Ich sah den leuchtenden Schweif eines Kometen, der nur im Abstand eines Menschenlebens erscheint, sah ihn viele Male, bis er mir zum Gefährten wurde, mir keinen Schrecken einflösste wie jenen, die an Omen glaubten. Ich sah den Himmel, als er noch so hoch war, dass Götter darin leben konnten, und ich sah diese Götter ausziehen aus dem Himmel nach und nach, einem Allmächtigen platzmachend erst, bis auch dieser ausziehen musste, sodass der Himmel nun leer ist. Ich sah die Berge, als sie noch keine Namen trugen, als niemand daran dachte, sie zu besteigen, und ich sah diese Berge nach und nach bezwungen werden, auch jene, die als heilig galten. Ich sah in der Wüste einen Mann auf einer Säule stehen, sah ihn auf dieser Säule verharren für Jahre, und der Mann antwortete auf meine Frage, warum er das tue, er wolle sich nicht in Versuchung führen, er entsage dem Weltlichen, um das Himmlische zu erlangen. Ich sah die Meere, als sie noch weit waren, als sie noch als unüberwindbar galten, als in ihnen noch Leviathan und Cetus lauerten darauf, die Seefahrer hinabzureissen, sah diese Kreaturen schrumpfen und schliesslich verschwinden von den Meereskarten, ich sah Schiffe auslaufen in diese Meere, und ich sah sie zurückkommen tief im Wasser liegend und betörend duftend. Ich sah Menschen sich so sehr fürchten vor dem Tod, dass sie behaupteten, es gäbe den Tod nicht, hörte sie sagen, das Leben ginge nach dem Sterben weiter bis in die Ewigkeit. Ich sah Menschen sich so sehr fürchten vor dem Leben, dass sie ihre Körper aufschnitten, ihre Körper aufhängten, ihre Körper wegwarfen in Schluchten und in Flüsse. Ich sah Menschen sich so sehr fürchten vor dem Verlust eines andern Menschen, dass sie behaupteten, dass das Leiden, das einem der Verlust eines andern Menschen verursache, schlecht sei, dass man niemanden so sehr lieben dürfe, dass sein Verlust einem Leiden verursachen könnte. Ich sah einen Mann brennen, angezündet von denen, die nicht glauben wollten, dass jeder Stern am Himmel eine Sonne sei, und dass um jeden dieser Sterne Planeten kreisten. Ich sah Frauen brennen, viele Frauen, denen man vorwarf, Nadeln in Milch gezaubert zu haben, ich kenne den Geruch von brennendem Haar, von schmelzender Haut, ich kenne den Anblick von Gesichtern, die in Flammen verkohlen. Ich sah Frauen sich die Zähne schwärzen, sah sie sich die Zähne weissen, die Haare lang tragen oder kurz, sah sie all diese Dinge tun im Namen der Schönheit. Ich sah Tiere, die als heilig galten, und deren Tötung bestraft wurde, und ich sah dieselben Tiere bezeichnet als schmutzig und nichtswürdig, und sah ihre Tötung gefeiert von vielen Menschen. Ich sah die Menschen Gesetze aufstellen, wen man lieben durfte und wen nicht, sah sie die eine Liebe erheben zum Höchsten, was es gebe, die andere Liebe als teuflisch verbannen. Ich sah die Menschen Dinge schaffen, die ihnen die Arbeit erleichterten auf dem Felde, sah sie Maschinen schaffen, die sich bewegten wie sie selbst,aber nicht aussahen wie sie selbst, ich sah die Menschen Fabriken errichten, welche die Bedürfnisse der Menschen befriedigen sollten, und ich sah sie Fabriken errichten, die Menschen vernichteten.
All das sah ich mit meinen eigenen Augen, aber niemand glaubt mir, dass ich all das gesehen habe.
Lukas Maisel «Buch der geträumten Inseln», Rowohlt, 2020, 272 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00202-2
Lukas Maisel, geboren 1987 in Zürich, machte eine Lehre zum Drucker. Bald merkte er, dass er Bücher lieber schreiben als drucken würde und studierte am Literaturinstitut in Biel. Für das Manuskript «Buch der geträumten Inseln» erhielt er 2017 einen Werkbeitrag des Kantons Aargau und 2019 einen Förderpreis des Kantons Solothurn.
Eine von X.’ vielen Reisen auf dem afrikanischen Kontinent führte ihn – vermutlich 2014 – in die burundische Hauptstadt Bujumbura. Ich weiss nicht genau, was er dort machte. Manchmal frage ich mich, was er in solch abgelegenen Orten eigentlich suchte. War er für den Geheimdienst unterwegs? Bei dieser Reise allerdings war eher das Gegenteil der Fall. Er wurde beschattet, aber entkam den Agenten.
Er war wie so oft als Journalist eingereist, was auch seltsam ist, weil es die Formalitäten verkomplizierte, und er ja nichts schrieb. Er wäre einfacher als Tourist gekommen. Viele Journalisten reisen der Einfachheit halber lediglich mit einem Touristenvisum, was mit Risiken verbunden ist. Warum machte er es umgekehrt? In Ländern wie Burundi werden ausländische Reporter routinemässig überwacht. War es für ihn eine Art Spass zu versuchen, die Verfolger abzuhängen?
Er stieg zuerst im gediegenen Hotel Roca ab, wo oft Korrespondenten und internationale Delegationen unterkommen. Die Räume sind verwanzt, Telefon und Internet werden überwacht. Er besuchte gelegentlich ein billiges, schummriges Restaurant und beobachtete, dass zwei Agenten draussen, auf der anderen Strassenseite, warteten. Die Toiletten befanden sich im Hinterhof des Restaurants. Bei einer kleinen Inspektion stellte er fest, dass von dort ein schmaler Durchgang zum Innenhof des Nachbarhauses führte. Von dort wiederum gab es einen Ausgang auf ein Seitensträsschen, das weiter ins dichtbevölkerte Quartier und zu einem kleinen, überdachten Markt ging. Bei seinem vierten oder fünften Besuch der Imbissbude haute er durch diesen Hinterausgang ab. „Double-door“ nennt man dieses Manöver im Gangsterslang. Er verschwand im Labyrinth des Viertels.
Er hatte kein Gepäck mehr im Roca-Hotel. Das war bereits am Busbahnhof deponiert. Er zog ins Botanica-Hotel in Downtown um. Man hatte ihm gesagt, dort müsse man keinen Pass vorweisen. So würden auch die Behörden nicht erfahren, wo er war.
Er erschrak zwar, als die Frau am Empfang (es war eher eine Abstellkammer) ihm sagte, er solle seinen Pass nachher dem Chef geben, der komme in einer Stunde. Er versuchte, dem Chef auszuweichen. Aber als er ihm dann später am Abend doch über den Weg lief und an das kleine Pult beordert wurde, merkte er, dass der Chef davon ausging, er habe den Pass bereits der Frau gezeigt (oder zumindest so tat, um den offiziellen Schein zu wahren).
X. hatte Benoît in einem Klub namens „Arena“ kennen gelernt. Sie waren in einer Sitzgruppe am Rand eines Pools miteinander ins Gespräch gekommen. Mit dabei war ein älterer Franzose. X. hatte ihn gefragt, woher komme, und er antwortete, er lebe aus dem Koffer. Es stellte sich heraus, dass er Burundi seit Jahrzehnten kannte, wie auch viele andere afrikanische Länder. Über seine Tätigkeit wollte er nicht allzu viel preisgeben. „Sagen wir, ich bin Consultant.“ Auf X.’ Nachfrage sagte er: «Ich arbeite regional.» Er stellte sich auch nicht mit Namen vor. Irgendwann erhob er sich mit seinem Whiskyglas und sagte: „Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Falls jemand nach mir fragt – wir sind uns nie begegnet“ – und verschwand in der tropischen Nacht. Es hörte sich an wie aus einem schlechten Film, aber er meinte es ernst. Da blieben nur noch Benoît und X. übrig. Es war Benoît, der ihm das „Botanica“ empfahl und nebenbei erwähnte, man müsse dort keinen Pass vorzeigen. Er schwärmte ihm von Vanessa vor, einer Burunderin, in die er sich verliebt hatte. Eigentlich wollte er sie an diesem Abend ein letztes Mal treffen, aber seit 24 Stunden nahm sie das Telefon nicht mehr ab. Benoît war verwirrt, er konnte sich ihr Verhalten nicht erklären. Hatte sie ihr Handy verloren, wollte sie nichts mehr mit ihm zu tun haben, oder war etwas Schlimmes passiert? Die Stunde seiner Abreise näherte sich, und er geriet immer mehr in Panik. Kurz vor der Fahrt an den Flughafen meldete sie sich, aber es war zu spät für ein Treffen. Benoît gab X. 200 Dollar und ihre Telefonnummer. Sie sollte später am Abend vorbeikommen, und X. würde ihr das Geld aushändigen.
X. wartete im «Botanica»-Hotel auf sie, im kleinen Restaurant des Innenhofs. Gegen elf Uhr nachts tauchte sie auf. Sie war nachlässig gekleidet und schmutzig, aber X. verstand sofort, warum Benoît so fasziniert von ihr war. Ihre Augen leuchteten, eine fast sichtbare Aura ging von ihr aus. Sie wollte nicht, dass X. ihr das Geld im Restaurant gab. Er ging zur Rezeptionistin, die eingezwängt hinter dem Eisenpult sass, und liess sich den Schlüssel geben. Die Decke war so niedrig, dass ihr der Ventilator bei einem brüsken Aufstehen die Haare wegrasiert hätte. Sie reichte ihm den Schlüssel für Zimmer Nr. 7. Das war das Zimmer von Benoît. Offensichtlich verwechselte sie ihn mit ihm, vielleicht, weil Benoît auch schon mit Vanessa hier gewesen war. In diesem Moment erst merkte er, dass es tatsächlich eine entfernte Ähnlichkeit zwischen ihm und Benoît gab. Darüber hinaus hatten Afrikaner oft Mühe, weisse Gesichter auseinanderzuhalten, so wie es Europäern oft auch umgekehrt mit ihnen ergeht. X. liess sich nichts anmerken und ging mir ihr in Benoît ehemaliges und jetzt leeres Zimmer. Sie erzählte ihm, dass sie verhaftet worden sei und eine Nacht im Gefängnis hinter sich hatte. Das Telefon hatte man ihr abgenommen, deshalb verpasste sie Benoîts viele Anrufe. Sie hatte Benoît nichts von ihrer Verhaftung erzählt, sie schämte sich. Nun, sagte sie, wolle sie so rasch als möglich nach Hause, um sich zu duschen und sich umzuziehen. X. sagte ihr, sie könne schon hier ein Bad nehmen, wenn sie wolle. Sie blickte ihn stumm und erstaunt an und lachte dann. Bevor sie ging, lud X. sie für den nächsten Tag zum Mittagessen ein. Er begleitete sie hinaus und hielt ein Taxi für sie an. Als er zurückkam, war niemand mehr an der Rezeption. Er schnappte sich seinen Schlüssel und brachte seine Sachen ins Zimmer Nr. 7. Am nächsten Morgen begrüsste ihn die Rezeptionistin mit „Bonjour Monsieur Benoît“.
