Angelika Waldis «Bücher, Bücher – Notizen»

Der Schillerpreis 2019 geht an Angelika Waldis für ihren Roman «Ich komme mit»: Die Autorin erzählt eine ernste Geschichte mit raffinierter Verspieltheit und stupender Leichtigkeit.

27. Oktober 2018

Gestern hatte ich eine Lesung. »Schreiben Sie Ihre Bücher immer in der Gegenwartsform?«, fragte eine Zuhörerin. Oh je, das wusste ich nicht. Jetzt hab ich nachgeschaut: Tatsächlich, fast alles – bis auf die Rückblenden – habe ich im Präsens geschrieben. Weiß nicht warum, es ist nun mal so. Ich hab es mir gar nie sonderlich überlegt. Cäsar hat seinen gallischen Krieg, Joyce seinen Ulysses und Goethe seinen Erlkönig im Präsens angesiedelt. Aber der Großteil der Literatur steckt wahrscheinlich in Perfekt und Präteritum. Ab jetzt will ich beim Lesen mal besser drauf achten. Im Wechselspiel von Perfekt und Präteritum bin ich als schreibende Schweizerin manchmal etwas unsicher. Ein Präteritum gibt es im Schweizerdeutschen nicht. Niemand sagt »Ich ruumte sʼChuchichäschtli uuf.« Habe ich mich darum lieber ans Präsens gehalten? Wohl eher, weil es spontaner, direkter, lebendiger, aufregender daherkommt. »Wer ritt denn so spät durch Nacht und Wind …« Also das würde ja nun gar nicht passen.

18. März 2017

Kann mich nicht entscheiden, worüber ich schreiben soll. Den Wind, der den Bambus fiebrig macht. Den Himmel, der ausschaut wie zu meiner Kindheit, weil er grau ist und man keine Jetstreifen sieht. Den türkischen Präsidenten, der die Todesstrafe wieder einführen will. Die Kontaktliste auf meinem Handy, in der ich manche streichen müsste, weil sie gestorben sind. Die blauen Adern auf meinen Handrücken, die befremdlich dick geworden sind. Das Rufen der beiden Milane, die vielleicht auch dieses Jahr wieder in Sichtweite nisten. Die traurigen Briefe meiner Großmutter, die ein uneheliches Kind gebar und es nicht behalten durfte. Ja, worüber soll ich schreiben. Ich glaube, ich frag die Katz. Sie hat schon immer gewusst, was für die Katz ist und was eben nicht.

27. September 2016

»Hör endlich auf«, sagt die Katz, »so ungemütlich zu tun.« Vier Bücher knallen vor ihr auf den Boden, sie springt auf und setzt sich gleich wieder. »Was machst du da eigentlich«, sagt sie, »auf jeden Fall machst du Staub. Und warum stehst du auf der Leiter und stöhnst?« Ich sage ihr, dass ich Bücher entsorge. »Die Psychologie-Bücher und die Gedichtbände, verstehst du, Katz?« Nein, tut sie nicht. Sie sagt, sie wisse nicht, warum wir Gedichte überhaupt erst in diese Dinger da reinschreiben und dann zum Lesen wieder hervorholen. »Wir dichten direkt in die Luft«, sagt die Katz. »Das ist viel effektiver.« Sie hat wohl recht. »Bitte, dichte was, Katz!« Sie überlegt und kratzt dann mit der Pfote etwas hinterm Ohr hervor: »Alte Freundin steht auf Leiter und weiß ganz und gar nicht weiter.« Das sei schön, sage ich, besonders die »Freundin«. Und besonders die Zeilenfall- und Interpunktionsangaben mit der Schwanzspitze. »Also«, sagt die Katz, »kommst du jetzt endlich ins Bett?«

