Michael Kleebergs Buch „Glücksritter. Recherche über meinen Vater“ ist keine Abrechnung, viel mehr eine eigentliche Liebeserklärung an seinen Vater, eine Klärung, die sich nicht einstellen wollte oder konnte, solange sein Vater noch lebte.
Michael Kleeberg strotzt vor Geschichten. «Kein Wunder, Schriftsteller.» Aber Michael Kleeberg liebt Menschen, geht auf sie zu, verwandelt eine Lesung in ein Gegenüber. Und wenn der Autor dann mit einem Glas Wein aus seinem Leben erzählt, von all den Begegnungen, Erfahrungen, Reisen, Freundschaften, dann spüre ich als Zuhörer seinen unendlichen Reichtum. «Glücksritter. Recherche über meinen Vater» erzählt nicht zuletzt davon, wem der Autor seine Quelle verdankt.
„Alle Graustufen des realen Lebens sind verschwunden und es wird nur noch Schwarz und Weiss gepredigt.“
Wenn Mütter oder Väter sterben, wenn man Häuser und Wohnungen räumen muss, wenn man bei jedem Ding, das man noch einmal in Händen hält, entscheiden muss, ob es auch zur eigenen Geschichte gehört oder ob es bloss noch Überbleibsel ist, zwängen sich unweigerlich Fragen in den Vordergrund. Väter und Mütter sind einem irgendwie immer nah. Und doch muss man sie gewinnen, denn verlieren muss man sie unweigerlich.
Eine Einsicht Kleebergs Recherche war, dass seinem Vater Freundschaften nie wichtig waren, viel mehr Status und das Bild einer perfekten Familie. Erklärbar durch die Nachkriegszeit, in der eine ganze Generation sich auf das Äussere fokussierte, eine intakte Hülle. Sein Vater war über Jahre das, was das Wirtschaftswunder im Nachkriegsdeutschland zum Muster erklärte; immer mehr, immer besser. Und selbst Jahrzehnte nach dem Krieg, während man die Erinnerungskultur in Deutschland an allen Rändern entzündete, blieben Männer und Frauen wie seine Eltern im Dunstkreis einer Normalität, die sie in Kindertagen wie die Muttermilch aufgesogen hatten, die eine tatsächliche Auseinandersetzung mit den Gräueln des Nationalsozialismus behinderte, wenn nicht sogar verunmöglichte.
Eine Recherche über die Mythen einer Familie, zu jenen die Überzeugung gehörte, man hätte es viel weiter bringen können, wenn einem das Glück nicht versagt geblieben wäre. «Glücksritter» als einer, der dem Glück hinterher galoppiert.
Michael Kleeberg beschreibt in seinem Buch unendlich zärtliche Momente. Zum Beispiel jenen, als sein Vater ihm als kleinem Jungen Geschichten zeichnete, Comics davon machte, liebevoll nachzeichnete, was er erzählte. Ihm zu lauschen war wie der Blick auf seine inneren Bilderwelten und -landschaften. Genuss!
«Ich habe meinen Freunden aus Gottlieben geschrieben: «Grüße aus der Freiheit!» Und genau so habe ich es auch gemeint. Aus der Paranoia, dem Irrsinn und Denunziationswahn, die derzeit in Deutschland herrschen, herauszukommen (gegen manche von der deutschen Obrigkeit in den Weg gestellte Reisehindernisse) und zum ersten Mal seit sieben Monaten in einer von gesundem Menschenverstand geprägten Umgebung wieder vor echten Menschen lesen zu können, war ein Geschenk, für das ich Dir, lieber Gallus, nicht genug danken kann. Es waren schöne Tage im Zeichen der Literatur, die wir beide lieben.» Michael Kleeberg
Auf der Bühne des Literaturhauses leuchteten Blumen und durch das offene Fenster hörte man Vögel pfeifen. Von Idylle erzählt Michèle Minellis neuer Roman «Kapitulation» nicht. Viel mehr von den Kollateralschäden eines nicht enden wollenden Geschlechterkampfs, mehr oder minder gescheiterter Lebensentwürfe und permanenter Missverständnisse, wie sich Wirklichkeit abbilden sollte.
Eine Handvoll Frauen, die sich nach vielen Jahren wieder treffen sollen, lebten damals für einige Wochen zusammen auf der Mittelmeerinsel Krk, eingeladen von einer Stiftung, sie alle voller Perspektiven und Hoffnungen auf ein Leben als Künstlerinnen. Die Initiatiantin von damals will die Frauen noch einmal zusammenkommen lassen, in Zürich, hergeholt aus ganz verschiedenen Lebensumständen. Damals glaubten alle auf Krk an eine grosse Zukunft, alles sei offen. Um jetzt, nicht einmal zwei Jahrzehnte später, festzustellen, dass man kapituliert hatte, kapitulieren musste.
In den ersten 200 Seiten begleitet man die Protagonistinnen durch die zwei Tage vor dem ominösen Treffen in Zürich. Michèle Minelli webt einen dichten szenischen Teppich, bis sie sich treffen und aus dem kammerspielartigen Treffen bei gedämmtem Licht eine Katastrophe zu werden droht.
In einem Gespräch, das Adrienne Rytz-Bonnet, die ehemalige Präsidentin der Stiftung führt, fällt der Satz „Wenn eine Frau will, kann sie heute alles erreichen.“ Was sich ein grosser Teil der Gesellschaft wie ein Mantra vorsagt, widerspricht sich ausgerechnet in der Kulturszene, in der es «Gockel» zuhauf gibt.
„Ich habe keine Kraft mehr, neben Männern funktionieren zu müssen, die menschlich Sosse sind.“
Blumen für zwei Bücher: «Kapitulation» und «Chaos im Kopf»
Mag sein, dass die Lektüre für den einen oder anderen (Mann) als Kampfschrift liest. «Kapitulation» ist aber alles andere als eine Abrechnung, sondern eine schonungslose Analyse dessen, was sich nicht leugnen lässt.
«Im Mai 2012 schlugen einst Blicke auf dem Gallusplatz in St.Gallen Brücken. Diese tragen heute noch. Herzlichen Dank für deine Einladung ins Literaturhaus – zum Glück verstecken die Masken nur die Münder!» Michèle Minelli
Die Frage nach dem Woher und Wohin wird wohl in keinem Moment mehr gepusht, als dann, wenn Väter und Mütter sterben. Wenn es unmöglich geworden ist, Fragen direkt zu stellen. Wenn Wohnungen und Häuser geräumt werden und mit einem Mal nackte Mauern stehen, wo einst Geschichte lebte. Michael Kleeberg, grosser Romancier und Essayist, wäre nicht Michael Kleeberg, wenn er den Tod seines Vaters so einfach hinnehmen würde. „Glücksritter. Recherche über meinen Vater“ ist ein direktes, aber liebevolles Buch über einen Vater, der erst durch den Tod in wirkliche Nähe rückte.