Vanessa erschien tatsächlich zum Mittagessen. Sie gönnten sich in der Pergola des Hotels Stachelschwein mit Kochbananen und eine Flasche eisgekühlten Rosé. Nachher landeten sie im Bett. Sie setzte sich rittlings auf ihn und schlug ihm mit der Hand auf den Hintern, wenn er nachliess, und mit den Füssen auf die Oberschenkel, als ob er ein Pferd wäre und sie ihm die Sporen gäbe. Ein schlechtes Gewissen hatte er nicht. Er beendete gewissermassen für Benoît, was dieser angefangen hatte. Er brachte die Sache zu Ende, aber er machte es für ihn, in seinem Namen.
Am Abend gab sie ihm einige Texte, eine Art Tagebuch, die sie Benoît versprochen hatte. X. war neugierig auf ihren Inhalt, öffnete sie jedoch nicht und übergab sie, wieder in Europa, Benoît. Dass er mit ihr im Bett gewesen war, verschwieg er.
Was er allerdings nicht wusste: Vanessa erzählte Benoît alles, der X. jedoch nichts davon sagte. Dafür erzählte Benoît es mir, nach X.’ Verschwinden.
***
Ich ertappe mich bei der Fantasie, nach Bujumbura zu reisen und die Geschichte weiterzuführen. Ich könnte mich als Benoît oder als X. ausgeben (ich habe noch einen seiner Passports). Ich würde im selben Hotel Botanica absteigen, im selben Zimmer Nr. 7, und Vanessa anrufen. Ich kenne ihre Nummer (die bestimmt längst nicht mehr funktioniert – ich vergesse, wie viele Jahre das schon her ist! X. meinte manchmal auch, er könne irgendwohin zurückkehren und nahtlos dort weitermachen. Das ist eine Illusion, und wie viel mehr, wenn ich dort weitermachen will, wo jemand anders aufgehört hat. X. allerdings würde sagen: Natürlich kann ich in die Haut einer fremden Person schlüpfen – ich mache es dauernd! Und natürlich kann ich die Zeit austricksen – auch das tun wir unaufhörlich, ohne es zu merken).
(Der vorliegende Text ist ein bisher unveröffentlichter Auszug aus der entstehenden Erzählung «Tod eines Tricksters».)
David Signers acht Erzählungen in «Dead End» kreisen um biografische Wendepunkte, an denen bisher geregelte Existenzen aus den Fugen geraten. Eben noch im Alltag verhaftet, finden sich die Protagonisten plötzlich an fremden, düsteren Orten wieder. In Situationen, die sie überfordern. Oder in denen ihr Leben zu einem jähen Ende kommt. Dead End. Signer schickt in seinem Erzählband weisse, europäische Männer im mittleren Alter ins Verderben. Ob in Varanasi oder in Zürich, alle jagen verlorenen Träumen und unstillbaren Sehnsüchten hinterher, neben denen die Fassaden der bürgerlichen Leben zu Staub zerfallen.
David Signer, geboren 1964, promovierter Ethnologe, hat mehrere Jahre in Afrika verbracht. Er ist Autor des zum Standardwerk gewordenen Buches «Die Ökonomie der Hexerei oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt» über die Auswirkungen der Hexerei auf die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas. Von 2016 – 2020 lebte er als NZZ-Afrikakorrespondent in Senegal, seit 2020 wohnt er in Chicago und berichtet für die NZZ aus Amerika und Kanada. Zuletzt erschienen von ihm die Erzählungen «Dead End» (Lector Books, 2017) und der Roman «Die nackten Inseln (Salis, 2010).
Im Herbst erscheint von ihm im NZZ Libro-Verlag das Buch «Afrikanische Aufbrüche. Wie mutige Menschen auf einem schwierigen Kontinent ihre Träume verwirklichen».
Der Autor und Philosoph Martin Kunz lässt mit sechszehn Gelegenheitstexte zum Innehalten auffordern, sie sollen um Unterbrechen verführen. Zu diesem Buch, das durch die Pandemie-Krise eine neue Qualität erhält, stellt er sich Fragen.
«Ich muss ja nur noch, was ich muss.» Gastbeitrag von Urs Heinz Aerni
Urs Heinz Aerni: Melancholie ist ein grosses Wort, das jedoch oft missverstanden wird, warum findet dieser Begriff Eingang in den Titel Ihres Buches?
Martin Kunz: Der Vorschlag, die Überschrift des siebten Textes als Buchtitel zu wählen, stammt vom Verleger. Aber ich war sofort einverstanden. Ich will der Melancholie etwas von ihrer Schwärze nehmen. Sie ist das wertvolle Gefühl des Unzulänglichen. Sie steht im Gegensatz zum Affentheater der Eitelkeit. Sie muss nicht in die Resignation führen, sie kann sogar lächeln. Ihr Lächeln wäre dann kein gestelltes, kein nervöses, keines, das die Zähne zeigt. In ihm erschiene ein Ja, das entwaffnet, aber nicht applaudiert. So kann eben auch das Erotische beginnen: als scheues Spiel, dem innewohnt, dass Lachen und Tod Hand in Hand gehen, wie beispielsweise Georges Bataille schön herausgearbeitet hat. Und jetzt sind wir beim Grundton der Betrachtungen in diesem Buch: Es gibt kein Licht ohne Schatten, was nicht zur Schwarzweissmalerei verführen soll, sondern zur Differenzierung der Farbzuschreibungen, zur Nachdenklichkeit. Und diese gehört zur Grundhaltung des Philosophen.
Ihre Reflexionen bewegen sich zwischen Themen gesellschaftlicher Natur und ganz persönlichen Notizen, wie lässt sich auf dieser Gratwanderung, schreiben ohne gleich die Seele ausstülpen zu müssen?
Die meisten dieser Texte sind aus bestimmten Erlebnissen heraus entstanden. Irgendetwas lässt mich nicht mehr los, und so setze ich mich hin, um zu schreiben, um dem vielleicht Zufälligen des Alltags etwas Grundsätzliches abzugewinnen. Ich bin im Spital; bin mit Freunden am Feiern; erhalte eine Nachricht von einem Kritiker meines Denkens; ich sitze am Meer, und es beginnt zu nieseln; eine Klage geht ein wegen des Verhaltens von Studierenden usw. Da kann es geschehen, dass es mich packt, und ich schreibe.
Quasi ein aus der Hüfte geschossener Affekt-Text?
Oder, manchmal entsteht zunächst so etwas wie ein polemischer Kommentar, den lasse ich dann ruhen und setze mich später wieder hin, will über das Glossenhafte hinaus zur wirklichen Erwägung gelangen. Meine Innereien kehre ich nicht nach aussen, aber sie müssen mitbeteiligt sein.
Sie tangieren mit Ihren philosophischen Erwägungen Bereiche wie Religion, Wahrheitssuche, pädagogische Grenzen, Eros, Träume, Sturm und Drang und Respekt. Damit geben Sie zu, dass trotz den immens vielen Tonnen philosophischer Schriften nach wie vor alle Fragen offen sind. Oder nicht?
Warum und wozu noch mehr schreiben? – das frage ich mich manchmal auch. Aber es ist vielleicht die falsche Frage. Schreiben ist wie jede innengeleitete künstlerische Arbeit eine Art Muss. Wenn man Glück hat, interessiert das Hervorgebrachte auch andere. Doch wer nur auf Massenerfolg zielt, ist kein Künstler.
Sagen Sie das mal den Kolleginnen und Kollegen mit Bestsellernauflagen…
«Die stille Erotik der Melancholie», Erwägungenn und Improvisationen, mit Illustrationen von Jeanine Osborne, Bucher Verlag, 2018, 96 Seiten, CHF 22.90, ISBN 978-3-99018-476-9
Natürlich ist gegen Erfolg nichts einzuwenden. Aber zu ihrer Frage zurück: Warum so unterschiedliche Themen? Weil das meinem Selbstverständnis entspricht. Ich sehe mich als vielseitig denkenden Flaneur, als Universaldilettanten auf professionellem Niveau, als jemanden, der kraft seiner Kompetenzen über alles und nichts nachdenken kann. Das ist etwas verspielt gesagt, was Philosophen in einer Welt von Spezialisten wieder sein sollten. Aber selbst eine erhaben gedachte Philosophie ist nochmals aufzubrechen auf eine Weite hin, die sie selber nicht hat. Und dort tummeln sich die Fragen, die wir vielleicht besser umspielen als definitiv beantworten. Platon wird von Aristoteles in Frage gestellt, Aristoteles von Platon. Bedeutende Denkformen fruchtbringend in die Existenz mit hineinnehmen, das wäre ein Philosophieren, das zur Gestaltung des Lebens beiträgt. Und weil dies denkerisch kaum je gelingt, brauchen wir die Kunst. Und wohl auch so etwas wie Religion.
Wie oft kommen Sie sich als Künstler und Philosoph bei der Arbeit in die Quere?
Eine listige Frage. Der Romantiker in mir möchte ja, dass Philosophie, Mythos, Kunst und Logos eins werden. Ich fühle mich Byung-Chul Han verbunden, der kürzlich geäussert hat, dass es der Welt gut täte, reromantisiert zu werden. Der Melancholiker bedauert schmunzelnd, dass dies nicht gelingt. Und der allem Hinterwäldlerischen abholde Spätmoderne sagt Ja, aber zur Welt, wie sie ist.
Und als Musiker…?
Freue ich mich über all das Gelungene in der Musik, die, wo sie ganz bedeutend ist, nie nur bejaht. Als Improvisator versuche ich das auszudrücken, was jetzt gerade zu sagen wäre.
Also mitnichten Konflikte zwischen den unterschiedlichen Schaffensarten?
In Wirklichkeit ist es aber durchaus so, dass sich die Arbeitsformen Denken, Poetisieren, musikalisches Gestalten tatsächlich in die Quere kommen können. Die erste Seminararbeit, die ich damals an der Universität ablieferte, kommentierte mein Professor so: Vielleicht ist es besser, wenn Sie Künstler werden. Ich habe dann zu sortieren gelernt. Aber als ich meine Dissertation schreiben sollte, entstanden wieder zuerst Gedichte. Unterdessen kann ich gut umgehen damit und lasse zu, was sich aufdrängt. Ich muss ja nicht mehr, muss nur noch, was ich muss.
Apropos Kunst, wenn ich ein Gemälde malte mit einem lesenden Menschen, der Ihr Buch in Händen hält, wie müsste dieses aussehen?
Da fällt mir ein Bild ein, das ich als Student liebte: Die Lesende von Jean Jacques Henner, einem während des Fin de siècle beliebten Malers. Das Bild mag künstlerisch problematisch sein, aber ich habe die zum Lesen verführte Daliegende gemocht, eine Nackte, die ihrerseits den Betrachter, scheinbar ohne es zu wollen, noch zu ganz anderem als zum Lesen verführt. Und der Gipfel war, dass, kaum war das Bild aufgehängt, eine Frau in mein Leben trat, die ihr glich und die während einiger Jahre grosse Bedeutung für mich hatte. Orientieren Sie sich also beim Malen des Bildes an einem solchen Ereignis.
