In ihrem Roman «Jahrhundertsommer» zeichnet Alice Grünfelder das Schicksal einer Familie in einer Kleinstadt im östlichen Baden-Württemberg nach. Magda, die Hauptfigur, wird in den Nachkriegs-Wirtschaftswunderjahren von ihrem ‘Alten’ verlassen.
Die nicht einmal 40jährige Magda lebt als Geschiedene mit ihren zwei erwachsenen Kindern stigmatisiert und mittellos am Rande der Gesellschaft, und es braucht Snezana, die Arbeitskollegin in der Fabrik, die sie ermuntert, doch mal auf ein Fest mitzukommen. Hier lernt Magda einen in der Umgebung stationierten US-Army-Soldat kennen. Wir erleben die unbeschwertesten Momente im Buch – eine tiefe, heimlich gelebte Liebe und einen Jahrhundertsommer.
Kurz darauf wird John nach Vietnam versetzt, Magda bleibt schwanger mit Ellen in Murrheim zurück. Ursula, die dritte Figur, aus deren Perspektive die Geschichte erzählt wird und Tochter von Magda, findet trotz ihrer ehrenlosen Mutter einen eitlen spiessigen Bürolisten, der später sogar Bürgermeister wird, der ihr ein Kleinbürgeridyll – dank vieler Entbehrungen der Familie – als Hausfrau in der Neubausiedlung ermöglicht. Der Spiesser, der immer Dankbarkeit von Ursula verlangte, lässt sie eines Tages wegen einer anderen sitzen. Auch hier: eine Scheidung müsste man sich leisten können, weshalb Ursula ein sozialer Abstieg bevorsteht. Ursula sucht zudem die nächste toxische Abhängigkeit eines Mannes, weil sie an ihrer Mutter sieht, was einer Frau ohne Mann blüht. Die vierte Perspektive bringt Viktor in den Roman ein, Ursulas Sohn, der im Gegensatz zu seinem Namen ein Looser ist. Trotz der Schläge des Vaters schafft er knapp eine Elektrikerlehre, aber schon als Jugendlicher ist er vor allem ein dem Bier zugeneigtes Grossmaul, das er in den 300 Seiten von Alice Grünfelders Roman hektoliterweise in sich schüttet. Ellen, hofft man eine Zeitlang, könnte sich dem Sumpf, in den sie geboren wurde, entziehen. Sie schafft es bis nach Paris – kämpft sich hoch, studiert, findet einen interessanten Mann, aber auch sie scheitert schuldlos und muss nach Murrheim zurückkehren. Viktor entpuppt sich überraschenderweise als Kitt der Familie, und sorgt für Magda, Ursula und Ellen zwar für keinen weiteren Jahrhundertsommer, aber immerhin für ein «Zwischenhoch» (dessen abruptes Ende der Leser und die Leserin allerdings ahnen).

Alice Grünfelder hat einen lebensklugen Epochenroman geschrieben. Angesiedelt in der miefigen schwäbischen Provinz der späten 60 Jahre bis in die Zeit nach den Attentaten von 9/11 zeigt er, dass die deutsche Gesellschaft sich zwar verändert hat, aber keineswegs zum Besseren. Wie Magda wird Ellen, eine alleinstehende Frau mit einem nicht weissen Kind, nach ihrer Rückkehr ausgegrenzt: sie findet weder Arbeit, noch Anschluss. Etwas Farbe und Aufbruchstimmung bringen die Protestierenden gegen die Stationierung der Pershing II Raketen («Unser Mut wird langen, nicht nur in Mutlangen» skandieren sie) – aber als die Amis 1990 abziehen, verbiedern auch die Friedensbewegten.
Im Zentrum stehen die prekären sozialen und ökonomischen Verhältnisse der Protagonistinnen – ja, in diesem Roman geht es dauernd um Geld und Status, dem die Figuren nachjagen –; wer kein Kapital hat, weder monetäres noch soziales – wissen wir seit Bourdieu -, kommt auf keinen grünen Zweig. Bezeichnend ist, dass die Figuren nicht einmal merken, wie tief unten sie sind – etwa als Magda eine Anstellung in einer Gärtnerei kriegt und nicht merkt, dass auch sie eine ‘Klientin’ des Sozialprojekts ist. Aber Magda lässt sich nicht kleinkriegen. Das sieht man am besten in der grandiosen letzten Szene des Romans, die hier nicht verraten sei!
Romane, die sich dem Leben der Menschen der Unterschicht annehmen und dieses glaubhaft darstellen können, sind in der deutschen Literatur der Gegenwart selten. Alice Grünfelder schafft dieses Kunststück. Und sie weiss, wie man das macht, welche Détails wichtig sind, welche Bögen geschlagen werden müssen und wie man für überraschende Wendungen sorgt: sie ist eine geborene Erzählerin!
Alice Grünfelder, 1964 im Schwarzwald geboren, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte von 2001-2010 Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche, leitet Workshops rund ums Schreiben, Lektorieren und Übersetzen und ist als freie Lektorin tätig. Von Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taipei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, schreibt Essays, Erzählungen und Romane. Das Buch «Wolken über Taiwan» (2022) schaffte es auf die Hotlist der Unabhängigen Verlage.
Illustration © leale.ch