31. August 2016

Heute früh war ich schwimmen. Die ersten paar Meter See lagen noch im Schatten, ich schwamm mit selbstverordneter Vorfreude möglichst rasch durchs Kühle hinaus in die Sonne, und dort genoss ich Zug um Zug die wunderbar glitzernde Fläche. So geht’s mir manchmal mit Büchern: Ich mühe mich ab mit ersten Kapiteln und plötzlich bin ich mitten in einer faszinierenden Weite und in einem wunderbaren Licht und kann nicht genug davon bekommen. Weg ist das anfängliche Frösteln, nur noch Lust ist da – und Spannung, weil man so viel Tiefe unter sich weiß. Es kommt auch vor, dass ich das Buch schon nach ein paar Seiten entschlossen zuklappe, weil es für mich zu kalt ist. Dann spritzt immer ein bisschen Beschämung auf.

15. Oktober 2015

»Hast du was Gutes gelesen?«, werde ich oft gefragt. Ja, hab ich. In dem großen Textschwall, den ich regelmäßig durchs Gehirn spüle, muss ja wohl was Gutes dabei sein. Aber wenn ein netter Mensch von mir einen Buchtipp will, bin ich meist hilflos. Ich denke: Das ist zu traurig für seine wacklige Seele. Oder: So viel Schmalz kann er nicht verdauen. Oder: Solche Stille erträgt er nicht. Oder: Ihm fehlt das Gehör für Bosheit. Es reut mich, Wallace Stegner oder Julian Barnes oder Gerbrand Bakker oder Per Petterson zu empfehlen, denn ich möchte nicht, dass jemand deren Bücher enttäuscht aus der Hand legt. Soll der nette Mensch doch selber sehen, wie er sich lesend befriedigt. Ist nicht meine Sache. Na ja, es gibt schon Namen, die ich unbeschwert weitergebe: Tschechow, Maupassant, Mansfield, Maugham – die alten Könner, ganz einfach gut wie Brot.

16. Juli 2015

»Betrachtest du deine Bücher als moralisierend?«, fragt mich ein Freund. »Nein«, sage ich. »Auch nicht im Versteckten?«, fragt der Freund. »Nein«, sage ich. »Ich halte anderen nur den Spiegel vor, mehr nicht.« Später denke ich: Anderen den Spiegel vorhalten ist durchaus ein moralischer Akt. Die Figuren in meinen Büchern sind Spiegel, die Lesenden können sich drin sehen. Können sehen, wie blöd, hässlich, verbohrt sie sind und handeln – ein unangenehmes Bild. Oder wie klug, schön, liebevoll sie sind und handeln – ein angenehmes Bild. Die Bilder implizieren: Sei so! oder Sei anders! Und somit bin ich im Grunde genommen eine Moraltante.

21. Januar 2013

Ich trage heute fünf Bücher in die Bibliothek zurück, es ist keines dabei, das ich gerne behalten möchte, das ich nicht vergessen möchte, es sind gut gemachte Sachen, aber man sieht ihnen das Machen an, und ich möchte beim Lesen das Gemachtwordensein, so gut es geht, vergessen. Wenn ich das kann, erhält das Buch meinen Segen: Geh hinaus in die Welt und verbreite dich und erschüttere die Leute mit deinem erfrischenden Geist und deiner uralten Seele, auf dass diese lachen und weinen, was sie aber nicht können, weil sie keine Zeit dazu haben, denn sie müssen weiterlesen, weiterlesen, weil du so spannend bist, du wunderbares Buch, geh von dannen und verbreite dich fortan.
Ich warte geduldig, bis ich wieder einmal auf so ein Buch treffe.

20. August 2013

Ich habe einen fremden Text überarbeitet, es ist das erste Kapitel eines ersten Buchs eines Freundes. Schau mal rein, hat er gesagt, und das hab ich gemacht. Ich kam mir vor, als sei ich allein in seiner Wohnung, nachdem er mir den Wohnungsschlüssel gegeben und gesagt hätte: Schau mal rein. Ich kam mir vor, als stehe ich in seiner Wohnung vor seinen Bildern und seinen Pantoffeln und seinen Kaffeetassen. Vor seinem Pyjama und seinem Testamentsentwurf und seinem Kopfabdruck auf dem Kissen. So stand ich in seiner Wohnung beziehungsweise in seinem Buch und war gerührt und belustigt und beschämt und verlegen. Und plötzlich überfiel mich die Lust, aufzuräumen, umzustellen, Platz zu machen. Ich verschob Stöße von Wörtern, halbierte Sätze oder warf sie aus dem Fenster, sammelte überflüssige Zeilen ein und schüttelte Fehler aus den Vorhängen oder zerdrückte sie böse. Ich konnte nicht anders. Einfach mal reinschauen, das geht nicht.

