Steffen Schroeder «Mein Sommer mit Anja», Rowohlt

Während eines Sommers kann sich alles ändern. Alles. Zumindest für einen Jungen zwischen Kindheit und Erwachsensein. Die festgelegte Ordnung, das ewige Ticken des Einerlei, die Selbstverständlichkeit, die man nie in Frage stellt, obwohl einem die Welt der Erwachsenen suspekt erscheint. Steffen Schroeder hat in seinem Roman die Hitze eines Sommers nacherzählt, die Hitze über einem kleinen Stück Glück, das verglüht.

Konrad teilt den Sommer mit Holger, einem geistig behinderten Jungen aus der Nachbarschaft, der in jenem Sommer zwar achtzehn wird, seinen um einige Jahre jüngeren Freund aber wie einen grossen Bruder sieht. Für ein paar Sommerwochen befreit von der Schule verbringen sie ihre Tage im Freibad Floriansmühle, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich ihr karges Taschengeld durch Pfandflaschengeld aufbessern können, weil Konrad nicht viel anzufangen weiss mit dem wichtigtuerischen Gehabe seiner Klassenkameraden und weil die Mädchen in seinem Alter auf einem andern Stern leben. Weil er mit den Jungs, die Fussball spielen nicht mithalten kann und weil ihm die ewigen Streitereien seiner Eltern auf den Wecker gehen.

Erstes Zeichen dafür, dass der Sommer nicht sein wird, wie all die andern bisher, ist das Versteck, das er und Holger im Unterholz verborgen finden, der tote Specht unter ihrem Kletterbaum und die Plastiktüten in ihrem Versteck, die verraten, dass sie nicht die einzigen sind, die das Versteck nicht weit vom Bach nutzen.

Anja taucht auf. Ein Mädchen, das so ganz anders ist wie alle, die er sonst kennt. Anders als Jasmine, die Schwester seines reichen Klassenkameraden, die in ihren rosa Klamotten aussieht wie aus einer Mädchenzeitschrift entstiegen. Anja hat kurze Haare, als wären sie selbst geschnitten, trägt Kordhosen, keine Jeans wie alle andern, kennt jedes Kraut, das wächst und gibt sich selbst im Freibad, als sie sich umzieht, unbekümmert, als ginge sie die Welt rundum nicht wirklich etwas an.

Steffen Schroeder «Mein Sommer mit Anja», Rowohlt, 2020, 208 Seiten, 28.90 CHF, ISBN: 978-3-7371-0071-7

Konrad ist gleichermassen fasziniert wie Holger. Erst recht als klar wird, dass Anja vom nahen Heim ausgebrochen ist und klar macht, dass sie lieber sterben würde, als in den Bau zurückkehren zu müssen. Aus einer zaghaften Annäherung wird ein Dreigespann. Und als Anja immer mehr Nähe zulässt, Konrad bittet, ihr Geschichten zu erzählen, als sich die Tage nur noch um ihr Zusammensein zu drehen beginnen und Konrad in Kauf nimmt, von seinen Eltern Schelte zu kassieren, schleicht sich jenes Verliebtsein ein, jene zarte, erste Liebe, die alles andere zur Nebensache werden lässt. Sie sitzen am Fluss, nehmen Anja mit ins Freibad, sie hocken in ihrem Versteck oder stromern durch die Gegend.

Aber Konrad spürt, dass er durch Anja einer Welt begegnet, die mit der seinen nichts gemein hat. Was Anja erzählt, ist wenig. Der Sommer wird zu einer Blase ohne Vergangenheit, ohne Zukunft. Erst als Konrad und Anja im Wald bei wild gebauten Hütten von Stadtstreichern aufgestöbert werden, als in den Zeitungen von einem aus einem Heim ausgebüxten Mädchen geschrieben wird, als Konrad und Holger sehen, mit welcher Gier das Mädchen die von zuhause mitgebrachten Lebensmittel vertilgt, spürt Konrad, dass seine Welt mit der des Mädchens nicht viel gemein hat. Trotz all der Nähe, den zaghaften Berührungen, den flüchtigen Küssen. 

Steffen Schroeder erzählt von einem heissen Sommer, in dem Konrad seine Unschuld verliert. Von einem Sommer, der ihn aus der Kindheit katapultiert. Von einem Sommer, der ihn mit einer offenen Wunde zurücklässt, in dem der Verrat über die Liebe siegt und das eigene Tun und Lassen zu einer Katastrophe werden kann. Konrads Ahnung, dass das Leben nicht bloss aus Wassereis, den Top Ten aus dem Radio und der Sehnsucht nach Nähe besteht, dass es ein Leben ausserhalb aller Konventionen gibt, an der Grenze zwischen Kindheit und Erwachsensein, bricht über den Jungen, wie Hagel, Blitz und Donnerschlag zugleich.

„Mein Sommer mit Anja“ ist die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies.

Interview mit Steffen Schroeder:

Konrad und Holger haben ein Geheimnis. Anja. Aber vielleicht macht das das Wesen von Geheimnissen aus. Der Unterschied zwischen jenen in der Kindheit und jenen als Erwachsener. Ein Geheimnis ist nicht einfach nur mehr etwas Verborgenes, sondern das, was den Träger eines Geheimnisses zum Schuldigen macht, wenn auch nur sich selbst gegenüber. Konrad erfährt existenziell, dass Geheimnisse tiefe Wunden reissen können. Ist Schreiben eine Form der Wundheilung?
Für mich auf jeden Fall. Ich habe schon als Kind Erlebtes in kleinen Geschichten verarbeitet oder in Tagebucheinträgen. Es gibt Texte, die schreibe ich nur für mich. Und andere, bei denen ich mich sehr freue, wenn ich sie mit möglichst vielen Menschen teilen darf.

In der Kindheit wächst man auf in der von den Eltern mehr oder weniger behüteten Familie. Die Pubertät ist nicht nur die Zeit der Verselbstständigung, der Loslösung, sondern auch die Zeit der Ernüchterung darüber, dass die Welt nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. Wird die Ernüchterung nicht mit jedem Jahrzehnt schmerzhafter, so sehr, dass die Jugendlichen der Gegenwart allen Grund hätten, einer kollektiven Depression zu verfallen?
Das glaube ich nicht. Der Spruch „Früher war alles besser“ galt ja schon immer. Und ich stelle fest: So sehr mich dieser Ausspruch als Kind genervt hat – mit zunehmendem Alter muss man aufpassen, ihn nicht selbst zu verwenden. Letztens las ich einen Artikel, der mit einer Abhandlung über den kuriosen Umstand begann, dass heutzutage jeder überallhin reist. Der Witz war: Die so heutig wirkende Einleitung stammte von Theodor Fontane.
Und was die Depression angeht: Die Jugendlichen von heute haben unglaubliche Möglichkeiten und Freiheiten, wie es sie in diesem Ausmass noch nie zuvor gegeben hat: Man kann sich frei entscheiden, welchen Beruf man ausüben will, wo man leben will, ob und wen man heiraten will, welche Form der Sexualität man leben will und welches Geschlecht man gerne haben möchte. Die Kehrseite der Medaille: Wenn alles offen ist, muss man überall Entscheidungen treffen. Und das ist nicht immer einfach. Hinzu kommt die Angst: Jede Entscheidung, die ich treffe, kann die falsche sein. Und schliesst automatisch eine andere Option aus. So grossartig und verlockend diese Freiheit ist, ich stelle im Umfeld meiner grossen Söhne fest: Viele Jugendliche tun sich nach dem Abitur schwer, überhaupt irgendeine Entscheidung zu treffen, egal in welchem Bereich. Und verfallen in eine Depression. Das kann ich durchaus verstehen.
Übrigens fällt mir dazu ein: Ich habe mich ja bei meinem ersten Buch ausgiebig mit dem Gefängnis und seinen Insassen beschäftigt. Und genau dieses Verhalten kenne ich auch von Langzeithäftlingen, die nach vielen Jahren vor der Entlassung stehen. Die plötzlich in Aussicht stehende Freiheit, Freiheit auf allen Ebenen, überfordert sie. Und sie werden häufig depressiv. Ich glaube, Freiheit muss man lernen.

Holger, Konrads Freund, ist zurückgeblieben, Konrad der einzige, der ihm nicht die kalte Schulter zeigt, Holgers Mutter eine Frau mit langen schwarzen Haaren und dem Kämpferherz eines Indianers. Holger, seine Mutter, Anja – alles Figuren, die nichts mit der Biederkeit der späten Achtziger gemein haben. Kann man sich allein durch Erinnerung in jene Zeit zurückschreiben oder brauchten sie Hilfe; Bilder, Geschmäcker, Düfte, Musik, Filme?
Vielleicht kann man es, aber mir wäre es definitiv zu trocken. Und so habe ich mich all dieser Hilfsmittel bedient: Musik, Geschmackssinn und Gerüche funktionieren bei mir da besonders gut – mit diesen „Transportmitteln“ konnte ich mich schlagartig in die 80er Jahre versetzen und hatte viel Spass daran!

Sie sind Schauspieler und Schriftsteller. Geben Sie sich mit ihrem Roman die Hauptrolle in ihrem eigenen, inneren Film? Oder entspricht das Schreiben viel mehr der Sehnsucht nach einer gewissen Ordnung im Leben?
Das Schreiben ermöglicht mir Geschichten so zu erzählen, wie ich sie fühle. Das ist das Grossartige daran. Ich kann alles laufen lassen, so wie es in mir entsteht. Das ist eine grosse Freiheit, die ich gar nicht genug schätzen kann.
Als Schauspieler unterstehe ich ja immer einem Regisseur, der wiederum einem Intendanten untersteht, der wiederum auch von politischen Gegebenheiten abhängig ist. Oder ich folge den Anweisungen eines Fernsehregisseurs, der einen Produzenten zufriedenstellen muss, der es wiederum seinem Redakteur Recht machen will und dieser seinem Chefredakteur; die Quote muss am Ende stimmen und so weiter… und dann spielt das Geld natürlich noch eine Riesenrolle.
Da stellt sich oft nicht mehr die Frage, wie erzählen wir unsere Geschichte am schönsten? Sondern wie erzählen wir die effektvollste Geschichte, zum günstigsten Preis, mit breitestmöglicher Zielgruppe?
Wenn ich jedoch schreibe, kann ich alles einfach so entscheiden, wie es der Geschichte dienlich ist – und Punkt. Zumindest wenn man das Glück hat, bei so einem wunderbaren Verlag wie Rowohlt Berlin zu sein. Für mich ein riesiges Geschenk.

Das Schreiben eines Buches begleitet einem über Jahre. Es teilt Leben bis in die kleinsten, feinsten Sequenzen. Und selbst, wenn die Musik jener Zeit in ihrem Roman eine wichtige Rolle spielt, bleiben die Bilder über lange Strecken stumm. Was ist der Schriftstellerei und der Schauspielerei gemeinsam?
Letztendlich geht es doch immer ums Geschichten erzählen, ob als Schauspieler oder als Schriftsteller. Ich denke, da kommen diese beiden Berufe her. Vor langer, langer Zeit sind Minnesänger durch die Lande gereist und haben den Menschen ihre Geschichten erzählt und vorgetragen. Aus diesem Beruf sind Schriftsteller und Schauspieler hervorgegangen. Insofern liegt für mich beides ganz nah beieinander. Und auf einen Nenner gebracht: Egal ob ich spiele oder schreibe: Ich möchte gerne Menschen berühren. Darum geht es mir.

