Johanna Berger «sagnichtnichts», Plattform Gegenzauber

sagnichtnichts von und mit Johanna Berger ist ein Gedichtefilm über die Liebe, in dem sich Menschen begegnen, verlieben, lieben, irren, trennen, verpassen, verglühen und wiederfinden. Im Zuge des ALBERTINA-Formats «Allein im Museum» visualisierte sie ausgewählte Gedichte an unterschiedlichen Orten vor und in der ALBERTINA / ALBERTINA MODERN als sich diese noch im Lockdown befand. Das Museum als Ort ist nicht immer sofort zu identifizieren. Denn nicht nur die Ausstellungsräume sind während des Lockdowns verlassen, auch viele MitarbeiterInnen arbeiten im Homeoffice. Das Museum verändert sich und wird zur Kulisse für sagnichtnichts, eine Hommage an die Liebe und die damit verbundenen Verwirrungen.  

Johanna Berger ist freie Schauspielerin und assistiert Aleksandar Acev am Max-Reinhardt-Seminar im Fach Körperliche Gestaltung. In Kooperation mit ALBERTINA (Format «Allein im Museum») visualisierte sie ausgewählte sagnichtnichts-Gedichte, führte Regie und spielte an div. Orten der ALBERTINA unterschiedliche Charaktere. Diesmal vor der Kamera.

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Valentin Moritz «Versatzstücke», Plattform Gegenzauber

Erste Tage

Wohne auf drei Etagen. Ausblick: Weinhang, Altstadt, Burg. Und unten ein Garten – es Gärtli. Anfangs verregnet, aber die Gesichter offen, der Empfang sehr herzlich. Ich: leicht überfordert, dankbar.
Und dann?
Wie psychedelisch die Muster der Fensterläden!
Wie elegant durchdacht die Velowege!
Und wie gsund sie alle sind, die Lütt.
Der Rhy hat Zug, man fragt sich, wieso es das Wasser so eilig hat davonzukommen. Welle um Welle brandet gegen die Kaimauer unterm Kloster Sankt Georgen, dann schnell weiter, ab Richtung Meer. Alles also im Fluss. Die Grenzen: fließend (sprachlich, kulturell). Der Besucherstrom: nicht abreißen wollend. Und das Schreiben? Eh.
Hinterm Ponti sind die schönsten Badestellen.
Auf Tinder ein Match, juhu.
Und abends, bei der Arte-Doku über den chinesischen Kingpin Xi Jinping, wird es mir ganz anders. Das kann ja noch heiter werden!
Und dann wird es heiter.
Und dann fährt ein Herr mit graumeliertem Haar vorbei, im babyblauen Cabrio, und sorgenfaltenfrei die Stirn. Und Horden. Horden von E-Biker:innen! Generalmobilmachung der Generation Gold! Schwarz-Rot-Gold vor allem, aber auch aus aller andern Damen und Herren Länder. Tagsüber. Abends dann dominieren hiesige Männergruppen das Bild. Epiphanie: Tausche Schweizerdeutsch gegen Arabisch, den ungeschwefelten Wein gegen gezuckerten Tee, und bist wie zurückversetzt in deinen Neuköllner Kiez … Einer ruft mir hinterher: Du bisch ä Spezielle! Und ich fühl mich willkommen, irgendwie. Er mag mein Haar, so rot. Ich lasse es von meinem Turm herab. Aber niemand kommt, daran hinaufzuklettern.
Bist du nicht einsam, fragt meine Mutter am Telefon.
I wo! Vor mir haben schon ganz andere Leute – berühmte – hinter diesen Mauern gehaust! Waren die etwa einsam?
Und wenn schon. Muss!
Und überhaupt: Wer hat nicht alles allein einen Turm bewohnt! Rapunzel, C. G. Jung und Donald Trump. Der Hölderlin und Otto Waalkes, Quasimodo und Petrosilius Zwackelmann. Haben die es nicht alle halbwegs weit gebracht?
Ebend.
Erschießt mich, sollte ich mir je aus Einsamkeit einen Hund zulegen!
Lieber bestelle ich ein aufblasbares Kajak.


Wenn der Wels

Jüngste Erkenntnisse zeigen: Kajak ist ein Palindrom. Packsack ein Reim in sich. Und Doppelhubhandpumpe ein schönes Wort, das reizt.
Doppelhubhandpumpe!
Odr?
Und weiter:
Doppelhubhandpumpe.
Doppelhubhandpumpenproduktion.
Doppelhubhandpumpenproduktionsleitung.
Doppelhubhandpumpenproduktionsleitungsausbildung.
Doppelhubhandpumpenproduktionsleitungsausbildungsabbrecher.
Doppelhubhandpumpenproduktionsleitungsausbildungsabbrecherin.
Odr!
Am Wasser dann bin ich kurz ganz klein: Der Rhein meiner Kindheit, der zog dich hinab in die Tiefe oder das Treibgut dir über den Schädel, der riss dich mit sich, strudelte dich kreisend und stromabwärts bis Rheinfelden, bis zum Wasserkraftwerk, bis zu dem großen Rechen dort – wo du dich dann verfingst mit den andern Toten, aufgedunsen und bleich vor Schreck … Habe jedenfalls einen Heidenrespekt vor diesem Fluss und seiner Wucht – und dem Wels, dem Riesenwels, der in ihm wohnt und Kinder frisst. Aber ich bin kein Kind mehr.
Odr.
Also Augen zu und durch.
Aber nur mal hypothetisch: Was, wenn der Wels mich doch erwischt (o.ä.), woran wird man sich erinnern?
Was bleibt?
Was blieb etwa von meinen Vorgänger:innen? Woran erinnern sich die Gemäuer des Chretzeturms ganz konkret (auch ohne Wels im Spiel)? Namentlich verewigt hat sich einzig Najem Wali: Dort steht er geschrieben, offenbar mit einem Geldstück eingeritzt ins Dachgebälk – so frech! Ansonsten nur anonyme Überreste: zwei fast leere Tabakpackungen (Marke «Pueblo» deutschen Ursprungs), das Spielzeugauto unterm Schrank (ein «Rough Terrain Truck» made in Britain) sowie eine weiß-blau-graue Socke (Gr. 41/42, mutmaßlich die einer Frau, letztlich aber ungewiss), das war‘s. Was bleibt, sind bloß Versatzstücke, aber immerhin, doch, doch! Den Rest erzählt das Internet.
Für alle, die es handfester mögen – für die Findigen unter meinen Nachfolger:innen hier –, entdecke ich einen Stein, ja, am Rhein, und verstecke ihn im Turm, ja, im Turm.

(Die beiden Texte sein während eines Stipenidat des «Chretzeturms» in Stein am Rhein als Blogbeiträge entstanden)

Valentin Moritz, geboren 1987 und aufgewachsen in Südbaden, studierte Literaturwissenschaft an der FU Berlin. Er veröffentlichte Prosa in Zeitschriften, Anthologien und kleinen Einzelpublikationen, zuletzt «Bahía Salvador» (Sukultur, Berlin). Sein erstes Buch erschien im Mai 2020 unter dem Titel «Kein Held» (Badischer Landwirtschafts-Verlag, Freiburg).

Nur weg, egal wohin! Hauptsache raus aus dem Dorf. Wie so viele junge Leute zieht es Valentin Moritz aus der Enge seiner südbadischen Heimat in die Ferne. Nach Stationen rund um den Globus landet er in Berlin. Neukölln und Niederdossenbach – dazwischen liegen Welten. Der Kontakt zur Heimat – eher sporadisch.
Das ändert sich mit dem 90. Geburtstag von Valentins Großvater Josef Mutter schlagartig: Der Alte möchte die eigene Lebensgeschichte aufschreiben und bittet seinen Enkel um Unterstützung. Und so wird der gemeinsame Blick in die Vergangenheit des Landwirts, der bäuerlichen Großfamilie und des Dorfes auch für den Enkel zum Anlass, sich wieder seiner Herkunft zuzuwenden. Wie sein Großvater begibt sich auch Valentin Moritz auf Spurensuche und zeichnet in eindrücklichen Bildern und authentischer Sprache nach, was seine Kindheit und Jugend auf dem Land ausmachte.
«Kein Held» ist bewegendes Generationenbuch über das, was uns alle prägt – von Anfang an, ob wir wollen oder nicht. Darüber hinaus ist KEIN HELD ein engagiertes Zeitzeugnis gegen Krieg und Faschismus – und für das Erinnern.

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Beitragsbild © Sarah Wohler

Katharina Michel-Nüssli «Später vielleicht»

«Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiss es nicht.» Nino kratzt sich am Kopf. Was diese Lehrer sich ausgedacht haben. Neunzig Minuten für einen Aufsatz. Der Anfang ist gegeben. Weltliteratur. Da kann das Eigene nur schlechter werden. Ich bin nicht Camus. Wenn der wüsste, dass sein genialer Anfang für eine Prüfungsnote missbraucht wird. Und nicht einmal in der Originalsprache. «Aujoud’hui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais pas.» Das tönt viel tiefgründiger, das hat Atmosphäre, lässt Tragik erahnen. Moll mit Disharmonien. Nebelschwaden. Ach, man wirft Perlen vor die Säue. Wer kennt schon die Grossartigkeit dieser Erzählung. Meine Kollegen haben auf den Hundertstel genau ausgerechnet, welche Note sie brauchen, um nicht provisorisch promoviert zu werden. Sie wissen genau, dass man nur wenige Adjektive verwenden soll. Helvetismen und monotone Satzanfänge sind zu vermeiden. Selbstverständlich soll man keine Rechtschreibfehler machen, die Kommas am richtigen Ort setzen und mindestens zwei Seiten füllen. So hat man die genügende Note auf sicher. Wie hat wohl Camus schreiben gelernt? Einmal im Monat zwei Seiten in neunzig Minuten? Was für ein Witz.

