Christoph Simon «Dorfplatz Leukerbad – ein Gespräch während dem Literaturfestival»

Hey!
Hey! Alles klar?
Alles klar.
Wo warst du?
Auf der Alpina Terrasse.
Wer war da?
Der Maisel. Lukas Maisel. Erstlingswerk.
Wie war’s?
Sackstark. Mega sackstarkes Buch. Über einen Entdecker und über deutsche Flachspültoiletten und ferngesteuerte Kakerlaken. Ein Hit. Wo warst du?
Dala-Wanderung.
Wie war’s?
Super. Die Römer und so. Es gibt Leute im Wallis, die wollen dieses Tal fluten und eine Staumauer und wie die Grande Dixence.
Echt?
Vielleicht hab ich den Guide nicht richtig verstanden.
Wer hat gelesen?
Auf der Wanderung? Die Dana.
Ah, der Frankenstein-Roman.
Der Dracula-Roman.
Gut gewesen?
Fantastisch. «Echte Liebe braucht Überzeugung.» Sie hat von Bergunfällen erzählt und alle haben sich an der Hängebrücke festgehalten, als gäb’s kein Morgen.
Wohin gehst du jetzt?
Zu Yvonne Adhiambo Owuor.
Oh, da war ich gestern!
Wie war’s?
Bombastic. Sie ist impressive! Pures Gold!
Worum geht’s?
Ein Kind, ein Kätzchen, das Kind hat Asthma. Die Mutter hilft mit
Nelkenöl, Schwarzkümmelsamen, Dorschlebertran.
Das hilft?
Klar. Und das Kind wählt sich aus den Männern vom Schiff einen Vater, der will aber nicht sein Vater sein, aber «the more he runs the closer he gets». Wohin gehst du als nächstes?
Eben. Zu Yvonne Adhiambo Owuor.
Ah, ja.
Esther ist auch da.
Welche Esther?
Und der Gallus auch.
Die Esther vom Literaturhaus?
Der Gallus ist Literaturhaus. Die Esther weiss ich nicht.
Ich bin mit einer Esther im Shuttlebus gefahren. Sonst kenn ich keine Esther.
Weshalb warst du nicht auf der Gemmi gestern?
Ich war auf der Gemmi.
Ich hab dich nicht gesehen.
Wir haben in der Gondel gesprochen miteinander.

Echt? In welchem Hotel bist du?
Air B’n’B. Am Hang drüben.
Ah, Morgensonne.
Abendsonne.
Im Chalet Frieden?
Nein, Chalet Frohsinn.
Beim Schorsch?
Nein, beim Julius.
Der Julius von der Karin?
Nein, der Julius von der Monika.
Die Monika, die vom Karren gefallen ist?
Nein, die Monika, die auf den Karren gefallen ist. Beim Gleitschirmfliegen.
Schlimme Geschichte. Die Monika vom Schorsch.
Vom Julius.
Dort wohnst du.
Und du?
Hotel.
Nein, ich meine, wohin gehst du als nächstes?
Weiss nicht. Im Baldwin-Zelt ist Rolf Hermann, aber den versteh ich nicht.
Und im Bristol ist Peter Weber.
Der Regenmacherpeterweber? Cool. «Bei Gemütsverdunkelung: Lustbaden, lichtbaden, lachbaden.» Wer ist das dort drüben?
Die im Blauen?
Die im Weissen.
Die ist Pro Helvetia, glaub. der daneben ist Solothurn und die hinten dran könnte die Autorin aus Österreich sein.
Ist das nicht die von der Übersetzerwerkstatt?
Die ist dieses Jahr nicht da, die Übersetzerwerkstatt.
Dann ist es wahrscheinlich die Autorin aus Österreich.
oder ist es Monika?
Morgen dann noch Franziska Schutzbach.
Die kenn ich von Facebook.
Und Lukas.
Maisel? Die deutschen Flachspültoiletten?
Bärfuss. Der globale Nationalismus.
Ah ja, mit dem Lüscher.
Dem Lüscher seine Partnerin ist die deutsche Vorlesestimme von Yvonne Owuor.
Was du nicht sagst.
Da wolltest du doch hin.
Stimmt. Oder wollen wir uns setzen und was trinken?
Wir sitzen und trinken doch schon.