Auch für das vorliegende Buch fanden Sie eine Künstlerin, mit der sich schon länger zusammen arbeiten…
Richtig. Nun hat sich ja Jeanine Osborne, eine interdisziplinäre Künstlerin, mit der ich seit rund zwanzig Jahren arbeite, in meine Texte vertieft und eine Fülle von Zeichnungen geschaffen, mit denen sie meine Gedankengänge augenzwinkernd kommentiert. Ich freue mich sehr, dass einige dieser Arbeiten in mein Buch aufgenommen werden konnten. Jeanine Osborne und allen andern, die mich mit ihren Kommentaren zu meinen gedanklichen Streifzügen herausgefordert haben, danke ich herzlich.
Martin Kunz studierte Philosophie, anthropologische Psychologie, Pädagogik und deutsche Literatur in Zürich und Berlin. Weiterhin studierte er am Konservatorium und an Kunstschulen und liessß sich zum analytisch orientierten gestaltenden Psychotherapeuten ausbilden. Bis vor kurzem war er Professor an der Pädagogischen Hochschule in Zürich. Heute führt er am Rande des Zivilisationslärms ein Atelier für Kunst und Philosophie. Von ihm sind u. a. «Honig und Quarz. Lyrik und philosophische Zuspitzungen» (Collection Entrada 2017) und das «Wider der Selbstvergessenheit», Bucher Verlag 2020).
Sie kam zu spät, die anderen hatten schon mit dem Essen begonnen. Es war nur noch ein Platz frei, zwischen einem Mann und einer Frau. Wenn die Frau lächelte, wirkte es, als würde sie eine Übung durchführen, deren Ablauf sie beherrschte, an deren Sinn sie aber zweifelte. Der Mann war zierlich mit strähnig blondem Kinderhaar und schnurgeradem Scheitel. Auf dem Tisch standen große Schüsseln mit Miesmuscheln, jemand füllte ihren Teller, ein anderer ihr Glas. „Entschuldigung“, sagte sie nochmals, aber außer dem Mann neben ihr schien es niemand zu hören. Er sagte, „angenommen“, und hob sein Weinglas. „Pavel.“ „Mona“, sagte sie. Dann tranken sie.
Es ging um Politik, den Flüchtlingsstrom, der sich durch Mexiko zog, eine Wanderung von zweitausend Menschen. Viertausend, korrigierte einer. Und da kommen noch mehr, versprach ein anderer. „Da war diese Mutter“, erzählte die Frau, die Mona schräg gegenüber saß. Ein beeindruckender Afro über einem ebenmäßigen Gesicht, irgendwie kostbar, dachte Mona, wie eine dieser kunstvoll geschnitzten Holzmasken. „An einem Seil kletterte sie von der Brücke auf ein Floß, um den Grenzfluss zu überqueren. Und ihr hinterher ihre Kinder, ganz fassungslos vor Angst.“ „Habe ich auch gesehen“, warf jemand vom anderen Tischende ein. „Und dann das Interview mit ihr!“ „Ja“, sagte die Frau. „Als der Reporter zu ihr sagt: Trump schickt Militär an die Grenzen, und sie nur entgegnet: Gott hat das letzte Wort, nicht Trump.“ „Zu flüchten, ist so unvernünftig. Aber zu bleiben auch“, sagte ein Mann mit grauen, millimeterkurzen Haaren. Er trug eine dickrandige Brille, wie sie vor einigen Jahren modern gewesen war. Ein asketisches Gesicht, schmaler Clark Gable Schnurrbart. Bestimmt Künstler, tippte Mona, vielleicht bekannt. Oder verkannt. Auf jeden Fall der Älteste hier. Sie zählte lautlos die Anwesenden, mit Felix, dem Gastgeber, waren sie dreizehn. Die dreizehnte Fee, dachte sie. Die zu spät kam. Wütend, weil für sie kein goldener Teller mehr da war. „Das ist es, was Trump nicht kapiert“, fuhr der Künstler fort. „Dass seine Härte gegen die Verzweiflung nichts ausrichten wird.“ „Ist das ein Krieg?“, fragte die Frau neben Mona. „Eine Invasion?“ „Da hat wohl jemand zu viel Fox News gesehen“, sagte Pavel verächtlich. Muscheln durchreichen. Die Weinflasche. Das Klirren der leeren Muschelschalen, als sie zurück in die Schüssel geschoben wurden. Die Teller behalten, das Besteck auch, die Spülmaschine streikt, ihr versteht?, zustimmendes Nicken, dann erhoben sich zwei, nahmen die Schüsseln mit, gingen mit Felix in die Küche, Mona hörte sie lachen. „Pavel“, sagte sie. „Ist das tschechisch?“ „Korrekt“, sagte Pavel. „Der Kleine. Das passt doch.“ „Mona… Vielleicht von Mönch abgeleitet?“ „Und? Passt das? Lebst du mönchisch?“ „Ach je.“ Mona lachte. „Kommt vor.“ „Selbst schuld.“ Pavel klang plötzlich gelangweilt. „Du lebst nur einmal, kleine Nonne. Denk dran.“ Der nächste Gang. Kalbsfilet durchreichen. Die Schüssel mit Kartoffeln, klein und rund und gelb. Erbsen. Bohnen. Ein Sonntagsessen. Das Gespräch war inzwischen zur Kunst gewechselt. Eine Ausstellung in der Bronx. Die Kunstsammlung von König Charles dem Ersten. Tizian, Holbein, Tintoretto, you name it. An der Wand der Lebenslauf des Königs, mit 49 hingerichtet, und davor neun Kinder, von denen nur eines älter als 35 wurde. „Wenn du in den ersten Raum kommst, ist es wie in einem Albtraum: all die weißen Männer mit ihren Halskrausen und strengen Blicken, die dich anstarren.“ Die Frau neben Mona verzog angewidert das Gesicht. „Starrst nicht viel eher du sie an?“, fragte ein Mann, den Mona bisher noch nicht bemerkt hatte. Sie musste sich vorbeugen, um ihn zu sehen: Vollbart, braune, etwas zu eng stehende Augen, nicht viel älter als sie, achtundzwanzig vielleicht, der oberste Knopf des weißen Hemdes geschlossen, was ihm etwas Verklemmtes gab. „Das eine schließt das andere nicht aus“, sagte die Frau. Mona schätzte sie auf Ende dreißig. Sie hatte etwas Kindliches an sich, stupsnasig im Profil. Sie stocherte in den Erbsen herum, stach dann und wann ein paar auf, ihre Stimme klang fast trotzig. Kim Jong-Un. Der Islam. Natürlich sei der Koran nicht gewalttätiger als die Bibel. Du sprichst vom Alten Testament? Weil beim Neuen sieht das dann doch etwas anders aus. Okay, aber wer war nicht alles Christ. Truman, Reagan, Bush, Trump. Oha. Jemand erzählte von einem neuen Gesellschaftsspiel, das natürlich nicht neu war, sondern genau wie Wahrheit oder Pflicht. Das hatte Mona schon mit ihren Freundinnen gespielt. Also: Was ist für dich persönlich Erfolg? Spaß am Beruf. Die Liebe. Taxifahren in Manhattan. Wie bescheiden! Eine eigene Wohnung. Die Privatschule für die Kinder. Das war der Mann mit den grauen Haaren gewesen, offenbar der einzige mit Kindern, da niemand darauf reagierte. Das charakterlich Mieseste, was du in letzter Zeit gemacht hast. Meine Mutter ausgeladen. Einen Kollegen gemobbt – aber hey, er hatte es verdient, glaubt mir. Wählt niemand die Pflicht? Was ist die denn? Alles außer Telefonscherze! Küsse eine der anwesenden Personen. Partner ausgenommen. „Ich überleg’s mir noch“, sagte der bärtige Mann. „Und du, was hast du Schlimmes getrieben?“, fragte Pavel leise. Mona trank einen Schluck Wein. „Eine Freundin belogen“, sagte sie dann. „Und was ist daran schlimm?“, fragte Pavel ungläubig. „Ich lüge jeden Tag.“ Er wechselte die Tonlage, leutseliger Gesichtsausdruck: „Aber nein, Liebling, natürlich bin ich dir treu, wo denkst du hin? Meinst du etwa, dass ich in deiner Wohnung, deinem Bett…? Wie kannst du nur!“ Er zuckte mit den Schultern. „Warum muss er auch dauernd verreisen, n’est pas?“ „Bist du Schauspieler?“, fragte Mona. Sie merkte, wie sie innerlich ein Stück von ihm abrückte. „Nein.“ Er sah sie prüfend an. „Bin ich nicht.“ Apple, Facebook, Tesla. Die Nerds sind Milliardäre geworden, und die großartige Idee vom guten Konsum verpufft. Wäre ja auch zu schön gewesen, so einfach sich und gleich noch der Welt was Gutes zu tun, indem man in einen neuen Laptop investiert oder ein Bild von seinem Lunch hochlädt. Und ist euch aufgefallen, dass wir alle gleich eingerichtet sind? Sogar dann, wenn wir die Sachen vom Flohmarkt holen, damit sie schön abgeschabt aussehen. In einer Ecke steht immer auch ein Eames Chair rum. Vielleicht müsste man aufhören zu konsumieren – hinaus ins Freie, ins abgeschiedene Leben, die Glückseligkeit an frischer Luft. Hat eigentlich jemand dieses Interview mit Sean Penn gesehen? Egal, was er gesagt hat, egal was er tut: alle reden nur über seine Raucherei und dass er auf Ambiant war. Als ob er der Einzige wäre! Als ob wir uns nicht alle aufputschen und runterholen müssten. Wer hat in der letzten Woche alles Drogen konsumiert? „Okay“, sagte der Bärtige. „Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, jemanden zu küssen.“ Alle lachten, keiner hob die Hand, auch Mona nicht. Und der Bärtige blieb sitzen und küsste niemanden. Alles fake, dachte Mona. „Und du bist Deutsche?“, fragte Pavel. „Hört man das?“ „Nein. Oder vielleicht doch: ja. Aber Felix hatte dich angekündigt: seine deutsche Freundin.“ Pavel lächelte spöttisch und lieb. „Eigentlich bin ich Amerikanerin.“ Das war immer ihr Ass im Ärmel: Eigentlich bin ich Amerikanerin. Auch wenn sie ihre Staatsangehörigkeit nur dem unwahrscheinlichen Umstand zu verdanken hatte, dass ihre Eltern ein Jahr in Houston gelebt hatten, wo ihr Vater als Ingenieur beim amerikanischen Ableger des bayrischen Mutterkonzerns arbeitete und ihre Mutter, von der texanischen Sonne belebt, unerwarteter Weise doch noch einmal schwanger geworden war. Sodass nicht ihre Tochter, die zwecks Abitur in Deutschland geblieben war, sondern sie nach ihrer Rückkehr mit einem Baby dastand. Immerhin gab es Mona jetzt die Gelegenheit, in Amerika zu studieren und sich hier wie alle anderen Studenten bis zum Hals zu verschulden. Das erzählte sie Pavel. Nicht aber, dass sie sich immer nach Amerika gesehnt habe. Dass sie sich nie ganz heimisch gefühlt hatte in Deutschland. Das war zu albern, fast so sehr wie dieses dämliche Gesellschaftsspiel. „Und“, sagte Pavel. „Gefällt es dir hier?“ Er hatte jetzt nichts Spöttisches mehr an sich. Schien ganz zugewandt, nur an ihr interessiert. „Vieles“, sagte sie, „gefällt mir. Die Atmosphäre, die Uni, die anderen Studenten. Anderes verunsichert mich: ich habe den Eindruck, als könnte ich jeden Moment versagen. Manchmal fühlt es sich an, als wäre ich mitten in einem Strudel und ganz allein.“ „Das kenne ich“, sagte Pavel und Mona lächelte ihn dankbar an. Er sah nachdenklich auf seine Hände, dann sagte er: „Drogen. Mir helfen da immer Drogen.“ „Welche?“ „Ecstasy, Speed, Koks, je nachdem.“ Er zuckte mit den Schultern. „Und Sex.“ Er warf ihr einen belustigten Blick zu. „Sei nicht schockiert, kleine Nonne.“ „Keine Sorge“, erwiderte Mona. „Bin ich nicht.“ Sie nahm seinen und ihren Teller, stellte sie aufeinander, dazu die Schüssel mit den restlichen Kartoffeln und trug sie in die Küche. Der bärtige Mann stand vor dem Fenster, drehte sich kurz nach ihr um und winkte sie dann zu sich heran. „Schau mal“, sagte er leise und nickte mit dem Kinn zum Fenster. Eine Amsel saß direkt davor auf der Fensterbank, im Schnabel einen Wurm, ihr zuckender Kopf mit dem runden schwarzen Auge. „Ein Männchen“, flüsterte er. „Erkenn ich am gelben Schnabel.“ Die Amsel flog weg, und er sagte: „Wie schön, dass wir uns jetzt endlich kennen lernen.“ Mona wandte ihm ihr Gesicht zu, sodass sich ihre Nasen fast berührten. „Finde ich auch.“ „Wollen wir das Abspülen übernehmen?“ „Wie romantisch.“ Mona lachte leise. „Oh, unterschätz das nicht. Die Hände im warmen Wasser, das Reiben und Polieren. Und vielleicht kommt die Amsel noch mal zu uns, vom Spülbecken aus könnten wir sie sehen. Übrigens mag ich dein Kleid, dieses schillernde Grün, du siehst darin aus wie eine Nymphe.“ „Ich bin eine“, sagte Mona. „Geboren aus Schaum, einer Muschel entstiegen.“ Er nickte. „Jetzt, wo du’s sagst.“
