil

Noldi Abderhalden, den ein schauderhafter Rausch aus seinem geliebten Toggenburg (Tal in den Schweizer Voralpen) 1620 in die Hände von Söldnern trieb, wird durch Zufall ein Kriegsheld. Aber statt auf seinen Lorbeeren auszuruhen und ein Leben lang von diesem einen, glorreichen Moment zu profitieren, schwemmt ihn sein Verlangen nach mehr bis in ein abgelegenes Tal auf Kuba, wo er die Zeit seines Dienstes für die Krone aussitzen muss.

In Europa tobt der Dreissigjährige Krieg. In manchen Gegenden dezimiert er zusammen mit Seuchen, Armut und Hunger die Bevölkerung um mehr als die Hälfte. Ein jahrzehntelanges Gemetzel, bei dem es vordergründig um den rechten Glauben geht, aber eigentlich nur um Macht, Besitz und Geltungssucht, ein Morden, das bis in die entferntesten Winkel vordringt und das Antlitz Europas für immer grundlegend verändert.

Anwerber der Spanischen Armee streifen durch die Lande und suchen nach Frischfleisch für den Kampf gegen den Protestantismus. In einer eisigen Winternacht, in der Noldi Abderhalden seinen Liebeskummer im Schnaps zu ertränken versucht, setzt er sturzbetrunken sein Zeichen unter einen Vertrag, wird als Sechzehnjähriger mitgenommen, um irgendwo und überall im Namen des richtigen Glaubens Köpfe rollen zu lassen. Nach Ausbildung, Drill und Entjungferung rettet er in einer Schlacht das Leben seines Kommandanten Gómez Suárez de Figueroa, schlägt eine dahersirrende Kanonenkugel mit blossen Fäusten aus seiner tödlichen Bahn, wird zum umjubelten Held, gelangt bis an den Hof des Königs, wo er aber wegen seiner unstillbaren Lebenskraft und Leidenschaft für Jahrzehnte in die spanische Kolonie Kuba verbannt wird, um dort eine Hand voll Schweizer Kühe zur Herde werden zu lassen.

Noldi Abderhalden erwacht zu spät, mehr als einmal. Aber Noldi Abderhalden ist es gewohnt, in die Hände zu spucken und die Dinge anzupacken. Er sitzt seine Zeit nicht einfach ab, sondern mausert sich auf der anderen Seite der Welt zum Züchter, Käser und Geschäftsmann. Sogar das Donnerrollen, das aus seinen Lenden zu stammen scheint, bekommt er in den Griff, lernt Liebe kennen und das Glück des Tüchtigen. Nur die Sehnsucht nach dem kleinen Tal zwischen Säntis und Churfirsten lässt sich nie ganz zähmen, ob im Geschmack seines Käses oder nach dem Verstreichen seiner besiegelten Pflicht.

Patrick Tschan ist gelungen, was er wirklich kann. Er mischt Historie mit Fiktion, würzt mit Humor und träfer Sprache, heizt ordentlich mit schnoddriger Schärfe und fast südamerikanischer Erzählfreude und formt eine Geschichte, die in eidgenössischer Literaturlandschaft seinesgleichen sucht. Der Roman strotzt vor Helvetismen, es wird gewettert (gleich mehrdeutig) und geflucht, dass es eine Freude ist. Ob ‹Heilandsack›, ‹huere Feigling› oder spanisch ‹Me cado en la lache!‘, Patrick Tschan erzählt nicht zimperlich. Mehr als einmal bebt das Zwerchfell während des Lesens, mehr als einmal überrascht Patrick Tschan durch das Tempo in seinem Erzählen. Schon einmal war der Ursprung eines Tschan’schen Abenteuers das kleine Toggenburg im Kanton St. Gallen. Damals war es im Roman „Polarrot“ Jack Breiter, der zuerst als Heiratsschwindler in St. Moritzer Hotels sein Glück versucht und später den Nazis das Polarrot für ihre Fahnen hektoliterweise verkauft. Noldi Abderhalden, der mit zwölf durch ein Unglück zusehen muss, wie seine Eltern sterben müssen, ist das, was man ein «Stehaufmännchen“ nennt, Archetyp dessen, was den einen oder andern auch in der Gegenwart an der Gerechtigkeit zweifeln lässt. Was die Geschichte so sehr lesenswert macht, ist dieser ganz eigene Ton, den Tschan für seine Heldengeschichte trifft. Ein Roman mit grossen Händen, starken Oberarmen und markigen Sprüchen!

Am 29. Mai, 2019, bringt Patrick Tschan seinen neuen Roman „Der kubanische Käser“ an die St. Gallerstrasse 21 in Amriswil. Wer das Buch bis zu diesem Datum gelesen hat und mit Schriftsteller und Gästen diskutieren und austauschen will, ist mit Anmeldung (info@literaturblatt.ch) herzlich bei Irmgard & Gallus Frei-Tomic eingeladen. Die Runde beginnt um 19 Uhr, dauert bis ca. 21 Uhr und kostet inkl. Speis und Trank 30 Fr.

Ein paar Fragen an Patrick Tschan:

Schon in deinem Roman „Polarrot“ fragte ich mich, wie der Mann aus Allschwil bei Basel an seine Geschichten kommt, die nun schon ein zweites Mal im Toggenburg, das so weit weg vom Nabel der Welt scheint, seinen Ursprung haben? Liegen dort die besseren Geschichten als in der Stadt Basel? Oder braucht es einen dicken Nacken, der all das tragen kann, was deinen Protagonisten in die Quere kommt?
Ehrlich gesagt, ich weiss es nicht. Bei Breiter könnte es sein, dass der vorlagegebende Onkel aus dem Thurgau kommt und dies für eine Romanfigur nicht unbedingt eine literaturgeschwängerte Region ist. Und so fiel mir das Toggenburg mit seinem «Armen Mann» ein. Beim Abderhalden war die interessante konfessionelle Konstellation im Toggenburg interessant. Und ein Ort, wo die Berge Frümsel, Hinterrugg, Chäserrugg, Leistchlamm, Brisi oder Schafsberg und Alpen Chüeboden, Vrenechele, Obere und Untere Schnebere oder Chreialp heissen, der schreit geradezu als literarische Kulisse verwendet zu werden.

Neben den Ortsbezeichnungen sind es aber vor allem Flüche und Kraftausdrücke, die du in deinem Roman zu einem Mantel Abderhalden werden lässt. Abderhalden, der Käser aus dem Toggenburg, schlägt sich zwar wacker im Dreissigjährigen Krieg, ist aber alles andere als ein Schläger oder Grobschlächtiger. Seine Flüche, seine Jodler sind wie die Türme seiner eigentlich so sehr gebeutelten Seele. Flüche als eine Art der Befreiung? Liest man deine im Roman verwendeten Flüche, dann sind sie Banner der Verbildlichung innerer Zustände, so ganz anders als die Flüche heute, die ausgerechnet eine Ausdrucksform der Liebe in den Dreck ziehen. War da pure Lust oder auch ein bisschen Rehabilitation jener Kraftausdrücke, die Leiden-schafft?
Wohl beides. Ein Noldi Abderhalden ist nicht einer, der sich hinsetzt und sein Verhältnis zu Gott, der Welt, der Liebe und den Frauen reflektiert, dies dann den Lesenden fein säuberlich mitteilt. Das wäre berichtet statt erzählt und somit langweilig. Also jodelt und flucht Noldi, wenn seine Gefühlswelt wieder mal derart von Gott, der Welt, der Liebe und den Frauen durcheinandergeschüttelt wird, dass er nicht mehr weiss, ob die Chreialp wirklich da oben ist und der Chässerugg nicht in den Walensee gefallen ist. Ja, und die alten Flüche sind wahrlich eine Lust, stecken doch eine Menge überlieferter lokalgefärbte Gefühls- und Glaubenswelten in ihnen, Heilandsack!