© Anne Heinlein

Steffen Schroeder wurde 1974 in München geboren. Nach seiner Schauspielausbildung war er zunächst Ensemblemitglied am Wiener Burgtheater, dann beim Berliner Ensemble. Er wirkte in Fernsehserien und Kinofilmen mit. 2017 erschien bei Rowohlt «Was alles in einem Menschen sein kann. Begegnung mit einem Mörder». Steffen Schroeder lebt mit seiner Familie in Potsdam.

Webseite des Autors und Schauspielers

Annie Ernaux «Eine Frau», Bibliothek Suhrkamp

Stirbt die Mutter oder der Vater, drängen sich Fragen der eigenen Existenz auf. Vielleicht, weil man mit dem Tod der Eltern unmittelbar auf sich selbst zurückgeworfen ist, weil einem das Gefühl des Getragenseins genommen wird, weil die Endlichkeit unweigerlich vor Augen rückt. Annie Ernaux setzt im Titel ihres Erinnerungsbuches an ihre Mutter einen unbestimmten Artikel. «Eine Frau» ist ein Buch über eine ganze Generation von Frauen.

«Ich werde ihre Stimme nie mehr hören. Sie, ihre Worte, ihre Hände, ihre Gesten, ihr Gang und ihre Art zu lachen waren es, die die Frau, die ich heute bin, mit dem Kind, das ich gewesen bin, verbunden haben. Ich habe die letzte Brücke zu der Welt, aus der ich stamme, verloren.»
Die letzten drei Sätze des nicht einmal 100seitigen Romans von Annie Ernaux, von dem sie selbst schreibt, es sei «keine Biographie und natürlich auch kein Roman, eher etwas zwischen Literatur, Soziologie und Geschichtsschreibung». Keine Biographie, weil Annie Ernaux fast ganz auf Wertungen verzichtet und ganz auf den Anspruch, ein vollständiges Bild zeichnen zu wollen, mit ihrem Schreiben ein Leben auszuleuchten. Kein Roman, weil Annie Ernaux nie in die Rolle ihrer Mutter hineinschlüpft, nie nachzuempfinden versucht, was die Mutter denkt und fühlt. Obwohl Annie Ernaux bei ihren LeserInnen viel Mitgefühl und Resonanz erzeugt, bleibt ihr Schreiben erstaunlich sachlich, ganz nah an Fakten, Fakten die den Sepiagilb behalten, nie verklären, nie beschönigen und schon gar nicht romantisieren.

Annie Ernaux: „Eine Frau», Bibliothek Suhrkamp, 2019; 88 Seiten, 27.90 CHF., ISBN: 978-3-518-22512-7.

Vielleicht liegt die Faszination ihres Schreibens in dem, was es auslöst. Wir sind alle Töchter und Söhne. Unsere Mütter und Väter sterben. Was sie hinterlassen, lässt sich in keinem Fall einfach wegwischen, begleitet uns ein ganzes Leben, bewusst oder unbewusst. All das, was einen Vater oder eine Mutter ausmachte, liess uns zu dem werden, was wir sind. Wer in einen Spiegel schaut, sieht viel mehr als nur sich selbst. Mütter sterben, verschieben eine Existenz. Mütter sind immer da, in welchem Aggregatzustand auch immer. Sie waren Jahrzehnte der Boden, auf dem es keimte, das Kissen, auf das man fiel oder sich zurücklehnen konnte, Zündstoff und Bremse, Knautsch- und Komfortzone.

Annie Ernaux› Mutter erkämpfte sich ihren Platz, jenen in ihrer Familie, an der Seite ihres Mannes, im Geschäft als Unternehmerin, in der Gesellschaft. Auf ihrer Fahne stand «Um jeden Preis die Lage verbessern», ihre eigene, die ihrer Familie, die ihrer Kinder, ihrer Tochter. Dafür arbeitete sie von früh morgens bis in die Nacht, ein ganzes Leben lang, bis ihr Krankheit und Demenz das Szepter aus der Hand nahmen. Ihr grösster Wunsch war es, der Tochter all das zu geben, was ihr verwehrt blieb, trotz ermahnenden Sätzen wie «Du hast so viel und bist trotzdem nie zufrieden». Eine Frau, die Liebe mit Strenge gleichsetzt, die an der Ladentheke mit aller Freundlichkeit die Kundschaft bediente, um Augenblicke später Ohrfeigen in der Küche zu verteilen wegen übermässigem Lärm. Und später, in den unruhigen Siebzigern, als der Vater starb, wurde aus der Tochter-Mutterbeziehung ein veritabler Klassenkampf.

«Eine Frau» berührt ungemein!

über den Vater

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Bücher sind von Kritik und Publikum gleichermassen gefeiert worden.

Sonja Finck, geboren 1978 in Moers, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf. Inzwischen lebt sie als literarische Übersetzerin in Berlin und Gatineau (Kanada). 2019 erhielt sie den Eugen Helmlé-Übersetzerpreis.

Annie Ernaux «Der Platz», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Catherine Hélie / Editions Gallimard

«In stillen Räumen» literaturblatt.ch fragt, Regula Wenger antwortet.

2015 sagte Verena Stössinger, Kulturjournalistin: «Zu den besonders überzeugenden Erstlings-Werken gehört dieses Jahr zweifellos Regula Wengers Roman «Leo war mein erster». Lakonisch und witzig, voller Leben. Das ist souverän gemacht, überraschend und berührend. Es ist ein reifes Buch, das Regula Wenger vorlegt, eins, das mit leichten Füssen daherkommt und keinen literarischen Kunstnebel braucht.» Nun liegt ein neues Manuskript auf dem Tisch und ich bin gespannt!

Ein Interview mit Regula Wenger, das die Lust und Vorfreude auf ihr neues Buch schüren soll:

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich!
Ich möchte beglücken, amüsieren, irritieren und zum Nachdenken anregen. Wenn mir die Leser sagen, dass sie beim Lesen des Buches laut herauslachen mussten, finde ich das fantastisch. Ich werfe in meinem Schreiben einen kritischen Blick auf Zwischenmenschliches und auf die Gesellschaft. Es gibt einiges zwischen den Zeilen zu entdecken – wenn man denn möchte. Wenn ich wählen müsste, ob ich die Leute zum Lachen oder zum Weinen bringen möchte, würde ich mich wohl fürs Lachen entscheiden. Gut ist, dass ich mich nicht zwischen dem einen oder anderen entscheiden muss, denn eine gute Pointe hat meist einen ernsten Ausgangspunkt.

Wo und wann liegen in Ihrem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente, vor denen Sie sich fürchten?
Beglückende Phasen sind wohl jene, in denen ich nachts über ein Kapitel oder eine Szene nachdenke und ich die Idee über die Nacht hinaus retten und zu Papier bringen kann. Es ist fabelhaft, wenn ich diese Gedanken aus dem Halbschlaf auch sprachlich zufriedenstellend aufs Blatt bekomme – was mir nicht immer gelingt. Schwierig ist es auch, wenn ich mir keine Zeit zum Schreiben nehmen kann, weil mich noch so viel anderes im Leben auf Trab hält, oder wenn ich eigentlich Zeit hätte, aber es nicht schaffe, mich von einem Moment auf den anderen in meinen Stoff zu vertiefen.
Während das Drauflosschreiben viel Spass macht, kann der Überarbeitungsprozess manchmal harzig sein. Das Loslassen von unnötigen Protagonisten oder überflüssigen Szenen ist natürlich auch nicht so einfach. Wunderbar ist es hingegen, wenn ich beim Überarbeiten meiner Texte selber noch einmal lächeln oder wenn ich bei einer ernsteren Passage leer schlucken muss – obwohl ich das Ganze doch selber erschaffen habe. Dann spüre ich eine unbändige Vorfreude darauf, dass sich irgendwann irgendjemand anderes auch durch meine Worte und meine Geschichten berühren lassen könnte.

Lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Einmal habe ich ein Buch einer Bekannten angefangen zu lesen: Es waren wunderbare, ausführliche Beschreibungen darin, die mich berührt haben, doch ich habe das Buch schnell wieder weggelegt. Ich wollte vermeiden, dass ich mich von dieser Art zu schreiben beeinflussen lasse. Ich bevorzuge einen kürzeren, knapperen Stil, wobei ich ausschliesslich kurze Sätze auch schnell langweilig finde – Rhythmus und Abwechslung sind mir wichtig.
Verführen lasse ich mich ansonsten von allem, was um mich herum geschieht, sehr gern sogar, von Erlebnissen, Gesprächen und Beobachtungen, die während des Schreibprozesses oft direkt in mein Buch fliessen können. Das macht für mich ein Buch dann auch frisch: Wenn ich nicht von Anfang an alles bereits fix geplant und durchstrukturiert habe und ich mich zwischendurch selber überraschen kann. Ich bin aber noch auf der Suche nach der richtigen Mischung zwischen «Das Buch durchdenken und durchstrukturieren, bevor ich mit den ersten Zeilen beginne» und «Einfach mal wild drauflosschreiben und meinen Protagonisten aufmerksam und amüsiert hinterhertraben».

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Die Welt ist komplex und wir sehnen uns nach unabhängigen klugen Köpfen, die Licht ins Dunkel bringen können. Es ist wohl nicht so wichtig, ob das Autorinnen oder Soziologen, Journalistinnen, Philosophen, Bäcker oder Elektromonteure sind. Autoren haben natürlich die Möglichkeit, ihre Meinung und ihre Sicht auf die Welt gut formuliert in der Öffentlichkeit zu platzieren, auch durch Essays oder politische Kommentare. Was ich als Mensch meine, verstanden zu haben, und was mir wichtig ist, möchte ich als Autorin natürlich vor allem in mein literarisches Schreiben verpacken.

Inwiefern schärft Ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
Im Alltag ziehen täglich unzählige Themen an uns vorbei und wir haben nicht unbedingt die Möglichkeit, vertieft darüber nachzudenken. Deshalb ist es für mich bereichernd, mich in einem Schreibprozess über längere Zeit intensiver mit einem Thema zu befassen und allenfalls auch neue Erkenntnisse zu gewinnen.

Gibt es die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text? Muss man diese Einsamkeit als Schreibende mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür oder dagegen?
Die Einsamkeit des Schreibens ermöglicht mir die nötige Konzentration: In diesem stillen Raum entsteht neues Leben. Ich schätze und brauche ihn und habe davon viel zu wenig. Diese Einsamkeit steht übrigens in krassem Gegensatz zu den Zeiten, in denen man mit seinem Buch an die Öffentlichkeit tritt. Es sind komplett unterschiedliche Aggregatszustände, in denen man sich befindet – zwischen einsamer Schreibarbeit und der Präsentation seiner Arbeit vor Publikum. Der Schreibprozess ist entspannter, Lesungen sind dafür aufregender.

Gibt es für Sie Grenzen des Schreibens? Grenzen in Inhalten, Sprache, Textformen, ohne damit von Selbstzensur sprechen zu wollen?
Wenn ich weiss, was ich sagen möchte, es jedoch nicht schaffe, die passenden Worte für ein Gefühl, eine alltägliche Handlung oder einen Vorgang zu finden, stosse ich an eine Grenze – und bin empört. Manchmal lässt sie sich zum Glück doch noch überwinden oder es findet sich ein akzeptabler Umweg oder eine brauchbare Alternative.

Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den Sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
Ich habe «Baba Dunjas letzte Liebe» von Alina Bronsky lange auf meinem Nachttisch verstauben lassen, weil ich skeptisch wegen des Themas war. Kritisiert wurde, dass sie das verstrahlte Tschernobyl in ihrem Buch verniedliche, ich habe das jedoch nicht so empfunden. Mich hat das Buch berührt.

Zählen Sie Bücher auf, die Sie prägten, die Sie vielleicht mehr als einmal gelesen haben und in Ihren Regalen einen besonderen Platz haben?
Mich hat «Die Wand» von Marlen Haushofer tief beeindruckt. Was für eine Idee! Was für eine Atmosphäre! Ich habe auch dieses Buch lange auf meinem Nachttisch hin und her geschoben, bevor ich überhaupt mit Lesen begonnen habe. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass mich diese Geschichte wirklich fesseln würde. Das tat sie aber – und wie!

Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wären Sie nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller, hätten sich die Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben?
Ich kam über meine journalistische Arbeit zum literarischen Schreiben und bin nach wie vor auch als freie Journalistin und Texterin tätig. Ich habe also bereits eine Alternative zum literarischen Schreiben. In einem anderen Leben würde ich vielleicht alte Möbel restaurieren.

Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen?
Ich stopfe sie in eine Tasche und stapfe in Vollmondnächten wutentbrannt in den Wald. Dort verbrenne ich diese Elaborate und verfluche lautstark die verlorene Zeit, die ich mit ihnen verbracht habe. Natürlich schneide ich vorher jedes noch brauchbare Wort aus den Büchern, weil ja nicht alles schlecht sein kann – vielleicht gibt es ein «unerquicklich» oder ein «Wonneproppen», das ich irgendwann noch gebrauchen kann. Wirklich jetzt im Ernst? Bücher in den Müll werfen, das bringe ich nicht übers Herz. Ich lege sie manchmal vor meiner Haustür auf eine Bank, dort verschwindet alles – ein fabelhaftes Bermuda-Dreieck. Ich habe allerdings auch ein schlechtes Gewissen dabei, weil ich das Buch ja nicht gut finde und sich nun vielleicht jemand anderes darüber ärgern muss …

Schicken Sie mir ein Foto von Ihrem (unaufgeräumten) Arbeitsplatz?
Gerne. Kommen Sie dann bei mir vorbei und räumen ihn endlich auf? Auf meinem Schreibtisch zuhause stapelt sich alles Mögliche und Unmögliche, weshalb ich mit meinem Laptop immer an den Wohnzimmertisch ausweiche. Ich habe aber auch herausgefunden, dass sich das Chaos bei Besuch bestens in irgendwelche Schubladen stopfen lässt, die ich dann nie mehr öffne. Im Gemeinschaftsbüro, in dem ich mit anderen freien Journalistinnen und Journalisten eingemietet bin, teile ich meinen Arbeitsplatz mit einer Kollegin. Den Tisch lasse ich deshalb immer aufgeräumt zurück: Siehe Bild. Wenn ich im Schwung bin, wische ich den Tisch noch feucht ab, bevor ich von dannen ziehe. Das Foto, das ich Ihnen sende, stammt also von diesem Bürotisch, an dem ich oft nur noch so tue, als wäre ich Journalistin, aber eigentlich versuche Bücher zu schreiben …

Regula Wenger (1970), Autorin, Kolumnistin und Journalistin in Basel. Ausbildung unter anderem an der Schweizer Journalistenschule in Luzern sowie an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich (Literarisches Schreiben). Arbeitete als Journalistin auf mehreren Zeitungsredaktionen, als Redaktorin und Moderatorin bei einem Lokalradio sowie als Texterin bei einem Kommunikationsunternehmen. Heute ist sie freie Journalistin, Autorin und Kolumnistin in einem Basler Pressebüro. Mitgewinnerin des Schreibwettbewerbs «Geschichten aus der Vorstadt» von Szenart, der Gruppe für aktuelles Theaterschaffen in Aarau (2013). Ihr Roman «Leo war mein erster» ist im Waldgut Verlag (Frauenfeld 2014) erschienen.

Annie Ernaux «Der Platz», Bibliothek Suhrkamp

Annie Ernaux bezeichnet sich selbst als «Ethnologin ihrer selbst». Weit gefehlt, wer glaubt, die Schriftstellerin betreibe damit Nabelschau. «Der Platz» ist eine Liebeserklärung an den toten Vater, eine Liebeserklärung an die Entschlossenheit eines Lebens.

Mehr als ein Vierteljahrhundert nach seinem Erscheinen und seiner Erstübersetzung auf Deutsch unter dem Titel «Das bessere Leben» erschien «la place» in einer sorgfältig neu übersetzten Ausgabe im vergangenen Jahr in der legendären Bibliothek Suhrkamp, in der «Bibliothek der Klassiker der Moderne». Annie Ernaux’s Erzählkosmos ist sie selbst, ihre Geschichte, ihre Herkunft, ihre Familie. Und kaum einer Autorin oder einem Autor sonst gelingt diese Art der Erkundung auf eine so schlichte, bescheidene, sachliche und fast dokumentarische Art wie Annie Ernaux. Kein Wunder spaltet die Autorin. Die einen werfen ihr vor, man lese nur immer und immer wieder das gleiche, Banales. Andere bezeichnen ihr Schreiben als geniale Mischung von Autobio- und Historiographie.

Annie Ernaux nimmt den Tod ihres Vaters als Anlass über ihn und sein Leben zu erzählen, ein Leben von Beginn des 20. Jahrhunderts, an zwei Kriegen vorbei, von bitterster Armut, dem Kampf ums Überleben, der permanenten Ernüchterung und der Angst vor Verlust. Ihr Vater konnte kaum lesen, kaum schreiben. Zeitlebens waren ihm Bücher, Bildung, Intellekt suspekt. Er war Bauer, Arbeiter, schaffte es irgendwann selbst Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens mit Ausschank zu werden, wurde aber nie der, der sich in seinem Stand sicher fühlte. Sein Leben bestand aus Arbeit, Kampf und der Einsicht, dass einem nichts geschenkt wird. Selbstverständlichkeiten aus heutiger Sicht, wie Ferien oder minimaler Luxus waren ihm fremd. Durch nimmermüden Einsatz gewonnener Überfluss verpflichtete zu Hilfe und Unterstützung jener, denen das Glück sich verweigerte. Leben bestand aus Arbeit. Man lebte, um zu arbeiten. Auch wenn sich heute solche Sätze umkehren, liest sich die Lebensgeschichte dieses Mannes als wäre sie prähistorisch. Dabei braucht man nur in den Fotoalben unserer Gross- und Urgrosseltern zu stöbern und man trifft sie wieder, die Ehepaare, die schwarz gekleidet vor einer drapierten Kulisse mit todernstem Gesicht dem Fotografen in die Linse starren.

Auch wenn sich der Text nüchtern, fast sachlich gibt, drückt der Schmerz hindurch, die Trauer darüber, nie jene Nähe zum Vater gewonnen zu haben, die das letzte Verstehen ermöglicht hätte, das beiderseitige Verstehen: «Vielleicht hätte er lieber eine andere Tochter gehabt.»

«Vielleicht sein grösster Stolz, sogar sein Lebenszweck: dass ich eines Tages der Welt angehöre, die auf ihn herabgeblickt hatte.»

Annie Ernaux will verstehen. Sie öffnet sich selbst das Fenster zur Vergangenheit und blickt auf das Leben ihres Vaters, dem sie nur schreibend nahe kommen kann. Annie Ernaux schenkt mir als Leser einen Blick mitten in dieses Leben, eine Vergangenheit, die sich leicht verklärt, sei es durch Filme oder die Literatur selbst. Annie Ernaux beschönigt nichts. Wer ihre Bücher liest, spürt dem haftenden Gerüchen von Armut und Demut nach. Ihr Erzählen ist nüchtern, ohne Metaphern, chronologisch, ohne Abschweifungen. Einzige kurze Reflexionen über das Schreiben selbst durchziehen den Text, machen klar, mit wie viel Ringen das Schreiben verbunden ist.

«Der Platz» ist eine Annäherung an den Vater. «Eine Frau» jene an ihre Mutter. Ein perfekter Einstieg in das Leseabenteuer Annie Ernaux!

© Catherine Hélie / Editions Gallimard

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Bücher sind von Kritik und Publikum gleichermassen gefeiert worden.

Sonja Finck, geboren 1978 in Moers, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf. Inzwischen lebt sie als literarische Übersetzerin in Berlin und Gatineau (Kanada). 2019 erhielt sie den Eugen Helmlé-Übersetzerpreis.

Annie Ernaux über ihr Schreiben und ihr Buch «Der Platz»

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Dietmar Krug «Von der Buntheit der Krähen», Otto Müller Verlag

Vielleicht ist es eine der schwersten Aufgaben eines Lebens, sich der Wahrheit, den Wahrheiten zu stellen. Thomas und Karl, beide einst in der gleichen kleinen Schule im Dorf stellen sich ihren Wahrheiten in vollkommen gegensätzlicher Weise. Und dabei wird ein Dorf zu einem Schauplatz, der die Wahrheiten provoziert. Thomas, der fast ein ganzes Leben vor ihr floh. Karl, dessen Leben zu einem einzigen Kampf darum wird.

Thomas entfloh einst dem Dorf, hielt es nicht mehr aus, schälte sich aus dem scheinbaren Würgegriff und machte sich aus dem Staub. Weg vom Alp in seiner Familie, weg von den Ketten im Dorf, weg aus einem Geflecht von Erwartungen. Er tauchte ab in die Stadt, etablierte sich als gefragter Musikkritiker, bis ihn die alten Muster, gepaart mit Tablettensucht und Alkohol wieder von seinem Platz wegtrieben, zurück ins Dorf, das er einst hinter sich gelassen hatte. Thomas will Zeit, Klarheit und einen Weg weiter. Er weiss, dass es für ihn und seine Art des Schreibens bei den Tageszeitungen keinen Platz mehr gibt, dass er sich nicht nur beruflich neu orientieren muss, um zu überleben. Er richtet sich im Dorf, in dem er aufwuchs in einem kleinen Häuschen am Rand ein, einem Haus, das einst von Hippies bewohnt seit Jahrzehnten allein in einem wilden Garten sich selbst überlassen war.

Im gleichen Dorf lebt Karl. Scheinbar einer von der Sorte Mensch, denen der Looser in den Genen steckt. Karl wuchs beim Grossvater auf einem kleinen Hof auf, einem Hof, den er noch immer mehr schlecht als recht bewirtschaftet. Bei einem Grossvater, der ihm schon in Kindertagen die Härte des Lebens beibringen wollte. In einem Leben, in dem er höchstens von den Tieren im Stall den ungetrübten Blick, die unvoreingenommene Zuwendung geniessen konnte. In einem Dorf, das ihn gnadenlos zum Aussenseiter machte, obwohl seine Erscheinung, je älter er wurde, desto respekteinflössender war. In einem Körper gefangen, den er nie zu seinem eigenen werden lassen konnte. Provoziert von seiner Umwelt gerät er in die Mühlen der Justiz, ins Gefängnis, zurück an den mittlerweile verwaisten Hof, entschlossen in sich die Frau zu befreien, die im falschen Körper steckt. Ein Unterfangen, das in einem Dorf wie dem seinigen zum Spiessrutenlauf wird.