Er hieß Alex. Er kam aus Michigan und studierte Medizin an der Columbia. Mit dem Schwamm rieb er die Teller sauber, dann hielt er jeden unter warmes fließendes Wasser, bevor er ihn ihr gab. Schmale lange Hände, fast wie die einer Frau, sie stellte sich vor, wie er ein Skalpell hielt, wie er Körper öffnete, wie er darin herumbastelte, geschickt und sicher und unbeeindruckt. „Nein“, sagte er. „Ich will kein Chirurg werden.“ „Sondern?“ „Frauenarzt.“ „Wie schrecklich“, sagte sie. „Diese Entzauberung, meine ich.“ „Eigentlich nicht.“ Er hielt mit dem Spülen inne und sah sie an. „Der Zauber bleibt.“ „Dann ist ja gut.“ Sie nahm den Stapel mit Tellern. „Wohin damit?“ „Kinder, Kinder, Kinder!“, rief Felix, der in die Küche kam. „Ihr seid hier doch nicht zum Arbeiten. Raus mit euch, gleich gibt’s den Nachtisch.“ Er holte eine große Glasschale mit Vanillecreme aus dem Kühlschrank. „Nein“, sagte er streng, als Mona die Schale mitnehmen wollte. „Da müssen noch Verzierungen drauf. Kirschen, Krümel, der ganze Kram, du weißt schon. Raus jetzt mit dir.“ „Schon gut“, sagte Mona. „Ich geh ja schon.“ Im Bad sah sie sich im Spiegel an. Nur wenn sie lächelte, war sie schön. Ansonsten sah sie mürrisch aus. Auf ihrem Kleid Wassertropfen in gerader Linie, wie eine Markierung. Bevor sie die Tür öffnete, wusste sie, dass Alex davor stehen würde. „Er will mir nicht seinen Platz überlassen“, sagte er. „Ich habe ihm fünfzig Dollar geboten, aber er weigert sich.“ „Hast du nicht ernsthaft“, sagte Mona. Sie hatte Lust, ihn zu küssen. „Doch.“ Alex nickte. „War das zu wenig?“ „Wahrscheinlich“, sagte sie und ging zu ihrem Platz.
Also, sagte Pavel, jetzt da sie sich in der Küche amüsiert und ihn hier allein gelassen habe, müsse er ihr offenbaren, dass sie etwas versäumt habe, einen Streit nämlich, und wofür, wenn nicht dafür, gehe man schließlich zu einem Abendessen. Der Streit sei entbrannt zwischen zwei Frauen. Er deutete unauffällig auf die Frau mit dem Afro und auf eine zierliche Blonde, die am anderen Ende des Tisches saß und von einem bulligen Glatzkopf fast verdeckt wurde. Sie war die Einzige, die wie eine Geschäftsfrau aussah: Bluse, Blazer, Goldkette, der akkurat geschnittene Pagenkopf. Sie sah klug aus, fand Mona, und so, als wisse sie das auch. „Es ging um Emanzipation“, sagte Pavel. „Um sexuelle Belästigung, gleiche Bezahlung, Frauenquote – nichts Neues unter der Sonne. Das Witzige war, dass sie eigentlich einer Meinung waren und sich dann doch anfeindeten. Oh je“, unterbrach er sich. „Da kommt dein Verehrer.“ Alex hatte eine Schale in der Hand und einen Löffel. Er sagte, „ich setz mich dazu, falls das okay ist“, und Pavel sagte: „Nur zu, wackerer Kämpe, du lässt dich ja eh nicht abhalten.“ Alex holte einen Stuhl und setzte sich so neben Mona und Pavel, dass sie einen Halbkreis bildeten. „Es ging gerade um den Streit, den ihr verpasst habt“, sagte Pavel. „Zwei Frauen, die sich wegen MeToo und all dem Scheiß anfeindeten, ganz wunderbar.“ „Warum Scheiß?“, fragte Mona. Pavel sah sie abschätzig an. „Weil’s Scheiß ist, darum. Wir steuern auf prüde Zeiten zu, das kann ich dir verraten, meine Liebe.“ „Das sagt dir deine lange Lebenserfahrung, nicht wahr?“ Mona war auf einmal wütend, es überraschte sie beinahe selbst. Bis eben hatte sie Pavels Blasiertheit noch unterhaltsam gefunden. Wie alt war er überhaupt? Fünfunddreißig, vierzig? „Da hast du wohl recht.“ Pavel ignorierte ihre Wut. „Und ich für meinen Teil muss sagen: wenn mich Kevin Spacey betatscht hätte, hätte ich mich nicht wirklich aufgeregt.“ „Aber darum geht’s doch gar nicht“, sagte Mona. „Ob es dir persönlich gefallen hätte oder nicht. Sondern ob du dich hättest wehren können, wenn du in einer abhängigen Position gewesen wärst.“ „Hör mal, Süße. Das ist doch ein Nehmen und Geben. Ich meine, schau dir doch die Frauen mal an, Titten und Ärsche, wohin man sieht, und das alles nur, weil sie sich Vorteile damit verschaffen wollen. Aber dann dieses ‚nur gucken, nicht anfassen‘, eiteitei, die Unschuld vom Lande plötzlich! Dabei ist das doch ein Tauschgeschäft, von alters her und so bekannt wie der Katechismus.“ „Und damit ist jede Belästigung, sogar wenn es dann eine Vergewaltigung wird, in Ordnung?“ Mona sah fassungslos von Pavel zu Alex. Alex aß seine Vanillecreme, ohne den Blick zu heben. „Ach, Vergewaltigung.“ Pavel schnaubte spöttisch. „Wer da nicht alles vergewaltigt worden sein will.“ Mit hoher Stimme sagte er: „Also ich bin da nur so mit ins Hotelzimmer und hab mir nix dabei gedacht und plötzlich liegt der auf mir. – Merkst du nicht, was das für ein Mist ist?“ „Dann gibt’s für dich also gar keine Vergewaltigung?“ Mona sah hilfesuchend zu Alex, der ihren Blick erwiderte und kurz eine Grimasse komischer Ratlosigkeit schnitt. „Doch“, sagte Pavel. „Klar, im Park, von irgend einem Triebtäter. Aber der Begriff wird einfach inflationär gebraucht.“ „Nein“, sagte Mona. „Nein, nein, nein.“ Sie merkte selbst, dass ihre Stimme mit jedem Nein lauter geworden war. Für einen Moment schien ihr, als verstummten die Gespräche um sie herum. Aber vielleicht kam es ihr nur so vor, weil sie ganz auf Pavel konzentriert war, und auf das, was sie sagen wollte. Pavel sah sie abwartend an, sie amüsierte ihn offensichtlich. „Eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung.“ Sie bemühte sich geduldig zu klingen – geduldig und herablassend. „Sie liegt dann vor, wenn Sex an jemandem vollzogen wird, ohne dass der- oder diejenige das will.“ „Und woher weiß man immer so genau, was der andere will?“, fragte Pavel. „Jetzt stell dich nicht dumm.“ „Wenn also beide den Sex wollen, ist er okay?“ Pavel legte die Stirn in Falten und stützte sein Kinn in die Hand. Er schien sich überwinden zu müssen, um die nächste Frage zu stellen, aber etwas in seiner Stimme – diese Naivität vielleicht: zugewandt und unschuldig -, verriet Mona, dass das ganz und gar nicht so war. „Wenn es also so ist, wie es in meinem Fall war: dass jemand mit acht Jahren das erste Mal Sex hat, mit einem Vierzigjährigen, und das ganz einfach, weil beide es gerne wollen, dann ist das okay, nicht wahr?“ „Nein“, sagte Mona. Sie fühlte eine Kälte, die sich plötzlich in ihr ausbreitete, eine dumpfe Trostlosigkeit. „Nein“, wiederholte sie. „Das ist nicht okay.“ „Und warum nicht?“ „Weil das Kind“, sie sprach jetzt leise, „also du, ausgenutzt wurde: weil dein Bedürfnis nach Liebe oder Zuneigung oder was auch immer sexuell ausgenutzt wurde.“ Pavel schob sein Gesicht nah an ihres und sah sie forschend an. Sie hielt seinem Blick stand, aber sie erwiderte sein Lächeln nicht. „Mehr hast du nicht zu bieten?“, fragte Pavel. „Mehr nicht als diese Küchen-Psychologie? Und was, wenn ich dir verriete, dass ich derjenige war, der ihn bedrängte? Ganz einfach, weil ich geil auf ihn war?“ Jetzt nicht weinen, dachte Mona, und dann dachte sie, dass das lächerlich war: dass sie hier saß und um diesen Pavel – um das Kind, das er gewesen war, und vielleicht auch um ihn, wie er heute war, so freundlich und grausam und falsch – trauerte. Aber sie konnte nichts dagegen tun, dass ihr Herz sich zusammenzog bei dem Gedanken daran, wie dieses Kind sich anbiederte und benutzt wurde. „Ist ja gut“, sagte sie leise. Sie stand auf. „Du hast gewonnen.“
Sie hatte ihre Jacke vergessen, darum fror sie nun in ihrem dünnen grünen Kleid. Dem Meerjungfrauenkleid. Egal, sie würde morgen bei Felix anrufen und sich entschuldigen, dass sie einfach so gegangen war. Und irgendwann in den nächsten Wochen würde sie ihre Jacke holen gehen. Dann fiel ihr ein, dass es Duncans Jacke war, und dass sich in der Innentasche die silberne Pillendose befand, die er ihr vorsorglich überlassen hatte, bis die Prüfungen vorbei waren. „Mist“, fluchte sie, „Mist, Mist, Mist.“ Wenn sie jetzt wieder zurückging und ihre Jacke holte, würde das mehr Aufsehen erregen als ihr eiliger Aufbruch von vorhin. Und Pavel würde sie lächelnd beobachten, voll mitleidiger Verwunderung. Einen Block vor Felix’ Haus kam ihr Alex entgegen, ihre Jacke über seinem Arm. „So bekam ich wenigstens deine Adresse raus.“ Er hielt ihr die Jacke hin und sie zog sie an und tastete nach der Pillendose. „Okay“, sagte sie. Sie war immer noch wütend auf Alex, weil er sie nicht unterstützt hatte. Aber sie war auch froh, dass sie nicht zurück in Felix’ Wohnung musste. „Danke.“
Am Morgen strich Alex mit seinen langen, schmalen Fingern über ihre Hüfte und ihr Bein, und es nervte sie nicht: sie ließ sich weiter streicheln und küssen und drehte sich irgendwann zu ihm um. Ihr Schlafzimmer war ein Chaos, nicht nur seine und ihre Kleider lagen auf dem Boden, auch zwei Weinflaschen standen da, die sie mit Duncan geleert hatte, und eine Baseballkappe lag auf dem Stuhl, von der sie nicht mehr wusste, wem sie gehörte. Es war alles etwas viel im Moment, aber es war auch schön: wenn, wie jetzt, die Sonne durch das Fenster fiel und Streifen von Staub in die Luft zauberte, die so breit und massiv aussahen, als könnte man sich auf sie setzen und geradewegs in den Himmel über New York reiten. Natürlich würde man fallen. Aber für einige Momente wäre es wunderbar. Man brauchte nur Mut.