„Glückritter. Recherche über meinen Vater“ Lesung mit Gespräch im Literaturhaus Thurgau, Donnerstag 6. Mai 2021, 19:30 Uhr. Wir bitte Sie um Anmeldung unter diesem Link.
Ich begegnete Michael Kleeberg zum ersten Mal 2002, als er mit seinem Roman „Der König von Korsika“ Gast bei den Solothurner Literaturtagen war. Damals hatte ich aber ein anderes Buch von ihm in meiner Tasche, das ich unbedingt signiert haben wollte, weil es damals wie heute eines jener Bücher ist, die meine Lesebiographie nachhaltig beeinflussten. Ein Buch, das in meiner Bibliothek zu den „Überbüchern“ zählt und mit der Widmung des Autors zur Reliquie: „Ein Garten im Norden“, ein modernes Märchen mitten in der Gegenwärtigkeit. Ein junger Mann bekommt von einem Antiquar ein leeres Buch geschenkt. Mit dem Buch verspricht er ihm: „Was immer Sie hineinschreiben, wird Wirklichkeit geworden sein, wenn Sie das Buch beendet haben.“
Mit „Glücksritter. Recherche über meinen Vater“ ist Michael Kleeberg vielleicht genau diesem Versprechen ein bisschen näher gekommen. Denn wer sich in der Art wie der Autor mit dem Leben und der Herkunft seiner Eltern, seines Vaters auseinandersetzt, muss der Wirklichkeit unweigerlich näher kommen. So wie ich selbst trägt jeder ein Bild seines Vaters mit sich herum, Erinnerungen und scheinbare Tatsachen, die über Jahrzehnte zementieren, einem glauben machen, man würde jene kennen, in deren Familie man geboren wurde. Es baut sich über ein Leben lang Stein auf Stein, eine Fassade, hinter die man aber aus Respekt, Furcht, Desinteresse oder zu grosser Distanz gar nicht zu schauen vermag. Eine Fassade, die aber Schatten wirft, einen Schatten, der bleibt, auch wenn der Tod vieles mit sich reisst.
Michael Kleeberg „Glücksritter. Recherche über meinen Vater“, Galiani, 2020, 240 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-86971-140-9
Michael Kleebergs Recherchebuch über seinen Vater beginnt mit einer Geschichte aus den letzten Lebensjahren seines Vaters. Wie oft, wenn der Erzähler mit seiner Familie in die Ferien fährt, hütet der achtzigjährige Vater das Haus. Nach der Rückkehr durch einen beunruhigenden Mailwechsel wird offenbar, dass der Vater Opfer eines Trickbetrügers wurde, der ihm ganz offensichtlich mit dem Versprechen vom grossen Geld mehrere tausend Euro abknöpfen konnte. Er macht sich auf zu seinem Vater, seiner Mutter, stellt ihm Fragen, die brennen, weil der Sohn genau weiss, dass die alten Eltern finanziell nicht auf Rosen gebettet sind. Aber bei der Konfrontation wird klar, dass ein Sohn kein Freund ist. Dass sich gewisse Fragen als Sohn nur ganz schwer oder gar nicht stellen lassen.
Der Tod seines Vaters und die Geschichte um das in den Sand gesetzte Ersparte seiner Eltern, die Räumung einer Wohnung und die verschwiegene Demenz seiner Mutter werden die Ausgangspunkte einer Suche nach dem Woher. Der Vater, in den letzten Jahren des Krieges vierzehn, erlebt die Gräuel einer Kapitulation, die Vertreibung von seinem Zuhause, Jahre in einem Lager und den wechselvollen Aufstieg im Nachkriegsdeutschland. „Glücksritter. Recherche über meinen Vater“ ist ein Buch über einen glücklosen Vater, einen Mann, der ein Leben lang dem Glück hinterherritt, der sich von der grossen Geschichte und seiner eigenen Geschichte verraten fühlte. Von einem Mann, dem das Geld und Status das Wichtigste war und unbedingt wollte, dass sein einziger Sohn dereinst ein Doktor werden sollte. Von einem Mann, der die Geschichte nach seiner Fasson zu drücken wusste und sich nie den Tatsachen der Geschichte stellte. Von einem Mann, der ihm die Liebe zur Fantasie schenkte, der ihm Geschichten erzählte ohne sich je der eigenen Geschichte zu stellen.
„Glückritter. Recherche über meinen Vater“ ist keine Abrechnung, sondern eine Liebeserklärung.
Michael Kleeberg, geboren 1959 in Stuttgart, lebt als Schriftsteller und Übersetzer (u.a. Marcel Proust, John Dos Passos, Graham Greene, Paul Bowles) in Berlin. Sein Werk (u.a. «Ein Garten im Norden», «Karlmann», «Vaterjahre», «Der Idiot des 21. Jahrhunderts») wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Zuletzt erhielt er den Friedrich-Hölderlin-Preis (2015) und den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2016). 2020 erschien sein Buch «Glücksritter. Recherche über meinen Vater».
Es war in vieler Hinsicht ein denkwürdiger Abend! Zum einen war es nach vier Monaten die erste Veranstaltung vor Publikum im ausverkauften Literaturhaus Thurgau, und zum andern spürten alle BesucherInnen an diesem Abend das Feuer für eine Autorin, die nur zurück ins Bewusstsein der Öffentlichkeit kam, weil der unermüdliche Streiter für das gute Buch, Charles Linsmayer, mit voller Leidenschaft in die Glut bläst!
Cilette Ofaires Roman «Ismé», der 1948 zum ersten Mal deutsch erschien, damals aber kaum von der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, ist viel mehr als der Reisebericht einer unerschrockenen Kapitänin in einer Zeit, in der sie wohl die einzige in einer solchen Funktion war. «Ismé» ist die Geschichte einer starken Frau, die alles daran setzte, ihr Leben nach ihrer Fasson zu gestalten, allen Widrigkeiten zum Trotz. «Ismé» ist auch eine Zeitdokument eines Abenteuers, das im Gegenwind von Geschichte und Bürokratie scheiterte. Und «Ismé» ist in seiner jetzigen Form, mit einer Biographie von Charles Linsmayer und dem abgebildeten, gezeichneten «Journal de bord», ein Gesamtkunstwerk, das seinesgleichen sucht.