Dietmar Krug, selbst lange Zeit Mitarbeiter in Zeitungsredaktionen und Kolumnist, Meister der filigranen Beschreibungen, beschreibt die nach innen und aussen gerichteten Auseinandersetzungen der beiden Männer. Thomas stellt sich seinen Wahrheiten nicht, er, dem die Herzen der meisten Dorfbewohner offen stehen. Er schafft es auch nicht, das Grab seiner Mutter zu besuchen, das Haus, in dem er aufgewachsen ist. Aber er beginnt in dem kleinen Haus, im Garten, den er mit den beiden Kaninchen eines Mädchens aus der Nachbarschaft, die er in Pflege nimmt, teilt, zu schreiben, zaghaft zuerst, dann immer tiefer, weil er weiss, dass im Schreiben der einzige Weg für ihn offen steht.

Karl hingegen, vom Dorf wegen seines kriminellen Vaters und seiner unglücklichen Kindheit und Jugend stigmatisiert, nimmt den Kampf auf, stellt sich nicht nur den Geistern, sondern knackt das Gefängnis, in dem sein Körper steckt. Nach unsäglich vielen verschämten Versuchen, eingetaucht in Heimlichkeiten und den Dunst von Alkohol, zelebriert er ungeniert seine Transsexualität.

Dietmar Krug bettet die Geschichten in ein Dorf, in ein feines Geflecht, von Menschen, die sich ganz unterschiedlichen Dämonen zu stellen haben, in ein Dorf, das wie viele andere von den Verschiebungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zerrissen wird. Ein junges Mädchen erklärt Thomas in die „Die Buntheit der Krähen“, dass die schwarzen Vögel eigentlich zu den Singvögeln gehören und ihr Federkleid nur für den oberflächlichen Betrachter schwarz ist. Wer genau schaut, sieht, dass das Federkleid in allen Farben schimmert – und selten etwas ist, wie es scheint.

Der neue Roman Dietmar Krugs entwickelt einen ungemein leisen Sog. Eine der vielen Überraschungen des Lesens sind die Beschreibungen von Tieren und Klängen. Etwas, was ich in dieser Intensität nur ganz selten antreffe. Beschreibungen, die dem Buch das schenken, was die Qualität der Protagonisten ausmacht; eine Wahrnehmung, die der Wahrheit unweigerlich an die Oberfläche hilft. Ein ganz besonderer Lesegenuss.

© Pilo Pichler

Interview mit Dietmar Krug:

Ich kann nicht weitermachen wie bisher“, sagen beide, Thomas und Karl, jeder auf seine Weise. Warum muss ganz offensichtlich das Leiden stets existenziell werden, bis man sich an einen Richtungswechsel macht? Sowohl der ganz persönliche wie der globale! Erst wenn es offensichtlich um Kopf und Kragen geht, beginnt das Galoppieren auf den Abgrund zögerlich zu werden?
Der Klimawandel ist ein gutes globales Beispiel: Er ist jetzt plötzlich keine graue Theorie mehr, seitdem man an der eigenen Haut fühlen kann, dass es wärmer wird. Dann greifen auf einmal die eingebildeten Motive und Scheinrationalitäten nicht mehr. Der Mensch muss die Dinge offenbar regelrecht an Kopf und Kragen, das heisst körperlich, spüren, bis er sie im wörtlichen Sinn „begreifen“ kann. Dann erst geht’s ans „Eingemachte“.
Wenn es für Thomas und Karl existenziell wird, offenbart sich womöglich, worauf ihre Existenz eigentlich beruht.
Es reizt mich, Figuren in solchen Grenzsituationen zu schildern. Das bietet die Chance, sich dem anzunähern, was den Menschen im Innersten ausmacht, seinen Abgründen und Ängsten, aber auch seinen tiefsten Sehnsüchten. 

Die Borniertheit in ihren vielfältigsten Schattierungen scheint in ihrem Roman ein fast ausschliesslich männliches Problem zu sein. Es sind die Frauen, Mädchen, die aufbrechen und provozieren, selbst bei Karl, der im Laufe des Romans zu einer Frau wird, zu „Sissi“, sich einen Namen gibt, der sinnbildlich erscheint für den Ausbruch aus einem Korsett. Schält sich die Gesellschaft aus einer männlichen Umklammerung? Oder zerfällt das eine Klischee einfach zu einem neuen?
Borniertheit ist gewiss kein exklusiv männliches Phänomen. Aber wenn ein Ausnahmezustand auftritt, ein Bedrohungsszenario, gleich, ob echt oder eingebildet, dann sind stets die Männer an vorderster Front zur Stelle. Und dann liegt allzu rasch Gewalt in der Luft. Die Kasernen und Hochsicherheitstrakte der Welt sind nicht ohne Grund vor allem von Männern besetzt. In meinem Roman sind es in erster Linie die männlichen Dorfbewohner, die dem Wahn verfallen sind, ihr Dorf gegen die vermeintliche Bedrohung durch alles Fremde und Fremdländische verteidigen zu müssen. Das dafür nötige Ausblenden von sozialen und zivilisierten Regungen ist meinen weiblichen Figuren allein schon deshalb unmöglich, weil ihr mitfühlender Sinn durch ihr Lebensschicksal ungewöhnlich stark ist. Die eine (Agnes) hat ein schwer krankes Kind, die andere (Karin) ist für einen psychisch kranken Bruder verantwortlich. Aber es gibt ja auch noch Thomas› Tante Klara, die das, was sie für Mutterliebe hält, durchaus mit dem Soldatentum ihres Sohnes in Einklang bringen kann.

Geschechtsdysphorie (Geschlechtsidentitätsstörung) ist keine Krankheit, auch wenn der Begriff wie eine tönt. Karl leidet darunter, selbst als sie, als Sissi. Leidet die Gesellschaft darunter, dass sich das Menschsein nicht immer bloss einteilen lässt in das eine oder das andere; Frau oder Mann, richtig oder falsch, rechts oder links, Wahrheit oder Lüge? Wärs nicht an der Zeit, dass man schon den Kindern die Buntheit der Krähen erklärt?
Da berühren Sie einen wunden Punkt, der im Grunde die derzeitige medizinische Praxis in Erklärungsnot bringt. Denn auf der einen Seite gibt man sich dort inzwischen überaus aufgeklärt und betrachtet das Phänomen der Transsexualität nicht mehr als Krankheit, ja nicht einmal mehr als Störung. Andererseits bietet man den Betroffenen hoch wirksame Medikamente und radikale chirurgische Eingriffe an, die sonst nur bei schwer kranken Menschen zum Einsatz kommen. Und noch ein Paradox: Auf der einen Seite weist man immer öfter darauf hin, dass die Geschlechtergrenzen fliessend sind. Andererseits stellt man die Eindeutigkeit der Polaritäten am Ende ja gerade dadurch wieder her, dass man mit hormonellen und chirurgischen Mitteln aus einem Mann eine Frau macht – oder umgekehrt. Meine Utopie wäre eine Welt, in der Menschen mit fliessendem Geschlechtsempfinden sein können, was sie sind, und die Medizin gar nicht mehr nötig hätten.

Thomas Mutter war keine aus dem Dorf. Eine Fremde, eine aus dem Balkan, eine, die verstummte. Eine, die es nicht schaffte, sich von einem Alp zu befreien, die sich nie herauswinden konnte aus dem Korsett, das ihr den Atem stahl. Irgendwann kann Schweigen zu einer Mauer werden, die sich nicht mehr einreissen lässt. Fehlte ihr die Sprache?
Ja, sie hat ihre Sprache eingebüsst, ihr Sprachverlust ist im Grunde ein Vertrauensverlust. Ihr Bruder war der einzige Mensch, an den sie sich in ihrer kindlichen Not wenden konnte. Als er sich grob von ihr abwandte, gab es niemanden mehr, den ihre Worte erreicht hätten. Selbst die spätere Liebe und Fürsorge ihres Mannes hat die Mauer des Schweigens nicht mehr überwinden können. Und doch hat sie mit ihrem Sohn eine eigene, ganz und gar andere Sprache entwickelt – im Reich der Musik und in der Welt der Klänge. Hier haben die beiden eine tiefe Verbindung zueinander und können sich Dinge mitteilen, für die es sonst keine Worte gäbe. 

Thomas sitzt in dem kleinen Haus oder im Garten und schreibt. Er tippt in seinen Laptop. Und immer wieder erscheint auf dem Bildschirm «speichern, verwerfen, abbrechen». So wie beim Schreiben ist es doch wie im Leben, mit allem, jedem Bild, jedem Erlebnis. Oder bilden wir uns nur ein, wir könnten selbst entscheiden?
Als Thomas versucht, einige Erinnerungen und prägende Erlebnisse aufzuschreiben, scheitert er jedes Mal buchstäblich daran, das Notierte auf dem Computer zu speichern, dem „Dokument“ einen Namen zu geben. Diesem Zwang, sich entscheiden zu müssen, ist er nicht gewachsen. Das ist sicher symptomatisch für seine innere Flüchtigkeit und Getriebenheit. (Vielleicht hätte Thomas sich ja leichter getan, wenn er beim Speichern dem Dokument anstelle eines Namens einen Klang hätte geben können.) Andererseits: Gibt es etwas Schwierigeres, als einem eindringlichen Erlebnis einen passenden Namen zu geben, es mit einem Wort zu erfassen, das seinen wahren emotionalen Gehalt trifft? Hier hat mich nicht zuletzt das Phänomen gereizt, meinen Protagonisten seine intimsten Erinnerungen aufschreiben zu lassen, nur um sie dann wieder zu löschen. Und doch stehen sie da, zumindest in meinem Buch.

Dietmar Krug, geboren 1963 im Rheinland, studierte in Aachen und Wien Germanistik, Philosophie und Geschichte. Er promovierte 1996 über Thomas Mann. Seit 1988 lebt Krug in Wien, war dort zunächst freier Verlagslektor, bevor er 2004 in den Journalismus wechselte. Als Autor, Kolumnist und Redakteur hat er für diverse Medien gearbeitet, u. a. «Die Zeit», «Die Presse», «Der Standard». Zuletzt erschienen bei Otto Müller die Romane «Rissspuren» (2015) und «Die Verwechslung» (2018).

Webseite des Autors

Beitragsbild (Ausschnitt) © Sandra Kottonau

Delphine de Vigan «Dankbarkeiten», Dumont

Michka nimmt Wörter ernst. Dort, wo sie jetzt lebt, wohnen nicht Senioren, sondern Alte. «Man sagt ja auch «die Jungen», nicht «die Junioren.» Aber ausgerechnet ihr entfallen die Wörter. Ihr, die ein Leben lang fürs Wort lebte, Korrektorin eines grossen Magazins war. Sie sucht nach ihnen, leidet unter beginnender Aphasie.