Beitragsbild © Literaturfestival Leukerbad

In memoriam friederike mayröcker, von Beatrix Langner

grabstill aber und überfüllt mit zuhörern der saal dass man den druck des bleistifts auf dem papier hört leicht wie eine vorbeistreichende feder bist du geworden mein herz wie eine feder die ein vogel im flug verloren hat wo ist deine stimme geblieben rau von verzweiflung und versengt von der glut deiner fürchterlichen liebe du musst unter menschen gehen du mußt ihnen deinen atem lassen dich ihnen überlassen dich einlassen auf ihren atem aber du hast ja die sprache verloren sie sehen dich nicht wenn du da bist du bist da nicht wo du bist sondern der wannsee ist unruhig heute die leinen klirren im wind das wasser schlägt gegeneinander im streit obwohl der himmel leicht gefaltet liegt überm anderen ufer aber das wasser schlägt so unruhig gegen die boote es klatscht an die steinernen brüstungen unter dem saal wo du menschen einsaugst ich sauge mich voll mit menschen wie ein schwamm ich sauge die stimme ein der frau mit der bleichen haut trauerhaut unterm schwarzen haar diese leise fast schleppende stimme frau mit den großen füssen in männerschuhen und grabstill der saal und dieser nackte scheitel im schwarzen haarnest der wie eine naht liegt auf dem wirbel im zentrum der schwerkraft die ihr den kopf herabzieht über die großen schuhe witwenschuhe unter dem tisch und auf dem tisch das weiße viereck das mit schriftzeichen bedeckt ist und darüber dieser weiße scheitel der die berührung mit dem kissen mitgenommen hat in den saal über dem see die berührung eines fremden kopfkissens oder der sessellehne im ICE oder was sonst seine müdigkeit zurückgelassen haben mag die nistet im nackten scheitel im schwarzen haar diese weiße unbeschriftete zeile dieses mysterium der wörter dieser wundriss im schwarzen rahmen über der trauerhaut ich atme ihn ein

Beatrix Langner, 1950 geboren, ist promovierte Germanistin, Autorin und Literaturkritikerin und lebt in Berlin. Seit 1990 zahlreiche Rundfunk-Features und Kulturreportagen für DeutschlandRadio Berlin sowie Feuilletons und Kritiken für Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, Deutschlandfunk Köln u.a. Sie veröffentlichte eine Biografie über Jean Paul (C. H. Beck), für die sie 2013 den Gleim-Literaturpreis erhielt, und ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland.