Draussen schwanken die vom Herbststurm geschüttelten Äste des Ahorns vor dramatischen Wolkengebilden. Der Himmel ist so wild und unbezähmbar wie vor Jahrhunderten, am Boden hingegen, der von hier aus nicht zu sehen ist, findet sich kein Stoff für grossartige Geschichten. Mit forschendem Blick versucht Nino, sich die Wirklichkeit der Welt in das Vakuum der wohlaufbereiteten Bildungspläne zu holen. Wäre er ein Waisenkind, dann wüsste er, wie sich Tod und Verlassenheit anfühlen. Er müsste nicht lange überlegen. Insgeheim schämt er sich für seine wohlbehütete Kindheit.

Er beginnt zu schreiben: «Dieser Satz ist wie ein Fremdkörper hier. Fast nie stirbt jemandes Mutter in dieser Schule. Die Gesundheitsversorgung ist hervorragend und teuer. Wir können es uns leisten. Und man wüsste die Todeszeit auf die Minute genau, so wie man das Horoskop dank der exakten Geburtszeit entschlüsseln kann. Ob darin bereits die Sterbestunde festgelegt ist? Das bleibt hoffentlich ein Geheimnis. Es gibt noch die unverhofften Tode. Wer als Kind so etwas erlebt, dessen Chance, an diese Schule aufgenommen zu werden, sinkt gegen Null. Das hat verschiedene Gründe. Zuallererst schafft es kaum jemand, ohne zu pauken die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Das braucht gebildete Eltern, Zeit und Geld. Ausser man ist ein Genie. Obendrein ist hier alles so trocken, herzlos und verkopft, dass ein normal fühlender Jugendlicher nur überleben kann, wenn er zu Hause so etwas wie Geborgenheit erlebt. Wenn ich in der Klasse rumschaue, stelle ich fest, dass alle in einem Eigenheim leben, mit Ausnahme unseres Quotenausländers aus Portugal, dessen Sippe einen halben Wohnblock bevölkert – Nestwärme inklusive. Und die Lehrpersonen halten es nur aus, wenn sie eine Schutzschicht aus Staub ansetzen. Was wird aus uns, wenn wir die heiligen Hallen des Wissens verlassen? Wir sind die Elite, wir werden die Welt weiterbringen, das wird uns eingetrichtert. Ihr seid die künftigen Leader. Wir werden Firmenchef, Bundesrat oder Managerin. Heute tragen wir zerlöcherte Jeans, morgen Nadelstreifen und Deux-Pièces. Wir werden etwas erreicht haben in unserem Leben. Wenn wir sterben, wird eine ganze Zeitungsseite mit unseren Todesanzeigen gefüllt, weil wir bedeutende Persönlichkeiten gewesen sein werden. Unsere Biografien jedoch wären seichte Literatur, keine Dramen, nicht wert, aufgeschrieben zu werden. Ich wünsche uns keine Katastrophe, nein, denn sie ist schon da, in Form eines vorgespurten, genormten Lebens. Ich hoffe, diese Schulzeit möglichst unbeschadet zu überstehen, um später – vielleicht – das wahre Leben kennenzulernen.»

Der Sturm hat sich gelegt, leichter Schneeregen hat eingesetzt. Nino überfliegt den Text. In fünf Minuten muss er ihn abgeben, da bleibt keine Zeit mehr, etwas zu ändern. Nach dem Ertönen des Pausensignals rappeln sich die Jugendlichen von ihren Sitzen hoch und schlendern auf die verregnete Terrasse, die durch das Zimmer im vierten Stock zugänglich ist. Niemand scheint den Ausblick über die Dächer der Altstadt zu beachten. Man hofft auf eine gnädige Notengebung, Aufsätze sind Ermessenssache. Und morgen ist Physiktest, da gibt es nur richtig und falsch. Zum Glück darf man das Formelheft brauchen. Noch eine Lektion heute. Es dunkelt schon ein.

Nach Schulschluss zerstreuen sich die jungen Menschen in alle Richtungen. Nino beeilt sich, um den früheren Zug zu erreichen. Er möchte vor dem Handballtraining noch Zeit haben, um etwas zu essen. Beim Bahnhof steht wie immer der Rosenverkäufer. Seine Blumen leuchten wie ein Anachronismus im grauen Novemberabend. «Dieser Mann hatte wohl ein bewegtes Leben», blitzt es Nino durch den Kopf. «Ich sollte ihn nach seiner Geschichte fragen. Später vielleicht. Der Zug fährt gleich.»

In der darauffolgenden Woche wird Nino zum Rektor zitiert. Noch nie ist er dieser Autorität so nah gegenübergetreten. «Nehmen Sie Platz», gebietet dieser. Die Fältchen um die Augen des Schulvorstehers sind dem Schüler bisher nicht aufgefallen. Er ist eindeutig älter als Ninos Vater. Der Rektor räuspert sich. «Junger Mann, entweder sind Sie ein Revoluzzer oder dann einfach nur naiv. Was wollten Sie mit Ihrem Geschreibsel ausdrücken? Mit einer solchen Einstellung sind Sie dieser renommierten Schule nicht würdig.» Die Möbel in diesem Büro haben ihre beste Zeit hinter sich. Sie waren einmal erlesen und teuer gewesen. Nino richtet sich auf seinem Holzstuhl auf. «Ich lebe in einem Land, wo man seine Meinung frei äussern darf. Davon habe ich Gebrauch gemacht. Es ist mir schlicht nichts anderes in den Sinn gekommen, und nach neunzig Minuten musste ich den Aufsatz abgeben.» «Freie Meinungsäusserung in Ehren, mein Lieber, aber Beleidigungen gehen gar nicht. Merken Sie sich das. Sie beleidigen unsere Schule und das Personal. Seien Sie dankbar für diese hochstehende Ausbildung, die Ihnen hier zuteilwird. Ich gehe davon aus, dass dies ein einmaliger Ausrutscher war. Im jugendlichen Leichtsinn kann so etwas passieren.» Nino schluckt leer. Der ältere Herr erhebt sich und weist ihn unmissverständlich zur Tür.

An eine Rückkehr in die Klasse ist im Augenblick nicht zu denken. Nino starrt auf seine abgewetzten Schuhspitzen, die ihn wie von selbst zum Bahnhof hinunter führen. Sinnierend lässt er sich auf einer Wartebank nieder. An der Ecke steht der Blumenverkäufer. Nino zögert. Schliesslich nähert er sich dem Mann und kauft ihm eine Rose ab. Mutter wird sich wundern.

Katharina Michel «Sommersprossen und Kondensstreifen», BoD, illustriert von Lea Frei, 2021, 144 Seiten, Euro 24.99, ISBN 978-3-754-32791-3
Hier direkt zu beziehen!

Katharina Michel-Nüssli geboren 1964 im Tösstal lebt im Oberthurgau. Primarlehrerin, Lerntherapeutin, Jobcoach.
«Schreiben war immer etwas Lustvolles, ausser vielleicht bei Diplomarbeiten. Mich inspirieren Natur, Menschen, das Abweichende, die Liebe zum Leben. Schreibkurse bei Ruth Rechsteiner und Michèle Minelli haben mich ermutigt, regelmässig zu schreiben. Biografisches und Kurzgeschichten, Portraits und Poetisches, was eben zeitlich Platz findet. Oft sind es berührende Begegnungen, Stimmungen am See oder im Wald, unvermutete menschliche Abgründe, die Schönheit eines vom Leben gezeichneten Gesichts, Absurditäten des Normalen. Meinen Schreibstil bezeichne ich als verdichtet, manchmal poetisch, oft dazu anregend, zwischen den Zeilen zu lesen.»

Isabella Krainer «Edith», Plattform Gegenzauber

Edith war schon immer ein aufgewecktes Mädchen. Mit zehn entdeckte sie die wunderbare Welt des Scherenschnitts, mit elf beherrschte sie den Lockruf des Tungara-Froschs und im Jahr darauf gab sie vor, Schweizerin zu sein, weil diese verstärkt unter dem prämenstruellen Syndrom zu leiden hätten.

Da ihre Sportlehrerin an Derartiges gewöhnt war, begrüßte sie die Schülerin regelmäßig mit einem sarkastischen „Grüezi“ im Turnsaal. Für Edith ein Grund mehr, beim Völkerball nicht mehr zu kooperieren.

Die Idee, den Sportunterricht gegen wöchentliche Besuche im Altersheim einzutauschen, kam Edith mit dreizehn. Nachdem ihr die betagten Leute zuflüsterten, dass es hier nicht darum gehe, Gefangene zu machen, kam sie zu dem Schluss, nie an einem echteren Ort gewesen zu sein. Was keine Flügel hatte, konnte tatsächlich nicht fliegen. Und was zu stinken hatte, stank.

Als Edith die Alten zum letzten Mal besuchte, um sie danach wieder sich selbst zu überlassen, war die Pubertät amtlich.

Isabella Krainer, geboren 1974 in Kärnten, schreibt & macht, was sie will. Ihre Arbeiten pendeln zwischen Politsprech und Dialektlandschaft. Die Autorin lebt in Neumarkt in der Steiermark. Aktuell arbeitet sie an ihrem ersten Roman. „Heiliger Zorn“ wurde 2021 mit einem Arbeitsstipendium des Landes Kärnten bedacht. «Vom Kaputtgehen», ihr erster Lyrikband, erschien im März 2020 im Limbus-Verlag. 2019 erhielt sie für „Vom Kaputtgehen“ das Finalisierungsstipendium literarischer Projekte des Landes Kärnten. 2016 wurde sie mit dem Hilde-Zach-Literaturförderstipendium der Stadt Innsbruck ausgezeichnet.