Nach einer Lesung verriet Delphine de Vigan, dass sie die Absicht mit sich herumtrage, eine Trilogie zu schreiben. Nach «Loyalitäten» 2018 nun «Dankbarkeiten». Wie schon bei Loyalitäten kein Zufall, dass die Autorin den Begriff, den Titel im Plural verwendet. Es geht nicht um das Allgemeine, sondern um das Vielschichtige, darum, dass es bei «Dankbarkeiten» um ein Lebensgefühl geht, um das Bewusstsein, dass ein Leben immer von anderen abhängig ist und sein wird. Dass es Versäumnisse geben kann, die unkorrigierbar bleiben. Dass Dankbarkeit auch eine Sache der Lebensordnung sein kann, dass sich Situationen dorthin drehen, wo sie hingehören und nicht von einer fauligen Schicht aus Schuld und schlechtem Gewissen zugedeckt werden.

editions JC Lattès

So wie im Leben der alt gewordenen Michka, die als Kind einst von einer Familie aufgenommen wurde, die in den Wirren des tobenden Krieges von ihrer flüchtenden Mutter verlassen werden musste und als Jüdin nie mehr zurückkehrte. Michka lebte dort ein paar Jahre, wie vom Zufall dorthin gespült, bis sie von einer Schwester ihrer Mutter geholt wurde und den Kontakt zu dem Ehepaar verlor, das sie vor der Verschleppung bewahrte.

So wie im Leben der beiden BesucherInnen, die Michka geblieben sind; Marie, die schon in der Wohnung für sie sorgte und Jérôme, der Michka als Logopäde zweimal pro Woche besucht. Michka war für Marie wie eine Mutter, weil ihre eigene Mutter kaum da war, weil ihr das Nest fehlte, die Sicherheit, ein Zuhause. Und von Jérôme erfährt Michka in ihrer direkten, unverblümten Art, dass dieser seinen Kontakt zu seinem Vater längst resigniert und tief verletzt abgebrochen hat.

Die Stärken des Romans liegen in der Offenheit des Dreigespanns. Delphine de Vigan erzählt aus der Sicht der alten Frau Michka, die nicht nur vom Vergessen geplagt wird, sondern von zunehmender Angst, realer Angst, alles immer mehr im Vergessen zu verlieren und der Angst, die sich in Träumen, Alpträumen wie Gewitterstürme über ihr zusammenziehen. Und sie erzählt von den Besuchen von Marie und Jérôme, wie sehr die beiden vom langsamen Untergehen der alten Frau betroffen werden. Weil Michka nicht einfach verstummt, sondern sich bis zu ihrem letzten klaren Gedanken, auch wenn dieser immer schwerer zu formulieren ist, um das Leben anderer bemüht. Der Roman überzeugt, weil vieles nur angedeutet ist und meiner Lesart überlassen wird. Delphine de Vigan erzeugt ein Gefühl, zugegeben hart an den Grenzen zur Sentimentalität, ein Gefühl, es nicht versäumen zu wollen. Die Momente, die einem durch Krankheit, das Sterben und den Tod genommen werden können. Momente der Aus- und Versöhnung. Versäumnisse, die den inneren Frieden unmöglich machen.

Und die Kraft der Sprache. Was einem genommen wird, wenn man sie Wort für Wort verliert. Michka vergisst nicht einfach. Die Wörter verschwinden, während sich der Schmerz über dieses Verschwinden wie ein schweres, nasses Tuch über das Leben der alt gewordenen Frau gelegt hat. Auch wenn Michka Sätze spricht, die unfreiwilligen Witz entfalten, hängt über jedem dieser Sätze die Verzweiflung.

„Dankbarkeiten“ ist ein einfühlsames Buch über das Altwerden, jenen letzten Teil des Lebens, über dem sich die Endgültigkeit über alles ausbreitet. Ein Roman getragen von Empathie und dem Bewusstsein, dass es letztlich für nichts zu spät ist, schon gar nicht für die Hoffnung.

© Delphine Jouandeau

Delphine de Vigan, geboren 1966, erreichte ihren endgültigen Durchbruch als Schriftstellerin mit dem Roman «No & ich» (2007), für den sie mit dem Prix des Libraires und dem Prix Rotary International 2008 ausgezeichnet wurde. Ihr Roman «Nach einer wahren Geschichte» (2016) stand wochenlang auf der Bestsellerliste in Frankreich und erhielt 2015 den Prix Renaudot. Bei DuMont erschien ausserdem 2017 ihr Debütroman «Tage ohne Hunger» und 2018 der Roman «Loyalitäten». Die Autorin lebt mit ihren Kindern in Paris.

Rezension «Loyalitäten» auf literaturblatt.ch

Rezension «Nach einer wahren Geschichte» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Tim Krohn «Und was erzählt Ihr Parfüm?», eine Versuchsanordnung

Die Versuchsanordnung: Tim Krohn trägt ein Parfüm auf den Duftträger auf und riecht ihn viermal: sofort, nach einer Stunde, nach drei und acht Stunden (durchgeführt an den Solothurner Literaturtagen 2019). Jedesmal notiert er ganz ungefiltert, welche Bilder der Duft bei ihm auslösen. Daraus komponiert er anschliessend die “Geschichte des Parfüms”. (Stand 2. Juni 2019)

Die Düfte der DuftBar

© Julia Schöni

Azur
(Andreas Wilhelm)

Morgens um acht aus dem Haus auf die Veranda zu treten und barfuss durch den Garten zu gehen, der mehr Wiese als Garten war, entzückte Monica Settembrini jedesmal von neuem. Sie fühlte das noch taufeuchte Gras, stützte sie sich kurz auf den von Wind und Wetter ausgewaschenen Gartenzaun und genoss den melancholischen Anblick der Weisswäsche. Ihr Nachbar, ein pensionierter höherer Beamter namens Hämmerli, hatte sie tags zuvor wieder einmal auf der Leine vergessen, so dass der Nachtwind sie in komplizierten Mustern zusammengepappt, gefaltet, in sich verklebt hatte. Ihr Bonbon lutschend – seit sie das Rauchen aufgegeben hatte, begann sie den Tag stets mit einem Bonbon –, schlenderte sie weiter in die Garage, nur um sich kurz in die roten Polster eines fahruntauglichen Lamborghini Cabrio zu setzen, den sie zusammen mit dem Haus übernommen hatte. Wenn das Bonbon sich in Wohlgefallen aufgelöst hatte, lutschte sie an ihrer Perlenkette.
Ihre nächste Etappe war das kleine tropische Gewächshaus, das sie nur betrat, um die Tonanlage einzustellen, die Affengeschrei hören liess und die Pflanzen zu Wachstum animieren sollte.
Manchmal begegnete sie auf dem Weg zurück ins Haus dem alten Gärtner, der ihr die Bäume schnitt, und fast immer hatte er beide Arme voll, entweder mit Werkzeug oder mit Zweigen. Jedenfalls konnte sie sich nicht erinnern, ihm jemals die Hand geschüttelt zu haben, sondern immer nur das Handgelenk, und jedesmal überraschte sie, wie kühl es war und wie zart seine Haut: Sie erinnerte an Birkenrinde, und einmal konnte Monica nicht widerstehen, sich kurz an ihn zu lehnen, wie man sich an einen Baumstamm lehnt, ganz voller Vertrauen in seine Stärke. Der Gärtner stolperte und fiel hin, mit all seinen Werkzeugen im Arm, und blieb benommen liegen. Monica hatte schon ihren chinesischen Fächer gezückt, um ihm Sauerstoff zuzufächeln – wie unsinnig, draussen in der klaren Morgenluft! –, als er zu lachen begann und etwas zu ihr sagte, das durchaus bedeutungsvoll klang. In der Aufregung hatte nicht zugehört, trotzdem, irgendwie mechanisch, lächelnd genickt, und deshalb getraute sie sich danach nicht nachzufragen. Das Bedauern darüber beschattete seither ihre Begegnungen.

Blask

© Matthias Holm

(Christophe Laudamiel)

Ben hatte zu schnell „nein“ gesagt (er war sechzehn, ein wandelndes Bündel Unsicherheiten und sagte vorsichtshalber immer erst mal „nein“). Nun bereute er es bitter, denn alle fünf Frauen und Mädchen der Gutsfamilie waren mit geschürzten Röcken oder hochgekrempelten Jeans – die mollige Doris sogar nur im Slip – damit beschäftigt, in einem grossen Zuber Trauben zu stampfen, und er war nicht dabei.
Ben Peter Harris (in anderem Zusammenhängen Benjamin P. Harris Junior) kam aus den vereinigten Staaten, aus Macon, Arkansas, um genau zu sein, einem Städtchen in den Südstaaten also, dass von der nahen Luftwaffenbasis Little Rock lebte. Er hatte die Reise nach Europa an einem Schulwettbewerb gewonnen, für vier Monate durfte er als Austauschschüler ins burgundische Mâcon reisen. „Was für ein Kaff“, hatte er gedacht, als er feststellte, dass in Mâcon noch weniger Menschen lebten als in seinem erzlangweiligen Städtchen. Zu allem Überdruss sollte er auf einen Bauernhof ziehen – er, der in einem viktorianischen Holzhaus mit Säulen und einem englischem Rasen gross geworden war, der fast so kurz geschnitten war wie Bens Haar (denn Benjamin P. Harris Senior war Kommandant des Stützpunkts und legte Wert darauf, die Haarlänge seiner Söhne wöchentlich mit einem dafür entwickelten Massstab zu kontrollieren). Doch die Auszeichnung war eine Ehre und musste angenommen werden. Nun war er seit vier Tagen da und mit der französischen Lebensart, wie er sich eingestehen musste, gänzlich überfordert.
„Ben, komm runter“, hatte Silvie an diesem erstaunlich schwülen Septembermorgen vom Vorplatz her gerufen, „heute ist Erntefest!“
Er hatte an Thanksgiving gedacht, an seine Mutter, die den ganzen Tag in der Schürze zwischen Küche und Esszimmer hin und her rannte, an den zähen Truthahn, die Dekoration aus Kürbis, Strohgebinden und buntem Laub aus Plastik, an die geladenen Gäste in Uniform und Zweireiher und die unvermeidliche Rede seines Vaters, die jedes Jahr, seit die Demokraten an der Macht waren, gehässiger wurde. „Nein, danke“, rief er, „da lerne ich lieber.“ Denn er hatte feststellen müssen, dass er in jedem Fach hinterherhinkte.
Silvie hatte leider nicht insistiert, denn eben kamen ihre beiden Tanten an. Charlotte war eher unscheinbar, doch auch nicht übel, grosse Brüste, Anfang zwanzig. Die andere aber, Marie, eine Französischlehrerin, wie er später erfuhr, war in Worten nicht mehr zu beschreiben, lang, schlank, dunkelhaarig, klar, entschieden, keinerlei Getue, wie er es von den amerikanischen Frauen kannte, auch kein Gequäke. Im Gegenteil, sie hatte eine tiefe, warme Stimme, die alles in ihm aufrüttelte, einen – wie er später feststellen sollte – wunderbar lakonischen Humor (den er leider oft nicht begriff) und über all dem eine Wesensart, die jede ihrer Bewegungen zu einem Ereignis machte.