© Agnes Indermaur

Christoph Simon «Trau keinem Künstler», Plattform Gegenzauber

Bevor wir ins Licht gezerrt und mit Preisen geehrt werden, leben wir Dichter im Untergrund. Um genau zu sein: In der Kanalisation. Zusammen mit Kriminellen, Flüchtlingen und Jungsozialisten. Wir ernähren uns vom Bodensatz der Weinflaschen, die wir im Schutz der Dunkelheit aus dem Altglas fischen. Manchmal finden Kanalarbeiter vom Städtischen Tiefbauamt unser Gekritzel an den Kanalwänden. Wundern sich über unsere Zigaretten- und Kerzenstummel. Brave Bürger, die in der Nähe eines Senklochs ihr Schlafzimmerfenster haben, hören unsere sehnsüchtigen Lieder und verwechseln sie vielleicht mit Geräuschen von Tagesverkehr oder Nachtgeistern. 
Neulich tigerte Kaiser unter einem Senkloch aufgeregt herum. Draussen war’s kalt und windig, und mich verwunderte Kaisers Aktivität. Gewöhnlich richtete er’s sich gemütlich ein unter Zieglers Plastiksäcken und notierte Tiefsinniges aus der Tiefe. Aufgeregt unter einem Senklochdeckel herumzustreichen, war nicht seine Art. Dort zog es nur und tropfte. 
„Willst du nach oben?“, fragte ich und hob den Senklochdeckel. Über uns die städtische Nacht. „Bring mir eine Flasche mit.“
Kaiser kletterte an mir vorbei die Leiter hoch. Ziegler und ich blickten ihm nach. Schauten ihm besorgt zu, wie er sich mitten auf die Strasse legte – nicht ungefährlich, so auf offener Strasse herumzuliegen. Aber dann hörten wir’s auch: Ein Piepen. Und dann erspähten wir ihn: Einen Kanarienvogel. Mit Tim&Struppi-Haartolle flatterte er auf der Verkehrsinsel herum – nicht ungefährlich, so auf einer Verkehrsinsel herumzuflattern. Offensichtlich fluguntauglich, vielleicht verletzt. 
Wie eine Raubkatze pirschte sich Kaiser an den Vogel heran. Wir ahnten, was er vorhatte. Ziegler sprang aus dem Senkloch und hielt Kaiser am Schuh fest und ich sprang an beiden vorbei, um den Vogel einzufangen, bevor ihn Kaiser oder Ziegler erwischen und über zwei Rechaudkerzen braten würden. Käme ich ihnen bei der Jagd zuvor, kriegte ich das bessere Stück ab. 
Aber ich näherte mich dem Vogel nicht vorsichtig genug. Verschreckt von meinem Nahen hüpfte er von seiner Insel herab, hüpfte über Strasse und Trottoir und verschwand hinter einem Gartenzaun, einem feuerverzinkten Gartenzaun in heimischer Topqualität, verschwand im Garten unserer Tomaten-, Basilikum- und Schnittlauchlieferantin. 
Ich ging ums Haus herum und klingelte bei der oberirdischen Nachbarin und erklärte ihr durch den Türspalt die Sachlage: Ein armer Vogel, verletzt in ihrem Garten. Die Nachbarin kam mit dem Bescheid zurück, der Vogel sei auf der Kastanie, ausserhalb jeglicher Reichweite. 
Doch flugfähig, dachte ich. Das Biest. 
Wenn ich heute mit sattem Magen im Plastiktütenlager schlafen wollte, musste gehandelt werden. Sofort verwandelte ich mich in einen unschuldigen, kränklichen Mann, der sich am Geländer vor der Haustür abstützt, mit dünner Stimme die vogelrettende Feuerwehr erwähnt und sich umständlich die Stirn abwischt. 
„Sie sind ja krank, junger Mann!“
„Ich hoffe nicht“, sagte ich. „Ich habe nur nichts Rechtes gegessen heute. Vor lauter tiefschürfender Arbeit.“
„Kommen Sie herein!“
Ich trat ins Wohnzimmer. Gerahmte Pferdefotos an der Wand. Die Dame in jüngeren Jahren, im Damensitz. Da wusste ich, was ich ihr erzählen musste.
Für einen Dichter wie mich hängt viel vom Erzählen einer guten Geschichte ab. Um an anständige Nahrung zu gelangen, ist ein Dichter genötigt, Geschichten zu erzählen, die nicht wahr oder wahrscheinlich sein müssen, nein, sie müssen zuallererst das Herz des Publikums rühren. 
Ich erzählte, wie ich vor wenigen Jahren, nach Mutters Tod, mit meinem Vater das heimische Dorf verlassen hätte. Wie ich unsere Pferde vermisste, mit denen wir unsere Felder demetergerecht gepflügt hätten. Oh, wie sehr ich sie vermisste, die Pferde, die wir nach Mutters Tod viel zu billig hätten weggeben müssen! 
Die Dame bot mir Speck an und kochte mir Eier, und ich erzählte, dass ich mir Geld vom Mund ab sparte, um die Pferde zurück zu kaufen.
„Wo sind die Pferde?“, fragt sie. 
„Im Freiburgischen“, sagte ich und beschrieb ihr rostbraunes Fell, ihre treuherzige Art im sozialen Umgang. Ich erzählte, wie ich ihnen zufällig bei einem Ausflug begegnet sei, an einer Schweizer-Familie-Feuerstelle, wo die Pferde mit den Cervelat-Kindern Runde um Runde gedreht hätten. Bis sie mich gesehen hätten, unbremsbar herangaloppiert seien und mir Gesicht und Hals abgeschleckt hätten. Je ein schreiendes, verkrampftes, für ein Reiterleben auf ewig verlorenes Vierjähriges auf dem Rücken. 
Die Dame legte eine Spur aus Kürbiskernen von der Kastanie bis in die Küche und fing dort den Kanarienvogel mithilfe eines Löchersiebs ein. Mit Fresspaketen unter dem Arm und neuen Wollsocken an den Füssen und einem Couvert mit hundert Franken in der Tasche liess sie mich ziehen. Den Kanarienvogel könne sie mir auch mitgeben, schlug ich vor. Aber sie versicherte mir, dass alles gut komme. Mit Vogel, Pferd und überhaupt allem.
Unten, in der Kanalisation, zum tropfenden Klang einer Wasserleitung und beim Geruch von süssem Gas, teilten sich Kaiser und Ziegler brüderlich die Wollsocken und machen sich über die Äpfel, das Brot, die Würste und das Glas eingemachte Gurken her. Ich hörte mir an, was zwischenzeitlich hier unten passiert sei. Sigis Ratten hätten einen Kanalarbeiter angefallen. Ahmed unter der Münsterplattform sei von der Polizei ausgeräuchert worden. Düstere Geschichten. Jetzt, wo ich mich zu den Geehrten und Belichteten zähle, möchte ich nichts mehr davon wissen.
Aber das ist der Reiz am Leben im Untergrund: Das Unerwartete springt dich an jeder Rohrbiegung an. Du weisst nie, was unter und über dem nächsten Senkloch geschehen wird, du siehst nur bis zur nächsten Wand. Und du kennst einzig die Freude Van Goghs, mit dem Licht von fünf auf den Hutrand gesteckten Kerzen die Dunkelheit zu malen.