Annette Mingels, geboren 1971 in Köln, studierte Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg. Promotion in Germanistik. Nach Stationen in der Schweiz, in Montclair (USA) und Hamburg lebt sie seit Mitte 2018 mit ihrem Mann Guido Mingels und den drei Kindern in San Francisco.
Rezension von «Dieses entsetzliche Glück» auf literaturblatt.ch
Nora Gomringer hat zahlreiche Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Ahrenshoop, Nowosibirsk und Kyoto wurde ihr 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis und 2019 war sie Max-Kade-Professorin des Oberlin College and Conservatory in Ohio. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie das Internationale Künstlerhaus Villa Concordia als Direktorin leitet.
Sandra Künzi «Die Hülle», Eine Erzählung, Der gesunde Menschenversand, essais agités, 2021, Taschenbuch, 88 Seiten, CHF 17.00, ISBN 978-3-03853-994-0
Nach einem schönen Wandertag im Spätwinter werden die Erzählerin und ihre Freundin Charlotte von finsteren Gesellen überfallen. Während sie Charlotte kidnappen und in eine Kneipe entführen, flüchtet die Erzählerin und wird vom Gemeindeschreiber persönlich angefahren. Welche Tragweite dieses Erlebnis hat, erfährt die Erzählerin erst später, als Charlotte sie bittet, für sie in eine Rolle zu schlüpfen. Sie soll als Burkaträgerin in einer Talk Show auftreten. Offenkundig spielt sie ihre Rolle bar jeglicher Gottesfurcht derart gut, dass niemand den Betrug erahnt. Sie wird immer wieder in Gesprächsrunden eingeladen, doch irgendeinmal fällt auch ihr die gewünschte Antwort nicht ein. Sandra Künzis Erzählung verarbeitet auf amüsante, literarische Weise die Diskussion rund um die “Burka-Initiative”, die am 7. März 2021 in der Schweiz zur Abstimmung gelangt.
«Am meisten ärgert mich, dass Burka und Niqab mit Islam gleichgesetzt werden. Das ist Quatsch.» Sandra Künzi
Interview mit Sandra Künzi von Beat Mazenauer, Germanist und Historiker, Literaturkritiker und freier Autor
Beat Mazenauer: «Die Hülle» hast du vor zwei Jahren geschrieben, lange vor der Burka-Initiative. Weshalb hast du damals dieses Thema aufgenommen?
Sandra Künzi: Die konkrete Idee zu der «Hülle» entstand im Herbst 2017, nachdem am 15. September 2017 die Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» mit 105’553 gültigen Unterschriften eingereicht worden war. Ich fand die damalige Diskussion absurd. Es geht in dieser Diskussion im Grunde gar nicht um die Burka, den Niqab oder den Islam, sondern um unsere Projektionen und Ängste. Der Ganzkörperschleier bietet sich geradezu als Projektionsgefäss an. Man weiss nicht, was unter diesem „ Tuch“ steckt; aber interessanter im Grunde ist, dass man es offenbar auch gar nicht genauer wissen will. Diesen Eindruck hat man in der gesamten Diskussion: Sie wird emotional geführt, dabei rückt in den Hintergrund, worum es eigentlich geht. Die Gleichsetzung von Islam mit einem Verhüllungszwang ist absurd und fremdenfeindlich. Von diesen Ängsten und Projektionen handelt meine Erzählung.
Es geht um die Freiheit, heisst es im Zusammenhang mit der Burka immer wieder, von allen Seiten. Geht es wirklich um die Freiheit, oder ist das bloss vorgeschoben?
Ja, es ist interessant, dass die Freiheit sowohl von den Befürwortern wie auch den Gegnerinnen der Initiative ins Feld geführt wird. Freiheit bedeutet offenbar für jeden und jede etwas anderes. Beide haben Recht mit den Freiheiten, auf die sie sich berufen: Die Freiheit der Kleiderwahl, wobei eine Burka aus meiner Sicht kein Kleidungsstück ist. Die Freiheit der Religion und ihrer Symbole. Die Freiheit… hmm welche nochmal? Ah, genau, das Egerkinger Komitee erfindet eine neue Freiheit, nämlich jene des „das Gesicht zeigen“. Es gehöre „in aufgeklärten europäischen Staaten wie der Schweiz zu den zentralen, unveräusserlichen Grundwerten des Zusammenlebens, sein Gesicht zu zeigen“. Solche Sätze sind natürlich unglaublich reizvoll für eine Autorin.
Du verbindest in der Erzählung Mediensatire und Burka-Tragen. Worin liegt für dich der enge Zusammenhang?
Wir erinnern uns an die fortschreitende Zentralisierung der Medien z.B. im sogenannten TA-Media-Mantel, der seit 2018 die regionalen Redaktionen frisst, was gerade auch für die Kulturberichterstattungen und generell für die Medienvielfalt ein Problem ist. Dieser „Mantel“, also eine Hülle, ist natürlich nicht dasselbe wie die Burka oder der Niqab, aber die Symbole ähneln sich. Inhaltlich passen die Themen zusammen, weil die Medien natürlich der Kampfplatz dieser emotional geführten Abstimmung sind und weil sie manchmal auch mitverantwortlich sind für ins Feld geführte Unsachlichkeiten. Interessant ist auch, dass sich die Medien bemühen, „echte“ NIqabträgerinnen vor die Kameras zu bekommen, aber dennoch immer „nur“ Konvertitinnen finden. Und auch davon eigentlich nur etwa zwei. So sehr wir uns bemühen die Hülle zu heben, es gelingt uns nicht.
Du gehst am Rande auch auf den Fall des Fake-Journalisten Relotius ein: Ist das für dich ein journalistischer Burkaträger?
Hmm…. ich möchte die Burka nicht als „Verheimlichungs-Instrument“ verstanden haben. Ich bin keine Islamwissenschaftlerin, ich kenne die genaue Geschichte der Burka oder des Niqab nicht. Aber sicher habe ich die Figur Klaus aus meiner Erzählung an den Fall Claas Relotius angelehnt, weil Relotius verhüllte. Aus dem Abschlussbericht der Aufklärungskommission zum Fall Relotius geht hervor, dass er geschickt vorging. Es war wohl nicht ganz offensichtlich, dass er in seinen „Reportagen“ lügte oder Fakten zurechtbog. Das machte die Geschichten gerade so gut oder vielleicht sogar so „echt“.Gleichzeitig wollte man ihm schnell glauben und ihn wenig hinterfragt haben. Des Kaisers neue Kleider? Oder Baron von Münchhausen? Es hat nichts mit der Ganzkörperverhüllung zu tun, die Fundamentalisten unter dem Titel Islam für Frauen fordern. Sondern unsere Projektionen in die „Hülle“, die Burka stehen im Zusammenhang mit den Projektionen in die Texte von Relotius. In beiden Fällen glaubt man nur, was man will und man sieht nur, was man glauben will.
Deine Erzählung «Die Hülle» thematisiert ein aktuelles politisches Thema als Erzählung. Denkst du, dass solche Texte dabei mit helfen können, die politische Diskussion wieder anregender zu gestalten?
Das hoffe ich natürlich. Aber eigentlich müssen wir einfach lernen, wie eine sachliche Debatte geht. Dafür gäbe es auch Kurse, aber wenn Literatur mithelfen kann …
Bist du in der Sache gänzlich entschieden – oder ist das erzählerische Format auch für dich selbst eine Form der differenzierten Auseinandersetzung?
Ich bin gegen die Verhüllung, vor allem weil es meistens die Frauen trifft. Aber ich stimme trotzdem gegen diese Inititative. Man kann gegen die Burka oder den Niqab sein und trotzdem Nein stimmen. Am meisten ärgert mich, dass Burka und Niqab mit Islam gleichgesetzt werden. Das ist Quatsch. Als Muslimin wird man da in eine ganz blöde Ecke gedrängt, die mit der realen Religion vermutlich nicht viel zu tun hat. Und ja, diese Erzählung war auf jeden Fall mein Weg, mich in diesen Ambivalenzen zurecht zu finden.
Die Reihe «essais agités. Edition zu Fragen der Zeit» pflegt den kritischen Essay. Sie führt aktuelle Diskurse, spürt verborgene Themen auf und setzt überraschende Ideen in die Welt. Sie ist offen für ein bewegliches Nachdenken über Fragen der Zeit. Zugrunde liegt ihr eine eigens für die Reihe entwickelte Schreibsoftware, die Texte mit einem automatisierten Verfahren in Buchform bringt. Diese Software ermöglicht es, die Texte schnell, variabel und in unterschiedlichen Formaten zu präsentieren und sie in der Schweiz zu drucken. Die Reihe «essais agités» wurde von «alit – Verein Literaturstiftung» initiiert und erscheint in Buchform beim Verlag Der gesunde Menschenversand. Sie wird begleitet von einer Chapbook-Serie, die on demand bestellt werden kann.