Rezension von «Vom Kaputtgehen» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Marius Schmidt «Der leichte Mensch», Plattform Gegenzauber

Frage 1:

Um ihren persönlichen Hintergrund besser berücksichtigen zu können, stellen wir ihnen zuerst einige Fragen zu ihrem Elternhaus. Uns liegt als erstes Dokument eine irritierende Photographie ihrer jungen Person zusammen mit ihrer Mutter vor. Sie ist jedoch nicht zu erkennen. Wie ist es hierzu gekommen?

Frage 2:

Berichten sie, unter welchen Bedingungen diese Aufnahme entstand. Wie beurteilen sie die Rolle ihrer Eltern in dieser Situation?

Eine solche Photographie entstand tatsächlich im Oktober des Jahres 1895. Ich war damals nicht ganz ein Jahr alt – was auch der Grund ist, weshalb mir die Details hierzu nicht aus erster Hand bekannt sind. Ich erinnere lediglich, auf dem Schoß meiner Mutter gesessen und in ein erschreckend schwarzes Loch geblickt zu haben. Die Entstehungsgeschichte dieser Aufnahme zählte jedoch zum steten Repertoire meiner Mutter, wenn es gefragt war, Anekdoten über meine früheste Kindheit zum Besten zu geben. Aus diesem Grund kann ich wohl einige Fakten beisteuern. Meines Wissens hängt das nämliche Foto noch heute im Treppenhaus meiner Eltern in ihrer Villa in Ehrenfeld.

Der Photograph trug den Namen Jakob Fürchtegott Lempke und er war, soweit mir berichtet wurde, aufgrund seiner tadellosen Arbeit recht angesehen in Köln. Deshalb wurde ihm auch die Ehre zuteil, mich als jüngstes Mitglied der Familie Orlovski porträtieren zu dürfen.

Gemäß den Berichten meiner Mutter hatte Lempke am Tag der Aufnahme einen Assistenten namens Wilhelm bei sich. Seine Aufgabe bestand darin, die schweren Einzelteile der Kameraausrüstung aus der Kutsche hinauf in unseren Salon zu schaffen. Eine äußerst unangenehme Pflicht, wenn man Größe und Gewicht der damals gebräuchlichen Kameras bedenkt. Als er mehrere Einzelteile zugleich die Treppe zu unserem Haus hinauf und durchs Eingangsportal schleppte, entglitt ihm ein großes, eisenbeschlagenes Dreibein aus Walnussholz und hinterließ beim Aufprall auf den Dielenboden eine recht tiefe Macke, an die ich mich auch aus meiner noch folgenden Kindheit sehr gut erinnere, da meine Mutter darin wiederholt mit ihrem Absatz hängen blieb und sich beinahe den Knöchel brach. Einmal musste sie sogar einen Verband tragen, das erinnere ich.

Im Versuch, den Sturz des Dreibeins aufzuhalten, ließ Wilhelm eine Kiste mit Porträtobjektiven fallen, die er auf der rechten Schulter balanciert hatte. Zahlreiche Linsen sprangen in Folge des Aufpralls aus ihren Fassungen und rollten über den Boden davon. Die Hälfte seiner Ausrüstung solcherart ramponiert vor sich, war Lempke gezwungen umzudenken. Er verwarf kurzerhand die geplanten klassischen Porträtaufnahmen des Kleinkindes, das ich war. Stattdessen schlug er ein breites Panorama vor, welches meine Mutter als blütenweiße, stille Felsenwand, vor der sich wiederholenden Landschaft unserer, aus Paris importierten Mustertapete zeigen sollte. In der Mitte ich, gelöst wie ein Bergsteiger im Moment einer kurzen Rast, den Ausblick betrachtend.

Die Decke, in die meine Mutter eingeschlagen wurde, hatte uns der damalige deutsche Kaiser Wilhelm II. anlässlich des vergangenen Weihnachtsfestes überbringen lassen. Als bedeutende Ausstatter des Deutschen Heeres waren meine Eltern schon damals Persönlichkeiten der Gesellschaft. Die Kaisertreue meiner Eltern war mir wohl vererbt worden, denn ich schlief umgehend ein im, mit royalen Falten überzogenen, Schoß meiner Mutter. Sie wissen wahrscheinlich, wie man meinen Vater nannte? – Den Schraubenfürst von Köln.

Frage 3:

Ihre Eltern spielen in dieser Darstellung nur eine Nebenrolle. Gibt es andere Menschen, die in jungen Jahren eine Bezugsperson darstellten?

Ich hatte damals einen Onkel, er hieß Albert. Wir waren oft bei ihm zu Gast – besonders im Sommer. Denn er hatte einen sehr schönen Garten, nicht ganz eine Stunde von unserem Haus entfernt, am Rhein. Dort habe ich sehr glückliche Stunden mit seinem Hund Zeus verbringen dürfen, einem ausgesprochen treuen und genügsamen Golden Retriever. Ich würde noch heute behaupten, dass er mein liebster Freund zu dieser Zeit war und bis heute geblieben ist.

Die größte Freude kam auf, wenn uns erlaubt wurde zu zweit und fernab der Erwachsenen am Flussufer zu spielen. Dann postierten wir meine große Sammlung französischer Zinnsoldaten entlang des kurzen Strandes und schmuggelten anschließend in der Rolle preußischer Kuriere kleine Leckereien wie Himbeeren oder Kekse an den feindlichen Linien vorbei an Land.

Solcherart erfolgreich im Transportieren von Kleingut sah ich uns beide einen eigenen Kurierdienst eröffnen. Ich habe meinen Eltern einige Male den Wunsch unterbreitet, nach der Schulzeit Lieferjunge werden zu dürfen. Jedes Mal verpasste mir mein Vater daraufhin eine schallende Ohrfeige. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass ich irgendwann von meinen beruflichen Zielen absah. Darüber hinaus muss ich gestehen, recht unkonkrete – um nicht sagen zu müssen: gar keine Vorstellungen meiner Zukunft gehabt zu haben. Lediglich ein ganz natürlich wirkendes Gefühl, dass mein eigenes Leben rein gar nichts mit den Erfahrungen, Errungenschaften und Erwartungen meiner Eltern zu tun haben sollte. Das hatte ich wohl schon sehr früh.

Frage 4:

In unseren Unterlagen können wir keinen Onkel Albert finden. Wie verhält es sich mit dieser Personalie?

In der Tat war Albert Jankowski kein Onkel im familiären Sinne. Er war ein enger und langjähriger Freund meines Vaters Oskar aus jener Zeit, als er noch nicht als Schraubenfürst gefürchtet war, sondern eben gerade einen kleinen, hochverschuldeten Eisenwarenladen in der Kölner Innenstadt geerbt hatte.

Mein Großvater hatte dieses Geschäft um das Jahr 1863 gegründet und man konnte dort alles Erdenkliche kaufen, was aus Metall gefertigt wurde. Großvater Orlovski verbrachte die letzten zwanzig Jahre seines Lebens in diesem Geschäft. Wenn meine Eltern sich seiner in meiner Gegenwart erinnerten, dann erzählten sie stehts wie er in der Mitte seines Ladens stand – eine schwere, dunkelblaue Lederschürze übergeworfen – und grollte, dass ihm die Deutschen doch endlich bessere Kunden werden sollten. Seine Anklage verhallte jedoch zwischen all den Nägeln, Suppenkellen, Axtköpfen und Rohren. Der Familienbetrieb war in schwerer wirtschaftlicher Bedrängnis, als mein Vater schließlich seine Nachfolge antrat. Die innerstädtische Konkurrenz im Kölner Eisenwareneinzelhandel war zu jener Zeit ausgesprochen stark. Es war ihm zwar möglich uns von den dürftigen Einnahmen zu ernähren, immer öfter jedoch konnte er die Ladenmiete nicht aufbringen. Man kann sich vorstellen, wie verzweifelt er gewesen sein muss. Später erfuhr ich, dass aus dieser Zeit jener Revolver stammte, den er in seiner Schublade aufbewahrte, in ein violettes Tuch eingeschlagen und mit fünf Messingpatronen bestückt. Einige Male holte ich ihn später heraus, um ihn anderen Knaben zu zeigen, die uns besuchten.

Der Zufall wollte es, dass eben jenes Haus, in dem sich der Betrieb unserer Familie seit Jahrzehnten befand, in den Besitz von Albert Jankowski überging. Ihm war dieses Wohnhaus von seinem Schwiegervater im Zuge seiner Eheschließung mit Johanna- Luise Buttermann – einer Kölner Bankierstochter – anvertraut worden. Als Sicherheit für das junge Paar. Albert sah sich damals in einer verzwickten Situation, die so gar nicht zu seinen politischen Überzeugungen passen wollte. Er selbst war seit einiger Zeit beseelt von der Vorstellung internationaler Solidarität und bemerkte zunehmend einen Widerspruch zwischen seiner eigenen Tätigkeit als Angestellter des Bankhauses Buttermann und jenen frischen Ideen, die seinerzeit Kapital und Gesellschaft miteinander zu versöhnen suchten.

Er trug stets einschlägig bekannte und berüchtigte Schriften in seiner Aktentasche mit sich herum und verbarg sie zwischen Butterbrotdose und zahlreichen Papieren vor den Ordnungshütern und seinem Schwiegervater, dem er in dieser Sache nicht allzu viel Vertrauen schenkte.

So akkumulierte Albert im Stillen Vorwürfe und moralische Fragen, für die er zunehmend verzweifelt ein Ventil suchte. Als er von Oskar Orlovskis misslicher Lage erfuhr, fiel all die Grübelei auf einen Schlag von ihm ab und freudig begann er ein Exempel zu statuieren: Kurzerhand erließ er Oskar – zum großen Ärger der Buttermanns – die ausstehenden Mieten und befreite ihn zusätzlich von jeglichen zukünftigen Zahlungsverpflichtungen solange, bis der Betrieb ein ordentliches Auskommen versprechen ließe.