Der dreissigjährige Krieg, wohl einer der vernichtensten Kriege gemessen an der damaligen Bevölkerung, ist der Grund dafür, dass Noldi Abderhalden gegen Bezahlung für 10 Jahre in den Dienst der Spanischen Krone in Schlachten zog. Kriege, die an Brutalität kaum zu überbieten waren. Er ist Schauplatz seiner und deiner Heldengeschichte. Eine Heldengeschichte, die wie alle Heldengeschichten nicht nach Wahrheitsgehalt gemessen werden kann und soll. Wir brauchen sie. Je verrückter, desto wirkungsvoller. Und weil die Literatur alles darf, ist sie der ideale Ort, um Heldengeschichten zu produzieren. Literatur als «Opium für das Volk»?
Leider rauchen viel zu wenige aus dem Volk diese Art von Opium. Obwohl: ein paar gute Geschichten gut erzählt wären wohl für viele Wunden heilsamer als mutlose, nach Aktualitäten schielende Mainstream-Berichte.

Wenn erzählt wird, sind es die Momente, in denen Brüche entstehen, die bannen. Noldi verliert als Kind seine Eltern, muss der Katastrophe zuschauen. Im Krieg ist er es, der im Moment eingreift, etwas aus der logischen Konsequenz buxiert. Das, was ihm als Kind damals unmöglich war. Manchmal sind wir zum reagieren verdammt, manchmal gelingt es uns zu agieren. Noldi ist in deinem Roman einer, der es in die Hand nimmt. Das braucht es in einer Welt, in der sich alle so schnell stets als Opfer sehen. Richtig?
Das hast Du wunderbar gesagt, mit den Brüchen. Am besten sind sie dann, wenn sie aus der Figur kommen. So wirkt jedes Klischee weniger klischeehaft. Der Noldi nimmt ja erst in Kuba sein Leben in die Hand; mit dem Entschluss zu käsen. Vorher hätte er viele Gründe gehabt, sich selbst zu veropfern. Aber dieses gibt es in der Manstream-Gegenwartsliteratur ja genug. Das ist auch nicht spannend, das berichtet und erzählt nicht.

Vielen Dank und deinem Buch die verdienten Leserinnen und Leser!

Patrick Tschan, 1962 in Basel geboren, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie, führte in zahlreichen Theaterstücken Regie und ist seit vielen Jahren in der Werbung und Kommunikation tätig. Er ist Präsident der Schweizer Schriftsteller-Fussballnationalmannschaft. Zuletzt erschienen von ihm die Romane «Keller fehlt ein Wort» (2011), «Polarrot» (2012),»Eine Reise später» (2015) bei Braumüller. «Der kubanische Käser» ist sein erstes Buch bei Zytglogge.
Beitragsbild © Gallus Frei-Tomic
8. Literaturblatt

Karl Rühmann «Der alte Wolf»

Der Wolf entdeckte sie jedes Mal, lange bevor sie ihn sahen. Listig sind sie nicht, dachte er. Aber beharrlich.

Der Wald war sein Zuhause, er kannte Pfade, die andere für Dickicht hielten, und er wusste um Höhlen, die einem auch dann verborgen blieben, wenn man dicht davorstand.

Seine Verfolger hatten Hunde, die sich begierig auf jeden verdächtigen Duft stürzten und dann geifernd an ihren kurzen Leinen zerrten. Immer wieder musste der Wolf falsche Spuren legen. Er tat das mit Geschick und Gelassenheit. Aber er spürte deutlich, wie sehr ihn die Flucht ermüdete. Sein Fell wurde schütterer, sein Atem kürzer, seine Beine wurden schwerer.

Er verkroch sich unter die tiefen Äste einer Tanne und sah zu, wie seine Verfolger in die Irre stolperten. Wenn er nach ihnen spähte, brauchten seine Augen länger, um den Unterschied zwischen Jägern und Wanderern auszumachen.

Der Wolf empfand immer weniger Lust, die vertrauten Verstecke zu verlassen und neue zu suchen. Die Erschöpfung kroch an ihm hoch, legte sich auf seinen Rücken und drückte ihn Tag für Tag unerbittlicher auf den weichen Waldboden.

Ich muss weg von hier, sagte er sich. Irgendwohin, wo ich mich nicht mehr verstecken muss. An einen Ort, an dem Güte stärker ist als Niedertracht.

Er streckte sich, heulte ein letztes Mal auf und lief los.

Der Wolf wanderte viele Tage. Er erklomm dicht bewachsene Hänge, rutschte durchs tiefe Laub Böschungen hinab, und wenn ein Fluss sich ihm in den Weg stellte, suchte er nach Untiefen. Er überquerte sie, ohne sich umzusehen.

Der alte Wolf kam an eine Schlucht, ihre Wände fielen steil hinab. Doch er fand für jeden seiner Schritte einen Felsvorsprung, gerade breit genug für seine Pfoten. Unten überließ er sich kurz seiner Erschöpfung. Aber als das Mondlicht durch einen Felsspalt auf ihn fiel, sprang er auf und lief weiter.

Als er an einen großen See kam, hob er die Schnauze und versuchte, das andere Ufer zu erschnuppern. Der Duft war ein blasser Hauch, schwach und fremd, er franste immer wieder aus und seine Fäden verfingen sich im Schilf. Der See muss sehr groß sein, dachte der Wolf.

Dann sprang er.

(Der Text ist auch ein gleichnamiges Bilderbuch, erschienen im Jungbrunnen Verlag.)

Karl Rühmannverbrachte seine Kindheit in Jugoslawien. Er studierte Germanistik, Hispanistik und Allgemeine Literaturwissenschaft in Zagreb und Münster, unterrichtete Deutsch und Spanisch in Skanderborg in Dänemark, wechselte in die Verlagswelt und arbeitete als Lektor und Lizenzmanager. Seit 2006 lebt er als freier Lektor, Literaturübersetzer und Autor in Zürich. Seine Kinderbücher sind in viele Sprachen übersetzt worden. Für den Roman «Glasmurmeln, ziegelrot» (Rüffer & Rub) erhielt er ein Werkjahr-Stipendium der Stadt Zürich.

Webseite des Autors

Philipp Lyonel Russell «Am Ende ein Blick aufs Meer», Insel

Frederick Bingo Mandeville, Meister der Selbstinszenierung, schon als Kind mit dem Namen „Spassvogel“ markiert, wird britischer Schriftsteller, ein Gigant im Literaturbetrieb mit über 50 Romanen. Und doch bleibt am Schluss eines langen Lebens nur der schwere Stein auf dem Friedhof über einem Komet, der in der Grube langsam erkaltet.

Ich nahm den Roman nur schon zur Hand, weil ihn der Schriftsteller Christoph Hein vom Amerikanischen ins Deutsche übersetzte. Der Name des Übersetzers, eines Schriftstellers, den ich seit Jahrzehnten überaus schätze, musste doch Garant und Versprechen genug sein, denn über das Pseudonym Philipp Lyonel Russell sind zumindest bis jetzt keine Rätsel zur knacken.

Frederick Bingo Mandeville geniesst bis kurz vor seinem Tod eine Sonderstellung, schon als ihn die Hebamme in die Wiege, die Ammen an ihre Brüste legten. Ein Sonnenkind. Ein Kind, das sich auch nicht grämt, als sich die Eltern wieder in den fernen Osten absetzen, um dort den hehren Aufgaben für Vaterland und Krone weiterzudienen und den Kleinen zusammen mit seinen Schwestern den Tanten überlassen.
Bingo erobert seine Welt im Sturm, obschon er von seinem Ammenduo gemästet zeitlebens den Speck nicht mehr ablegt. Trotz seiner Fülle, obwohl er in der Schule und später als Jugendlicher weder beim Militär noch im Sport zu reüssieren vermag, liegen ihm die Menschen zu Füssen. Denn Bingo kann eines wie kein anderer; erzählen. Zuerst gegen den Willen seiner Eltern in kleinen Theatern in London, später in Übersee vor immer zahlreicheren Zuschauern und Zuhörern, dann in der ‚Abtei‘, der Drehbuchwerkstatt von MPPC in Fort Lee nahe New York, dort, wo in prehollywood’schen Zeiten die zaghafte Filmgeschichte der USA begann. Schon dort beginnt Mandeville zu schreiben, Romane, die er in Schliessfächern zurückhalten muss, weil er vertraglich ganz an seinen rigiden Arbeitgeber gebunden ist.