© Lea Frei

Ben beobachtete vom Fenster seines kleinen Mansardenzimmer aus, wie die Frauen sich begrüssten, scherzten und darauf warteten, dass die Männer die ersten Trauben in den Bottich leerten. Der stand in der Scheune, die Scheune wiederum war ans Wohnhaus angebaut. Also schlich Ben sich, sobald sie hineingegangen waren, auf den Estrich – es war ein schlimmes Gefühl, in Socken (denn trotz der Hitze weigerte er sich, barfuss zu gehen) über das unbehandelte Holz zu gehen, das tausend kleine Splisse und Risse hatte, an denen er mit jedem Schritt wie kleben blieb. Den Estrich hatte Silvie ihm am ersten Tag gezeigt, er roch nach jahrhundertealtem Staub und war praktisch leergeräumt, neben einigen hölzernen Gerätschaften, deren Zweck er nicht kannte, sah er nur eine Bananenschachtel mit Fotoalben, ein Goldfischglas mit einem aufgerissenen Tütchen Enzianbonbons darin und ein besticktes Geschirrtuch, auf dem stand: Beurre et pain font joli teint. Durch die Lücken im Riemenboden beobachtete er die Frauen und wunderte sich über so viel Unbefangenheit.
Erst zum Abendessen – und nachdem er sich zweimal von Silvie hatte rufen lassen) – wagte er sich unter die Menschen und murmelte etwas von „schrecklich viel zu büffeln.“ Doch Marie (er hatte nur Augen für Marie) sah keinen Augenblick lang aus, als kaufe sie ihm das ab. Stattdessen lag, wann immer sie ihn ansah (und das tat sie öfters, während sie jemand anderem lauschte), etwas Amüsiertes in ihrem Blick, das Ben unmöglich deuten konnte. Auf seiner Stirn wiederum stand den ganzen Abend über nur der eine Satz geschrieben: „Bitte berühren Sie mich!“ (Denn tatsächlich siezte er Marie, was sie zusätzlich amüsierte.)
Auch wenn Ben nicht begriff, wie er sich in dieser Runde zu benehmen hatte, fühlte er sich – wie er irgendwann erkannte, in einer der Phasen, in denen sich alles um Themen drehte, für die ihm das Vokabular fehlte, und niemand sich mehr die Mühe nahm, ihm zu übersetzen – hier doch weniger einsam als in seinem Elternhaus, in dem vor lauter Prinzipientreue (oder Prinzipienreiterei – wo, fragte er sich, war da die Grenze?) das Flüchtige, Flapsige, Freche und Freie des Menschen verloren ging. So dachte er tatsächlich, denn er war in jenem Alter, in dem man grosse Gedanken liebt. Und er ging noch weiter: Er beschloss, seine Erkenntnis zum Ausgangspunkt des Berichts zu machen, den zu verfassen und bei seiner Heimkehr der Schulleitung vorzulegen er sich verpflichtet hatte.
Gern hätte er Marie von seinen Gedanken erzählt, doch sie sprach ihn lange Zeit nicht an, und als sie es ganz überraschend tat, hatte er sich gerade an einen Film im Internet erinnert, in dem auch eine Französischlehrerin vorkam, dargestellt von einer gewissen Trudy Bitch, die für eine Wohltätigkeitsorganisation von Haus zu Haus ging und Tombolalose verkaufte; zog jemand das richtige Los, durfte er sie auf der Stelle vögeln (und es gab erstaunlich viele solcher Lose). So konnte er nur stottern und hatte Marie so gar nichts Substantielles zu entgegnen.
„Sixteen, what a shitty age, istn’t it?“, sagte sie darauf (vermutlich wollte sie ihn trösten, doch ihm war, als habe sie ihm die Brust durchbohrt), und bald darauf stand sie schon auf. In ihrem kleinen Renault fuhr sie durch die sternenklare Nacht heim in ein Dörfchen namens Digoin, in dem sie, wie er hörte, mit Mann und Kindern lebte. Zum Abschied gab sie allen Küsschen, nur Ben drückte sie kameradschaftlich die Hand (vermutlich hatte sie auch hier nur Rücksicht zeigen wollen).
Der Polstersessel aus abgewetztem Cordsamt, in dem sie vor dem Abendbrot gessessen und ihren Kir getrunken hatte, roch aber noch einige Tage nach ihr, und Ben sass oft darin, wenn ihm – in Socken und mit langen Jeans – zu heiss war, um sich zu seiner Gastfamilie nach draussen zu setzen.

© Eva Meister

Eau radieuse
(Christophe Laudamiel)

Sein erstes erotisches Erlebnis hatte Samuel Ox – den seine Kameraden „Muh“ nannten – mit dreizehn Jahren im Garten seiner Tante Gudrun. Sie hatte sich auf dem letzten Glatteis des Winters den Fuss gebrochen und lag seither im Krankenhaus, denn der Bruch war komplizierter. Damit das Grundstück „im Schuss blieb“, zahlte sie für gewisse Dienste fünf Mark die Stunde. Der Frühling war in diesem Jahr schnell und heftig ausgebrochen, schon Anfang April stand das Gras knöchelhoch. Das sollte Samuel schneiden.
Am Ostermontagmorgen fuhr er mit dem Bähnchen hin, das die Dörfer des Tals verband, und lief vom Bahnhof den Kanal hoch bis zu Tante Gudruns Haus. Dort war schon ein Mädchen an der Arbeit, das er nicht kannte. Es hiess Helga oder Hella, er hatte nicht genau verstanden, denn das Mädchen sprach schneller als die Leute im Tal, und er getraute sich nicht nachzufragen. Jedenfalls war Hella oder Helga – er entschied sich irgendwann für „Helga“, hütete sich aber den ganzen Tag über, sie mit Namen anzusprechen – zu Besuch bei Verwandten, die wiederum Tante Gundruns Nachbarn waren und im Haus nach dem Rechten sahen, und so war sie beauftragt worden, den Gartenzaun zu streichen. Helga war blond, sie hatte einen verstrubbelten Pagenkopf, der aussah, als hätte sie die Haare selbst geschnitten, trug Latzhosen und schob sich alle paar Minuten einen neuen Kaugummi in den Mund, Wrigleys Spearmint, ohne die alten auszuspucken – das machte das Verständnis nicht leichter. Sie war dreizehn wie er. So hatte sie das Gespräch am Gartenzaun eröffnet: „Ich bin dreizehn“, sagte sie, noch ehe sie sich vorstellte, „und du?“ Und wie die meisten gleichaltrigen Mädchen schüchterte sie Samuel ein.
Tante Gudrun hatte noch einen dieser altmodischen Rasenmäher, die mit Muskelkraft betrieben wurden, das Messer war durch eine Übersetzung mit den Rädern verbunden, und am besten liess sich damit mähen, wenn man mit Schwung über den Rasen rannte. Samuel machte gehörigen Krach, das geschnittene Gras flog hoch. „Kleb mir bitte das Gras nicht in die Farbe“, rief Helga, als er beim Wenden kurz den Griff losliess und sich den Schweiss abwischte. Er murmelte etwas Unbestimmtes, das ebenso als Entschuldigung wie als Verteidigung herhalten konnte, dann pulte er ein paar Grasschnipsel von einer frisch gestrichenen Latte und fragte: „Was ist denn das für eine Farbe?“
„Ölfarbe“, antwortete Helga.
Samuel schüttelte den Kopf. „Ich meine, das ist doch kein Weiss. Oder Grün, oder Braun. Das ist doch keine Farbe für einen Zaun.“
„Das ist Milchblau“, sagte Helga. „Gefällt es dir nicht?“
Samuel zuckte mit den Achseln, obwohl ihm die Farbe sogar sehr gefiel. „Milch ist doch nicht blau“, sagte er. „Milch ist weiss.“
„Dünne Milch schon“, antwortete sie. „Jedenfalls heisst diese Farbe hier Milchblau.“
„Du hast dich beschmiert“, stellte er fest, als ihm keine Antwort einfiel.
„Und wenn schon“, sagte sie leichthin, „das ist normal, wenn man einen Zaun streicht.“ Zum Beweis drückte sie den Arm gegen die Latten und zeigte ihm den Abdruck auf der nackten Haut, dann beugte sie sich vor und pinselte die Stelle am Holz wieder über, denn wo sie es berührt hatte, war es matt geworden. „Du hast noch eine ganze Menge zu mähen“, bemerkte sie.
„Wetten, ich bin eher fertig als du?“, rief er, doch Helga hob nur die Schultern und meinte: „Ist mir wurscht, Samuel. Ich will dreissig Mark verdienen, also male ich bis vier Uhr. Bis viertel nach, eine Viertelstunde lang mache ich Pause.“
Samuel schämte sich etwas, dass er nicht so vernünftig gedacht hatte. Nachdem er sich wieder an die Arbeit gemacht hatte, schob er den Rasenmäher etwas gemächlicher, so flogen auch die Grasschnipsel weniger weit. Aber der feuchte Abschnitt verklebte die Sohlen seiner Turnschuhe, und als er eine Bahn gerecht hatte und den vollen Korb zum Kompost tragen wollte, glitt er auf den Stufen zum Gemüsegarten aus und schlug hin. Er fluchte und verbiss sich knapp die Tränen.
„Weh getan?“, rief Helga vom Zaun her.
„I wo, aber es blutet“, sagte er. „Das Knie.“
„Kleb ein Sauerampferblatt mit Spucke drauf, das hilft“, riet sie ihm.
Samuel wusste nicht, wie Sauerampfer aussah und ob im Garten welcher wuchs, und Helga dachte nicht daran, ihm zu helfen. Also humpelte er in die Küche, tupfte die Wunde mit Küchenkrepp ab (er hatte nur die Haut leicht aufgeschürft), in Tante Gudruns Bad durchsuchte er die Schränke, bis er ein Pflaster fand, dann sammelte er notdürftig den Grasmatsch, den er eingeschleppt hatte, von den Teppichen.
Inzwischen war auch Helga ins Haus gekommen. „Ich mache mir ein Rundstück“, rief sie aus der Küche, „isst du mit?“ Was sie „Rundstück“ nannte, war eine Käsestulle, die assen sie mit Joghurt, sie sass auf dem Küchentisch und liess die Beine baumeln. Er lehnte an der Anrichte und untersuchte mehrmals sein Pflaster, um zu sehen, ob es durchblutete. Sie sprachen nicht viel, denn Samuel war noch nie mit einem Mädchen seines Alters allein gewesen und konnte nur immer denken, dass er sie jetzt eigentlich küssen müsste – ganz besonders, nachdem er zugesehen hatte, wie sie den Joghurtlöffel ableckte. Sie ihrerseits beachtete ihn nicht gross, lieber studierte sie den Abdruck ihrer Zähne in der Stulle und im Joghurt die Aprikosenfasern, und manchmal fuhr sie sich durchs Haar, das so wirr war – oder so verklebt von Farbe, oder beides –, dass sie kaum mit den Fingern durchkam und immer wieder richtig reissen musste. „Aua“, sagte sie dann jeweils, kniff die Augen und rümpfte die Nase, aber sie lachte dazu. Sie war bestimmt überhaupt tapferer als er.
Nach einer Viertelstunde sah sie auf die Uhr, schrieb auf einen Zettel, den sie ihr „Logbuch“ nannte, von wann bis wann sie Pause gemacht hatte, beschwerte den Zettel mit einem Aschbecher und machte sich wieder an die Arbeit. Samuel musste erst noch aufessen, er beroch den Zettel und küsste ihn (danach klebte etwas Joghurt daran), dann ging auch er zurück in den Garten, er humpelte kaum noch.