Um mich kurz zu fassen: Die neuen Umstände und die sich ihm bietende Gelegenheit messerscharf erfassend, stürzte sich mein Vater in einen ruinösen Preiskampf mit der Kölner Eisenwarenbranche. Im Zuge dieses, später als „Kölner Schraubenschwemme“ bezeichneten, Feldzugs, war es meinem Vater am Ende des Jahres 1898 gelungen, einen Großteil seiner Konkurrenten im Innenstadtbereich in den Bankrott zu drängen und den örtlichen Handel mit Eisenkleinwaren unter seine ausschließliche und alleinige Kontrolle zu bringen.

Diese Geschichte vom Aufstieg der Familie Orlovski erzählt man sich noch heute, freilich in verschiedenen Variationen – je nachdem, welche der damals beteiligten Parteien man fragt. Wie Sie sich denken können, habe ich aufgrund dieser Vorgänge so manches Mal Prügel bezogen oder Schlimmeres angedroht bekommen, wenn ich als Knabe durch die Stadt marschierte um Besorgungen für meine Eltern zu erledigen oder Freunde zu besuchen.

Ich kann nicht sagen, ob mir am Ende ein erfüllteres oder leichteres Leben vergönnt gewesen wäre, wenn mein Vater nicht zum größten Lieferanten für Bolzen und Nieten Preußens aufgestiegen wäre. Diese Fragen betrachte ich als müßig. Ich bin jedoch überzeugt, dass diese Erfahrungen tiefster Feindschaft bereits in meiner frühesten Kindheit Prägungen in meinem Wesen hinterlassen haben. Auch in späteren Jahren, als ich jeden Grund gehabt hätte einen Stolz auf meine Arbeit zu entwickeln, spürte ich diese Eindrücke als schwersten Ballast, so dass es mir vorkam, als würde mir, immerzu wenn ich mich voller Stolz aufblähen wollte, ein eiserner Ring um die Brust gelegt, der mir nicht nur die Luft nahm, sondern auch meine Schultern, mein Haupt und mein ganzes Sein tiefer und tiefer zog.

***

Das Buch «Der leichte Mensch «erzählt die Erlebnisse des jungen deutschen Chemikers Otto vor, während und nach dem ersten Weltkrieg. Er erlebt den Krieg nicht als Soldat an der Front, sondern als Teil einer sich stark verändernden und technisierenden Rüstungsindustrie. An diesen historischen Hintergrund knüpft die Geschichte eine phantastische Idee: Im Zuge seiner Forschungen für die deutsche Luftwaffe entdeckt der junge Mann die Chemikalie „Helitamin“, mit der Menschen fliegen können. Diese Entdeckung scheint Chancen und Möglichkeiten für ihn selbst, aber auch für das kollabierende Kaiserreich bereitzuhalten. Doch der passive und kontaktscheue Chemiker steht seiner Entdeckung eher ratlos gegenüber – im Gegensatz zu seinem agitatorischen, völkisch-nationalen Vorgesetzten Dr. Strohbrück.

All dies erfährt der Leser im Frage-Antwort Rhythmus eines schriftlichen Dialogs. Otto reflektiert sein Verhalten anhand einer Reihe, von einer höheren Instanz gestellter Fragen, die ihn immer wieder zum Rückblick und zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit anhalten.
Das Buch ist über die Webseite des Autors zu beziehen.

Marius Schmidt lebt in Berlin, wo er Bildende Kunst studiert hat. Seither schreibt und produziert Marius Schmidt Geschichten, die Bilder und Texte miteinander zu neuen Erzählformaten kombinieren.

https://www.instagram.com/msacrhimuisdt/

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Marion Poschmann «Laubwerk», Verbrecher Verlag, der Siegertext von «Wortmeldungen», dem Literaturpreis für kritische Kurztexte

WORTMELDUNGEN-Preisträgerin Marion Poschmann im Gespräch mit der Crespo Foundation zu ihrem Text «Laubwerk»: «Das Ferne nah heranholen, das Abwesende in die Gegenwart bringen, das Unsichtbare sichtbar machen, dem Unsagbaren Ausdruck verleihen!»

Marin Poschmann hat mit ihrem Text «Laubwerk» einen eindringlichen Text darüber geschrieben, wie eine veränderte Wahrnehmung auf die Zeichen der Natur unser Handeln ganz direkt beeinflussen kann. Marion Poschmann zeigt, dass «Engagierte Literatur» direkt in den gesellschaftspolitischen und sozialen Diskurs eingreifen will und kann.

Ihr Text Laubwerk wird mit dem WORTMELDUNGEN-Literaturpreis 2021 ausgezeichnet. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?

Mir ist diese Auszeichnung wichtig, weil sie nicht nur einen literarischen Text hervorhebt, sondern auch meinem Anliegen einen besonderen Nachdruck verleiht. Ich bin dankbar, dass mit diesem Preis die Stadtbäume etwas stärker in den Fokus rücken, dass diese Bäume und all das, wofür sie stehen, ein Forum erhalten.

Ihr Schreiben wird häufig dem Nature Writing zugeordnet. Welche Parallelen und welche Unterschiede sehen Sie zwischen Ihrem Schreiben und der angloamerikanischen Tradition des Nature Writings? Was macht zeitgenössisches Nature Writing aus?

Marion Poschmann «Laubwerk», Verbrecher Verlag, 2021, 69 Seiten, CHF 19.90, ISBN 978-3-95732-489-4

Ich selbst verwende für einige Aspekte meines Schreibens eher den Begriff Naturdichtung, aber ich sehe zum Nature Writing durchaus einige Gemeinsamkeiten. Der literarische Naturbezug hat in Deutschland spätestens seit der Romantik eine Tradition, die allerdings nicht so kontinuierlich fortgesetzt wurde wie im angelsächsischen Raum. In Deutschland gab es immer wieder und ganz besonders in der Nachkriegszeit ein politisch motiviertes Misstrauen gegenüber der Natur als einem Sujet der Kunst. Schnell kam der Verdacht auf, sich in eine falsche Idylle zurückzuziehen, wenn man „Petersil und Dill“ besang oder sich ausgerechnet mit Bäumen beschäftigte. Bertolt Brecht hat diese Zeitstimmung in dem berühmten Zitat aus dem Gedicht «An die Nachgebo- renen» zusammengefasst:
«Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschliesst!»
In der Ökobewegung der 1980er Jahre kam die Natur zwar wieder als Thema vor, aber mit der zunehmenden Dringlichkeit des Naturschutzes verlor sich auf der Seite der Kunst die ästhetische Qualität. Das Spezifische am Nature Writing ist vielleicht, dass beim Schreiben über Natur der Kunstanspruch nicht vernachlässigt wird, dass ein gewisses Niveau nicht unterschritten wird, weil es zu den Kriterien dieses Schreibansatzes gehört, genaue Beobachtung mit Sorgfalt und Konzentration im Ausdruck zu verbinden. Nature Writing geht mit einer Verfeinerung der Wahrnehmung einher, und diese Sensibilität, sowohl der Welt als auch der Sprache gegenüber, trägt dazu bei, sorgsamer mit dem umzugehen, was wir gewöhnlich unter „Natur“ subsumieren.

„Wenn wir die Natur bewahren und eine ökologische Katastrophe verhindern wollen, ist eine neue Romantisierung der Welt, eine poetische Naturwahrnehmung unumgänglich“, schreiben Sie. Was meinen Sie mit einer solchen Romantisierung konkret und was kann durch sie erreicht werden?

Ich möchte Romantisierung als einen Teilaspekt der Aufklärung verstanden wissen. „Die Welt romantisieren heisst, sie als Kontinuum wahrzunehmen, in dem alles mit allem zusammenhängt“, schreibt Novalis in seinen Fragmenten. In der Aufklärung war die Devise, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Das hat unter anderem den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt befördert, bis zu dem Punkt des Übermasses, an dem wir heute sind. Die Romantik hat den Aspekt der Empfindung hinzugefügt: Das Subjekt kann sich aus seiner Unmündigkeit und Abhängigkeit befreien, indem es einen unendlichen Gefühlsraum betritt. Diese Empfindsamkeit könnte dazu beitragen, sich selbst als einen Teilhaber im Kontinuum der Welt zu akzeptieren, den Punkt, von dem aus alles mit allem zusammenhängt. Das ökologische Ungleichgewicht geht durch den menschlichen Körper hindurch, die Probleme der Natur spiegeln sich in Geist und Psyche, Romantisierung könnte auch ein Schritt sein, dies überhaupt zu bemerken.

Unter dem Schlagwort Anthropozän findet das Thema Natur derzeit wieder stärker Beachtung. Natur ist nicht mehr Idylle und Moment des Schönen, vielmehr Schauplatz von Umweltproblemen, Verkehrspolitik und Klimawandel. Was ist die besondere Qualität von Kunst in Bezug auf den Klimawandel? Was kann sie – insbesondere auch in Abgrenzung zur Wissenschaft – erreichen?

Ein auffälliger Aspekt am Anthropozän ist die Ungreifbarkeit. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel und den damit verbundenen Problemen lassen sich schwer kommunizieren, sie sind oft abstrakt, und die konkreten Auswirkungen für den Einzelnen bleiben vage oder schlagen sich anderswo nieder, weit weg. Die Informationen der Wissenschaft erreichen viele Leute kaum, sie treffen, plakativ gesagt, die Menschen nicht ins Herz. Hier läge das Potential von Kunst: das Ferne nah heranzuholen, das Abwesende in die Gegenwart zu bringen, das Unsichtbare sichtbar zu machen, dem Unsagbaren Ausdruck zu verleihen.