Sandra Künzi, geboren 1969, Autorin, Musikerin und Juristin. Künzi schreibt für Bühne, Radio, Papier und tritt alleine oder mit ihrem Spokenword-Duo Künzi&Frei auf. Künzi ist Käptn der legendären Autorinnenreihe «Tittanic», deren gleichnamige CD 2009 im Verlag Der gesunde Menschenversand erschien. 2013 veröffentlichte derselbe Verlag ihr Buch «Mikronowellen». Sie ist Mitbegründerin des Berner Lesefestes «Aprillen». Als Präsidentin von t. Theaterschaffende Schweiz und Mitglied der verbandsübergreifenden Taskforce Culture engagiert sie sich für Kulturschaffende und Veranstaltende. Sie lebt in Bern.
Die Kinder im Dorf hatten alle braune und grüne Augen, ich war die Einzige mit klarem Blau im Blick. Das hatte ich von meinem Vater geerbt. Die Augen und den englischen Nachnamen. Darüber verlor ich aber kein Wort. Es hätte nur weiteren Anlass zu Spott gegeben. Es hieß, dass nur die Stadtkinder blaue Augen hätten, das käme vom vielen Waschen. Man schrieb den Städtern einen regelrechten Reinlichkeitsfimmel zu. Gut, was meine Mutter betraf, stimmte das vielleicht. Ich war davon aber sicherlich nicht betroffen. Dass die Kinder selbst jeden Morgen das Gesicht in kaltes Brunnenwasser tauchten, kam ihnen dabei wohl nicht in den Sinn. „Blaue Augen, blaues Blut“, lästerten sie, wenn sie mich wieder einmal des Stalles verwiesen, weil eine Kuh kalbte oder ein neuer Stier dabei war, sich einzuleben. Das Umfeld wäre zu gefährlich für mich. Sie hatten nicht ganz Unrecht damit. Es war nicht nur einmal passiert, dass ein Tier ausgebüchst war, durch die Bretterwand gekracht, schon in den ersten Tagen. Die Restaurationsarbeiten waren schnell geschehen. Die neue Wand hielt aber nicht mehr aus, als die zuvor zerstörte. Es gab nur eine Box mit Stangen aus Metall, speziell für Neuankünfte, was normalerweise ausreichend war. Es kamen nicht oft neue Tiere ins Dorf. Die Gutshöfe mussten Geld zusammenlegen, um sich qualitatives Neuvieh leisten zu können. Man teilte sich die Stallarbeit und das Futter. Meine Tante Mila erzählte, sie wäre einmal fast niedergetrampelt worden, hatte sich gerade noch ins Haus retten können, bevor ein junger Stier durch den Garten gerast war. Die Beete waren im Eimer und das übermütige Tier kaum einzufangen. Sogar die Kühe rannten vor ihm davon, er war ihnen wohl nicht ganz geheuer. „Ziemlich umtriebig, der gute Bursche“, bestätigte auch mein Onkel. Einige Kühe wurden trächtig. Sie waren wohl doch dem Charme des Stieres erlegen, befand ich. Mila schüttelte zweifelnd den Kopf, schwieg aber.
Homage» von Katharina J. Ferner
Katharina J. Ferner «Der Anbeginn», Limbus, 2020, 190 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-9903918-4-6
Katharina J. Ferner, 1991 geboren, lebt als Poetin und Performerin in Salzburg. Sie ist Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift &Radieschen sowie der österreichischen Dialektzeitschrift Morgenschtean. 2016–2019 Mitbetreuung der Lesereihe ADIDO (Anno-Dialekt-Donnerstag) in Wien. 2017 Stadtschreiberin in Hausach (D), 2019 Lyrikstipendium am Schriftstellerhaus Stuttgart. Bei Limbus erschien ihr vielbeachtetes Lyrikdebüt «nur einmal fliegenpilz zum frühstück» (2019) und der Roman «Der Anbeginn».
Als die Hubschrauber über der Stadt kreisten und Staatschefs durch die Strassen eskortiert wurden – Katrin Seddig nutzt die bis heute diskutierten Auseinandersetzungen um das G20-Treffen 2017 in Hamburg für einen fulminanten Familienroman: „Sicherheitszone“.
Frank Keil
„Menschen enttäuschen andere Menschen“ von Frank Keil, freier Journalist
Als es zum eigentlichen Geschehen geht, haben wir schon 216 Seiten gelesen. Sind wir eingetaucht in das Leben der Familie Koschmieder, sind vertraut worden mit den verschiedenen Mitgliedern, jung und alt, Männer und Frauen. Haben unsere Sympathien mal diesem, mal jenem zuweilen recht grossherzig gegeben – und sie bald wieder abgezogen. Denn Familie – oha! Da weiss man nie, da fühlt man sich schnell selbst angesprochen – und ertappt.
„Eine deutsche Familie“, so nüchtern sollte er ursprünglich heissen, ihr Familienroman. Der von einer Familie zu erzählen sucht, in dem Moment, wo sie noch besteht und sich zugleich auflöst, aber auch eine Familie bleibt, irgendwie. Katrin Seddig skizziert die Ausgangssituation: „Die Kinder gehen aus dem Haus und die Eltern fangen an sich aus der Familie zu befreien, die ja keine Familie mehr ist.“
Bei den Koschmieders in Hamburg-Marienthal, einem gediegenen und zugleich abgeschiedenen Hamburger Stadtteil, zu dem eine gewisse Unauffälligkeit gehört, wohnen drei Generationen unter einem Dach, noch. Und auch das mit „unter einem Dach“ ist eine nicht ganz eindeutige und damit zu deutende Sache: Denn Thomas Koschmieder, Vater, Ehemann und Sohn in einer Person, wie das oft vorkommt, wohnt neuerdings in der Gästewohnung über der Garage. 52 Jahre ist er alt, was einerseits kein Alter ist, wie man so sagt, aber jung ist er nun mal auch nicht mehr. Weshalb er wohl selbst am meisten überrascht ist, dass er sich so schnell wieder verliebte – und dass dieses Verlieben mit Verlieben beantwortet wurde: von der Lehrerin seiner Tochter, ausgerechnet.
Was ihn auch irritiert: wie er ebenso von Eifersucht geplagt die gleichfalls neue Liebschaft seiner Exfrau Natascha verfolgt, sie beobachtet, die plötzlich so aufblüht, so locker und so entspannt wirkt – und die trotzdem weiter seine Wäsche bügelt! Was er auch nicht versteht: Warum ausgerechnet er bald eine Ladung Pfefferspray ins Gesicht bekommt, als er an einer Polizeikette vorbeikommt, einfach so, eben im Vorübergehen. Und dann sind da noch seine Kinder, die ihm entgleiten und seine Mutter, die ihn bittet, sich bitte-bitte zusammenzureissen. Auch als Chef eines kleinen Antiquitätenladens (er hat ursprünglich Linguistik studiert) ist er nicht unbedingt immer Herr des Geschehens.
„Auf dem Fensterbrett stehen Zimmerpflanzen, die nicht lebten und die nicht tot waren“, so skizziert Katrin Seddig ein Detail in seinem neuen Übergangsheim. Sie lacht: „Solche Zimmerpflanzen kennt man doch! Man muss sich nur entscheiden, ob man sie nun wegwirft oder ob man sie noch mal beschneidet, düngt, sie vielleicht umtopft.“ Aber diese Entscheidung sei, wenn man um die 50 ist, einfach sehr schwer: „Man hat sie schon zu oft umgetopft.“ Überhaupt, der Thomas: „Er ist einsam, er ist mittelalt, aber er fährt Fahrrad“, ist über ihn zu lesen. Sie nickt wieder: „In dem Alter, indem er ist, werden viele Männer noch mal sportlich; sie haben dann ein Rennrad für 1000 Euro.“ Denn es müsse ja nicht immer das neue Auto sein oder die neue junge Frau. „Fahrradfahren ist schon okay, auch wenn es nicht die Revolte ist“, sagt sie. „Thomas ist die Figur, die am nächsten an mir dran ist“, sagt sie langsam. Sagt: „Wenn ich schreibe, sind die Figuren, die ich am meisten verachte, die, in denen ich mich am meisten wiederfinde.“ Es sei dann eine Art von Liebe, von Fürsorge mit im Spiel. „Mich interessiert nicht der Böse, der komplett anders ist als ich, sondern der Mensch, der sich falsch oder lächerlich verhält und in dem ich mich wiedererkenne“, sagt sie.
Und das ist entsprechend das Schöne an Katrin Seddigs Romanen: Sie sind weder Aufrechnungen noch Abrechnungen, wo Eins und Eins unbedingt Zwei und keine andere Summe ergibt. Das gilt auch für ihre Heldin Helga, die Mutter von Thomas, die zu Zusammen-Reisserin. 87 Jahre ist sie alt, die verlässlich ihre Pillen nehmen muss, aber die das immer wieder vergisst und dann durch die Siedlung irrt, bis eine gnädige Nachbarin sie dann auf eine Tasse Kaffee rettet. Entsprechend verstört, aber auch verbittert schaut sie auf das Leben, dass sich für sie dem Ende entgegen neigt. Obwohl selbst Flüchtlingskind, damals auf einem Treck aus Ostpreussen, die kämpfenden Truppen im Nacken und eingehüllt in eine Wolke aus Angst, Panik und Entsetzen, schlägt ihr Herz nicht für Geflüchtete. Im Gegenteil: die sollen verschwinden, dies Packzeug. Eines ihrer Lebensmottos lautet daher: „Gefühle sind was für Kinder.“ Und wenn sich ihr Sohn ihr mal anvertrauen will, heißt es schnauzend: „Red‘ mir doch nicht von Liebe!“
Katrin Seddig holt tief Luft: „Ich kenne diese Einstellung dieser Generation, eine recht harte Generation.“ Liebe werde nicht so romantisiert, wie wir das heute tun würden: „Da hat man zu seinem Partner gestanden, weil das eine Art von Pflicht war; man hat auch nicht die Familie verlassen, weil es für viele von Vorteil war, für die Kinder zum Beispiel“, sagt sie. „Ich hätte Helga auch als alte Nazi-Frau skizzieren können, sie ist wirklich politisch ungebildet, da geht vieles durcheinander“, erzählt sie weiter. Aber – Helga liebt ihren Enkel Alexander; ist dann voller Mitgefühl und Verständnis für ihn, der seine ganz eigenen Probleme hat: Alexander ist Polizist, er wird beim G20-Gipfel eingesetzt werden, aber weit mehr beschäftigt ihn, ob sich sein Kollege Simon auch in ihn verliebt hat, wenn er denn in Simon verliebt ist. Da ist sie: die Kompliziertheit der Welt, die Katrin Seddig schreibend antreibt. Jedenfalls Helga: „Menschen sind sehr schwierig. Sie sind vielschichtig, ambivalent in ihren Einstellungen, deswegen sind sie so schwer zu fassen, wenn man ihnen gerecht werden will“, greift Katrin Seddig den Faden wieder auf. Oder wie sie es noch eine andere Heldin, Thomas Tochter, die 17jährige Imke, engagiert bei „Jugend gegen G20“, sagen lässt: „Menschen enttäuschen andere Menschen.“ Katrin Seddig nickt. Nickt nochmals.