© Mirta Lepori

Die Sonne berührte die Spitzen der Haselhecke entlang dem Kanal, als er rings ums Haus gemäht hatte, alles Gras gerecht und die Geräte versorgt. Helga entdeckte er schliesslich hinter dem Haus auf dem Treppchen, das zur Küchenlaube führte. Dort wärmte die Sonne noch. Sie roch an einer Orange, dann klebte sie den Kaugummi hinters Ohr, biss die Schale auf und schälte sie. „Der Samuel“, sagte sie, als sie ihn sah, in sonderbar verträumtem Tonfall, „auch schon fertig?“ Er schob die Hände in die hinteren Hosentaschen und stellte sich vor sie, um sich irgendwie zu verabschieden oder sie doch noch zu küssen oder – idealerweise – sich von ihr sagen zu lassen, wie toll er sei und wie sie ihr Leben lang auf ihn gewartet habe und wie unbedingt sie ihn heiraten wolle, so wie er sich das den ganzen Nachmittag über ausgemalt hatte. Stattdessen bot sie ihm von ihrer Orange an, aus lauter Verlegenheit lehnte er ab und bereute es, als er sah, wie sie herzhaft in eine der Hälften biss und der Saft ihr über Kinn und Hände rann. „Im April so saftige Apfelsinen“, sagte sie. „das gibt’s nur in Sizilien. Ich kenne sogar den Baum, auf dem sie gewachsen ist, jedenfalls gibt es Fotos von mir und dem Baum. Mein Papa arbeitet mit einem Sizilianer, und wir waren mal dort. Magst du echt nicht?“
Samuel schüttelte den Kopf, obwohl er natürlich wollte, und plötzlich dachte er, dass er womöglich unhöflich war, daher kramte er ein paar Ostereier hervor, die er am Morgen in die Hosentasche gesteckt hatte. Sie waren inzwischen nicht mehr wirklich Eier. „Willst du?“, fragte er trotzdem.
„Danke, ich mag Schokolade nicht besonders“, sagte sie und schob den Kaugummi wieder in den Mund. Samuel war noch damit beschäftigt, die Alufolie aufzupulen und mit den Zähnen die Pampe abzuschaben, als Helga aufstand, die Hände am Hosenlatz abwischte und ihm die rechte hinhielt. Hastig leckte er die Finger ab und rieb sie am Hemdsaum trocken, dann schlug er möglichst männlich ein.
„Es war nett, dich kennenzulernen“, sagte sie und klang plötzlich sehr erwachsen. „Und grüss deine Tante, wenn sie aus dem Krankenhaus kommt. Ich bin dann schon wieder in Hamburg.“ Er hatte die Schokolade noch nicht von den Zähnen gelutscht, um den Mund aufzumachen, da war sie schon über den Zaun gestiegen – es gelang ihr tatsächlich, ohne ihn zu berühren – und hinter dem leuchtend gelben, wild wuchernden Forsythiendickicht verschwunden, das das Nachbarshaus verdeckte.
Samuel Ox träumte über ein Jahr lang jede Nacht von ihr, im Schlafen und im Wachen. Er wagte nie, nach ihr zu fragen, doch selbst als Erwachsener wurde er noch rot, wenn er den Namen Hella oder Helga hörte.

© Julia Trachsel

«Wenn Düfte erzählen: Geschichten gehen durch die Nase» (When Fragrances Tell: Olfactory Storytelling) is part of the project «Smelling more, smelling differently: Scent as Cultural Practice» conducted by Bern University of Applied Sciences and funded by the Swiss National Science Foundatio

Dazu gibt es auch ein Filmchen: https://www.youtube.com/watch?v=xCfrInadAW4

© Susanne Schleyer

Tim Krohn ist 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich, in einer sehr liebenswerten Genossenschaft. Inzwischen lebt er der Schriftstellerin Micha Friemel und seinen Kindern in Santa Maria Val Müstair. Er ist freier Schriftsteller. Er schrieb unter anderem die Romane „Quatemberkinder“ (1998), „Irinas Buch der leichtfertigen Liebe“ (2000), „Vrenelis Gärtli“ (2007) und „Ans Meer“ (2009), die Erzählbände „Aus dem Leben einer Matratze bester Machart“ (2014) und „Nachts in Vals“ (2015) sowie zahlreiche Theaterstücke, so auch die Vorlage zum „Einsiedler Welttheater 2013“. Zuletzt erschienen die Alpensage „Der See der Seelen“ und der Krimi „Endstation Engadin“ (beide im Kampa Verlag). Er gewann unter anderem das Berliner Open Mike, den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung und den Kulturpreis des Kantons Glarus.

Maj Doerig, Lea Frei, Matthias Holm, Mirta Lepori, Eva Meister, Julia Schoeni und Julia Trachsel sind StudentInnen Illustration Fiction an der Hochschule Luzern.

Beitragsbild © Maj Doerig und Lea Frei

Andreas Neeser «Wie wir gehen», Haymon

Monas Vater hat Krebs. Die Nähe zu ihrem Vater, die ihr ein Leben lang verwehrt blieb, gelingt ihr auch jetzt nicht herzustellen. Die Nähe zu all jenen, die ihr nahe stehen sollten; zu ihrer bald erwachsenen Tochter Noëlle, ihrem verloren gegangener Mann, ihrer Aufgabe in ihrem Beruf. Was zwischen Mona und ihrem Vater steht, sind all die Geschichten davor, das Gift in den Generationen und die Unfähigkeit, Worte dafür zu finden.

Es gibt Momente, die alles in Frage stellen, die einem aus der gewohnten Sicherheit kippen. Monas Vater droht zu sterben. Und mit ihm all die Geschichten, von denen sie weiss oder ahnt oder auch keine Ahnung hat. Die Geschichten, die aus ihrem Vater jenen Johannes machten, den sie als Vater zu lieben versucht. Und zwar nicht einfach, weil er ihr Vater ist. Sie möchte ihn lieben wie damals als Kind, uneingeschränkt. Mit dem Tod eines nahen Menschen sterben Geschichten, das Verstehen, all die Leben dahinter, die mit jeder Generation zurück im Nebel des Vergessens entschwinden.

Mona drückt ihrem Vater ein Diktiergerät in die Hand und fordert ihn auf zu erzählen. All das, was über die Jahrzehnte ins Schweigen fiel, was vielleicht verständlich gemacht hätte. So wie jedem Konjunktiv ein scheinbares Versäumnis vorangeht.

Andreas Neeser erzählt die Geschichte von Johannes, erzählt das, was viele mitnehmen, wenn sie gehen, sei es eine Scheidung oder der Tod. Erzählt von einem Leben als ungeliebter Sohn, verdingt an den reichen Onkel, der auf der anderen Talseite den grossen Hof bewirtschaftet. Von der Armut, die wie eine unheilbare Krankheit an der Familie klebt, sie nicht aus dem Würgegriff lässt. Wie Johannes, obwohl man ihn als Arbeitskraft schätzt, überzählig bleibt, keinen Platz findet, schon gar keine Liebe, auch dort nicht, wo sein Zuhause sein müsste.

Trotz Tuberkulose findet Johannes den Tritt, davon überzeugt, dass das Leben ein steter Kampf, niemandem zu trauen ist. Er findet Arbeit in der Fremde, bei den Bauarbeiten zum Grand-Dixance-Staudamm, wird Schweisser. Aber erneut von der Tuberkulose zurückgeworfen, schrammt er nur ganz knapp am Tod vorbei. Was Johannes in seiner Familie nie erfährt, vermag er auch in seiner Familie den Kindern nicht zu schenken, Mona, seiner Tochter nicht und schon  gar nicht Martin, seinem tot zur Welt gekommenen Sohn, der für die Eltern zum Trauma wird, das alles überschattet.

Andreas Neeser erzählt von Noëlle, Monas Tochter, die miterleben muss, wie die Ehe ihrer Eltern zerbricht, wie Noëlles Vater nach einem Raubüberfall in sein Goldschmiedeatelier den Boden unter den Füssen verliert, nicht nur wirtschaftlich. Wie Mona zur Projektionsfläche wird, es niemandem Recht zu machen versteht, nicht ihrem Vater, der ihr zu entgleiten droht, nicht ihrer Tochter, die nicht verstehen will und kann, nicht den Menschen, die sie beruflich zu betreuen hat, die einer Heimat entflohen, viel weiter als Mona, die die ihre in Sichtweite zu verlieren fürchtet.

Wie nahe kommt man den Nächsten? Wie zu einem Vater, zu einer Mutter? Braucht es Krankheit und Tod, um jene Nähe zurückzugewinnen, die man ein Leben lang Stück für Stück verliert? Wie gross muss der Schmerz sein, bis die Wunde aufreisst? Wie viel Leben versäumt man, wenn man den tiefen Schmerz in seinem Leben unausgesprochen mit sich herumschleppt? Väter und Mütter sind nie weg, nicht wenn sie sich für immer verabschieden, nicht wenn sie verschwinden, nicht wenn sie sterben. Mona verliert ihren Vater, genauso wie Noëlle den ihren. Aber Väter bleiben. Fragt sich nur wie.

Andreas Neeser erzählt in seiner gewohnt gekonnten Art, webt ein dichtes Netz, öffnet Türen, die er manchmal nur einen Spalt offen lässt, lotet nicht aus, tut genau das, was das Leben auch macht. Er erklärt nicht, öffnet sacht, manchmal nur unvollständig, bewusst lückenhaft. Andreas Neeser erzählt von Familie, diesem zarten Gefüge, das lebenslangen Schmerz und tiefsitzende Verletzung bedeuten kann.

Fast zeitgleich erscheint Andreas Neeser erster Mundartroman «Alpefisch». Nach mehreren Sammlungen mit Kurzprosa, die unter den Titeln «No alles gleich wie morn» (2009), «S wird nüme, wies nie gsii isch» (2014) und «Nüüt und anders Züüg» (2017) sein erster buchfüllender Mundartroman wieder bei Zytglogge.

© Ayse Yavas

Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. Seit 2012 lebt er als Schriftsteller in Suhr. Für sein formal und inhaltlich vielfältiges Werk wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen bedacht.
Mitglied von Autor/innen der Schweiz (AdS), Deutschschweizerisches PEN-Zentrum und VAA. Mitglied der Jury für den Franz-Tumler-Preis.

Kurzgeschichte «Mücken» von Andreas Neeser auf der Plattform Gegenzauber

Rezension von «Nüüt und anders Züüg» auf literaturblatt.ch

Andreas Neeser liest am Literaturfestival Wortlaut St. Gallen sowohl aus seinem Roman «Wie wir gehen» wie auch aus seinem Mundartroman «Alpefisch».