Die Fragen stellten Sandra Poppe und Katja Schaffer (WORTMELDUNGEN-Team der Crespo Foundation).

Das vollständige Gespräch ist im Band «Laubwerk» von Marion Poschmann erschienen als Band 2 der WORTMELDUNGEN-Reihe im Verbrecher Verlag abgedruckt.

WORTMELDUNGEN – Der Literaturpreis für kritische Kurztexte wird von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35000 Euro dotiert und wird jährlich für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die in der Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen den Nerv der Zeit treffen. Der mit 15000 Euro dotierte Förderpreis soll junge Autor:innen motivieren, sich mit dem Thema des Gewinner:innentextes auseinanderzusetzen und eine eigene literarische Position zu formulieren.

Marion Poschmann (geb. 1969 in Essen) studierte Germanistik, Philosophie und Slawistik und lebt in Berlin. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen für Lyrik und Prosa, zuletzt 2021 den Bremer Literaturpreis für den Gedichtband «Nimbus». 2019 hielt sie die Zürcher Poetikvorlesungen und 2020 hatte sie die Kieler Liliencron-Poetikdozentur inne. Ihr Roman «Die Kieferninseln» stand 2017 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und 2019 auf der Shortlist des Man Booker International Prize.

Beitragsbild © Heike Steinweg / Crespo Foundation

Lea Catrina «Mit beiden Händen in der Luft», Plattform Gegenzauber

Ich habe Elias nie gefragt, woran er glaubt. Wenn ich ihm dabei zusehe, wie er die Erde umgräbt, wie er in der sengenden Hitze jeden anlächelt, der an ihm vorbeigeht, scheint es keine Rolle zu spielen. Es stimmt, was man über Sterbende sagt. Sie haben dieses innere Leuchten, bevor die Dunkelheit sie einholt, Momente reinster Dankbarkeit. Vielleicht weil er jetzt weiß, warum er hier ist. Ich bin hier, weil uns die Zeit davonläuft.
«Sienna», sagen sie, «Sienna, du kannst jetzt nicht tanzen.» Ich kann. Manchmal will ich in die Luft springen und jubeln, aber dann erinnere ich mich daran, dass man auch das nicht tun sollte. Keiner tut das. Schon gar nicht, wenn die Liebe deines Lebens stirbt. Du kannst jetzt nicht tanzen. Ich weiß gar nicht, warum ich das will.

Vor ein paar Monaten ging ich auf eine Party, auf der Elias hätte sein sollen. Nach dem Gymnasium studierte er Landwirtschaft und Literatur, ich Textildesign, zwei Stunden entfernt. Von da an trafen wir uns einmal im Jahr. Er aß Pizza, ich Pasta, wir tranken Bier, später Wein, bis zu dem Punkt, an dem wir einander unsere Liebe gestanden. Nicht wirklich. Nur indem wir nicht nach Hause gingen, er zu seiner Freundin und ich zu Hannah, sondern die ganze Nacht weitersprachen. Unsere Geschichten hörten sich an, als könnten sie in jede Richtung verlaufen.
«Bis bald, meine Sienna», sagte er.

Elias kam nicht zu der Party. Ich war davon ausgegangen, dass er auftauchen würde, wenn ich nur fest genug an ihn dachte, an seine blauen Augen, sein braun gebranntes Gesicht, seinen blonden Irokesenhaarschnitt.

Er war, ist noch immer, der unzuverlässigste Mensch, den ich kenne. In seinem Kopf schwirren zu viele Ideen durcheinander. Offensichtlich sieht er sich dazu gezwungen, sie alle zu erkunden. Er spricht von Erdbeeren für den nächsten Frühling, von kleinen Tomaten, die man wie Geranien in den Fensterkästen ziehen kann. Ich stehe auf und sage: «Hör mal auf, sei hier bei mir, die Zeit läuft uns davon.» Aber das interessiert ihn nicht. Er gräbt weiter die Erde um.
«Sie läuft uns nicht davon. Sie kommt uns entgegen», sagt er.
«Ja, genau!»
«Nein, Sienna. Du verstehst nicht. Sie hat mir dich gebracht.» Er kommt auf mich zu, greift nach dem beschlagenen Wasserglas und leert es in einem Zug. Dann nimmt er meine Hand und küsst die weißen Knöchel, einen nach dem anderen.

Die Zeit, die Zeit. Auch Hannah hatte sie gespürt. Fünf Jahre wohnten wir zusammen, sie in ihrem Zimmer am Ende des Ganges, ich in dem zwischen Küche und Wohnraum, bevor ich meine Sachen packte.
Mir war damals nicht klar, dass mein bisheriges Leben mich auf das vorbereiten sollte, was noch kommen würde. Und dass der leichte Teil vorbei war. Als sie an dem Abend nach Hause kam, nicht direkt Musik auflegte und sich stattdessen in meinen Türrahmen stellte, begann der Teil danach. Bei Hannah muss man mit allem rechnen.
«Ich werde vierunddreißig, Schätzchen», sagte sie. «Ich habe keinen Bock noch länger zu warten. Heutzutage braucht man eh keinen Mann mehr, um ein Kind zu bekommen.»
«Bist du dir sicher? Du willst alleine ein Kind großziehen?»
«Spinnst du? Wir ziehen es zusammen groß. Hier, in unserer Glücksbude, du und ich.»
Gefragt hat sie mich nicht. Hannah fragt nie. Dafür habe ich sie schon immer bewundert.

Am nächsten Tag erhielt ich den Anruf. Schon seltsam, wie ein Schock auf den nächsten folgt. So fand ich mich wieder, zwischen Hannah und Elias, zwischen Leben und Tod.
Eigentlich sind wir doch alle selbst schuld. Wir wollen nur lachen oder weinen und alles dazwischen hat keine Bedeutung. Es ist eben nur das Dazwischen.
Zwischen, zwischen. Erinnert mich an das Zischen der Bügelpresse. Man drapiert den Stoff auf die Platte, legt die kleinen Ausschnitte darauf, so wie es einem gefällt, mit der Klebefläche nach unten, dann drückt man zu. Hinterher ist es, als wären die vielen Einzelteile nie getrennt gewesen.
Elias legt die Harke weg und setzt sich zu mir in den Schatten.

Als der erste Schnee fällt, sind wir wieder an der gleichen Stelle unter dem Ahorn, der im Sommer begonnen hat, das Haus zu fressen. Jetzt, ohne die Blätter, sieht es eher nach einer Umarmung aus. Lieben ist so viel einfacher, als sich lieben zu lassen.
«Ich halte nicht viel von der Ehe», sagt Elias, «aber da unsere sowieso kurz sein wird, sollten wir vielleicht heiraten.» Noch so eine Idee. Wieder will ich tanzen, jubeln.
Höchstens ein Jahr, hatten sie gemeint. Wie kommen die immer auf so was? Ich wollte gar nicht wissen, ob es drei Wochen, fünf Monate, ein Jahr oder auch zwei sind. Jede Minute mit ihm ist alles. Ein Jahr ist nichts.

Hannah kommt nicht zur Hochzeit, das hat sie mir geschrieben. «Sorry, Placenta praevia, kannst es ja googeln.» Ich weiß, wenn sie lügt.

Im Trauzimmer ist es still. Die Standesbeamtin raschelt mit dem Papier, bevor sie anfängt zu sprechen. Elias hört nicht zu. Er lächelt mich an, flüstert, wie schön ich aussehe, und streichelt mir über den Rücken. Die Standesbeamtin räuspert sich, aber er hört noch immer nicht zu.
«Du bist dran», sage ich.
«Lass mich dich noch einen Moment lang anschauen», sagt er.

Seine Eltern, ein paar Freunde und wir beide sitzen am Tisch. Es ist das einzige Restaurant im Dorf. Natürlich wissen alle, dass wir heute geheiratet haben. Einer nach dem anderen kommen sie, um uns zu gratulieren, bringen Geschenke und stoßen mit uns an. Der Raum füllt sich, wellenartiges Gelächter, ein Glas zerbricht auf dem Plattenboden, die Gemeindepräsidentin hat die Damentoilette vollgekotzt.

Später sitzt keiner mehr. Sie alle stehen in unruhigen Knäueln beieinander. Nur ich, ich sitze noch. Ich bin bis ganz ans Fenster gerückt, weil ich von hier aus alles sehen kann. Ihn sehe ich nicht. Ich spüre, wie sich die Kälte durch den dünnen Spalt reinschleicht und lege meine Finger darauf. Es hat wieder angefangen zu schneien. Das Licht aus dem Lokal landet weich auf der schneebedeckten Straße.
Da ist er, draußen, allein, die Kopfhörer auf, die Augen geschlossen.
Er tanzt. Er tanzt mit beiden Händen in der Luft.

Lea Catrina ist Autorin und Texterin. Sie hat Multimedia Production in Chur sowie Literarisches Schreiben in Zürich studiert. Zudem ist sie seit 2019 Mitglied des Literaturkollektivs «Jetzt». Catrina ist in Flims aufgewachsen, lebt heute in Zürich und verbringt einen Teil des Jahres in der San Francisco Bay Area. Beim Arisverlag ist ihre Roman «Die Schnelligkeit der Dämmerung» erschienen.

«Die Schnelligkeit der Dämmerung», Rezension mit Interview

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Oceana Galmarini

„Ich bin in erster Linie ein Leser“

Über volle Satteltaschen, das eigene Schreiben und die Lust am Moderieren – eine Begegnung mit dem Literaturliebhaber und Kritiker Gallus Frei-Tomic, nach 1000 Artikeln auf seiner Literaturwebseite literaturblatt.ch.