Und das eben wird erzählt im Schatten wie im Scheinwerferlicht des G20-Gipfels, was am Anfang, als Katrin Seddig erste Szenen entwarf, so gar nicht vorgesehen war. Aber dann ist viel unterwegs, in den frühen Juli-Tagen 2017, als tage- und vor allem nächtelang die Hubschrauber über der Stadt kreisten, das Schanzenviertel in eben Sicherheitszonen eingeteilt war und als selbst Hamburger Medien, die sonst so heimattreu berichten, kritische Fragen stellten von wegen: muss das alles wirklich sein? Und was holt man sich mit Trump, Putin und Bolsonaro eigentlich für Leute ins Haus?
Katrin Seddig war nicht als Aktivistin auf den Beinen, sondern als Beobachterin. Sie hat entsprechend vieles gesehen und vieles auch nicht gesehen, an Friedlichem, an Heftigem, von dem dann überall erzählt wurde. „Ich war sehr verwirrt in dieser Zeit“, gesteht sie, „weil ich so viele verschiedene Geschichten gehört habe und sich auch mein Standpunkt ständig verschoben hat.“ Was sie daher bis heute auch beschäftigt: „Bei G20 war es oft so, dass Leute, die nicht in Hamburg leben, die auch nicht vor Ort waren, genau wussten, was hier losgewesen ist.“ Sie schüttelt den Kopf: „Sie wissen, was hier passiert ist, obwohl sie nicht da waren und auch nichts gesehen haben.“ Noch immer staunt sie darüber.
Es ist dieses Staunen und es ist der Versuch zu fassen, was passiert sein mag, im grossen Politischen wie im scheinbar kleinen, Familiären, das diesen Roman immer wieder anfeuert. Und der eben auch davon erzählt, wie schnell Gewissheiten ins Wanken geraten, wie uneindeutig Eindeutigkeiten werden, wenn man nur mal auf die Rückseite schaut und was es daher an Aufmerksamkeit braucht, um halbwegs für sich eine vage Gewissheit von etwas formulieren zu können, die vielleicht auch morgen noch Bestand hat. Das letzte Wort gehört daher Natascha Koschmieder, Thomas Ex-Frau, jedenfalls ist sie das noch zu dem Zeitpunkt, wo wir das Romangeschehen leider wieder verlassen müssen. Sie sagt zwischendurch, schreibt Katrin Seddig: „Man müsste jede einzelne Geschichte jedes einzelnen Menschen erzählen.“
Katrin Seddig, geboren in Strausberg, studierte Philosophie in Hamburg, wo sie auch heute mit ihrer Familie lebt. Über ihren Roman «Runterkommen» (2010) schrieb die «taz»: Ein brillantes Debüt … Anrührend, witzig und nüchtern. Über «Eheroman» (2012) meinte «Der Tagesspiegel»: Grandios, wie Katrin Seddig jeder ihrer Figuren einen eigenen Ton verleiht; zuletzt erschien 2017 «Das Dorf». Katrin Seddig wurde mit dem Calwer Hermann-Hesse-Stipendium 2020 und für den noch nicht veröffentlichten Roman «Sicherheitszone» mit dem Hamburger Literaturpreis 2019 ausgezeichnet.
Siebzehn Jahre ist es jetzt her. Ich verbrachte meine ersten Island-Weihnachten im tiefen Fjord Hvalfjörður, eine knappe Autostunde von Reykjavik entfernt. Der Winter war bisher kalt und windig gewesen, bissig, aber verglichen mit Graubünden schneearm. Der Bauernhof lag seit Wochen im Schatten des Bergmassivs Esja. Manchmal tunkten die tiefen Wolken den ganzen Fjord in ein aprikosengoldenes Licht. An der Küste gefror selbst das salzige Meerwasser, doch die seltsam poröse Eisschicht zerbrach durch das Spiel der Gezeiten in tellergrosse Schollen, der Fjord gefror nie ganz zu. Gab es Schnee, verwehte ihn der Wind und häufte ihn hinterm Stall zu einem enormen Haufen an. Einmal öffnete ich die hintere Stalltür von innen – und stand jäh vor einer Wand aus Schnee. Das war nicht so schlimm: Die Kühe wollten sowieso nicht raus. Sie wiederkäuten gelassen ob den pfeifenden Winterstürmen. Der Bauer erzählte mir, dass sich Kühe in Island am 13. Weihnachtstag miteinander in Menschensprache unterhielten, aber sofort verstummten, sobald sie einen bemerkten. Wie gerne hätte ich mich mit ihnen unterhalten!
Die Weihnachten fern der Heimat zu verbringen, war ein seltsamer Gefühlskoktail aus Melancholie und Entspanntheit, Neugier und Heimweh. Zwar genoss ich die Ruhe, ich las Bücher, schaute Filme, hörte Musik, schrieb Briefe, aber ich schleppte ein schweres Herz mit mir rum. Ich wartete sehnsüchtig auf Briefpost oder Telefonanrufe aus der Heimat, und war zugleich fasziniert über die Isländer und ihre Bräuche. Einsamkeit macht zudem kreativ. Ich spürte den Drang zu schreiben, zu musizieren, zu singen. In der kleinen Holzkirche der Gemeinde, weiter hinten im Tal hatte ich eine Orgel entdeckt. Oft sass ich mutterseelenallein in dieser Kirche und machte Lärm, griff völlig enthemmt in die Tasten, keine Menschenseele weit und breit. Herrlich. Hätte jemand die Kirchtür aufgestossen, wäre ich so plötzlich verstummt, wie die Kühe am 13. Weihnachtstag. Der Priester lud mich einmal in seine Stube ein, tischte Tee auf und verwickelte mich in ein Gespräch über Gott und die Welt. Er konnte gut Deutsch, war an mir interessiert. Dieser Besuch war wie Balsam auf meine vereinsamte Seele. An Weihnachten lud mich der Bauer ein, ihn in die Messe zu begleiten, doch ich zog es vor, meine freien Stunden in der vereisten Winterlandschaft zu verbringen, hinauszuwandern, vorbei an erstarrten Wasserfällen und baumlose Berghängen. Ich erklomm einen alten Vulkankegel, der während der letzten Eiszeit entstanden war. Die Lava hatte sich einen Weg nach oben durch den Eiszeitgletscher gefressen und dabei Unmassen an Gletschereis weggeschmolzen, möglicherweise eine Gletscherflut ausgelöst. In den Flanken waren bizarre Steinformationen zu finden, schockerstarrte Lava, fremde Welt. Der Wind auf dem Vulkan war so schneidend, dass es mir den Atem verschlug. Meine klammen Finger schmerzten. Beim Abstieg trat ich unüberlegt auf eine Schneefläche, worunter sich blankes Eis verbarg. Meine Füsse schnellten in die Höhe, ich klatschte hart auf die Eisfläche und rutschte sofort die Vulkanflanke hinunter, gewann augenblicklich an Tempo. Mit Händen und Füssen versuchte ich, die Talfahrt zu verlangsamen. Vergebens. Erst der schneefreie, nackte Erdboden weiter unten stoppte mich. Ich schlitterte übers Geröll, die Steine prügelten mich, aber schliesslich kam ich zum Stillstand. Ich blieb dann eine Weile sitzen. Nichts gebrochen.
Meine ersten Weihnachten in Island lehrten mich, dass ein einziger, fataler Fehltritt genügt, um den Kurs des Lebens zu ändern. Als ich zurück auf dem Bauernhof war, erzählte mir der Bauer, dass der Priester nach mir gefragt habe, verwundert darüber, mich nicht an der Weihnachtsandacht gesehen zu haben. Er habe ihm daraufhin mitgeteilt, dass Joachim seinen Gott draussen in der Natur suchen gegangen sei, und darüber war ich ihm dankbar. Am Abend machte ich die Stallarbeit, fütterte und molk die Kühe. Seltsam. An jenem Abend fühlte ich mich, als wäre ich in Island angekommen, mit Leib und Seele, zufrieden, lebendig, aber müde. Ich freute mich auf meine Bücher, mein Bett und meine weiteren Jahre in Island. «Nur mal ganz sachte, Junge. Rupf nicht so!», sagte eine tiefe Stimme. Ich schaute mich um. Der Bauer war in der Milchkammer. «Wer ist da?», rief ich. Keine Antwort. Niemand war da. Nur die Kuh, der ich soeben das Melkzeug etwas unsanft abgenommen hatte, ich muss in Gedanken versunken gewesen sein, drehte ihren Kopf zu mir, schaute mich an, wiederkäute, steckte sich die Zunge nacheinander in beide Nasenlöcher, schnaubte – und schaute wieder nach vorn.
«Gleðileg jól og farsælt komandi ár!»
Joachim B. Schmidt «Kalmann», Diogenes, 2020, 352 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-257-07138-2
Joachim B. Schmidt, geboren 1981 in Graubünden, ist Journalist und Schriftsteller. Seine ersten drei Romane erschienen in einem kleinen Verlag aus dem bernischen Emmental (Landverlag). 2020 war «Kalmann» aus dem Hause Diogenes dann der lang ersehnte Durchbruch zu einem grösseren Publikum. Seit 2007 lebt Joachim B. Schmidt in Island, wo er mit seiner Familie in Reykjavik lebt und Touristen über die Insel führt.
Regina begann immer mit „Angie“. Der Flügel war ein wenig verstimmt und Regina mochte die Stones nicht; Mick Jagger war ihr von Anfang an unheimlich gewesen mit seinem kastenartigen Mund, den wilden Furchen um die Lippen und dem Schlenkern seiner Gliedmaßen im Scheinwerferlicht. Mit Grauen hatte sie einen Dokumentarfilm gesehen, in dem sich mehr als vierzig Jahre später die gleichen naiven Mädchen vor der Bühne die Haare rauften vor Sehnsucht nach diesem schlecht frisierten Mann. „Angie“ war eine von Reginas besten Transkriptionen. Ihre rechte Hand wurde auf den Tasten zu Micks Stimme, ein Tremolo für den langgezogenen Anlaut, das war der Trick beim Transkribieren, immer ein wenig mehr von einer Hand zu fordern als von einer Stimme. Ein paar Leute drehten sich um, lächelten in ihre Richtung oder beschwerten sich jedenfalls nicht. Der Flügel stand abseits der Restauranttische im Atrium neben einer breiten Steintreppe, die zum Haupteingang des Alten Kontors führte und über ein paar zusätzliche Stufen zu den beiden umlaufenden Galerien mit nach oben hin teurer und seltsamer werdenden Geschäften. Regina hatte dort oben einmal ein Leinenkleid für den Garten kaufen wollen, es hatte ihr gut gefallen, schlicht und blau und annähernd konturlos, mit aufgenähten Taschen für eine Bastrolle oder die Rosenschere, hatte sie gedacht, wie praktisch. Das praktische blaue Gartenkleid hatte dann ungefähr so viel gekostet wie die monatlichen Nebenkosten plus Telefonrechnung und Zeitungsabo, mal zwei. In dem Moment, als Regina das Preisschild umgedreht hatte, war ihr klargeworden, warum ihr keine der sehr jungen Verkäuferinnen angeboten hatte, ihr bei der Suche nach ihrer Größe behilflich zu sein. Sie war an dem Tag leider die letzte gewesen, die verstanden hatte, dass sie hier nicht hingehörte.