«Ein kleines Schiff besitzen, damit die Ozeane durcheilen, sich als ein freier Bürger der Welt fühlen – das genügt noch nicht, um weise zu werden. Dazu braucht man vor allem andern ein Herz, das fähig ist, zu lieben, eine Seele, die noch Wunder erleben kann, und ein Gewissen, das einem mit seiner Wachheit ständig in Erinnerung ruft, dass man ein Mensch unter Menschen ist und in Beziehung zum Universum steht. Aber auch das ist noch nicht genug. Es ist dazu noch nötig, dass das Leben, das konkrete, fordernde Leben, sich dieses Herzens, dieser Seele und dieses Gewissens bemächtigt, um sie zu zerreissen, zu zerbrechen, zu zerstossen, zu kneten oder anders zusammenzufügen. Dann, durch all diese Zweifel und Hoffnungen, Erleuchtungen und Verdunkelungen des Geistes hin-durch, zwischen den Erfahrungen der menschlichen Schwäche und dem allmählichen Erfassen jener unbekannten Macht, die den Lauf der Gestirne regelt, dann ist es, wenn man das kurze Erdenleben mit der Dauer der Ewigkeit in Beziehung zu setzen versteht, vielleicht möglich, ein klein wenig Weisheit zu erwerben.» (1959)
Ausschnitt aus dem «Journal de bord» von Cilette Ofaire vom 20. Januar bis 26. Februar 1939. An allen Tagen, an denen die Autorin weiter an ihrem Manuskript zu Ismé schrieb, ist ein Büchlein mit der Aufschrift «Ismé» gezeichnet.
«Es war schon was besonderes, dass ich zusammen mit Heidi Maria Glössner den ersten Abend im Thurgauer Literaturhaus bestreiten durfte, als die durch die Pandemie erzwungene Pause vorbei war. Wir stellten Cilette Ofaire und ihr Buch «Ismé» vor, und es war zu spüren, wie das Publikum sich dafür begeistern konnte. Besonders bewegend war es, als wir nach etwelchen technischen Bemühungen ab Tondokument die Stimme der Dichterin erklingen lassen konnten: In der einzigen Aufnahme, die überhaupt von ihr existiert. Warum das so ist, ob es die alten Mauern und die hölzernen Balken ausmachen, die das jahrhundertealte Haus aufweist, oder ob es das ganz besondere Publikum ist: auf jeden Fall herrscht im Bodman-Haus Gottlieben immer eine ganz besonders intime, familiäre Stimmung.» Charles Linsmayer
Kein Mensch kannte den Namen Cilette Ofaire, als Charles Linsmayer 1988 als Band drei seiner Edition «Reprinted by Huber» ihren Roman «Ismé» von 1940 als «Ismé. Sehnsucht nach Freiheit» deutsch neu herausbrachte und mit einer Biographie der Autorin versah.
Cilette Ofaire – «Ismé», Charles Linsmayer zusammen mit der Schauspielerin Heidi Maria Glössner im Literaturhaus Thurgau, Donnerstag 22. April 2021, 19:30 Uhr. Wir bitte Sie um Anmeldung unter diesem Link.
Der Erfolg war so durchschlagend, dass das Buch nach kurzem nicht nur als Hardcover, sondern auch als pendo-Taschenbuch vergriffen war und die Édition de l’Air in Vevey, verblüfft durch den Erfolg im deutschen Sprachraum, auch die französische Originalfassung wieder zugänglich machte. Ja, es fand sich sogar eine Gruppe von Ismé-Fans zu einem Verein zusammen, der ein Schiff mit dem gleichen Namen nachbaute und auf den Spuren von Cilette Ofaire in See stach!
33 Jahre lang war das Buch vergriffen, als Charles Linsmayer als Band 38 seiner Edition eine Neuausgabe herausbrachte, mit einer erweiterten Biographie und dem erstmaligen Abdruck des gezeichneten Bordtagebuchs der Autorin. Und diesmal machte die Édition de l’Air von Anfang an mit und brachte Linsmayers Neuausgabe in einer identischen französischen Fassung ebenfalls neu auf den Markt. Und das Wunder geschah! Wiederum war das Buch nach wenigen Wochen ausverkauft und musste eine zweite Auflage gedruckt werden, und zwischen Dezember 20 und März 21 figurierte der Roman die ganze Zeit auf der Bestsellerliste des SBVV!
Charles Linsmayer, Germanist, Literaturkritiker und -vermittler, lebt in Zürich als Journalist und Herausgeber von Schweizer Literatur. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Preis des Schweizer Buchhandels, dem Deutschen Sprachpreis und dem Eidgenössischen Preis für literarische Vermittlung 2017. Legendär sind seine «Hottinger Literaturgespräche».
Gefragt, wie er sich diesen neuerlichen Erfolg erkläre, meinte Charles Linsmayer, der inzwischen als Biograf von Cilette Ofaire auch in der Romandie ein gefragter Interview-Partner ist, dass dieser Roman mit seiner tief empfundenen Menschlichkeit, seiner einfachen, bildhaften Sprache, seiner Begeisterung für die Seefahrt und die Weite des Meeres eben gerade in einer Zeit, wo niemand reisen könne, zu einer faszinierenden Lektüre avanciert sei. Ja, dass sich der Vorgang von 1940, als der Roman als Erstausgabe im deutsch besetzten Frankreich als Buch der Hoffnung und der Freiheit begrüsst wurde, sich angesichts der Einschränkungen und Bedrohunen der Pandemie zu wiederholen scheine.
Im Literaturhaus Thurgau wird Charles Linsmayer anhand von Texten und Bildern das Leben von Cilette Ofaire und ihre abenteuerliche Seefahrt mit der «Ismé» vorstellen, während die Schauspielerin Heidi Maria Glössner die schönsten Stellen aus dem Roman vorlesen wird.
Heidi Maria Glössner, «Grande Dame» der Schweizer Theater- und Filmszene
Den Abschluss bildet ein Gespräch mit dem Herausgeber, in dem er erzählt, wie er auf Cilette Ofaire gestossen ist und was sie ihm persönlich bedeutet.
Eine Handvoll Frauen treffen sich nach vielen Jahren wieder. Damals ermöglichte ihnen ein internationales Kunststipendium einen längeren Aufenthalt auf der Mittelmeerinsel Krk in der Villa de Artium. Eine Handvoll Frauen damals vor achtzehn Jahren, voller Verheissungen, Versprechen für die Zukunft.
Sie treffen sich in Zürich wieder, weil Adrienne Rytz-Bonnet, die ehemalige Präsidentin dieser Stiftung, zu einer Réunion einlädt, die erste Runde von damals, weil Adrienne spürt, dass ihre Krankheit sie schwinden lässt, weil es an der Zeit ist, die Kraft für einen letzten Kampf zu bündeln.
„Kapitulation“ Buchtaufe im Literaturhaus Thurgau, Donnerstag 29. April 2021, 19:30 Uhr. Wir bitte Sie um Anmeldung unter diesem Link.
Aina, kasachisch-schweizerische Actionskünstlerin, die im Kunsthaus zur Aufseherin geworden ist, wenn auch mit subversiven Zügen. Kirsty, die mit einem sehr persönlichen Forschungsprojekt über ihre schreibende Grossmutter einmal mehr bei einer Preisverleihung abblitzt. Brigitte, die einst alles auf ihre Bratsche setzte und nun den Primaten im Zoo spielt. Cloé, mittlerweile längst dem Alter eines Shootingstars entwachsen und im Permastreit mit ihrem Verleger, der sich schlankere Manuskripte wünscht, Zeug, das sich besser verkauft. Und Yvonne und Nomi. Yvonne, Adriennes Privatmasseurin und Nomi, Adriennes Tochter.