Frank Keil

von Frank Keil; Hamburg
freier Journalist

Am frühen Morgen wie versprochen, die E-Mail:
„Lieber Frank, als ich dann merkte, wie schwer die Bücher sind, packte ich doch nur 5 ein: Ulrike Edschmid „Levys Testament“, Wolfgang Hermann „Herr Faustini bekommt Besuch“, Pascal Janoviak „Der Zoo in Rom“, Peter Terrin „Blanko“ und Patricia Melo „Gestapelte Frauen“.

Am Tag zuvor hatte mich Gallus Frei-Tomic mittags vom Bahnhof von Frauenfeld abgeholt. Er hatte auf den kleinen Rollkoffer gezeigt, den er gleich ratternd durch die Straßen ziehen würde: „Meine Abendgarderobe“, die Erklärung. Dann die Frage: „Magst du etwas essen?“ Gerne! Ich war schließlich einmal durch die halbe Schweiz gefahren, durch dieses für mich so fremde, freundliche und aufgeräumte Land.
Wir setzen uns ins ‚La Terrasse‘, ein großer Schirm hält die Sonne fern, wir bestellen das Menü Eins und das Menü Zwei. Alle viertel Stunde fährt grollend der Stadtbus vorbei. Auch zu hören: die Glockenschläge der Stadtkirche St. Nikolaus, ebenso aller 15 Minuten, aber zeitversetzt. Mein Aufnahmegerät steht zwischen uns; manchmal, wenn wir im Eifer des Gesprächs mit den Beinen oder den Ellenbogen gegen den Tisch stoßen, fällt es um und will wieder aufgerichtet werden und das geschieht dann.

Er ist so selbstverständlich gut gelaunt wie ich ihn von unseren zugegeben wenigen Treffen kenne. Strahlt und macht sich über den das Menü einleitenden Salat her. Und fängt gleich an zu erzählen: von der Fahrradtour, die er morgen in aller Frühe starten wird, den Rhein hinauf bis hoch nach Köln, wenn alles gut geht. Er sagt: „Ich stelle mir vor, ich fahre so mit dem Fahrrad, komme irgendwo um zwei Uhr an, ziehe meine Radlersachen aus, dann lege ich mich irgendwo auf eine Wiese oder – keine Ahnung – ich sitze in einem Garten-Restaurant, lese, schreibe.“
Entsprechend wird er in den Satteltaschen Bücher haben. Aber welche? Schwierig. Nur eines ist gewiss: „Ich nehme viele Autoren mit, die ich nicht kenne. Ich muss mich bei der Rezensiererei sehr fest bemühen, dass ich nicht immer wieder meinen Lieblingen verfalle, manchmal werde ich auch von den Lieblingen enttäuscht.“ 
Die Getränke kommen. Für ihn eine Selter, für mich eine Rivella (rot), weil ich das immer witzig finde, in der Schweiz eine Rivella zu bestellen, ich bleibe damit immer der einzige, bisher jedenfalls.

Also die Reise, die Fahrradtour: Er plündert dafür seine Extrakasse; die Kasse, in der sich das Geld sammelt, das er nebenher für Rezensionen in Zeitungen außerhalb seiner handschriftlich verfassten und auf echtem Papier gedruckten Literaturblattes und seiner Plattform www.literaturblatt.ch bekommt, also verdient. Und dass er eben bewahrt und sammelt, dieses Geld der Leidenschaft, für Unternehmungen, für die er nicht die häusliche Familienkasse belasten möchte. Extrageld, also, seine Vergnügungspauschale.

Aber wie hat es eigentlich alles angefangen mit dieser so Gallus’schen Bücherleidenschaft? Das will ich natürlich wissen. Aber noch ist es nicht so weit. Noch sind wir beim Warmplaudern, schauen nebenher nach links und nach rechts, wer da so neben uns sitzt. Der Himmel ist hoch und blau.

(Wir werden später, satt und zufrieden, noch in die Buchhandlung am Ort gehen und zueinander Sätze sagen wie „Habe ich noch nicht gelesen, soll aber richtig gut sein …“ oder „Diesmal war ich enttäuscht, dabei ist sie so eine gute Autorin …“ oder „Einer meiner Lieblingsautoren, ist aber Geschmackssache …“, während uns die Buchhändlerin ein wenig säuerlich beobachtet, weil wir ja doch nichts kaufen werden, wie wir da um die vollgepackten Büchertische tänzeln, wir bekommen ja so gut wie alles an Büchern geschickt, aber dieser Buchhandlungsbesuch kommt noch, am Ende).

Also: Wie hat es eigentlich angefangen? 
Oder soll ich nicht erst mal fragen, ob er eigentlich selbst schreibt? Oder ist das zu direkt, zu sehr mit der Tür ins Haus gefallen, wie man bei uns sagt? 
„Also weißt du …“, sagt er nach einer langen Pause, als ich dann frage: ‚Schreibst du eigentlich auch literarisch?‘ „Probiert habe ich es schon oft, schon ganz früh.“
Er legt sein Besteck kurz zur Seite, faltet die Hände, als müsse er sich sammeln: „Ich habe schon mal ein Manuskript fertig gemacht, das hieß ‚Der Bruch‘. Ich habe es sogar verschickt, denn ich fand es gut“, sagt er schließlich. 
Er bekam damals bald von den Verlagen leicht erkennbar vorgefertigte Absagen zugeschickt. Was auch einem Freund so erging, der gleichfalls ein Manuskript bei diversen Verlagen eingereicht hatte: „Wir haben dann diese Absagen auf einer großen Platte aus Messing abgelegt, haben sie ritisch verbrannt und sind um dieses Feuer getanzt.“ Er lacht und nimmt Messer und Gabel wieder in die Hand: „Damit war es vergessen und weggelegt, aber ich schreibe eigentlich immer Tagebuch.“
Er beugt sich zur Seite und holt aus dem Koffer ein dickeres Heft, Format etwa Din A 5, schlägt es auf, zeigt die Seiten, engstens Zeile für Zeile eng beschrieben. Robert-Walser, denke ich, „So Robert-Walser-mäßig“, sagt er. „Wobei: Es ist schon lesbar.“ 
Und nach einer Pause, ich merke, die Frage nach seinem Schreiben, dem eigenen, lässt ihn nicht los, er nimmt einen neuen Schwung: „Vor zwei Jahren habe ich mich um einen Schreibaufenthalt bemüht und war tatsächlich einen Monat im Meran, und ich habe mich bemüht, dass ich mir nicht allzu viele Hoffnungen mache, dass in diesen vier Wochen irgendwas passiert.“
Also: kein Plan, keine Ideen-Skizze, nichts habe er sich vorgenommen, rein gar nichts. Stattdessen dabei: ein Koffer voller Bücher. „Ich habe mir gesagt: ‚Gallus, alles gut‘.“ Denn wenn nichts passiere, lese er eben den Koffer leer, und dann schrieb er vier Wochen lang: „160 Seiten, wie in Ektase, das habe ich genossen, in diesem ekstatischen, völlig ungestörten Zustand zu sein – aber am Schluss gab es einen Rohling.“ Er wiegt seinen Kopf leicht hin und her: „Ich habe es dann gewissen Leuten zum Lesen gegeben, die haben gesagt, es hätte gutes darin, aber es sei ungeschliffen.“ 
Er hebt ein wenig abwehrend die Hände: „Ich sage nicht ‚Diamant‘ – sondern: ‚ungeschliffen‘.“ 
Aber er hätte dann nicht den Ehrgeiz gehabt, vielleicht nicht die Kraft, noch mal in die Vollen zu gehen: „Gallus, habe ich mir gesagt, da musst du dich entscheiden, willst du auf die Fährte setzen, ich schreibe selbst was und vielleicht wird was draus und vielleicht auch nicht – oder machst du weiter, wo ich jetzt schon weiß, dass ich es kann und dass es zumindest von ein paar Leuten gelesen wird.“
Er hat sich entschieden. Aber ist die Entscheidung auch gültig? „Es tut nicht weh“, sagt er nun abschließend: „Ich denke auch nicht von mir: Eigentlich geht der Welt was ab, geht ihr was verloren, wenn ich nicht dran bleibe.“ Will zum nächsten Thema springen (gleich!), sagt dann: „Obwohl, manchmal lese ich schon ein Buch, wo ich ein wenig überheblich denke …“

„Es sind die guten Bücher, die mich wirklich verblüffen und die meine Welten bei weitem überschreiten“, setzt er nach. Wie bei Rolf Lappert. „Dieser Rolf Lappert“, sagt er und schnalzt fast mit der Zunge: „Dieses episch breite Erzählen – ich habe keine Ahnung, wie ich das angehen würde. Also was der Rolf Lappert jedes Mal abliefere: „Ein Monolith! Und nicht eine Ansammlung von Steinen.“

Heute Abend wird er ihn moderieren, im Literaturhaus Thurgau, sozusagen nebenan, das Haus, dass er seit einiger Zeit leitet, dazu später mehr: „Ich mache das wahnsinnig gerne, ich moderiere extrem gerne.“ Der Rolf Lappert war schon bei ihm zu Hause, war zu Gast, las, man sprach, man aß gemeinsam, am Familientisch, „Literatur am Tisch“, heißt die Veranstaltung, falls ‚Veranstaltung‘ noch der richtige Begriff ist. „Wenn ich dann noch die Autoren persönlich kenne“, ist er wieder bei heute Abend, bei den Stunden, die noch kommen werden, „macht das nur Freude, und ich genieße dieses Engagement. Wenn ich Programm mache, das ist wie ein Geschenk. Ich habe quasi eine Freikarte, mir die Leute ins Haus zu holen, die ich gerne habe. Wer kann das schon? Ich! Finde ich super.“