Aber nachdem er, der allen Frauen gegenüber stets zuvorkommend und niemals aufdringlich war, eine Frau kennenlernt und von ihr zukünftig getragen wird, startet er als erfolgreicher Schriftsteller durch. Von den Fesseln der Filmindustrie und des Alltags befreit, schreibt sich Mandeville in die Herzen der Amerikaner genauso wie in jene der Europäer. Nur nicht ins Herz seines Vaters, der sich noch immer schämt über seinen aus vom britischen Selbstverständnis emanzipierten Sohn.

Frederick Bingo Mandeville ist zufrieden. Er schreibt in seinem Arbeitszimmer mit Sicht aufs Meer, seine Frau tut alles, dass er es ungestört tun kann und seine Romane verkaufen sich wie warme Semmeln.
Selbst als auf dem alten Kontinent der Krieg ausbricht, ist das nichts, was mit der Welt Frederick Bingo Mandeville zu tun hat, auch nicht in den Welten seiner Romane, die nicht abbilden sollen, womit die Gegenwart zu kämpfen hat. Mandevilles Romane sollen Erholung sein, eine Auszeit bedeuten. Selbst als England Deutschland den Krieg erklärt, glaubt er an einen Sitzkrieg, einen Drôle de guerre, einen Zustand, der mit britischer Diplomatie zu entschärfen ist. Bis deutsche Soldaten auf seinem Grundstück in Boulogne-sur-Mer auftauchen und den Schriftsteller im Viehwagon nach Spittal in Kärnten karren, in ein Internierungslager für Engländer. Aber selbst dort inszeniert er sich als „Spassvogel“, tut, was er wie kein anderer kann; Menschen mit spitzer Zunge unterhalten, selbst als ihn die Nazipropaganda über Radio Germany Calling erzählen lässt, wie fein man sich um die englischen Internierten kümmert.

Mandeville merkt nicht, isoliert von allen Informationen über den katastrophalen Kriegsverlauf, dass ihn seine britische Heimat zum Verräter abgestempelt hat. Nach dem Krieg nützen alle Beschwichtigungsversuche nichts. Sein Stern schwindet, seine Romane sollen vergessen werden, die Welt, sein Publikum wendet sich ab.

„Am Ende ein Blick aufs Meer“ ist ein Roman über Verblendung. Frederick Bingo Mandeville erzählt zwar, filtert seine Wahrnehmung nach dem, was in seiner geschlossenen Welt Verwendung findet, sieht aber nicht. Sieht nicht, was Leben ausmacht, sondern verkauft in Geschichten verpackt, was sein Publikum hören und lesen will. Frederick Bingo Mandeville ist ein Mann, der sich in seinem ganzen Tun der Welt mit grossem Erfolg verschliesst, dem der Erfolg recht gibt. Bis das Weltgeschehen ihn dafür straft. In der Gegenwart fordert man von keiner anderen Kunst wie der Schriftstellerei Haltung der Welt, dem Weltgeschehen gegenüber. Die Gegenwart zeigt, wie sich Autoren mit nicht mehrheitsfähiger Meinung ins Abseits reden und schreiben können (Peter Handke mit seiner Sicht auf Serbien, Uwe Tellkamp zu Flüchtlingspolitik). Selbst die Naivität eines grossen Autors wie Frederick Bingo Mandeville im Roman von Philipp Lyonel Russell wird gnadenlos bestraft.

„Am Ende ein Blick aufs Meer“ ist meisterhaft erzählt und ins Weltgeschehen eingeflochten. Ein Roman, dem man vielleicht vorhalten kann, dass einem als Leser die eigentliche Hauptperson seltsam fern bleibt. Aber vielleicht ist das Absicht, denn auch der Protagonist selbst bleibt sich fern, eingebettet in eine Welt nach seinem Geist, ein Leben lang über den Boden der Realität getragen, eingepackt in eine dicke Schicht isolierendes Fett.

Philipp Lyonel Russell wurde 1958 in der englischen Grafschaft Suffolk geboren und lehrt seit 1986 an Universitäten der Ostküste der Vereinigten Staaten, derzeit hat er einen Lehrstuhl in Boston inne. Er hat sich als Autor und Mastermind der National Science Foundation einen Namen gemacht. Seinen neuen Roman veröffentlicht er unter dem Pseudonym Philipp Lyonel Russell.

Christoph Hein, der Übersetzer, (1944) lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Er verfasste ein umfangreiches Werk und gilt als einer der Grossen der Deutschen Gegenwartsliteratur.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Max Porter «Lanny», Kein & Aber

Wer nimmt uns die Träume, wer die Bilder, Stimmen und Gesänge unserer Kindheit, das Wissen, dass alles anders ist, als es sich die Erwachsenen mit aller Wissenschaft einreden und einbilden? Max Porter hat den kindlichen Blick nicht verloren. Es ist, als ob er in ganz besonderer Weise sehend wäre. In der Geschichte um den verschwundenen Lanny nimmt uns der jung gebliebene Max Porter in jene Zwischenwelt, die den meisten hinter Ratio und Glauben in vielfältigster Form verborgen bleibt.

Ein kleines Dorf nicht weit von London. In einem der wenigen Häuser lebt eine junge Familie mit Lanny. Lanny ist anders, ob in der Schule oder zuhause; Lanny lässt sich nicht einordnen, fasziniert und verunsichert. Die Lehrerin schwärmt, weiss, dass von dem Jungen etwas ausgeht, was in der ganzen Klasse wirkt. Lannys Mutter spürt, dass ihr Junge Dinge sagt, spürt, sieht und weiss, die ihr verborgen bleiben. Lanny ist mit den Dingen der Welt in einer Art und Weise verbunden, die sich der Mutter entziehen. Aber sie lässt ihn, lässt ihn gewähren, herumstromern, bis in den Wald.

Sie selbst ist Schauspielerin und Schriftstellerin, schreibt Krimis, in denen eine Welt herrscht, die sich diametral von der unterscheidet, in der sich ihr Junge bewegt. Lannys Vater arbeitet in der Stadt, in London, in einer Welt, die sich nicht nur geographisch der von Lanny entzieht. Und weil Lannys Mutter spürt, dass ihr Sohn in vielem eine eigene Art des Ausdrucks sucht, fragt sie den verschrobenen Künstler Pete, der einmal ein gefeierter Szenenmann war, ob er Lanny unterrichten würde.

Lanny spricht mit den Wurzeln, erzählt von einem Mädchen, das in einem Baum wohnt, seit Hunderten von Jahren und stellt Fragen, die ein Junge in seinem Alter sonst nicht stellt: «Was meinst du ist geduldiger, eine Idee oder eine Hoffnung?» Pete versteht, genauso wie der rätselhafte, mythische Altvater Schuppenwurz, eine märchenhafte Stimme im Buch und im Äther dieses Dorfes, was mit dem Verschwinden des kleinen Lanny aus den Angeln gehoben wird. Mit einem Mal ist alles anders. Was im ersten Teil ein Kammerspiel zwischen Lannys Eltern, dem Künstler Pete und der Stimme aus dem Off, jener von Altvater Schuppenwurz ist, wird im zweiten Teil, nachdem Lanny verschwunden ist und bleibt zu einem mehr- und vielstimmigen Chor aus Dorfmitgliedern und Kommentaren, die sich immer tiefer ins undurchsichtige Geschehen im Dorf einmischen. Das, was die Mutter in ihren Kriminalgeschichten schrieb, wird mit einem Mal Dreh- und Angelpunkt in einer Geschichte um Verzweiflung, Panik, Verleumdung und Schuld.

So wie Lanny als Kind, als Protagonist nur schwer zu fassen ist, so schwer fassbar ist die Geschichte, Max Porters Art zu erzählen. Er kümmert sich nicht um Klarheit und Stringenz. So wie das Schriftbild im Buch dann auseinanderzufliessen scheint, wenn Altvater Schuppenwurz seine Stimme erhebt, so sehr fliesst das Geschehen über das Reale hinaus, wabert in Träumen, im Surrealen. Ich als Leser kippe dauernd zwischen Faszination und Verunsicherung, Durchblick und Verwirrung, Nähe und Distanz. Es ist, als ginge Max Porter so nahe ans Geschehen, dass ich drohe, den Blick für das Ganze zu verlieren, so wie wenn ich meine Nase eine Hand breit vor ein Gemälde von Segantini setze und dabei nur noch den einzelnen Pinselstrich, die aufgetragene Farbe erkenne. Max Porter protokolliert nicht, er malt.