Sie alle sind Versehrte. Irgendwann kam es zu Kapitulation. Einmal mehr, einmal weniger. Sie alle mussten klein beigeben; den Umständen, dem Misserfolg, den Männern, den Erwartungen, dem Kampf. Sie alle haben ihren Preis bezahlt, ihre Narben einkassiert. Schon möglich, dass es Berufsgattungen und Gesellschaftsschichten gibt, in denen sich die Gleichberechtigung dem Ideal gar nicht mehr so weit weg zeigt. Aber wenn es einen Bereich in der Gesellschaft gibt, in dem es noch immer viel zu viele männerdominierte Plattformen gibt, dann in der Kultur. Michèle Minelli zeigt dies in einer Art und Weise, die bei der Lektüre beinahe schmerzt. Michèle Minelli schneidet ohne Narkose. Die eitrigen Geschwüre ergiessen sich über den üppig angerichteten Tisch eines opulenten Bilderschmauses. Die Autorin breitet die Schilderung der verschiedenen Welten, in denen sich die Frauen in den beiden Tagen vor ihrem Treffen in Zürich bewegen und aus denen sie sich schälen, in einem eigentliches Erzählmosaik aus, ein Blitzlicht hier, eine Spot da. Lichter, die sich in die Tiefe bohren, die nicht chronologisch ausleuchten, sondern in verschiedensten Tiefen erzählen, wie das Leben mit ihnen spielt. Dass das zuweilen für mich als Leser verwirrlich ist, für den genauen Leser, ist ein Preis, den man gerne zahlt angesichts der Kraft und wörtlichen Leidenschaft, die der Roman ausstrahlt.
Michèle Minelli hat viel gewagt. Den Roman aber mit den ersten Sätzen schon zu schubladisieren, wird dem nicht gerecht, was der Roman will. Würde man den Roman als „Frauenroman“ titulieren, gäbe man den Männern einen Grund ihn nicht zu lesen. „Kapitulation“ ist ein kämpferischer Gesellschaftroman, der aber nicht aus sicherer Distanz erzählt, sondern mitten aus dem Kampfgebiet von Gleichberechtigung und jahrhundertelanger Immunisierung substanzieller Veränderungen. Mag sein, dass es Stimmen gibt, die mahnen, was Frauen in der Gegenwart im Vergleich zur Vergangenheit alles können, dürfen und tun. Aber die Stimmen vermögen immer weniger zu kaschieren, dass es immer noch ein Kampf ist und bleibt. Ein Kampf, der viele Opfer fordert, Opfer die eine scheinbar moderne und aufgeschlossene Gesellschaft so einfach hinnimmt und akzepiert. Dass dieser Kampf noch lange nicht ausgestanden ist und dass es viele Männer noch immer hinnehmen, dass männliche Privilegien Selbstverständlichkeit bleiben, dass die Welt in der wir leben, in vielem durch ein männliches Okular gesehen wird.
„Kapitulation“ will viel mehr als bloss unterhalten, viel mehr als bloss eine Geschichte erzählen, auch wenn es die Geschichte der Frauen im Europa der Gegenwart ist. Dass Michèle Minelli im letzten Kapitel eine der Frauen in ihrer Verzweiflung über all die Lähmungen und Zurückweisungen das Letzte riskiert und dabei in ihrer letzten Kapitulation wieder nur verlieren kann, ist pessimistische Konsequenz. „Kapitulation“ ist schwere Kost, fordert von mir als Leser alles – ganz sicher mehr als bloss Reflexion. «Kapitulation» ist kämpferisch, durchflutet von starken Bildern und Dialogen. Eine Breitseite literarischer Wucht!
Michèle Minelli, geboren 1968. Schriftstellerin und Filmschaffende. Koordinatorin der Franz-Edelmaier-Residenz für Literatur und Menschenrechte in Meran, Vorstandsmitglied Deutschschweizer PEN-Zentrum. Seit 2000 sechs Sachbücher und sieben Romane mit Übersetzungen ins Französische, Chinesische und Albanische. Die Arbeit an »Kapitulation« wurde mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung des Kantons Thurgau gefördert. Minelli lebt und arbeitet auf dem Iselisberg.
Fabian verliert seinen Job bei einer Lokalzeitung. Und weil ihm der Zufall eine Reise schenkt, macht er sich mehrfach auf; zweimal an den Strand von Sansibar und viel länger als beabsichtigt nach Zagreb, einer Stadt, die ihn aufnimmt und ihm etwas schenkt, was in seinem Städtchen zuhause nicht erreichbar schien. Frédéric Zwickers zweiter Roman „Radost“ berührt.
Fabian gewinnt eher zufällig einen Weihnachtswettbewerb: Einen Flug nach Sansibar und sechs Nächte Unterkunft im Hotel Emerson Spice in Stone Town. Fabian fliegt hin, weil es eine Schande gewesen wäre, das Geschenk in den Wind zu schlagen und weil er Mahmut, seinen Nachhilfeschüler nicht enttäuschen wollte, der für ihn beim Wettbewerb mitgemacht hatte. In Sansibar am Strand lernt er einen aufdringlichen, lauten Landsmann kennen. Einen Schweizer im Massai-Kostüm, mit Kurzschwert an der Hüfte und langem, dünnen Gehstab. Es bleibt nicht die einzige Begegnung zwischen Fabian und Max, dem auf- und abgedrehten Landsmann am Stand. Fabian rettet ihm wahrscheinlich sogar das Leben, denn der «weisse Massai» bleibt nach zwei Messerstichen im Sand liegen. Jahre später, nach einem Konzert von Johan, Maxens Bruder, treffen sich die beiden wieder im „Ochsen“ und Max schlägt ihm vor, nachdem Fabian eine durchaus erfolgreiche Reportage über ihn, den seltsamen Landsmann geschrieben hatte, eine Biographie über ihn zu schreiben. Fabian ahnt, dass er sich in eine wirre Geschichte hineinziehen lassen könnte, lehnt vorerst ab. Aber nachdem seine Stelle in einer Lokalzeitung nach der Fusion mit einer andern Lokalzeitung den „Synergien“ zum Opfer fällt, wird aus dem schnell abgelehnten Angebot ein Rettungsanker. Max stammt aus reichem Haus! Sein Vater war Besitzer einer kleinen aber feinen Privatbank!
Max ist nicht irgend ein Max. Max tritt auch nicht einfach so als weisser Massai am Stand von Sansibar auf. Max ist ein Getriebener, ein von einer Krankheit Gebeutelter: Er leidet unter schizoaffektiven Störungen, macht sich in manischen Phasen zum Narren. Max erklärt: „Es kommt mir vor, als gingen die Menschen in unserer Gesellschaft alle gradeaus, mit ausgestreckten Speeren. Wenn jemand aus dem Trott fällt, stehen bleibt oder die Richtung wechselt, wird er aufgespiesst.“ Das ist seine positive Sicht. Doch Max endet des öftern im Abseits; auf dem Polizeiposten, im Gefängnis oder in der Klinik. Und weil sich Max durch das Suchen und Finden eines anderen Klärung in seinem Leben verspricht, soll Fabian sein Biograph sein, Nachforschungen darüber anstellen, was in jenen Zeiten geschah, als das Leben von Max aufgespiesst wurde.