Alle Tische waren besetzt, an den Seiten bildeten sich Warteschlangen. Um diese Zeit war es laut im Alten Kontor, der Widerhall von den hohen Mauern vervielfachte Gespräche, Schritte, Tellerklirren. Es roch nach Essen. „Shopping mit Stil“, stand auf einem Banner, das von der Glasdecke ins Atrium herabhing. Regina kam aber gar nicht ins Alte Kontor, um einzukaufen. Regina kam nur, um etwa vierzig Minuten lang auf dem verstimmten Flügel Popsongs aus den späten sechziger und den siebziger Jahren zu spielen, etwa jeden zweiten Samstag im Monat, wenn sie mit dem Bus in die Stadt fuhr und besorgte, was der Supermarkt zu Hause und das Bisschen Internet, in dem sie sich zurechtfand, nicht hergaben, unter anderem passende Unterwäsche, Mandel-Honig-Kuchen mit Schlagsahne und signierte Bücher von Bestsellerautoren. Sie spielte die Lieder so, wie sie sie zurechtgelegt hatte, vor allem ihre Transkriptionen, zum Teil auch fremde, die sie durch elegantere Lösungen ausgebessert hatte. Sie wusste nicht, ob es erlaubt war, auf dem Flügel zu spielen. Da stand kein Schild. Niemand sprach sie an. Regina saß gerade mit nach unten gedrückten Schultern, sie blickte nach vorn, aber nirgendwohin. Von „Angie“ modulierte sie zu Don McLean über oder, an Tagen, an denen ihr die Selbstsicherheit löchrig vorkam, zu „Here comes the sun“, dem Beatles-Song, der ihr am besten gefiel, auch wenn nicht Paul ihn geschrieben hatte und auch wenn es sich dabei im eigentlichen Sinn nicht um einen Beatles-Song handelte, sondern um einen Titel von George Harrison, der lediglich von den Beatles eingespielt worden war, für Abbey Road nämlich, das Album war ansonsten eine künstlerische Verirrung, fand Regina, als die Beatles einander kaum mehr aushielten und über Solokarrieren und Neubesetzungen nachdachten. Die Beatles mit Eric Clapton, was hätte das werden sollen, hätte Regina in früheren Jahren gesagt, als sie noch einen Sinn darin sah, Meinungen zu vertreten, auch wenn es nicht unbedingt ihre eigenen waren.
Richtiges Lampenfieber hatte Regina nicht mehr. An Paul, George, John und Sechzigerjahre-Ringo dachte Regina wie an alte Freunde. Ihre Hände brachten den Klang hervor und der Klang breitete sich im Atrium aus, legte sich über die Banalität der Restaurant- und Einkaufsgeräusche, und sie fühlte, wie sich auch in ihr etwas ausbreitete und weit und stark und leicht wurde, ein Hochgefühl, etwas wie Freude oder Bestimmung. Früher, in den Konzertsälen, hatte sie nichts dergleichen empfunden, wenn sie die mühsam einstudierten Stücke von Skrjabin und Khatschaturjan gespielt hatte, und was den Lehrern sonst noch für Dissonanzen einfielen. Tschaikowski hätte sie gern gespielt, aber die Lehrer hielten das für schlechten Geschmack. Reginas Finger fanden die Tasten wie von alleine, sie konnte, wenn ihr der Sinn nicht nach Improvisation stand, ihre Gedanken abschweifen lassen und sich selbst beim Spielen zuhören. Burt Bacharach, was für ein Genie. Der Flügel klang soviel schöner als ihr altes Hausklavier. Zum Transkribieren war sie eher durch Zufall gekommen, jemand hatte es ihr als gute Möglichkeit empfohlen, ein wenig Geld zu verdienen, während sie an einer richtigen Karriere arbeitete. Das Musikstudium war teuer und die Aussichten auf ein Auskommen mit ernst zu nehmender Arbeit gering. Schnell hatte sich Regina einen Namen gemacht. Hervorragende Spielbarkeit, hieß es, eine „kongeniale Art der Übertragung“, sie habe das „richtige Ohr“. Bald hatte sie sich die Aufträge aussuchen können, musste sich nicht mehr mit Lynn Andersons „Rose Garden“ herumplagen oder dem unmöglichen „Delta Dawn“. Ob man eine reduzierte Melodie wie „The Chain“ überhaupt sinnvoll fürs Klavier anpassen könne? Der Verlagsredakteur hatte anfangs gezweifelt. Reginas Versuch hatte ihr viel Lob eingebracht, ein paar Einladungen zu den Partys von Leuten, die sich sonst nie mit ihr abgegeben hätten, sogar das Angebot eines Tonstudios, das Regina aber abgelehnt hatte, weil sie bei der Aussicht verzweifelte, mit diesen Leuten mithalten zu müssen, ihre Späße und Anspielungen zu verstehen, ihre Art sich zu kleiden.
Einmal hatte Regina Ringo Starr in einer Bar getroffen, als es die Beatles schon längst nicht mehr gab. Sie hatte zu hohe Schuhe angehabt und er war betrunken gewesen, sie hielten sich beide am Tresen fest. Dass es Ringo war, hatte sie erst erkannt, als er in schlechtem Deutsch in ihr Dekolletee hineinfragte, wer sie sei. Regina, hatte Regina in englischer Aussprache gesagt, um ihre Gesprächsbereitschaft zu signalisieren. Regina, Re-gin-a, Gina, ha. Regina, hatte Ringo gesagt. Lustiger Name. Ringo, lustiger Name, hatte Regina zurückgesagt. Haha, richtig, hatte Ringo geantwortet und sich mit ausgestrecktem Daumen und kleinem Finger die Hand ans Ohr gehalten wie einen Telefonhörer. Ringo: Hallo? Regina: Hallo. Ringo: Wer ist dran? Regina: Regina? Ringo: Gina. Pretty nice girl. Welch Freude. Regina: Ja. Ich freue mich auch. Ringo: Eigentlich kein richtiger Name, Regina, Gina. Regina: So heiße ich aber. Regina Hansen. Ringo: Sehr erfreut, your majesty. Regina. Regina: Sehr erfreut. Ringo: Ringo Starr ist auch kein richtiger Name. Aber er klingt gut. Regina: Ja. Ringo: Regina. Gina. Dein Name macht mich durstig. Regina: Gut, dass wir uns in einer Bar getroffen haben. Ringo: Funny girl, Gina, so clever. Komm, ich geb dir einen aus. Zwei Gin Tonic or I got to get a belly full of wine, haha.
Regina hatte gelacht, weil es Ringo Starr war. Sie fand, dass er entsetzlich nach Zigaretten stank. Auch hatte er ihr ohne Bart und aufgelaufenes Gesicht besser gefallen. Er hörte nicht auf, ihren Namen zu sagen und Unsinn zu reden, trank sehr zügig und tatschte nach ihrem Hintern. Regina fand das alles sehr unangenehm, aber was sollte sie machen, es war Ringo. Die ersten beiden Gincocktails trank sie aus, den dritten ließ sie stehen, nachdem Ringo sich entschuldigt hatte, um auf die Toilette zu gehen, und nicht zu ihr zurückgekehrt war. Sie sah, wie ihn mehrere Frauen belagerten, die deutlich älter, unansehnlicher und entschlossener waren als sie. Regina hatte den Bierdeckel unter seinem Glas herausgezogen und eingesteckt. Sie war nach Hause gegangen und hatte geweint vor Enttäuschung über Ringos Gemeinheit, auch darüber, dass sie ihm nicht hatte sagen können, dass kaum jemand die Songs der Beatles so gut kannte wie sie. Das Best of-Songbook, das sie geschrieben hatte, war damals der europaweit meistverkaufte Verlagstitel gewesen. Wenige Jahre später hatte der Verlag Regina die Mitarbeit aufgekündigt. Ihre Transkriptionen seien zu anspruchsvoll, hieß es jetzt, die Akkorde für Mädchenhände zu schwer greifbar. Auch werde weniger Klavier gespielt. Eigene Transkriptionen lohnten sich nicht mehr, man kaufe sie lieber aus dem Ausland ein. Für eine Karriere als Konzertpianistin war es damals schon zu spät. Regina vermisste die großen Konzertsäle und das Bangen vor dem Publikum nicht, den Erwartungen ihrer Lehrer, den Kritikern. Nach der Kündigung beim Verlag spielte sie jeden Tag zu Hause auf ihrem Klavier, aber kein Skrjabin oder Khatschaturjan, sondern „Raindrops keep fallin’ on my head“ und immer wieder die Beatles. Als das Geld zu Ende ging, gab sie Inserate auf: „Erf. Klavierspielerin bietet Unterricht, alle Niveaustufen.“ Es kamen dann vor allem untere Niveaustufen und füllten Reginas Wohnzimmer mit schiefen Tonleitern. Sie beschwerte sich nicht. Den wenigen guten Schülern gab sie ihre Transkriptionen zu spielen, „Hey Jude“ und „Rocket Man“, nie aber „Here comes the sun“.
Das Beatles-Medley spielte Regina erst zum Schluss. Paul, John, George und Sechzigerjahre-Ringo sangen den Hintergrund zu den Tischgesprächen. Für ein paar Minuten war sie am Ursprung der Musik, wie ein fünfter Beatle. Jetzt war es für vieles zu spät. Für Kinder war es zu spät. Für einen Mann ohne Übergewicht, der im Bett nicht schnarchte und die Initiative für gemeinsame Ausflüge ergriff, war es zu spät. Um ihren Körper zu sportlichem Ansehen umzuformen, war es zu spät. Um sich eigene Stücke zu notieren, sie auswendig zu lernen und am Sonntag im Kulturhaus neben der Kirche zu Kaffee und Kuchen zu spielen, war es nicht zu spät, aber es war sinnlos. Regina setzte zu „Let it be“ an, das war ihr letzter Song. Sie dachte an die schöne Anekdote, wie Pauls verstorbene Mutter ihm im Traum erschienen war, um ihn mit diesen Worten zu trösten. Ein bisschen Trost, dachte Regina, ein bisschen Trost für euch, ihr armen Seelen im Alten Kontor. Niemand klatschte, als sie fertig war und der letzte Akkord unter dem Glashimmel verklang. Regina nahm ihre Einkaufstüten, ging die Steintreppe hinauf zum Ausgang und verschwand im Gedränge der Fußgängerzone.
Elise Schmit wurde 1982 in Luxemburg geboren und ist dort aufgewachsen. Sie hat Germanistik und Philosophie an der Universität Tübingen studiert. Nach zwei längeren Aufenthalten in Tübingen und einem kürzeren in Paris lebt und arbeitet sie seit 2012 wieder in Luxemburg. Mehrfach wurden ihre Texte beim Concours littéraire national in Luxemburg ausgezeichnet, unter anderem die Erzählung «Im Zug». «Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen» ist ihre erste eigenständige Buchveröffentlichung.