Wer bereit ist, bei der Lektüre eines Buches ein Abenteuer einzugehen, der lese «Lanny». Es bleibt haften!

© Lucy Dickens

Max Porter, 1981 geboren, studierte Kunstgeschichte und arbeitete jahrelang als unabhängiger Buchhändler, was ihm den Young Bookseller of the Year Award einbrachte. Seit 2012 ist er Lektor bei Granta Books. «Trauer ist das Ding mit Federn» ist sein schriftstellerisches Debüt.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

John Wray «Gotteskind», Rowohlt

Bis zum 11. September 2001, als drei Maschinen ins World Trade Center und ins Pentagon krachten und 3000 Menschen in den Tod rissen, waren Taliban bärtige «Halbwilde», die weit weg von der «Zivilisation» mit Gewalt den Gottesstaat herbeibomben und -schiessen wollten. Mit einem Mal wurden aus den Barbaren Terroristen, wandelte sich ein einziger Tag zu einem kollektiven Trauma, aus dem viele bis heute nicht aufzuwecken sind.

Aden Sawyer ist nicht Tom Sawyer. Aber vielleicht ist dieser Name kein Zufall. Aden ist achtzehn und haut ab, geht auf eine Reise, von der es kein Zurück geben soll, emanzipiert sich von einem dominanten Vater, den sie Lehrer nennt, der Islamismus lehrt, ohne je von einem Glauben, einer Idee getragen worden zu sein, emanzipiert sich von einer alkoholkranken, apathischen Mutter, die sämtliche Familienfotos an den Wänden ihres Hauses zur Wand gedreht hat.

Sie setzt sich mit ihrem einzigen Freund in ein Flugzeug und fliegt aus den USA bis nach Afghanistan, das Land ihrer Träume, ihren Sehnsuchtsort, schliesst sich einer Meeres an, einer religiösen Schule, um die Suren des Korans auswendig zu lernen. Sie will aber nicht nur ein gottgefälliges Leben führen, sondern mit aller Konsequenz mit dem alten Leben brechen. Sie vernichtet nicht nur ihren Pass, sie kleidet und gibt sich wie ein junger Mann, bandagiert die Brust und nimmt Tabletten, die die Blutungen aussetzen lassen. Sie ist nicht mehr Aden Sawyer, sondern Suleyman Al-Na’ama.

«Gott hat dich von der anderen Seit der Welt in unsere Berge geschickt.»

Aber schon in der kleinen Schule wird nichts so, wie Aden es sich vorgenommen hatte. Zum einen zerbricht die Freundschaft zu ihrem Freund, mit dem sie die USA verlassen hatte, zum andern nimmt sie, ohne es zu wollen, in der kleinen Schule immer mehr eine Sonderstellung ein. Ihr religiöser Eifer, die Tatsache, dass sie Amerikaner(in) ist, ihre Gelehrigkeit und ihr absoluter Wille, ein neues, ganz anderes Leben zu führen, macht aus Aden Suleyman, aus der jungen Frau einen jungen Mann, aus der Flüchtenden eine um jeden Preis gewillte Ankommende. Zwei, die zusammen wegfuhren, sich gemeinsam auf einen Weg machten, entzweien sich mehr, bis hin zur Katastrophe. Je tiefer in der Fremde, je mehr sie eigentlich aufeinander angewiesen wären, desto unvermeidlicher entzweien sie sich, bröckelt Freundschaft.

Aber die Entzweiung spielt sich auch in ihrem Innern ab. Denn Aden setzt auf Lüge, ausgerechnet sie, die in ihrem neuen Leben auf Wahrhaftigkeit setzen wollte, auf Kompromisslosigkeit. Sie sieht sich als Heuchlerin und Lügnerin, sie die für jeden Missstand eine Sure zu rezitieren weiss.

Was im Buch als Katastrophenreigen von der ersten Seite angelegt ist, schleicht sich förmlich an. Decker, ihr Freund, der sich Ali nennt, schliesst sich den Mudschahedin an, den Gotteskriegern, die auf der anderen Seite der Grenze Krieg gegen Ungläubige und Verrat führen. Dass er nichts gesagt hatte, dass es keinen Abschied gab, bricht ihr eh schon eingeschnürtes Herz. Und dass es der väterliche Mullah war, der seinen kämpfenden Sohn davon abhielt, auch Aden als Kämpfer zu rekrutieren, bricht das Herz ein zweites Mal.

Aden – Suleyman haut noch einmal ab, schlägt sich alleine in die Berge, findet Ali in einem Ausbildungscamp und wird selbst zum Krieger. John Wray versteht es meisterlich, den Weg einer jungen Seele nachzuzeichnen, die eigentlich gut und wahrhaftig leben und wirken will, aber durch Willkür, Sachzwänge und Sturheit immer tiefer in ein Konvolut von Katastrophen rutscht, aus der nur die Katastrophe retten kann. Man wechselt Leben, Kultur, Religion und Herkunft nicht einfach wie einen schmutzig gewordenen Umhang. Alles, was unter der Hülle ist, bleibt, bleibt kleben.

John Wray hat einen atemberaubenden Roman über zwei Welten geschrieben, die im Innern einer Achtzehnjährigen kämpfen. Wer mit dem Buch mitgeht, macht eine Reise in das absolut Fremde mit. Eine Fremde, die der Autor kennen muss, von der er mit derart grosser Selbstverständlichkeit erzählt, als hätte er den Roman in einem kahlen Tal irgendwo zwischen Afghanistan und Pakistan geschrieben. Ein Roman, der mit keinem Satz urteilt, mich als Leser nie zu einem Komplizen macht, nicht mit mir spielt.

John Wray recherchierte zu John Walker Lindh, der als «amerikanischer Taliban» bekannt wurde, als er in der Nähe von Kabul einen älteren Mann traf, der ihm nicht nur vom Amerikanischen Taliban erzählte, sondern von einem amerikanischen Mädchen. Die Recherchearbeiten zu einem Sachbuch über John Walker Lindh begannen zu stocken. Statt dessen entstand das Manuskript zu «Godsend», eine «wahre» Geschichte um ein Mädchen, dass sich in Pakistan radikalisiert in den Kleidern eines Jungen.

Grosse, bewegende Literatur!

© Jan Schoelzel

John Wray wurde 1971 in Washington, D.C., als Sohn eines amerikanischen Vaters und einer österreichischen Mutter geboren. Studium am Oberlin College, an der Columbia University und an der Universität Wien. Er lebt als freier Schriftsteller in Brooklyn und Friesach (Kärnten). 2007 wurde er von dem Literaturmagazin «Granta» unter die zwanzig besten jungen US-Autoren gewählt, 2017 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt mit dem Preis des Deutschlandfunks ausgezeichnet.

Übersetzt aus dem Englischen wurde «Gotteskind» von Bernhard Robben. Im Amerikanischen Original heisst der Roman «Godsend».

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Angelika Waldis «Bücher, Bücher – Notizen»

Der Schillerpreis 2019 geht an Angelika Waldis für ihren Roman «Ich komme mit»: Die Autorin erzählt eine ernste Geschichte mit raffinierter Verspieltheit und stupender Leichtigkeit.

27. Oktober 2018

Gestern hatte ich eine Lesung. »Schreiben Sie Ihre Bücher immer in der Gegenwartsform?«, fragte eine Zuhörerin. Oh je, das wusste ich nicht. Jetzt hab ich nachgeschaut: Tatsächlich, fast alles – bis auf die Rückblenden – habe ich im Präsens geschrieben. Weiß nicht warum, es ist nun mal so. Ich hab es mir gar nie sonderlich überlegt. Cäsar hat seinen gallischen Krieg, Joyce seinen Ulysses und Goethe seinen Erlkönig im Präsens angesiedelt. Aber der Großteil der Literatur steckt wahrscheinlich in Perfekt und Präteritum. Ab jetzt will ich beim Lesen mal besser drauf achten. Im Wechselspiel von Perfekt und Präteritum bin ich als schreibende Schweizerin manchmal etwas unsicher. Ein Präteritum gibt es im Schweizerdeutschen nicht. Niemand sagt »Ich ruumte sʼChuchichäschtli uuf.« Habe ich mich darum lieber ans Präsens gehalten? Wohl eher, weil es spontaner, direkter, lebendiger, aufregender daherkommt. »Wer ritt denn so spät durch Nacht und Wind …« Also das würde ja nun gar nicht passen.