Fabian bekommt Geld, Kontaktdaten, Adressen und macht sich auf, weil auch sein eigenes Leben aus Tritt und Trott gefallen ist, auf die Spurensuche eines seltsamen Zeit- und Artgenossen. Zurück ins reiche Elternhaus, ins Nobelinternat in St. Gallen, seinen ersten Emanzipationsversuchen. Schlussendlich wird daraus eine Radtour über Kärnten bis nach Zagreb und wieder zurück an den Stand von Sansibar, wo zwei Messerstiche beinahe das Ende bedeutet hätten.
Fabian macht sich auf, weil ihn die Reise lockt, das Abenteuer, die Spur, das Fremde. Diese eine verrückte Radost nach Zagreb, für mehrere Monate weich finanziert in einer Stadt, die er bisher nur mit Trainerhosentypen verband und für ihn wie damals für Max zur Offenbarung wird. Er, dem es bisher nicht leicht fiel, Freundschaften zu schliessen, wird Teil einer ganzen Klicke, lernt Ana kennen, taucht ein in fremde Leben, erfasst immer mehr von Mad Max, macht eine Reise; eine Reise für Max, die dieser nicht zu tun vermag, eine Reise für sich, weg aus seinen starren Banden und eine Reise in die Welt – über Zagreb bis nach Sansibar.
„Radost“ heisst auf kroatisch „Freude“. Und es macht Freude, in Frédéric Zwickers zweiten Roman einzusteigen, um sich eine Reise lang in seinen Windschatten zu begeben. Wie schon in seinem Debüt „Hier können Sie im Kreis gehen“ erzählt Frédéric Zwicker witzig und pointenreich. „Radost“ löst die Rätsel um Max nicht. Max bleibt ein Rätsel, so wie letztlich alle Rätsel bleiben, selbst die nächsten, selbst jene, an die man sich verliert. Frédéric Zwickers Reise ist nicht überfrachtet, bleibt behutsam. Wer erfahren will, erfährt unweigerlich auch vieles über sich selbst. Wer aufbricht, gewinnt immer, wenn auch nicht dort, wo man sich den Gewinn erhofft.
Interview mit Frédéric Zwicker:
Dass es Sansibar und Zagreb sein müssen, scheint alles andere als zufällig. Ich weiss, dass es dich vor allem musikalisch in den vergangenen Jahren immer wieder nach Zagreb gezogen hat. Aber warum Sansibar? Liegt es an der Magie des Namens, der, zumindest für mich, Sehnsucht suggeriert?
Im Jahr 2013 war ich für einen sechsmonatigen Arbeits- und Reiseaufenthalt im östlichen und südlichen Afrika unterwegs. Zwei Wochen verbrachte ich auf Sansibar. Dort hörte ich die Geschichte der falschen Massai, also jener Männer, die keine Massai sind, sich aber als solche verkleiden, um erfolgreicher im Souvenir- und im Sextourismus-Geschäft zu sein. Diese Geschichte ging mir nicht mehr aus dem Kopf und wurde zur Initialzündung für «Radost». Sansibar steht für mich in gewisser Weise stellvertretend für die Erfahrungen, die ich während meiner Afrika-Reise in sechs verschiedenen Ländern machte. Meine Vorstellungen und Vorurteile zerschellten täglich an den Realitäten, denen ich begegnete. Da liegt für mich die Parallele zu Zagreb und zu Ex-Jugoslawien. Auch dort zeigte die intensive Auseinandersetzung mit Menschen und Kultur bald, dass mein Balkan-Bild völlig klischiert und verzerrt gewesen war. Die Magie des Namens, wie du es nennst, spielte aber durchaus auch eine Rolle. Ich wollte sie einem kritischen Blick unterziehen und schauen, was am Ende davon übrigbleibt.
Max beauftragt Fabian, über ihn eine Biographie zu schreiben. Max ist aber weder uralt noch berühmt. Er braucht diesen Text wahrscheinlich nur, weil er sich selbst verstehen will, sein Leben, seine Krankheit, seine Aussetzer, das, was er durch sein Tun auslöste und bewirkte. Und Max hat Geld. Ist dein Schreiben auch der Auftrag an dich, dein eigenes Leben besser zu verstehen? Eine Art Sicht von „aussen“?
Nein. Mir geht es beim Schreiben nicht um mich, auch wenn der Einfluss, den ich mit meinem Denken und Fühlen auf meine Texte habe, natürlich gross ist. Aber umgekehrt ist das auch der Fall. Ich bin für die Arbeit an „Radost“ mit dem Velo von Rapperswil nach Zagreb gefahren, habe dort ein halbes Jahr, auf Sansibar fünf Wochen gelebt und gearbeitet. Das hätte ich nicht getan, wenn ich nicht dieses Buch hätte schreiben wollen. Mein Leben beeinflusst also mein Schreiben, mein Schreiben aber auch mein Leben. Durchs Schreiben lerne ich so durchaus sehr viel über mich. Das ist aber nur da und dort das, was am Ende zwischen den Buchdeckeln steht.
Das „Städtchen“ hier und Zagreb dort. Das eine Rapperswil, das andere eine Metropole. Was hat das eine, was dem andern fehlt?
Zuerst eine Parallele: In beiden Städten gibt es Menschen, die sich für eine vielfältige, kritische Kultur interessieren und einsetzen. Und da wie dort gibt es politischen Widerstand gegen zu viel Lebendigkeit. Aber in Zagreb ist das kulturelle Angebot viel reichhaltiger als hier. Es gibt dort mehr Freiräume, auch wenn sich meine Freunde in Zagreb darüber beklagen, dass diese ständig schrumpfen. Ebenfalls ein Unterschied: In Rapperswil sind fast alle Häuserfassaden makellos. Zagreb bröckelt vielerorts. Könnte es sein, dass die Fassade in der Schweiz generell wichtiger ist als in Ländern, wo die Wirtschaft nicht gar so tonangebend ist?
Ist Max erfunden oder ein Zusammenzug verschiedenster Charakteren? Oder steckt in dieser nur schwer fassbaren Person gar ein Spiegelbild?
Max ist inspiriert von einem Freund von mir. Der war nie in Sansibar und hat Zagreb das erste Mal gesehen, als er mich dort besucht hat. Auch seine Familiengeschichte, wie sie im Buch dargestellt ist, ist frei erfunden. Aber im Kern ist Max› Biographie, die Fabian im Buch recherchiert und aufschreibt, eine wahre Geschichte.