Selbst Mutter von zwei Kindern weiss sie sehr genau, wie sehr Tradition und Freiheit aneinander reissen.
„Die liegende Frau“ dreht sich um Romi, ihre Mutterschaft, ihre Beziehungen, ihre Familie, ihre Herkunft. „Die liegende Frau“ dreht sich aber auch um drei Freundinnen; Romi, Nora und Szibilla. Über Romis Lieben zu Phil und Dennis. Schon allein diese Aufzählung macht bewusst, in welch feingliedrigem Netz sich sich die Schriftstellerin bewegt.
Als ich vor vielen Jahren die Schriftstellerin und Dichterin zum ersten Mal traf und mit meinen Büchern nach der Lesung bei ihr zum Signieren hinstand, bestätigte sich, was zuerst bei der stillen Lektüre und dann in der ersten Begegnung mit der Künstlerin sicht- und spürbar wurde; jene Liebenswürdigkeit, jene Sorgfalt, jene Empathie, die die Künstlerin ihrem Gegenüber zeigt, sei das nun in ihren Büchern, oder in den Begegnungen über die Bücher hinaus.








Jochen Kelters Lyrik ist alles andere als verklärt und weltentrückt, sondern kämpferisch, manchmal scharf, sonnenklar und ganz und gar nicht altersmilde. Jochen Kelter ist kein Mann der leisen Töne, auch wenn in diesem Band Gedichte zu finden sind, die wie zarte Lieder einen liebenden Blick verraten. Gedichte, die man am liebsten mit Farben an die Wand schreiben würde, um sie beim Aufstehen in einen neuen Tag als erstes zu lesen. Gedichte, die mich beflügeln!
Jochen Kelter sieht keinen Frieden, wo sich das Grauen offenbart, sei es im Klaren oder im Verborgenen, im Kleinen oder im Grossen. Und doch geht es dem Dichter nicht darum, seinen Weltschmerz auszubreiten. Jochen Kelter ist grosser Stilist, jung und spritzig geblieben in der Art wie er nach der Musik in seiner Sprache sucht. Da ist nichts antiquiert oder verstaubt.
Dass sich mit Zsuzsanna Gahse und Jochen Kelter zwei Schwergewichte über Dichtung und Wahrheit unterhielten, zwei, die mit diesem Haus ganz tief verbunden sind, garantierte einen vielstimmigen, spannenden Abend.
Sein neuster Streich, eben erst bei Septime herausgekommen, ist der Roman „Monte Rocha“. Die Geschichte von Aurélio Fuertes, der im Hotel Rocha Monte hoch über dem Meer mit Sicht auf die Vulkaninsel seine Lebensstelle als Haustechniker bekommen zu haben glaubt. Ein Luxushotel. Aber das Haus tropft 220 Tage im Jahr im Nebel, während auf der Insel sonst die Sonne scheint. Nach nur einer Saison schliesst das Hotel und man verpflichtet den Haustechniker Aurélio Fuertes zusammen mit seinem Gehilfen José bis zur Übernahme durch einen neuen Besitzer, sich dem Haus anzunehmen. Aber aus der Übergangszeit werden Jahre, Jahrzehnte. Aurélio Fuertes bleibt, weil er es versprochen hat, nicht nur seinem damaligen Arbeitgeber gegenüber, sondern seiner Familie und nicht zuletzt sich selbst.
Eigentlich war das Hotel schon in der Planung zum Scheitern verurteilt. Dieses Hotel erscheint wie der missratene Versuch einer Arche, hoch auf einem Berg. Nur bleibt dieser Noah allein. Die Arche sticht nie in See, bleibt für immer leer. Nur Aurélio Fuertes bleibt. Er bleibt Jahrzehnte und sinkt in Einsamkeit. Aurélio bleibt, während er fast alles verliert; seine Frau, seine Familie, seine Kinder, Freundschaften, seine Hoffnung. „Rocha Monte“ erzählt von einem Mann, der immer mehr verschwindet, mit Sicherheit auch von einem „lost place“. «Roche Monte» ist vieles, auch die Geschichte eines Robinsons.
Der Autor erzählt im ersten, langen Teil seines Romans die Geschichte Aurélios. Im zweiten, kürzeren Teil, lässt er die Nebenfiguren zu Wort kommen, seine geschiedene Frau Lucia, seinen Arbeitskollegen José, dessen Frau Pineda, die Kinder, die ihren Vater gar nie richtig kennenlernten, Nevio, einen seiner Söhne. Damit setzt Peter Höner Aurélio in ein feinmaschiges Netz, ein Netz, dass dieser leer zurücklässt.