18. März 2017

Kann mich nicht entscheiden, worüber ich schreiben soll. Den Wind, der den Bambus fiebrig macht. Den Himmel, der ausschaut wie zu meiner Kindheit, weil er grau ist und man keine Jetstreifen sieht. Den türkischen Präsidenten, der die Todesstrafe wieder einführen will. Die Kontaktliste auf meinem Handy, in der ich manche streichen müsste, weil sie gestorben sind. Die blauen Adern auf meinen Handrücken, die befremdlich dick geworden sind. Das Rufen der beiden Milane, die vielleicht auch dieses Jahr wieder in Sichtweite nisten. Die traurigen Briefe meiner Großmutter, die ein uneheliches Kind gebar und es nicht behalten durfte. Ja, worüber soll ich schreiben. Ich glaube, ich frag die Katz. Sie hat schon immer gewusst, was für die Katz ist und was eben nicht.

27. September 2016

»Hör endlich auf«, sagt die Katz, »so ungemütlich zu tun.« Vier Bücher knallen vor ihr auf den Boden, sie springt auf und setzt sich gleich wieder. »Was machst du da eigentlich«, sagt sie, »auf jeden Fall machst du Staub. Und warum stehst du auf der Leiter und stöhnst?« Ich sage ihr, dass ich Bücher entsorge. »Die Psychologie-Bücher und die Gedichtbände, verstehst du, Katz?« Nein, tut sie nicht. Sie sagt, sie wisse nicht, warum wir Gedichte überhaupt erst in diese Dinger da reinschreiben und dann zum Lesen wieder hervorholen. »Wir dichten direkt in die Luft«, sagt die Katz. »Das ist viel effektiver.« Sie hat wohl recht. »Bitte, dichte was, Katz!« Sie überlegt und kratzt dann mit der Pfote etwas hinterm Ohr hervor: »Alte Freundin steht auf Leiter und weiß ganz und gar nicht weiter.« Das sei schön, sage ich, besonders die »Freundin«. Und besonders die Zeilenfall- und Interpunktionsangaben mit der Schwanzspitze. »Also«, sagt die Katz, »kommst du jetzt endlich ins Bett?«

31. August 2016

Heute früh war ich schwimmen. Die ersten paar Meter See lagen noch im Schatten, ich schwamm mit selbstverordneter Vorfreude möglichst rasch durchs Kühle hinaus in die Sonne, und dort genoss ich Zug um Zug die wunderbar glitzernde Fläche. So geht’s mir manchmal mit Büchern: Ich mühe mich ab mit ersten Kapiteln und plötzlich bin ich mitten in einer faszinierenden Weite und in einem wunderbaren Licht und kann nicht genug davon bekommen. Weg ist das anfängliche Frösteln, nur noch Lust ist da – und Spannung, weil man so viel Tiefe unter sich weiß. Es kommt auch vor, dass ich das Buch schon nach ein paar Seiten entschlossen zuklappe, weil es für mich zu kalt ist. Dann spritzt immer ein bisschen Beschämung auf.

15. Oktober 2015

»Hast du was Gutes gelesen?«, werde ich oft gefragt. Ja, hab ich. In dem großen Textschwall, den ich regelmäßig durchs Gehirn spüle, muss ja wohl was Gutes dabei sein. Aber wenn ein netter Mensch von mir einen Buchtipp will, bin ich meist hilflos. Ich denke: Das ist zu traurig für seine wacklige Seele. Oder: So viel Schmalz kann er nicht verdauen. Oder: Solche Stille erträgt er nicht. Oder: Ihm fehlt das Gehör für Bosheit. Es reut mich, Wallace Stegner oder Julian Barnes oder Gerbrand Bakker oder Per Petterson zu empfehlen, denn ich möchte nicht, dass jemand deren Bücher enttäuscht aus der Hand legt. Soll der nette Mensch doch selber sehen, wie er sich lesend befriedigt. Ist nicht meine Sache. Na ja, es gibt schon Namen, die ich unbeschwert weitergebe: Tschechow, Maupassant, Mansfield, Maugham – die alten Könner, ganz einfach gut wie Brot.

16. Juli 2015

»Betrachtest du deine Bücher als moralisierend?«, fragt mich ein Freund. »Nein«, sage ich. »Auch nicht im Versteckten?«, fragt der Freund. »Nein«, sage ich. »Ich halte anderen nur den Spiegel vor, mehr nicht.« Später denke ich: Anderen den Spiegel vorhalten ist durchaus ein moralischer Akt. Die Figuren in meinen Büchern sind Spiegel, die Lesenden können sich drin sehen. Können sehen, wie blöd, hässlich, verbohrt sie sind und handeln – ein unangenehmes Bild. Oder wie klug, schön, liebevoll sie sind und handeln – ein angenehmes Bild. Die Bilder implizieren: Sei so! oder Sei anders! Und somit bin ich im Grunde genommen eine Moraltante.

21. Januar 2013

Ich trage heute fünf Bücher in die Bibliothek zurück, es ist keines dabei, das ich gerne behalten möchte, das ich nicht vergessen möchte, es sind gut gemachte Sachen, aber man sieht ihnen das Machen an, und ich möchte beim Lesen das Gemachtwordensein, so gut es geht, vergessen. Wenn ich das kann, erhält das Buch meinen Segen: Geh hinaus in die Welt und verbreite dich und erschüttere die Leute mit deinem erfrischenden Geist und deiner uralten Seele, auf dass diese lachen und weinen, was sie aber nicht können, weil sie keine Zeit dazu haben, denn sie müssen weiterlesen, weiterlesen, weil du so spannend bist, du wunderbares Buch, geh von dannen und verbreite dich fortan.
Ich warte geduldig, bis ich wieder einmal auf so ein Buch treffe.

20. August 2013

Ich habe einen fremden Text überarbeitet, es ist das erste Kapitel eines ersten Buchs eines Freundes. Schau mal rein, hat er gesagt, und das hab ich gemacht. Ich kam mir vor, als sei ich allein in seiner Wohnung, nachdem er mir den Wohnungsschlüssel gegeben und gesagt hätte: Schau mal rein. Ich kam mir vor, als stehe ich in seiner Wohnung vor seinen Bildern und seinen Pantoffeln und seinen Kaffeetassen. Vor seinem Pyjama und seinem Testamentsentwurf und seinem Kopfabdruck auf dem Kissen. So stand ich in seiner Wohnung beziehungsweise in seinem Buch und war gerührt und belustigt und beschämt und verlegen. Und plötzlich überfiel mich die Lust, aufzuräumen, umzustellen, Platz zu machen. Ich verschob Stöße von Wörtern, halbierte Sätze oder warf sie aus dem Fenster, sammelte überflüssige Zeilen ein und schüttelte Fehler aus den Vorhängen oder zerdrückte sie böse. Ich konnte nicht anders. Einfach mal reinschauen, das geht nicht.

1. August 2013

Die Katz ist ein schlaffes Läppchen, liegt draußen im Schatten, die Welt ist gerade eben 32 Grad heiß, heute Abend werden die Feuer brennen, weil Heil dir Helvetia, und der Phlox blüht so blau, blau, blau wie der Enzian. Mein neues Buch hat nun 209 Seiten und fühlt sich gar nicht wohl, weil mein letztes Buch inzwischen erschienen ist und Lob erhält. Ich bin schlechter, sagt nun mein neues Buch, gib mich auf, wirf mich weg, sonst kotz ich dir noch über den Bildschirm. Was macht man da? Du und dein Buch, sagt die Katz, tut doch nicht so blöd, ist doch eh alles egal. Oder glaubt ihr etwa, ihr zwei, wegen euch finge ich an zu lesen? Was draußen knallt, ist eine Rakete, und noch eine. Andernorts knallt’s nicht aus Freudesgründen, in Syrien ist immer noch Krieg, nein, nein, die Schweiz schickt keine Waffen dorthin, sie schickt sie freundlich anderswohin, damit sie ein paar Umwege machen. Das ist etwa wie ein Paket, das man im Sommer losschickt mit dem Vermerk »Erst an Weihnachten öffnen«.