Max passt nicht in die von unserer Gesellschaft vorgegebenen Schemen. Zumindest dann nicht, wenn ihn seine Krankheit packt und Dinge tun und sagen lässt, die sich allen Konventionen entziehen. Dabei tragen doch die meisten Menschen die Lust mit sich, aus Konventionen auszusteigen, sei es auch nur für einen kurzen Moment, alle Hemmungen zu verlieren. Wie sehr rüttelt diese Lust an dir? Ist deine Musik ein Ventil dafür?
Der Ausbruch aus der Norm ist etwas, was mich schon in meiner Kindheit antrieb. In der ersten Klasse sang ich dem Samichlaus vor versammelter Klasse eine Version von „Was isch das für es Liechtli“ vor, bei der der Samichlaus am Ende stirbt. Der Lehrer rief meine Mutter an und klagte, ich hätte etwas wahnsinnig Schlimmes gemacht. Sie dachte an sexuellen Missbrauch oder schwere Körperverletzung und konnte das Lachen knapp unterdrücken, als er ihr erzählte, was passiert war. Solche Geschichten gibt es viele. Und ja, meine Musik und die Auftritte auf der Bühne sind sicher auch von der Lust am Unkonventionellen und auch an der Hemmungslosigkeit geprägt. Allerdings bin ich in den letzten Jahren viel ruhiger geworden. Mein Interesse am Unkonventionellen ist aber unvermindert gross.
Welcher Buchtitel lässt dich warum nicht los? Welcher Song?
Das kann ich eigentlich unmöglich beantworten, weil es von beidem zu viele gibt. Aber wenn ich ein Buch nennen müsste, wäre es wohl «Frederick“ von Leo Lionni. Ich habe das Bilderbuch über die Maus, die keine Nüsse, dafür Farben und Wörter sammelt und Geschichten erzählt, zur Taufe geschenkt gekriegt. Wundersamerweise wurde es mir ein wenig zur Biographie.
Und ich entscheide mich für den Song „Ovaj ples dame biraju“ der wohl berühmtesten jugoslawischen Rockband „Bijelo Dugme“. Das war eines der ersten jugoslawischen Lieder, die ich hörte. Später befasste ich mich intensiv mit der Musik Ex-Jugoslawiens. Es lohnt sich sehr, das Musikvideo zum Song auf Youtube anzuschauen.
Frédéric Zwicker als Bandmitglied von «Hekto Super» mit «Kleine Männer»
Frédéric Zwicker, geb. 1983 in Lausanne, aufgewachsen in Rapperswil-Jona am Zürichsee, wo er heute wieder lebt. Er studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie. 2006 gründete er die Band ‹Knuts Koffer›. Seit 2008 ist er Kolumnist bei der ‹Linthzeitung› und der ‹Südostschweiz Glarus›. Er arbeitete u.a. als Werbetexter, Journalist, Reisejournalist in Ostafrika, Musiklehrer, Slam-Poet, Pointenschreiber für die Satiresendung Giacobbo/Müller, Drehbuchautor. Sein Romandebüt «Hier können Sie im Kreis gehen» erschien 2016 bei Nagel & Kimche.
Zora del Buono schreibt über Zora Del Buono, ihre Grossmutter. „Die Marschallin“ ist die Geschichte einer Frau, die die Geschicke einer ganzen Sippe durch ein wirres Jahrhundert zu führen versuchte, herrisch und temperamentvoll, in einer Zeit, in der es nicht üblich war, dass sich starke Frauen über Konventionen hinwegsetzten.
Die beiden Veranstaltungen werden auf den 29. Juli 2021 ins die Kartause Ittingen «verschoben». Informationen dazu bald auf den Webseiten vom Literaturhaus Thurgau und dem Kunstmuseum Kartause Ittingen.
Sie schrieb sich das Del in ihrem Namen gross, um sich von einer adeligen Herkunft zu distanzieren. Nicht weil Zora Del Buono eine Frau des Volkes sein wollte, aber weil sie als überzeugte Kommunistin und Verehrerin Marschall Titos an ein Leben glaubte, das sich neu gestaltet, an eine Ordnung, die sich allen feudalen Gesellschaftsformen entgegenstellt. So wie Josip Broz Tito sich selbst ins Zentrum eines ganzen Landes stellte, so unumstösslich sah Zora Del Buono ihre Stellung innerhalb ihrer Sippe. Sie sah sich als Sonne im System. Die Planeten sollten sich um sie drehen, um dann gegen Ende des Lebens festzustellen, dass sich das System doch nicht um sie allein drehen wollte, dass es Kräfte in Politik, Gesellschaft und der Familie selbst gab, die sich ihrem Diktat verweigerten. Ganz am Schluss des Romans sitzt die greise gewordenen Zora in einem Altersheim im slowenischen Nova Gorica, an der italienischen Grenze. Von ihrer einstmals grossen Familie ist wenig übrig geblieben; ihr dement gewordener Ehemann Pietro Del Buono in Bari, ganz im Süden Italiens, ist weit weg, zwei ihrer drei Söhne tot, die Welt, auf die sie setzte weggebrochen und untergegangen. Ihr Blick zurück ist ein bitterer geworden, ihr Leben ein einsames, der Stern leuchtet kaum noch.
Zora del Buono, die Enkelin, zeichnet das Panorama eines Jahrhunderts. Einer Frau, die die Weltkriege miterlebte, die im faschistischen Italien mit einer grossbürgerlichen Vergangenheit und Gegenwart an die Ideen des Kommunismus glaubte, die Aufstieg und Niedergang des Duce erlebte, von Benito Mussolini, der ganz offen mit Hitler fraternisierte und Italien zu einem Trümmerfeld machte, die als gebürtige Slowenin mitansehen musste, wie ihre Landsleute in Lager gepfercht wurden und es nur einen einzigen Weg in die Freiheit zu geben schien; den an der Seite Titos, der Jugoslawien zu einem Musterstaat machen wollte, blockunabhängig.
Zora del Buono «Die Marschallin», C. H. Beck, 2020, 382 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-406-75482-1
„Die Marschallin“ ist auch der Roman einer Familie, die in den Wirren der Geschichte zerrieben wird, an den fixen Vorstellungen eine Patriarchin. Von einer Familie, die von sich ein Bild erzeugen will, die durch ein Jahrhundert wankt, nicht nur weil die Geschichte verrückt spielt, sondern das Schicksal mit aller Härte genau dort sein Opfer sucht, wo es am meisten schmerzt. Zora Del Buonos Ehe mit dem Radiologen Pietro Del Buono, den sie gegen Ende des ersten Weltkriegs kennenlernt, dem sie nach Bari folgt und zusammen eine Klinik eröffnet, mit dem sie sich den Kommunisten anschliesst, sich ganz nah an den Führungskräften jener Bewegung orientiert und aktiv am Widerstand gegen den grassierenden Faschismus teilnimmt, ist keine leichte. Zora lässt sich weder ein- noch unterordnen. Sie bleibt eigenwillig, so sehr, dass sie einmal sogar die Koffer packt, voll mit Medikamenten aus den Arzneischränken ihres Ehemannes, um den Partisanen in ihrer Heimat in Slowenien zu helfen. So sehr, dass die Jahrzehnte später zusammen mit ihrem Mann aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen wird, weil sie zu einem verbrecherischen Puzzleteil einer Geldbeschaffungsaktion wird.