Webseite des Autors

Beitragsbild © Lea Frei

Lea Le «Emma und ihre Tochter», Plattform Gegenzauber

Nele liebt ihre Mutter. Emma liebt ihre Tochter. Manchmal wie eine Mutter, manchmal ganz anders.
Emma findet ihre Tochter anziehend. Schon als sie kaum grösser war als eine Mandel. Obwohl sie sie nie gesehen hatte. Und wenn, dann hätte sie nur in ein unvollständig entwickeltes Gesicht blicken können. Sie war schwanger und alleine. Alleine mit ihrem Kind. Umgab es körperlich wie auch im Gedanken fest und warm. Hätte Emma ihr Befinden zu dieser Zeit schon zu formulieren versucht, wäre es ihr nicht möglich gewesen. Sie empfand in Zuständen, mit allen Sinnen. Deuten konnte sie das damals nicht. Es waren kleine, kurze Höhepunkte, wie die Empfindung großen Glücks, das einen aufschrecken lässt.
Sie genoss, dass etwas in ihr wuchs. Es fühlte sich wie ihr eigenes an. Ein Kind, flüsterte sie im Gedanken und dachte dabei nicht nur an eine neue Freude in ihrem Leben. Sie dachte dabei an einen neuen Sinn. Eine Unterhaltung, eine Aufgabe, an Befriedigung und an Glück. Sie bebilderte die Gedanken in ihrem Kopf. Spielen würde sie mit ihr. Sie morgens und abends mit Öl einreiben. Überall. Emma runzelte die Stirn. Wieso schwoll ihre Vulva warm an? Sie eilte in die Küche, machte sich einen Tee. Verunsichert schob sie die Gedanken von sich. Kann nicht sein, dass mich diese Vorstellung eben erregt hat, oder? 
In solche gedanklichen Sackgassen geriet sie öfter. Emma beunruhigte das.

Nele war fünf Monate alt. Emma legte sie jeden Morgen auf den Wickeltisch. Sie ölte ihr nacktes Baby ein, strich ihr über die Glieder, streckte ihren Rücken. Sie wagte es nicht mehr, ihrem Kind zwischen die Beine zu sehen. Die Zehen. Zu abnormal schienen ihr ihre Gedanken. Die Fingerchen. Emma hatte Angst. Sie hoffte, diese Lust würde verschwinden. Die Öhrchen. Woher kamen nur diese unnatürlichen Bedürfnisse! Die Kraft wich aus ihr. Ihre Knie beugten sich, trafen aufeinander. Sitzen. Toilette. Auszeit. 
Fast jeden Morgen musste Emma Pausen einlegen. Tränen unterdrücken. All das, was sie ihrem Kind schon angetan hatte! Es darf nie wieder geschehen. Sie bereute es zutiefst. Es ist mein Kind! Ein Kind! Ein Kind.

Nele war zwei Jahre alt. Sie spielte im Garten. An diesem Tag waren es Tierfigürchen aus Holz. Ein gelbes Sommerkleid. Emma beobachtete sie verliebt. Ihre Gedanken schweiften ab, hinterließen ein schlechtes Gewissen. Schuld. Dreck. Schmerz.
Ihr sehnlichster Wunsch war es, dass sie am nächsten Morgen ohne solche Gedanken aufwachen würde. Ihr Kind beschützen vor dem, was sie ihr in der Vergangenheit angetan hatte. Sie würde sich gerne bestrafen für diese schlimmen Dinge. Sie wollte damit aufhören müssen. Deswegen wurde sie stetig unvorsichtiger. Sie wollte gesehen werden. Erwischt werden. Demütigung erfahren. Es sollte ihr ausgetrieben werden, diese Gelüste und Taten.

Nele war drei Jahre alt. Sie sprach manchmal schon ganze Sätze. Zählen auf sieben. Aufs Töpfchen zeigen, Bescheid sagen, wenn sie etwas möchte. 
Eine Panik bedrängte Emma mehr und mehr. Ihr Kind formte sich zu einem Individuum, das selbst entscheiden konnte. Ein eigenständiger Mensch mit eigenen Bedürfnissen. Eigenen Interessen. Ein eigenes Universum. Emma kämpfte. Hielt immer länger stand. Die Übergriffe waren schnell und verkrampft. Voller Zwang. Voller Angst. Voller Ekel.

Nele war dreieinhalb Jahre alt. Sie erzählte ihrer Mutter, dass sie vor ein paar Tagen im Wald einen Igel aus einer Kastanie und zwei schwarzen Beeren gebastelt habe, als sie zu zweit spazieren gingen. Da wurde es Emma klar: Ihre Tochter war nun in der Lage, sich zu erinnern. Der Gedanke, sie könnte sich an die letzten Übergriffe erinnern … Emma ging auf die Toilette. Sie übergab sich. Sie übergab sich erneut. Dermaßen angewidert.
Diese Erkenntnis brachte Änderung.

Nele ist heute zwölf Jahre alt. Sie und ihre Mutter Emma liegen nebeneinander auf einem Strandtuch. Schulter an Schulter lesen sie getrennte Bücher. Jede in ihrem eigenen Universum. Emma schielt hin und wieder hinüber, wenn ihre Tochter die Seite umblättert. Den erhaschten Textfragmenten nach muss es sich um eine Liebestragödie handeln. Irgendwie berührt sie das außergewöhnlich stark. Sie senkt ihre Arme. Dort wo das Buch nun ihren Bauch berührt, genau dort schmerz es sie. Sie schließt die Augen, bewegt ihre Pupillen nach unten. Rot ist es. Unterdrückte Tränen.
Mein eigenes Kind. Ein Kind. Ein Kind. 
Nele legt ihr Buch zur Seite. Mama? Wieder ins kalte Nass? lacht sie. Mhm schluckt Emma. Nele schlüpft in den Schwimmreifen, blickt ihre Mutter fordernd an, wie es Kinder eben tun, dann laufen sie zusammen ins Meer. Das Wasser ist wärmer als sonst. Nach wenigen Metern springt Nele auf, klammert sich an die Arme ihrer Mutter. Eine Qualle! An Land! Schnell! 
Emma wird von ihrem Kind ans Ufer zurückgezerrt. Nele läuft lachend zum Strandtuch und beginnt weiterzulesen. Wie groß sie schon ist, denkt Emma noch immer im Wasser stehend. Tatsächlich, es schweben ungewöhnlich viele Dinge in den seichten Wellen, stellt sie fest. Quallen kann sie keine sehen. Sie schmunzelt. Der sonst so gut aufgeräumte und überwachte Strandteil ist heute wilder als üblich. Emma klammert sich an den Reifen, watet erneut ins Wasser. Sie weint. Vor Freude. Ihre Tochter interessiert sich für Liebe. Ihre Tochter will mit ihr auf demselben Strandtuch liegen. Und das Beste, es sind die Quallen, wovor sie Angst hat. Nicht vor ihr. Nicht vor der eigenen Mutter.

Emma läuft weiter. Bald hat sie keinen Boden mehr unter den Füssen. Der Blick zum Strand zurück fühlt sich fremd an. Er fühlt sich so unecht an wie der Blick durch eine Kamera. 
Ein hässlich großes Gebäude ragt weiß aus der Düne. Emma paddelt mit den Füssen. Trotz den heißen Temperaturen wirkt der weiße Beton kalt. Sie paddelt schneller. Sie hasst diese Glaskuppel auf dem Dach. Eine suggerierte Freiheit. Emma schlägt im Wasser um sich.
Dann, zwischen Schirmen und Sand erkennt sie einen weißen Kittel. Emma beginnt zum Ufer zurück zu schwimmen. Nele! Sie holen sie jetzt schon? Sie gräbt ihre Füße heftig in den nassen Boden, um voran zu kommen. Die weiße Person erreicht das Strandtuch. Das dumpfe Geräusch des aufgeschäumten Wassers, wenn ihre Oberschenkel die Wasseroberfläche brechen. Nele steht auf. Die Tasche gepackt. Emma umklammert den Ring mit dem rechten, hebt den linken Arm zum Gruß. Sie tropft. Bis, bis nächste Woche dann? 
Ihre Tochter umarmt sie. Ein ruhiger, zustimmender Blick. Dann die weiße Stimme. Ihre Medikamente, Frau Obers. Es ist 18 Uhr.

Lea Le (24) ist dabei, ihr Bachelorstudium an der Hochschule Luzern in Illustration abzuschliessen. Sie arbeitet leidenschaftlich an Comics, in denen sie sich mit Themen wie Beziehungen, deren Konsequenzen und zwischenmenschliche Kommunikation auseinandersetzt.

«Literatur am Tisch» mit Andreas Neeser und seinem neuen Roman «Wie wir gehen»

Am Mittwoch 4. März besucht Andreas Neeser mit seinem neuen Roman «Wie wir gehen» den Literaturport Amriswil. Wer das Buch bereits gelesen hat und mit dem Autor am Tisch über sein Schreiben, die Literatur und den Roman diskutieren möchte, ist herzlich an den Tisch eingeladen. Für Essen und Trinken ist gesorgt. Der Mindesteintritt ist 30 CHF. Eine Anmeldung unter info@literaturblatt.ch ist unbedingt erforderlich!

4. März, 20 Uhr, Maihaldenstrasse 11, «Literatur am Tisch»
mit Andreas Neeser

Mona steht mitten im Leben. Von Pierre hat sie sich getrennt, ihre Tochter Noëlle geht zunehmend eigene Wege. Ganz am Anfang hingegen ist die Beziehung zu ihrem Vater Johannes. Die beiden sind sich schon viel zu lange fremd – dabei geht sein Leben langsam dem Ende zu. Solange Zeit ist, will Mona mit ihrem Vater ins Gespräch kommen. Doch wie soll sie Zugang zu diesem spröden, gebrochenen Mann finden?
Sie bittet ihn, seine Geschichte auf ein Diktiergerät zu sprechen. Erzählerisch brillant spannt Neeser den weiten Bogen von Johannes’ Kindheit, in der
er als Verdingbub auf dem Bauernhof seines Onkels schuftet, bis in die Gegen- wart, in der sich ihm seine Tochter behutsam annähert: Welche Seele denkt und fühlt in diesem Menschen? Was für ein Leben hat ihn so werden lassen? Und wie wäre es möglich, einander doch noch lieben zu lernen? Andreas Neeser entwickelt einen feinsinnigen Familien- und Generationenroman: leise und voll poetischer Kraft.

«Literatur am Tisch» hat Tradition und ist ein Ereignis von besonderer Gute:

«Es war ein wunderbarer Abend mit wunderbaren Menschen und wunderbaren Gastgebern, und der Duende, dieser Geist, der dem Mark des Lebens die Bühne bereitet, legte sich auf die Runde und befeuerte die Energie des Erzählens, der Geschichten und des Redens über Geschichten, die den Menschen die Seele reinigen.
So war es, in Amriswil, am 29. Mai 2019, bei Irmgard und Gallus Frei-Tomic, deren Herzenskraft der Literatur den Rücken stärkt.» Patrick Tschan

«Ein Wunder, das sich Dank Gallus und Irmgard ereignet. Schön, mit Gallus einen Bruder im Geiste zu wissen, einen Verbündeten, der wie ich nicht leben kann und will ohne Bücher, ohne Geschichten, einen, der wie ich brennt für die Literatur. Danke, durfte ich Platz nehmen an besagter Tafel und meine Novelle zur Diskussion stellen.» Hansjörg Schertenleib

«Schön gibt es die Hauslesungen und «Literatur am Tisch» bei Irmgard und Gallus Frei-Tomic, wo man die Begegnung zwischen Leser/in und Autor bei bester Verköstigung üben und «likes» oder «unlikes» ausgiebig diskutieren darf. Ein grosses Dankeschön nach Amriswil. Weiter so!» Jens Steiner

«So eine Literatur am Tisch sollte es überall geben. Meiner Meinung nach schreiben viele Autor/innen genau für sie: Menschen, die sich vertieft und intensiv, mit viel Liebe und Neugier, mit Literatur auseinandersetzen.» Bettina Spoerri

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