4. August 2013

Bestimmt muss man außerordentlich alt werden, bis einen eine Kritik nicht mehr trifft. Ich bin noch nicht außerordentlich, sondern erst ordentlich alt. Das heißt, ich zucke immer noch zusammen, wenn man mich kritisiert. Würde ich nicht mehr zucken, wäre ich tot. Wie schön ist das, dass ich noch nicht tot bin, dass ich spüre, wie Sonne ins Zimmer fällt, wie Phlox riecht, wie die blöden Tauben gurren. Ja, und da hat nun jemand geschrieben, in meinem neuen Buch gebe es Klischees. Zuck! Klischees sind genau das, was ich nicht fabrizieren möchte. Aber wahrscheinlich würde ich genauso heftig zucken, wenn es in der Kritik hieße, ich schreibe umständlich oder romantisierend oder ungenau oder langatmig oder salopp oder barock oder sonstwie nicht rundum gut. Irgendwas muss eine Kritik ja kritisieren, sonst ist es keine. Also muss ich damit leben zu zucken, solang ich noch zucken kann.

Die Notizen sind erschienen auf der Website www.angelikawaldis.ch unter dem Titel »Tage,Tage« sowie im Buch »Tausend Zeichen«.

Angelika Waldis ist 1940 geboren und denkt immer noch, sie sei nicht alt. Sie ist in Luzern aufgewachsen, hat an der Universität Zürich eine Weile studiert (Anglistik/Germanistik), ist aber bald abgehauen in den Journalismus und in die Ehe mit ihrer ersten Liebe, dem Gestalter Otmar Bucher. Mit ihm hat sie einen Sohn, eine Tochter und eine Jugendzeitschrift gemacht. Heute hat sie drei Enkel sowie Freuden und Ängste beim Bücherschreiben. Ihr Roman »Aufräumen« (2013) war in der Schweiz ein Bestseller. Was sie häufig tut: in Gartenerde wühlen, mit Wörtern spielen, sich über dumme Zeitgenossen ärgern, neugieren und staunen. Ihr neuster Roman bei Wunderraum ist «Ich komme mit». Er wurde «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels 2019«.

Webseite der Autorin

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Janko Ferk «Zwischenergebnis», Leykam

Im Laufe eines Schriftstellerlebens muss es Geschriebenes geben, das schlicht zu schade, zu wertvoll ist, um bloss in einer Schublade oder Datei dahinzudämmern. Texte, die aus welchen Gründen auch immer nie den Weg zwischen zwei Buchdeckel finden. «Zwischenergebnis» ist nach Janko Ferks sechzigsten Geburtstag ein Geschenk an seine Leser. Texte, die reizen, kitzeln, verunsichern und provozieren.

In einem der Texte begegne ich Franz K., der in seiner unsäglichen Enttäuschung über die Welt seinen Keller zu einem Schreibgefängnis ausbaut. Drei Zellen mit allem Nötigen darin, einem Durchschlupf, durch den man kriechen muss, in ein Loch, abgeschirmt von allem, was einmal Realität war. Ein Mann, der das Schreiben anderer ernten will, um es in Büchern unter die Menschen zu bringen, lockt drei Männer in sein Haus, schliesst sie in seine Höhlen ein; einen «Vorlauten», einen «Ruhmsüchtigen» und einen «Hungrigen». Dort vegetieren sie, zuerst laut protestierend, dann immer leiser werdend. Und erstaunlicherweise beginnen sie tatsächlich zu schreiben, so wie jeder Schreibende nicht zuletzt aus Not(wendigkeit) zu schreiben beginnt.

«Beim Schreiben bleiben die Augen im Kopf.»

In seiner Prosasammlung ist dies nicht der einzige Text, der sich in irgend einer Weise an den unumstrittenen Fixstern im Schreiben Janka Ferks anlehnt, an Franz Kafka. Es sind intensive Auseinandersetzungen mit dem Schreiben, seiner Sprache, dem einzigen Instrument, mit dem der Schriftsteller über das eigene Selbst hinaustreten kann. Manche Texte sind Miniaturen, die nach Innen oder Aussen strömen, die Geheimnisse bergen und solche offenbaren. Texte, in denen klar wird, dass Schreiben so existenziell wird wie Lieben, Sterben und der Tod.

«Das Schreiben gibt ihm seine zweite Hälfte zurück. Vielleicht die erste.»

Die Geschichte eines Mannes, der in seinem Testament fordert, man möge ihn mit Gesicht nach unten in den Sarg legen, sein letzter und unbedingter Wille. Ein Wille, der seinem eigenen Handeln verwehrt ist. Nicht einmal seine Frau, die als einzige keine einzige Träne zu vergiessen scheint, auch nicht der Leichenredner, sie alle bringen ihn nicht in die Lage, die er vor seinem Tod zum letzten Willen machte. Der letzte Wunsch wurde ihm abgeschlagen.

Janko Ferks Geschichten sind wohltuende Fragmente, die sich nicht darum scheren, nach der Lektüre Ordnung zu hinterlassen. Janko Ferk skizziert genau, unterlegt seine Texte mehrschichtig mit maximalem Spielraum zur Deutung. Janko Ferks Texte sind ein tiefgründiger, unterhaltsamer, vielschichtiger Spaziergang durch das Denkarchiv eines Wortkünstlers. Als ginge man durch lange Flure mit unzähligen Regalen, in denen fein säuberlich beschriftete Archivboxen stehen, die mit allerhand Textmaterial gefüllt sind.

«In mir: das Schriftstellergefühl, das beglückt und zufrieden macht. Ich schwebe in der ‹Raumundzeitlosigkeit› und preise die Gesetze, die ‹hierundjetzt› für mich gelten.»

Ein Schriftsteller sitzt an einem Tisch und schreibt ein Buch. Das ist ebenso Mythos, wie der bildende Künstler, der vor einer Leinwand steht und ein Meisterwerk malt. Die Prosasammlung ist ein Bilderreigen nie gezeigter Bilder in den unterschiedlichsten Formaten. Janko Ferks Texte passen einzeln nicht in ein Gefäss. Aber gemeinsam werden sie zu einem Schaufenster seines Schaffens, ein Geschenk des Schriftstellers zu seinem 60. Geburtstag an seine Leserinnen und Leser.

Janko Ferk (1958) ist Richter des Landesgerichts Klagenfurt, Honorarprofessor und Schriftsteller. Bisher hat er mehr als zwanzig Bücher veröffentlicht, zuletzt die Monographie «Recht ist ein «Prozeß». Über Kafkas Rechtsphilosophie», sowie die Essaysammlungen «Kafka und andere verdammt gute Schriftsteller» und «Wie wird man Franz Kafka?» Seine neueste literarische Veröffentlichung ist die «Forensische Trilogie» (Edition Atelier, Wien 2010). Für seine literarischen und wissenschaftlichen Arbeiten erhielt er zahlreiche Preise und Auszeichnungen, zuletzt den Literaturpreis des P.E.N.-Clubs Liechtenstein.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Jaroslav Rudiš «Winterbergs letzte Reise», Luchterhand

Jan Kraus ist Altenpfleger, «Soldat der letzten Hoffnung», wie in Wenzel Winterberg nennt, den er quer durch Mitteleuropa begleitet, auf seiner letzten Reise. Winterberg besucht die Friedhöfe der Geschichte, zusammen mit einem roten Büchlein, dem letzten wirklichen Baedeker Reiseführer für Österreich-Ungarn aus dem Jahre 1913. Kein Roadtripp, dafür ein Railtripp durch die Untiefen der Geschichte.

Jan Kraus ist so etwas wie Matrose auf letzter Reise. Manche Reisen dauern nur Tage, andere Monate. Als Jan Krause ans Bett von Wenzel Winterberg gerufen wird, liegt dieser apathisch in seinem Zimmer, von seiner hilflosen Tochter aufgegeben. Aber Jan Kraus bringt ihn zurück. Winterberg wird sagen, er hätte ihm das Leben gerettet, denn Winterberg müsse nicht nur diese letzte Reise tun, sondern eine wirkliche Reise antreten. Ein Reise zu den Toten, eine Reise auf der Suche nach den Verursachern, dem Mörder seiner einzigen, grossen Liebe.