«Die Marschallin» auf dem 54. analogen Literaturblatt
Das Leben nimmt nicht jenen Verlauf, den Zora ihrem Leben aufdrücken will. Nicht das politische Leben, nicht das gesellschaftliche, nicht einmal das Leben in der Familie. Bis hin zu ihren Enkelkindern. Zora, die Schriftstellerin, erzählt von von ihrer Grossmutter Zora Del Buono, eine Geschichte, in der eine ganze Familie in der Hitze von Gewalt, Krieg und Intrige zu verdampfen droht.
Man spürt als Leser das Feuer in diesem Roman, die Hitze der Leidenschaft; jene der alten Zora in ihrem Tun, jene der jungen Zora in ihrem Erzählen!
Zora del Buono, geboren 1962 in Zürich, lebt in Berlin und Zürich. Studium der Architektur an der ETH Zürich, fünf Jahre Bauleiterin im Nachwende-Berlin. Gründungsmitglied und Kulturredakteurin der Zeitschrift «mare». In der Reihe «Naturkunden» bei Matthes & Seitz veröffentlichte sie den Band «Das Leben der Mächtigen. Reisen zu alten Bäumen».
Ana sucht einen Ausweg aus patriarchischen Strukturen in einem kroatischen Dorf namens Glück. Sie verliebt sich in Igor, flieht aus der steinernen Umklammerung und strandet weit weg über dem Meer an einem eigentlichen Sehnsuchtsort, ernüchtert und desillusioniert in einem Frauenhaus, geschlagen nicht nur von ihrem Mann.
«Liebe um Liebe» ist das romangewordene Pendant zu ihrem vorletzten Buch «Glück», das aus einem Theaterstück entstand und mit dem gleichen Personal die Geschichte einer grossen Enttäuschung erzählt. Die Geschichte von Ana Jagoda, einer jungen Frau, die in sich den grossen Drang verspürt, den Drang zu schreiben, Welten zu erschaffen, die aber eingeschnürt ist und wird, von einer Umgebung, aus deren Fesseln sie sich nicht befreien kann. Ana wächst in einem kleinen Dorf in den kroatischen Bergen auf, einem Dorf namens «Glück». Aber Glück ist nicht ihr Glück. So wie ihr Leben nicht jenes Leben ist und wird, das sie eigentlich mit sich trägt. In einem Dorf, das von absolut patriarchischen Strukturen regiert wird, aber ebenso vom Alkohol, der Armut und der Aussichtslosigkeit, wird die noch junge Ana ungewollt schwanger. Sie verliebt sich in Igor, ihre Rettung. Aber was nach gemeinsamen Leben aussah, nach Perspektive, wird zu dem, was sich im Dorf Glück als Nährboden unweigerlich einstellt: Alles muss seinen vorbestimmten Platz einnehmen. Auch wenn dieser Platz zum Martyrium wird.
Ana treibt das Kind in ihrem Bauch ab. Ana verlässt Glück. Ana heiratet Igor und flieht mit ihm in den Norden der USA. Aber ihr krankhaft eifersüchtiger und aufbrausender Ehemann macht den Sehnsuchtsort zum Kampfgebiet. Ana leidet. Ihr Leben besteht nur aus Reaktion, lässt auch auf der andern Seite des Ozeans nie zu, was sie eigentlich gerne möchte; ihr Glück im Schreiben. Ana flieht weiter in ein Womanirrhaus. Dorthin, wo alle stranden, die nicht Frau über ihr eigenes Leben werden.
Auch wenn es die Autorin gar nicht will, Pauschalverurteilungen oder Pauschalurteile über den «bösen Mann» zu provozieren, ging es mir bei der Lektüre sehr nah, wie sehr Männer- und Frauenwelten auseinanderdriften können. Dragica Rajčić Holzner bewegt sich im vollen Bewusstsein zwischen Verständnis und Widerwillen aller Verurteilung gegenüber.
Dragica Rajčić Holzner «Liebe um Liebe», Matthes & Seitz, 2020, 167 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-7518-0000-6
Dragica Rajčić Holzner beschäftigt sich schon seit 35 Jahren mit der Geschichte Anas. Der Stoff sei ihre Rettung gewesen, ihr Schiff, ihre Kontinuität, mit der sich die Autorin über Wasser hielt. So wie es das Dorf Glück mit seinen gemeisselten Strukturen gibt, noch immer gibt, so gibt es Ana, Frauen, Menschen, die ihr Glück nicht finden, obwohl die Sehnsucht und die Liebe sie wegtreibt. Anas Leben ist Realität. Aber noch viel mehr Realität ist die Sprache, die direkt unter die Haut geht, die mich als Leser erschaudern lässt. Eine Sprache, die all die Frauen sprechen lässt, die keine Stimme und keine Kraft mehr besitzen, stumm bleiben, die sich so sehr einschüchtern lassen, dass nichts ihr Leben aufregen lässt. Dragica Rajčić Holzner erzählt nicht ihre Geschichte. Nicht ihr Schicksal, schon gar nicht ihre eigene Biographie, aber das Leben der Vergessenen, all jener Frauen, die mit einem unendlich scheinenden Reservoir an Hoffnung und Liebe scheitern.
Auf die Frage, warum der Roman nicht mehr in der ihr so eigenen Grammatik einer «Exilantin» geschrieben und gedruckt ist, erklärt Dragica Rajčić Holzner; Männern würde man diesen Umstand ihrem künstlerischen Ausdruck zugestehen, als Teil ihres schöpferischen Tuns, ihres Ausdrucks. Frauen hingegen als Ausdruck ihres Unvermögens. Die Bücher zuvor verunsicherten jene, die Orthographie wie die steinernen Strukturen einer patriarchischen Gesellschaft unumstösslich betrachten. «Liebe um Liebe», bei Matthes & Seitz in Berlin erschienen und schon durch den traditionsreichen Verlag geadelt, nun «einwandfrei» orthographisch, schreckt all jene auf, die vermissen, was bisher verunsicherte. Allen Leuten recht getan!
In Dragica Rajčić Holzners Roman spüre ich die unsägliche Kraft der Poesie, die Kraft der Worte, die die Bahnen der Geschichte oft überstrahlen. Wenn die Geschichte durch die Sprache fast in den Hintergrund rückt und sich der Text wie das Echo der Geschichte anhört, die eigentliche Resonanz. Beeindruckend!