Das Beste sei gewesen, dass ihn die Stiftung, die das Literaturhaus Thurgau führt und also finanziert, angefragt habe, ob er sich das vorstellen kann: eben jenes Haus die nächsten drei Jahre zu leiten: „Das setzt ja voraus, dass man das Gefühl hat, ich sei der richtige Mann für diese Aufgabe. Weil: Hätte ich mich bewerben müssen, hätte ich niemals den Mut gehabt.“ Er habe ja nicht Literaturwissenschaft studiert. Er sagt und sagt es mit schlichter Präsenz: „Ich bin in erster Linie ein Leser.“

Und nun steht der abschließende Kaffee vor uns, in Espresso-Form und wuchtig-schaumig als Latte macciato, der danach ruft, dass man mit dem langstieligen Löffel rührt und rührt, dass sich Kaffeebraun und Milchweiß mischt: „Mein Glück ist, dass ich vor fünf Jahren mit dieser Bloggerei begonnen habe. Weißt du, da fängst du an und dann siehst du Besucherzahlen, hast pro Tag zwei Besucher. Das war für mich schon verblüffend, dass diese fünf Jahre, die ich das jetzt mache, das Bloggen, das sie gereicht haben, dass ich zumindest in der kleinen Literaturszene Schweiz meinen Platz bekommen habe. Das war nicht mein Ziel! Es war eine schöne Begleiterscheinung.“

Sein eigentliches Rückgrat sind zuvor seine ‚Literaturblätter‘, handschriftlich niedergeschrieben empfiehlt er je vier herausragende Bücher fünfmal im Jahr; seit zehn Jahren gibt er sie verschickend heraus, nur an zahlende Abonnenten, von denen er gut 200 hat, die „Freunde der Literaturblätter“. 
Und dann, vor fünfeinhalb Jahren, hat er, der hauptberufliche Lehrer („‘Primarlehrer‘ sagt man bei uns in der Schweiz, also ‚Grundschullehrer‘ bei euch“, sagt er), ein Burnout: „Vor dem Burnout hat mir mein Schwiegersohn auf meinen Geburtstag die Domäne geschenkt, weil er der Meinung war: ‚Gallus, du musst Werbung machen für dein Literaturblatt‘.“ Und dann hat er diese Domäne. Mehr nicht. 
Er holt tief Luft: „Ja, dann war dieses Burnout, ich musste mich irgendwie beschäftigten, habe angefangen mit diesem Literaturblatt.ch, aus einer Not heraus, ich musste eine Aufgabe haben – in einer Zeit, wo ich dachte: Ich kann nie wieder unterrichten, ich hatte Angst auf der Straße meinen Schülern zu begegnen, ich hatte Existenzängste, ich war ja schon über 50 und fragte mich: Wozu kann man mich noch brauchen?“ Er nickt: „Und da war dieses Literaturblatt.ch genau das Richtige.“

Das war die erste Initialzündung. Und dann die zweite, da ist der März vorbei, das Frühjahr steht vor der Tür, er kann sechs Einträge, also Beiträge auf seinem Literaturblatt-Blog vorweisen: „Und dann habe ich stinkfrech das Literaturfestival im Leukerbad angefragt, ob ich für meinen Blog über das Festival berichten darf.“ Ja, natürlich dürfe er. 
Er fährt hin, er meldet sich bei der Festivalleitung an, stellt sich vor; sagt, wer er ist: „Ich hatte schon erwartet, dass ich eine Dauerkarte für die Lesungen bekomme – aber die haben mir das Hotel bezahlt!“
Und dann, nach einem kurzen Moment, platzt es aus ihm heraus, eine kleine Freudenexplosion: „Das war so schön!“ Sagt: „Ich hatte noch keine Klicks, hatte gar nichts, niemand hat mich gekannt und die bezahlen mir das Hotel.“ Und er weiß damals, dass er gelesen wird, dass man ihn wahrnimmt, und er sagt abschließend: „Es war eine Erleuchtung.

“
Ich schaue ihn an, sehe, wie er sich noch heute freut, wie er glücklich ist, nebenan wird neu eingedeckt, der Stadtbus ist zu hören, wie der Fahrer die Gänge schaltet, die nächste Uhrzeit wird glockenschlagend verkündet, wir nicken uns zu, stehen auf, rücken dabei die Stühle knarrend zurück, er greift nach seinem Rollkoffer: „Wollen wir noch eine kleine Runde gehen? Da oben gibt es noch eine Buchhandlung …“

Anna Butan «Masken»

Die Leute tragen Masken, fast alle von ihnen. Und sie lassen sich in zwei verfeindete Parteien aufteilen: diejenigen, die Masken verehren und diejenigen, die sie ablehnen. Es liegt in der menschlichen Natur zu kämpfen, zu hassen, sich gegen etwas aufzulehnen. Wenn es nicht die Masken wären, dann wäre es etwas anderes, egal was. Diejenigen, die Impfungen befürworten und diejenigen, die sich lebhaft gegen die Vorstellung davon auflehnen. Diejenigen, die das Desinfektionsmittel verehren und diejenigen, die es kritisieren. Diejenigen, die darauf bestehen, dass wir alle zu Hause bleiben sollten und diejenigen, die schreien, dass wir so oft wie möglich draussen an der frischen Luft sein sollten. Diejenigen, die an das Coronavirus glauben und diejenigen, die es nicht tun.

Auch wenn es Covid-19 nicht gäbe, würden die Leute weiterhin in Polaritäten denken. Sie würden sich weiterhin in militante Gruppen aufteilen und einander angreifen, statt sich zu vereinigen und Solidarität zu zeigen, nur um ihre Überlegenheit, ihre Macht zu demonstrieren, um den inneren Egoismus auszuleben. Manchmal scheint es, dass sie sich gegen etwas auflehnen, nur um sich gegen etwas aufzulehnen. Wie viele Jahrhunderte und wie viele Kataklysmen braucht die Menschheit, um zu verstehen, wie sinnlos und absurd das ist? 

Im Hamsterrad des Alltags verfehlen alle das Ziel. Wenn die Münder mit Masken verdeckt sind, dann bleiben nur noch die Augen, der Spiegel der Seele, und diese lügen nicht. Nur die Augen sprechen die Wahrheit. Münder sind nicht vertrauenswürdig. Was, wenn die Masken unsere Strafe dafür sind, dass wir zu viel reden? Eine Maske versperrt den Mund wie ein Maulkorb. Sie verhindert das Heraussprudeln von Worten. Ja, die Masken sind eine Strafe, eine Strafe dafür, dass wir die falschen Worte ins Universum aussenden. Dafür, dass wir unsere Worte nicht abwägen. Dafür, dass wir sie im Affekt unseren Geliebten an den Kopf werfen. Dafür, dass wir sie als Waffen benutzen, als Abfall. Dafür, dass wir zu viele davon verwenden. Zieh die Maske an und behalte deine Worte für dich, vergeude sie nicht. Wäge deine täglichen Worte ab, bevor du sie ins Universum schickst.

Im Alter von neunzig Jahren kennt Nora den Wert der Wörter. Und darum wählt sie die Stille. Ihre Familie fühlt sich unwohl, wenn sie stundenlang in ihrem Zimmer sitzt und kaum ein Wort sagt. Aber wozu? Alles, was hätte gesagt werden können wurde bereits gesagt. Ihre Worte würden daran nichts ändern.

Ihr Sohn Philip ist das genaue Gegenteil. Er mag es zu reden. Reden ist seine Berufung. Er ist Journalist. Er mag es so sehr zu reden, dass er manchmal mit sich selbst spricht. In diesen Momenten wünscht sich Nora einen magischen Schirm zu haben, um ihren Kopf vor dem Schwall an Wörtern, der sich gegen ihren Willen über ihrem Kopf ergiesst, zu schützen. Wie viele Jahre, gefüllt mit bedeutungslosem Geplapper und inhaltslosen Gesprächen sind in den Zeitungen zu finden? Insbesondere jetzt, wenn Corona uns eine derart einzigartige Gelegenheit gibt. Was Nora am meisten aufregt, ist, dass ihr Sohn mittendrin ist. Er arbeitet Tag und Nacht, um Worttürme zu aufzubauen und diese dann den Leuten an den Kopf zu werfen. Wie kann sie ihm widersprechen? Nur indem sie seinen verbalen Durchfall mit Stille bekämpft.

Aber wenn Philip nicht zu Hause ist, ruft ihre Tochter Lea an und beschwert sich über die Arbeit. Lea beginnt die Unterhaltung normalerweise in einem positiven Tonfall, beendet diese aber unausweichlich immer mit Klagen: «Es gibt nicht genügend chirurgische Masken im Spital, die Lieferung, die sie letzte Woche bestellt hatten, war beschädigt und sie mussten sie zurücksenden.» «Jemand stahl letzte Nacht ein Pack Masken. Sie mussten eine teurere Ladung von einem anderen Lieferanten bestellen.» Nora schliesst die Augen und versucht sich einen unendlichen Vorrat an Masken im Universum vorzustellen. Masken, Masken, Masken… Masken in verschiedenen Formen, Grössen und Farben, ein Maskenregen, ein Maskensturm, ein Masken-Hurrikane. Eine grosse Maske bedeckt ihre ganze Stadt wie ein weisser Dom, damit die Leute sich sicher fühlen und sich erneut im Gespräch austauschen können. Bedeutungsvoll. Unverfälscht. Sinnlich.

(aus «Noras kleines Corona-Alphabet»)

Anna Butan, wurde 1982 in Russland geboren. Sie hat Kulturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Literatur an der Universität Bern studiert. Ihr Debütroman «Helen the Man» wurde als E-Buch auf lucify.ch veröffentlicht. In ihren letzten Roman „Noras kleines Corona-Alphabet“ erzählt sie intime Geschichte einer Frau, die an Demenz leidet und versucht, durch die Linse der von Corona beherrschten Gegenwart, einen Sinn für ihr Leben zu finden. 