Aber Winterberg macht die Reise mit Jan Kraus zur Reise an die Grenzen, quaselt in einem fort, sei es im Zug oder mitten in einer Abdankung in der Feuerhalle (Krematorium) zu Reichenberg. Den Baedeker von 1913 hat Winterberg längst verinnerlicht. Auch wenn er scheinbar liest, rezitiert er, lässt sich nicht unterbrechen, verfällt in einen stundenlangen historischen Anfall, der nicht zu unterbrechen ist. Keine Frage lässt ihn entgleisen, keine Bemerkung stoppen. Bis er mit einem Mal einschläft – „Stöpsel raus. Luft raus. Augen zu. Gute Nacht.“ Winterberg ist wie ein herrenlos gewordener Zug, er fährt und fährt, nur ein Prellbock kann ihn stoppen.

«Sie haben recht. Ich bin wirklich verrückt, ich bin krank. Ich leide an der Geschichte, ich leide an historischen Anfällen, ja, ja, doch besser Historie als Hysterie, oder?»

Ein Quaseln wie das Rattern des Zuges, um dann mit einem Mal im Schlaf zu versinken, irgendwo in einem Gasthaus am Tisch mit dem Kopf auf dem roten Büchlein. Über dem Baedeker von 1913, aus einer Zeit, in der Eisenbahn das Netz der Gegenwart war, nicht so wie heute ein unsichtbares, undurchsichtiges www. Winterberg, ein Eisenbahner mit Leib und Seele, dem schon das Wort „Schienenersatzbus“ das bare Grauen auslöst, scheint auf der Suche nach seiner grossen Liebe zu sein, die er im entscheidenden Moment alleine gelassen hatte. Er reisst ihr Jahrzehnte später als Versöhnung hinterher.

„Es gibt kein Entkommen. Von seiner Geschichte. Von meiner Geschichte.“

Winterbergs letzte Reise soll auch Jan Kraus letzte Reise werden. Dann will er sich ein Schiff kaufen und wegfahren.  Auch eine Abschiedsreise von Jan, wenn auch reichlich verzögert durch die unerwartete Lebendigkeit des alten Winterberg. Eine Abschiedreise von Carla, seiner einzigen Liebe.

Im Vorsatzpapier des Buches ist der Weg der beiden auf einer Karte nachgezeichnet. Winterberg verkörpert das, was einer jungen Generation abhanden kommt. Jedes Individuum fühlt sich als Mittelpunkt der Welt, eines ganzen Kosmos, der doch eigentlich nur auf sich selbst ausgerichtet sein soll. All das, was an Geschichte passiert ist, verliert die Relevanz. Dabei ist der Boden auf dem wir uns mit aller Selbstverständlichkeit bewegen voller Toter, die in Täter und Opfer der Geschichte waren, auch der Geschichte jedes einzelnen Individuums.

«Die  Lieben und die Krisen, ja, ja, und vor allem die Kriege, wir wissen immer, wenn es vorbei ist, doch wir wissen nie, wann es angefangen hat zu bröckeln.»

Jaroslav Rudiš› neuer Roman lässt mich ratlos zurück. Zum einen fasziniert von einem, der es auf einer langen Reise richtig rattert lässt. Man sitzt im Zug und Bilder flitzen vorbei, ob man hinsieht oder nicht. Der Blick schweift ab und bleibt hängen, an den vielen kleinen, eingestreuten Perlen im Roman, wenn Jans Blick einen barfüssigen, zerlumpten Bettler mit seinem Hund trifft, der immer wieder die blutenden Stellen an den schmutzigen Füssen seines Herrchens leckt. Oder die Liebesgeschichten, jene vom alten Winterberg, die sich erst auf den letzten Seiten klärt und jene von Jan Kraus und seiner Carla, die er auf einer seiner ersten Überfahrten krebskrank bis in den Tod begleitet.

Verunsichert darüber, wie gross der Hype in den Medien rund um dieses Buch ist, über einen Schriftsteller, dessen vorangegangene Bücher mich viel mehr bewegten, die vielleicht weniger experimentell waren, mich aber wesentlich näher an die Protagonisten liessen. Verunsichert über ein Buch, in dem ich zuweilen begonnen habe, quer zu lesen, weil ich wie Jan Kraus selbst den endlosen historischen Anfällen, den Litaneien aus Geschichte, Eisenbahnhistorie nicht mehr folgen konnte.

„Durch jedes Schlachtfeld und durch jede Beziehung zieht sich der Nebel des Krieges.“

Warum soll man dieses Buch lesen? Wer bloss Unterhaltung sucht, ist schlecht bedient. Wer sich aber einem formalen Experiment aussetzen lassen will, das vom Autor in seiner ganzen Konsequenz durchgeführt wurde, wird durch Groteske und ausschweifende Intelligenz belohnt.

© Peter von Felbert

Jaroslav Rudiš (1972) ist Schriftsteller, Drehbuchautor und Dramatiker. Er studierte Deutsch und Geschichte in Liberec, Zürich und Berlin und arbeitete u.a. als Lehrer und Journalist. Im Luchterhand Literaturverlag erschienen seine aus dem Tschechischen übersetzten Romane»Grand Hotel», «Die Stille in Prag», «Vom Ende des Punks in Helsinki» und «Nationalstraße2, bei btb ausserdem «Der Himmel unter Berlin». «Winterbergs letzte Reise», der erste Roman, den Jaroslav Rudiš auf Deutsch geschrieben hat, ist 2019 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. 2012 erschien bei Voland & Quist seine Graphic Novel «Alois Nebel» auf Deutsch, illustriert von Jaromír 99. 2014 erhielt Jaroslav Rudiš für sein Werk den Usedomer Literaturpreis, 2018 wurde er mit dem Preis der Literaturhäuser ausgezeichnet. Seine Romane «Grand Hotel» und «Nationalstraße» sowie «Alois Nebel» wurden verfilmt.

Webseite des Autors

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Michael Krüger «Vorübergehende», Haymon

Ein von Resignation und Abgeklärtheit durchsetzter Mann fortgeschrittenen Alters lässt die Welt im Zug an sich vorbeiziehen. Alles, was er sieht, hört und fühlt, bestärkt ihn im Gefühl, mit den Irrungen und Wirkungen der Welt abgeschlossen zu haben. Er sitzt im Abteil, einer, der alles hinter sich hat. Bis ihm der Zufall in eben diesem Abteil ein schlafendes Mädchen in den Schoss legt, ein Mädchen ohne Geld, ohne Papiere, ohne Geschichte. Jara.

Er wacht langsam auf, merkt, dass jemand neben ihm seinen Kopf an seine Schulter lehnt und schläft. Ausgerechnet im Zug, jenem Ort, an dem man gezwungen ist, Nähe zuzulassen. Ausgerechnet bei ihm, der die Welt wenn möglich auf Distanz hält. Und während er selbst in seinen Träumen der Permapenetration entgegenzuhalten versucht, rutscht der Kopf einer jungen, unbekannten Frau langsam immer tiefer in sein Leben. Das Mädchen wacht auf, als der Schaffner nach den Fahrscheinen fragt und bleibt, als der Mann für das Mädchen zahlt, bleibt, als er aussteigt, bleibt, als er dem Mädchen die Tür zu seiner Wohnung öffnet.

Ein Mädchen, von dem nicht einmal der Name stimmt, das ihm keine Fragen beantwortet, sich gleichermassen distanziert wie in vollkommener Selbstverständlichkeit den Platz einer Tochter einnimmt. Ein Mädchen ohne Geschichte, scheinbar ohne Familie, mit einer Sprache, die, wenn das Mobilphone klingelt und eine unbekannte Welt sie in einer fremden Sprache sprechen lässt, das Mädchen nicht einordnen lässt. 
Jara bleibt, auch als sich die Maschinerie des Sozialstaates einschaltet und er sich erklären muss, warum ein alter Mann mit einer fremden, jungen Frau unter einem Dach in der selben Wohnung lebt. Jara zeichnet, hockt am Boden in ihrem Zimmer, füllt unzählige Blätter mit Bleistiftzeichnungen, ordnet, trennt und fügt zusammen, ein ‹Atlas der verborgenen Welten›, in sich versunken, ekstatisch.