Christoph Simon (1972) ist Gewinner des Salzburger Stiers 2018, zweifacher Schweizermeister im Poetry Slam und Oltner Kabarett-Casting Sieger. Seine Romane und Texte sind in neun Sprachen übersetzt und mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet worden. Simon ist ein begnadeter Storyteller und ist aktuell mit seinem vierten Solo-Programm «Der Suboptimist» unterwegs. Er lebt als freier Schriftsteller, Kabarettist, Slam Poet und Mundart-Spoken-Word-Artist in Bern.

Christoph Simon ist Gast am Literaturfestival Leukerbad 

Rezension von «Die Dinge daheim» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Swiss Miniatur» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Michael Isler

Die Literaturblätter ausgestellt am 16. Thuner Literaturfestival

Die Freude darob, Gallus Freis Name im Programm der diesjährigen literaare zu entdecken, ist gross. Sein Schaffen – wohl im Zuge einer Thurgauer-Connection mit Tabea Steiner – hat mittlerweile das Berner Oberland erreicht. Und das mag man ihm so richtig gönnen.

von Katharina Alder / buchjahr.ch

Zumindest in der Ostschweiz ist Gallus Frei-Tomic längst eine fixe Grösse der Literaturszene. Mit unermüdlichem Einsatz und einer seine Arbeit durchdringenden Liebe zur Literatur gründet er fortlaufend neue Veranstaltungs-Gefässe und bekleidet zahlreiche Literaturvermittlungs-Mandate. Zuletzt übernahm er von Marianne Sax die Programmleitung des renommierten Literaturhauses Thurgau «Bodmanhaus». Im Unterschied zu vielen anderen Kulturschaffenden im Thurgau suhlt sich Gallus Frei aber nicht ausschliesslich im eigenen Tümpel, sondern besucht rege fremdkuratierte Lesungen und zeigt mit seiner Präsenz die Leidenschaft zur Sparte. Durch die Vermittlungsbemühungen und sein Interesse an Autor:innen und ihren Texten hat er sich in den vergangenen Jahren ein ausgezeichnetes Netzwerk aufgebaut. Dies ermöglicht ihm beispielsweise das Konzept «Gegenzauber», wo namhafte Schreiber:innen eigens für seinen Blog Texte verfassen oder die grandiose Idee von «Literatur am Tisch». Das kleine Publikum sitzt zusammen mit der Autor:in bei Gallus und seiner Frau Irmgard an einem Tisch und palavert ungezwungen zu Käse und Wein über das Werk. Kann man sich etwas Schöneres vorstellen?

Das erwähnte Engagement zeigt nur einen Ausschnitt aus Freis schillernder Literaturwelt. Und so darf die Ausstellung in Thun also ruhig – ganz seiner Art entsprechend – als Understatement betrachtet werden. Einem Soldatenfriedhof gleich liegen die gerahmten Ausgaben der Literaturblätter in der Eingangshalle des Thuner Rathauses. Ein rührendes Bild. 54 Stück sind ausgestellt. Sie umfassen genau ein Blatt, sind alle handgeschrieben und typografisch den jeweiligen Buchcovern angepasst. Mit diesem Konzept bietet er den Leser:innen seit rund zwölf Jahren genau das, was sie wirklich brauchen: eine ausgezeichnete Titelauswahl und eine reizvolle, pointierte Besprechung ohne viel Schnickschack und elitäre Ergüsse. Die Leserschaft vertraut auf seine Erfahrung, auf sein sicheres Gespür.

Mehr ist von Freis Arbeit für die Thuner:innen nicht zu erfahren. Doch verleiten die wunderschönen Hand- und Kopfarbeiten hoffentlich die eine oder den anderen dazu, aufmerksam hinzuhören, falls künftig der Thurgauer Gallus ihren Weg kreuzen würde.  

Walle Sayer … lesen und staunen

Per Zufall entdeckte ich Walle Sayers Texte auf einem Blog mit literarischen Alltagsbetrachtungen. Da schreibt er über eine späte Heimfahrt nach einem Rockkonzert übers süddeutsche Land, bezeichnet Autobahnen als Krampfadern – und mir war die Landschaft, auch die sprachliche, sofort vertraut.