Der Web Magazin www.lucify.ch wurde von hochausgebildeten Frauen mit Migrationshintergrund gegründet, die sich ihren Platz in den Schweizer Medien seit 3 Jahren erfolgreich erkämpft haben und einnehmen. Neben ihrem journalistischen Engagement haben Zaher Al Jamous (Syrien), Maya Taneva(Nordmazedonien), Anna Butan(Russland), und Faten Al Soud (Irak) ihren Beruf als Schriftstellerinnen weiterverfolgt und so wurde ein Teil des Lucify Kollektivs in eine Gesellschaft der Schriftstellerinnen umgewandelt. Die Lucify Schriftstellerinnen sind an Zuwachs interessiert und kreieren ein wichtiges Netzwerk der Schriftstellerinnen mit Migrationshintergrund in der Schweiz.

Johanna Lier «Zwischenfall», Plattform Gegenzauber

Leere.

Ich sehe die stille Strasse. Die aufgereihten Wohnblocks. Den Windstoss in dem pinkfarbenen Schirm. Ich sehe sein blitzartiges Auftauchen. Schatten an meiner Seite. Raubtiersprung. Seine Brust auf meinem Rücken.
Ich sehe den jungen Mann in Pullover, Jeans und Sportschuhen weglaufen. Sein tänzelnder Gang, seine aufrechte Körperhaltung, sein Zögern angesichts meiner Schreie und die Wendung seines Kopfes.
Meine Tiertasche in seiner Hand.
Ich sehe meine angezogenen Knie und den Rahmen des Hauseingangs an meiner Wange und wie ich meine Fusssohle festhalte. Ich sehe den Polizisten, der sich hinkauert, den Krankenwagen unter rotierendem Blaulicht. Ich sehe das Tier, das seine Schnauze in meine Jacke drückt, dorthin, wo der junge Mann Hand angelegt hat.

Ich sehe das karierte Nachthemd. Die weissen Strümpfe. Die Zeitungen. Den Tisch am Fenster. Die übrigebliebenen Nahrunsgmittel in Glasschalen.
Ich sehe das Zimmer mit den braunen Vorhängen. Mit den Wanzenkotspuren am Boden. Den schwarzen Flecken auf der Matratze.
Ich sehe meinen bewegungslosen Körper auf dem Bett. Ich sehe, mein unruhiges Herumtigern in der Wohnung. Ich sehe, wie ich für wenige Minuten mich hinsetze, um wieder aufzustehen, um einen neuen Platz zu suchen.

Ich sehe, wie meine Hand nach der Teeschale greift. Ich sehe den umgestürzten Teekrug. Ich sehe, das gelbe Wasser, das sich auf dem Tisch ausbreitete. Ich sehe das Papier, das sich vollsaugt.

Ich sehe die Blüten, die aus dem Baum quellen. Gestern hat der Baum Blüten getrieben. Ich sehe vor dem inneren Auge das, was ich in der Vergangenheit bereits gesehen habe.

Ich höre, wie die Blätter aus dem Baum platzen. bald wird der Baum Blätter treiben. Ich höre das, was ich noch nicht gesehen habe. Ich höre das, was in meinem Bewusstsein noch nicht existiert.

Ich sehe mich im Wohnzimmer sitzen. Im Rücken die Bücherregale. Vor mir die Couch und das Gästebett. Und die Bilder. Ich sehe meine Füsse, die auf dem gegenüberliegenden Stuhl liegen. Ich sehe die blutrote Narbe, die sich um den Knöchel und über den Rist bis zur Sohle zieht. Ich sehe die Wolldecke, die ich um meine Hüfte geschlungen hab. Ich sehe die zwei Teeschalen, die weisse und die schwarze und den grünen Tee. Ich sehe den Bildschirm meines Computers und Filmbilder, die kommen und gehen.

Bestehe ich auf meinem Vorfahrtsrecht, knalle ich gegen die Wand. Schlage ich Nägel in die unberührte, weisse Wand, wage ich es nicht. Löst sich ein Schmerz an der Fusssohle, ist das wegen den Nägeln in den Hufen der Tiere.
Verbrennen die Fusssohlen im Sand zu Mittag am Meer.

Die Gegenwart, ein Nebelstreif zwischen Vergangenheit und Zukunft, so vage, dass sie faktisch nicht existiert. Die Gegenwart, solcherart dünn, dass ein Fuss in der Vergangenheit und der andere in der Zukunft steht.

Ich sehe, wie ich meine Sachen zusammenpacke, wie die maskierten Freunde in der Dunkelheit meine Habseligkeiten raustragen und in die zwei Autos räumen, ich sehe, wie ich im Hinterhof stehe und warte, bis die Wohnung leer ist, wie ich in der Kälte den Mantel über der Brust zusammenziehe, wie die Freunde in der leeren Küche die Masken abnehmen und Bier trinken und auf dem Balkon rauchen.

Ich bin zum Meer gezogen. Die Hütte ist klein. Das Bett bunt. Die Küchenzeile schmal. Die Bäume hoch. Der Blick weit.

Die goldfarbenen Tiere sind gross. Ihre Nacken sind wulstig, die Rücken fleischig, sie riechen nach Pisse, das Fell stachelt oder schmeichelt. Sie gewichten sich schwer an mein Knie.
Sie knurren mich an, wenn ich mich vor dem jungen Mann in Pullover, Jeans und Sportschuhen fürchte und ihm zuschaue, wie er über mich herfällt. Sie bestrafen mich mit ihren gelben Zähnen und ihren nassen Lefzen für meine sündigen Gedanken.

Plätschert das Meer blau, setze ich mich auf die unterste Stufe der hölzernen Treppe, die zum Strand führt. Liegt der Strand leer, füllt sich die Brust mit Glück und ich wühle mit den Händen.

Ich halte dich in Händen, obwohl ich dafür gesorgt hab, dass du nicht da bist.

Hör ich mit hoch erhobenem Kopf in die Zukunft, sehe ich nicht, was unter meinen Füssen soeben geschehen ist. Starre ich zu meinen Füssen und versuche meine Sohlen zu erkennen, die kurz davor die Erde irgendwo berührt haben, höre ich die Zukunft nicht.

Leere.

Aber du machst Lärm. Er liegt in der Luft. Ich hebe den Kopf und höre das Rascheln deiner Hemden. Ich höre, deine leichten schnellen Schritte. Ich höre das zaghafte, aber hungrige Lachen. Ich höre die von Bewusstheit und Gier gesättigte Stimme. Ich höre die Musik. Ich höre deine nackten Füsse auf dem Holzboden. Ich höre die Kleider auf den Sessel fallen, rauschendes Wasser am Morgen, das von deinen Bewegungen unterbrochen die Richtung ändert, das Klacken der Kaffeekanne, heisere, ungeduldige Rufe, meinen Namen, oder eine alberne Verballhornung, die Schluckbewegungen und das Mahlen der Zähne.
Ich höre deine Belehrungen, ich höre deine Erzählungen, ich höre diese kurzen, aufforderden Sätze, die bekunden, dass du zuhörst, ich höre deine Bemühungen mich zu überreden.
Ich höre die Unsicherheit beim Aufzählen deiner Vorzüge. Ich höre den scheuen Triumph im Moment deiner Siege.
Ich höre deine Handinnenfläche an meiner Haut. Ich höre deine Finger in meinem Haar. Deinen Atem.
Ich hab dich so viele Male gesehen. In vergangenen Tagen. Aber das warst nicht du.
Wenn ich hinhöre bist du. Irgendwo. Ich versuche den Kopf in Richtung zu wenden …

Johanna Lier studierte Schauspiel und absolvierte einen Master of Arts in Fine Arts. Nach jahrelanger Tätigkeit als Schauspielerin lebt sie als Dichterin und freie Journalistin in Zürich und unterrichtet kreatives Schreiben an der Kunsthochschule Luzern.

2018 und 2019 verbrachte Johanna Lier mehrere Monate in Griechenland und auf der Insel Lesbos und kam eher zufällig ins Registrierung- und Ausschaffungszentrum Moria. Eine Gewalterfahrung, die eine Antwort erforderte. Die Autorin kehrte nach Moria Camp zurück und begann, basierend auf Kriterien aus James Baldwins Essay «Everybodys Protest Novel», zu recherchieren und zu schreiben.
Neun Männer und Frauen aus dem Lager Moria auf der Insel Lesbos, Geflüchtete und Aktivistinnen, erzählen der Autorin (oder ihrem fiktiven Alter Ego Henny L.), was es braucht, um dort zu überleben. Es geht um Hunger, Kälte, Hitze, Warten, Gewalt und um den radikalen Kontrollverlust über das eigene Leben.
Sie fliehen vor Krieg, Diktatur, Hunger und den Auswirkungen der Klimakatastrophe; manche sind auf der Suche nach einem besseren Leben; sie kommen aus dem Mittleren Osten, aus Südostasien, dem Maghreb und subsaharischen Ländern. Allen ist gemein, dass sie in seeuntüchtigen Gummibooten das Ägäische Meer überqueren und auf den griechischen Inseln in Lagern gefangen gehalten werden, bis entschieden ist, ob sie in Europa Asyl beantragen dürfen – oder ob sie in die Türkei deportiert werden. Das kann Jahre dauern.
Amori. Die Inseln ist keine Chronik der Skandale, sondern ein dokumentarischer Bericht, der mit literarischen Mitteln die Nähe zu den Beteiligten sucht. Jahrhundertealte europäische Praxis wird dokumentiert: die Selektion und das Lager. Die Protagonistinnen und Protagonisten setzen ihr die ganz eigenen Vorstellungen von persönlicher Erfüllung und Freiheit entgegen.

Rezension zu «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» auf literaturblatt.ch

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