Jara ist der Gegenpol zum fertigen Leben des Erzählers. Ein Mann, der nur noch Unwesentliches hinzufügt, der mit knochentrockenem Kommentar die Welt erklärt, ernüchtert und entgeistert. Ein Mann, der von Vortrag zu Vortrag, von Veranstaltung zu Veranstaltung tingelt und Lebensrezepte verkauft, Losungen für eine zu optimierende Gesellschaft. Einer, der alles hat; Erfolg, Recht und Selbstbestätigung. Ein Leben fest in seinen Fugen verkrallt. Jara ist voller Geheimnisse, uneinnehmbar, rätselhaft. Sie ist da und nicht da, lässt sich nicht führen und schon gar nicht in eine Rolle zwängen. Aus dem Gefühl des Mannes, das an Verliebtsein erinnert, wird ebenso viel Verunsicherung. Jara bringt den alten Mann zum Grübeln. Die Wand aus Vergrämung bröckelt.

„Vorübergehende“ ist die Geschichte eines kalt gewordenen Mondes, der von der Kraft eines heissen Meteoriten erschüttert wird. Kein Märchen einer Läuterung, keine Liebesgeschichte eines in die Jahre Gekommenen. Michael Krüger spielt mit einer Rolle, mit einem Typ Mensch, dem er wahrscheinlich des öfteren im Zug gegenübersitzt. Jener Sorte Mensch, der der Erfolg ein Leben lang recht gegeben hat, die schlussendlich aber doch spurlos von der Bühne abtritt. Er verurteilt nicht, entblösst nicht, lässt den Leser rätseln, wie viel Selbst in jenem Mann steckt, von dem er erzählt.

Michael Krüger auf ein paar Fragen an ihn: «Eigentlich ging es mir darum, einen Menschen/ Mann zu zeigen, der bis an sein Ende seiner erlernten Beschäftigung nachgeht und stirbt. Diese Beschäftigung besteht darin, andere zu motivieren – das hat er gelernt, dafür wird er bezahlt. Aber Optimismus kann man nicht lernen, und also sieht er, dass er irgendwie auf die schiefe Bahn gerät, die direkt in die Melancholie führt: kein Coaching kann ihn davon abhalten. Also ergreift er die erste beste Gelegenheit und nimmt sich eines Mädchens an, das er nicht kennt, dessen Sprache er nicht spricht, er nimmt sie illegalerweise bei sich auf und macht sich de jure sogar damit strafbar. Aber das ist ihm egal, weil er natürlich merkt, dass dieses Wesen von einem anderen Stern durchaus von dieser Welt ist und sein Leben ohne grosse Mühe von Grund auf verändert.»

Foto © Peter Hassiepen

Michael Krüger, geboren 1943 in Wittgendorf/Sachsen-Anhalt, lebt in München und ist zurzeit Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Er war viele Jahre Verlagsleiter der Carl Hanser Literaturverlage und Herausgeber der «Akzente» sowie der «Edition Akzente». Er ist Mitglied verschiedener Akademien und Autor mehrerer Gedichtbände, Geschichten, Novellen, Romane und Übersetzungen. Für sein schriftstellerisches Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Peter-Huchel-Preis (1986), den Mörike-Preis (2006) und den Joseph-Breitbach-Preis (2010).

Rezension von Michael Krügers Gedichtband «Einmal einfach» (Suhrkamp) auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

György Dragomán «Löwenchor», Novellen, Suhrkamp

György Dragománs deutsch erschienene Romane «Der weisse König» und «Der Scheiterhaufen» sind Eckpfeiler in meiner Bibliothek. Zum einen, weil er mit ungeheurer Kraft zu erzählen vermag, zum andern, weil sich Bilder aus seinen Romanen tief in meine Erinnerungen einbrannten. Seine Bücher beschreiben die Sehnsucht nach Heimat. Und wer sie im Umfeld, im Zuhause, am Geburtsort nicht findet, findet sie vielleicht in der Kunst.

György Dragomán ist mit 15 weggefahren aus seinem rumänischen Heimatort Târgu Mureş, dem Ort, an dem er aufwuchs und zu schreiben begann. Weg vom Ceaușescu-Rumänien ins benachbarte Ungarn. Seine Novellen erzählen vom Wegfahren, vom Fremdsein, vom Verlassensein. Von Menschen, die einzig in der Musik jenes Stück Heimat und Zuhause finden, das es zum Leben, zum Überleben braucht. Kurze Geschichten wie jene von einem jungen Mann, der gezwungen ist, für seine Ehe, seine Liebe, die Familie zurück-, den Kontakt sterben zu lassen. Über eine Mutter, die eine junge Liebe mit einem Fluch belegt, der sich dann auch wirklich zwischen den beiden Jungvermählten einzunisten scheint und sich wie ein Geschwür auswächst, zu wuchern beginnt und einen Fötus nach dem andern sterben lässt. Wie die Musik, der Gesang, das einzige ist, was gegen solches Gift antreten kann.

Es sind kurze Geschichten, vielstimmig, überraschend, sanfte und lärmende, kräftige und ganz zarte. György Dragomán spielt polyphon, wechselt von einem Instrument zum andern. Manchmal erzählend, manchmal anklagend, manchmal monologisierend, manchmal dramatisch. So wie es in der Musik Menschen gibt, die aus einer Vielzahl von Instrumenten die unterschiedlichsten Klangformen, tonalen Erzählweisen extrahieren können, so schafft es György Dragomán mich von seinem grossartigen Können zu überzeugen. Er spielt mit Sprache so wie Musiker mit ihrem Instrument. Seine Sprache ist mehr als Instrument. Er vermag in mir als Leser so unterschiedliche und divergente Resonanzen zu erzeugen, dass ich mir während des Lesens immer wieder in Erinnerung rufen muss, dass es ein und derselbe Autor ist.

Die Übersetzerin Timea Tankó, 1978 geboren, arbeitet seit 2003 als literarische Übersetzerin aus dem Französischen und dem Ungarischen (u.a. Andor Endre Gelléri, István Kemény und Antal Szerb). Timea Tankós Übersetzung von György Dragománs «Löwenchor» war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Kurzrezension auf dem 28. Literaturblatt von György Dragománs Roman «Der Scheiterhaufen»: Rumänien im Umbruch, ein Land am Zerbrechen. Emma ist dreizehn, lebt noch nicht lange in einem Internat, weil ihre Eltern angeblich bei einem Autounfall ums Leben gekommen sein sollen. Völlig überraschend taucht im Internat eine alte Frau auf, behauptet, ihre Grossmutter zu sein und nimmt Emma weg aus dem Internat, obwohl Emma von ihren Eltern nie etwas von einer Grossmutter gehört hatte. Herausgerissen in eine unbekannte Welt am Rand einer Kleinstadt, hinein in ein Haus voller Geheimnisse, erobert Emma ihre neue Umgebung. In der Schule, zuerst verachtet und geschimpft als Enkelin einer Irren, aus einer Familie von Verrätern, lernt Emma sich zu behaupten. Sie lernt, dass hinter allem verborgen Wahrheiten stecken. Auch bei ihrer Grossmutter, zu der sie sich immer mehr hingezogen fühlt, die ihr ein Nest gibt, eine Burg vor den Anfeindungen des Mobs. Wie in seinem letzten Roman «Der weisse König» beweist der Autor, wie hoch seine Meisterschaft der eindringlichen Bilder, an den Grenzen zum Surrealen, ist. «Der Scheiterhaufen» ist ein Buch, das man riechen kann, das sprachlich auf der Zunge zergeht.

© Ekko von Schwichow

György Dragomán, 1973 in Marosvásárhely (Târgu-Mureş) / Siebenbürgen geboren, übersiedelte 1988 mit seiner Familie nach Ungarn. 2002 erschien sein preisgekrönter erster Roman, A pusztítas könyve (Das Buch der Zerstörung). Er hat über Beckett promoviert, übersetzt aus dem Englischen und arbeitet als Webdesigner. «Der weisse König» (2005; dt. 2008) ist in dreissig Ländern erschienen. Dragomán lebt in Budapest.