1. August 2013

Die Katz ist ein schlaffes Läppchen, liegt draußen im Schatten, die Welt ist gerade eben 32 Grad heiß, heute Abend werden die Feuer brennen, weil Heil dir Helvetia, und der Phlox blüht so blau, blau, blau wie der Enzian. Mein neues Buch hat nun 209 Seiten und fühlt sich gar nicht wohl, weil mein letztes Buch inzwischen erschienen ist und Lob erhält. Ich bin schlechter, sagt nun mein neues Buch, gib mich auf, wirf mich weg, sonst kotz ich dir noch über den Bildschirm. Was macht man da? Du und dein Buch, sagt die Katz, tut doch nicht so blöd, ist doch eh alles egal. Oder glaubt ihr etwa, ihr zwei, wegen euch finge ich an zu lesen? Was draußen knallt, ist eine Rakete, und noch eine. Andernorts knallt’s nicht aus Freudesgründen, in Syrien ist immer noch Krieg, nein, nein, die Schweiz schickt keine Waffen dorthin, sie schickt sie freundlich anderswohin, damit sie ein paar Umwege machen. Das ist etwa wie ein Paket, das man im Sommer losschickt mit dem Vermerk »Erst an Weihnachten öffnen«.

4. August 2013

Bestimmt muss man außerordentlich alt werden, bis einen eine Kritik nicht mehr trifft. Ich bin noch nicht außerordentlich, sondern erst ordentlich alt. Das heißt, ich zucke immer noch zusammen, wenn man mich kritisiert. Würde ich nicht mehr zucken, wäre ich tot. Wie schön ist das, dass ich noch nicht tot bin, dass ich spüre, wie Sonne ins Zimmer fällt, wie Phlox riecht, wie die blöden Tauben gurren. Ja, und da hat nun jemand geschrieben, in meinem neuen Buch gebe es Klischees. Zuck! Klischees sind genau das, was ich nicht fabrizieren möchte. Aber wahrscheinlich würde ich genauso heftig zucken, wenn es in der Kritik hieße, ich schreibe umständlich oder romantisierend oder ungenau oder langatmig oder salopp oder barock oder sonstwie nicht rundum gut. Irgendwas muss eine Kritik ja kritisieren, sonst ist es keine. Also muss ich damit leben zu zucken, solang ich noch zucken kann.

Die Notizen sind erschienen auf der Website www.angelikawaldis.ch unter dem Titel »Tage,Tage« sowie im Buch »Tausend Zeichen«.

Angelika Waldis ist 1940 geboren und denkt immer noch, sie sei nicht alt. Sie ist in Luzern aufgewachsen, hat an der Universität Zürich eine Weile studiert (Anglistik/Germanistik), ist aber bald abgehauen in den Journalismus und in die Ehe mit ihrer ersten Liebe, dem Gestalter Otmar Bucher. Mit ihm hat sie einen Sohn, eine Tochter und eine Jugendzeitschrift gemacht. Heute hat sie drei Enkel sowie Freuden und Ängste beim Bücherschreiben. Ihr Roman »Aufräumen« (2013) war in der Schweiz ein Bestseller. Was sie häufig tut: in Gartenerde wühlen, mit Wörtern spielen, sich über dumme Zeitgenossen ärgern, neugieren und staunen. Ihr neuster Roman bei Wunderraum ist «Ich komme mit». Er wurde «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels 2019«.

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Beitragsbild © Peter von Felbert