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Dragica Rajčić Holzner wurde für ihren Roman «Glück» der Schweizer Literaturpreis 2021 verliehen: «In «Glück» erzählt Dragica Rajčić Holzner von einer Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Liebe, die weder in der Erinnerung, noch in der räumlichen Entgrenzung Halt findet. Die Autorin zeigt eine Welt voller Zumutungen, die dem Leben ihrer Protagonistin mit jedem Schritt aus dem Heimatort hinaus mehr Möglichkeiten nimmt. Die Autorin tut das in einer eigenwilligen, drängenden Sprache, die selbst auch Grenzen überschreitet und in der Enge der beschriebenen Lebensläufe unerwartete Freiheitsräume eröffnet.»
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Dragica Rajčić Holzner, 1959 in Split geboren, wuchs in Kroatien auf, bevor sie in die Schweiz zog. 1988 kehrte sie nach Kroatien zurück, arbeitete als Journalistin und gründete die Zeitung «Glas Kaštela». 1991 floh sie während der Jugoslawienkriege mit ihrer Familie in die Schweiz, wo sie sich in der Friedensarbeit engagierte. Zu ihrem Werk zählen auf Kroatisch und Deutsch verfasste Gedichte, Kurzprosa und Theaterstücke. Heute lebt Holzner in Zürich und Innsbruck. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Adelbert-von-Chamisso-Preis 1994.
Wer die Romane von Usama Al Shahmani liest, begegnet einem Mann, der in zwei Kulturen lebt. Einem deutsch schreibenden Iraker, dessen Herzund Erzählkunst ganz in der Tradition seines Landes pulst. Einem Thurgauer, der sein neues Zuhause wie nur wenige andere schreibend, wandernd, spazierend begeht und dabei eine Offenheit ausstrahlt, die mehr als nur ansteckt.
Die Veranstaltung muss leider auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden.
Nach seinem ersten Roman „In der Fremde sprechen die Bäume arabisch“, mit dem er sich in die Herzen seiner Leserinnen und Leser nistete und dort ganz eng an seiner eigenen Biographie die Geschichte eines Ankommenden schildert, beschreibt sein neuer Roman „Im Fallen lernt die Feder fliegen“ beide Bewegungen; jene der Flucht und jene der Rückkehr. Zwei Richtungen, die sich aber sehr oft nicht klar zuweisen lassen, denn mit einem Mal kann aus der Rückkehr Flucht werden, so wie die Flucht immer auch die Möglichkeit der Rückkehr in sich trägt.
Eine junge Familie flieht aus dem von Saddam Hussein regierten Irak über den Iran bis in die Schweiz. In einem Land, in der Schweiz, wo die Eltern nie wirklich ankommen, wachsen die beiden Töchter Aida und ihre ältere Schwester Nosche auf. Sie gehen zur Schule, bereiten sich vor auf ein Leben in Ausbildung und Beruf, eingebettet in Freundschaften und Beziehungen. Aber dem Vater der beiden Schwestern, ein konservativer Theologe und seiner in Traditionen eingebundenen Ehefrau will es nicht gelingen, sich in das Gefüge ihres Zufluchtsortes einzuleben. Eine Sprache, die sich quer stellt, keine Familie mehr, die einem trägt und eine Gesellschaft, deren Rituale nur schwer oder gar nicht zu verstehen sind.
Usama Al Shahmani «Im Fallen lernt die Feder fliegen», Limmat, 2020, 240 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03926-002-7
Während Aida in der Schule ist und die ältere Tochter schon in der Ausbildung aber noch nicht volljährig, beschliesst der Vater, in den Irak zurückzukehren. Aber was eine Rückkehr werden sollte, wird zur grossen Ernüchterung. Zum einen für die Eltern, die in ein Land, in ein Dorf, in ein Haus zurückkehren, wo nichts mehr ist wie es einmal war, man nicht versteht, warum man aus dem paradiesischen Westen zurückkehrt in ein Land, das vom Hass zwischen Sunniten und Schiiten zerfressen wird. Aber noch viel mehr für Aida und Nosche, für die es dort keine Zukunft zu geben scheint, ausser jener einer gefügigen Ehefrau.
Aida und Nosche beschliessen, mit Hilfe aus der Schweiz erneut aus dem Irak zu fliehen. Zurück nach Frauenfeld. Dorthin, wo sich vor ihrer Flucht ihr Leben abspielte. Die Flucht gelingt. Aber zu einem hohen Preis. Als Aida Jahre später Daniel, einen Schweizer kennen lernt und mit ihm zusammenzieht, merkt dieser, dass Aida ihre Vergangenheit weggesperrt hat, ihre Erinnerung, ihre Herkunft, den Alp, der auf ihrer Seele lastet. Und weil Daniel keine Ruhe gibt und immer wieder darauf hofft, etwas aus dem Davor seiner Freundin zu erfahren, droht die Liebe durch Verweigerung zu zerbrechen. Während Daniel sich eine Auszeit nimmt und ungewiss bleibt, ob es für sie beide eine Zukunft gibt, beginnt Aida, zaghaft aufzuschreiben, was wie ein Monolith quer in ihrer Seele alles Licht schluckt.
Wer ankommen will, muss etwas wagen. Das tun all die, die fliehen, die ein Heimatland zurücklassen, eine Familie, Freunde, ein Zuhause. Das Ankommen an einem anderen Ort ist nicht zwingend ein neuer Ort, eine freundliche Umarmung. Die einen bleiben immer auf der Flucht. Auf der Flucht vor sich selbst, den Bildern aus der Vergangenheit und einer zuweilen feindlichen Gegenwart. Andere schliessen sich in einer Kapsel ein aus lauter Angst, jenen kleinen Rest zu verlieren, den sie wie einen Schatz mit sich herumtragen.
Usama Al Shahmani erzählt genau davon. Vom Ankommen. Vom Kampf gegen permanente Flucht. Und weil es Usama Al Shahmani gelingt, in seinen Romanen nicht nur erzählerisch, sondern auch sprachlich diesen permanenten Kippzustand zwischen Hier und Dort zu beschreiben, werde ich als Leser mit all dem Zauber seiner Sprache an der Hand genommen.
„Im Fallen lernt die Feder fliegen“ ist Aidas Kampf mit sich selbst, ein Kampf in poetischer Kraft!
Usama Al Shahmani, geboren 1971 in Bagdad und aufgewachsen in Qalat Sukar (Nasiriya), hat arabische Sprache und moderne arabische Literatur studiert. Er publizierte drei Bücher über arabische Literatur, bevor er 2002 wegen eines Theaterstücks fliehen musste und in die Schweiz kam. Er arbeitet heute als Dolmetscher und Kulturvermittler und übersetzt ins Arabische, u. a. «Fräulein Stark» von Thomas Hürlimann, «Der Islam» von Peter Heine und «Über die Religion» von Friedrich Schleiermacher. Sein erster Roman «In der Fremde sprechen die Bäume arabisch» wurde mehrfach ausgezeichnet und war u. a. für das «Lieblingsbuch des Deutschschweizer Buchhandels» nominiert. Usama Al Shahmani lebt mit seiner Familie in Frauenfeld.