Gastbeitrag von Alice Grünfelder

Walle Sayer lebt und schreibt in Horb, kam nach diversen «Kneipensemestern» in einer selbstverwalteten Kneipe – «Studium des Lebens», nennt Walle Sayer diese Zeit – übers Lesen zum Schreiben, zu Gedichten als Gegenwelt zu seiner Kaufmannslehre in einer Bank, später engagierte er sich in der Friedensbewegung. Er spielte das Grosse im Kleinen durch, die ersten Bücher, so sagt er in einer online-Lesung im April 2021, waren ungelesen, ungesehen, sagt aber auch, dass er diesen Schonraum geschätzt habe, in dem er sich entwickeln konnte, unterstützt von gelegentlichen Stipendien, die «schon wichtig» waren.

Ich beginne mit der Lektüre «Beschaffenheit des Staunens» und stosse erneut auf vertraute Bilder von Mofarockern und Jugendlichen auf einem «Verlassenheitsareal, auf dem man nur Fehlzeiten verbringen kann. Von den Jugendversehrten, die sich untereinander mit Stummelsätzen verständigen, erzählt einer nebenbei, dass die Mutter gestern im Suff sein Sparschwein aufgebrochen habe. (…) Als von irgendwoher (…) der Wortführer hallend gerufen wird, dreht der einfach das dröhnende Gerät weiter auf, bis zum scheppernden Anschlag.» 

Walle Sayer «Mitbringsel», Klöpfer Narr, 122 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-7496-1011-2

Wie Walle Sayer fern von jedem Pathos Landschaften und Alltagsmomente beschreibt, ist mir indes neu, diesen Ton aus der Provinz habe ich so noch nie gelesen und werde fortan an keinem Holzschopf mehr vorbeigehen können, ohne an Walle Sayer zu denken, der in seiner archäologisch angelegten Prosaminiatur «Betrachtung» übereinandergeklebte Plakate von Dorfversammlungen, Verkaufsmessen, Sichelhenkeln und damit einen Flickenteppich von Triumpf und Vergänglichkeit beschreibt. So könnte ich weiter staunen und schreiben über seine lakonischen Notate zum Beispiel über Menschen und ihre Liebe: «Die beiden fangen ein Vierecksverhältnis an mit den Bildern, die sie sich voneinander machen.» In solchen Zeilen zeigt sich der Meister der Kürze oder, wie Denis Scheck es treffend sagt, ein Misstrauen gegenüber jeder Ausführlichkeit. In dem Band «Mitbringsel» treibt er es damit auf die Spitze, indem er Wörter aneinanderreiht, die er oder sein Lektor gestrichen haben.

Seine leichte Sprache entfaltet eine starke Wirkung, das Hingetuschte wirkt bei Walle Sayer keineswegs leicht, das Leben und Sterben ist es gleichermassen nicht, denn „die Kehrseite der Kehrseite ist noch lange nicht die Vorderseite.“ So notiert er es in einem nicht ganz ernst gemeinten Sitzungsprotokoll.

So kann nur einer schreiben, dem „Wachsein vor dem Aufsein“ eingeschrieben ist in ein Leben abseits der Metropolen, der nach Wortkrumen in seinem Dialekt sucht wie ein Archivar, und diese Wörter so behutsam einsetzt, des Klanges wegen oder auch nur, wenn es kein anderes adäquates gibt, dass sie aufleuchten statt abzustossen. Und nein, er schreibt nicht über sich selbst, stülpt nicht das Innen ins Aussen, sagt stattdessen: «Wohl bietet die eigene Biografie Material, aus dem man schöpft, aber man muss nicht über sich selbst schreiben.» Vielmehr sucht Walle Sayer im Alltag nach einem «Tagesleck», das er mit einem Satz abdichten will, damit es nicht im Alltagsrauschen untergeht, so erklärt er sein Schreiben.

Walle Sayer «Nichts, nur», Edition Klöpfer, 2021, 240 Seiten, CHF 40.90, ISBN 978-3-520-75501-8

Der Verlag schenkte Walle Sayer zu seinem 60. Geburtstag «Nichts, nur». Nichts passt wohl besser zu Walle Sayer als dieses Understatement. Das Buch ist Querschnitt und Zwischensumme zugleich seiner Poeme und Prosaminiaturen. «Nichts, nur», so sagte es die Moderatorin anlässlich der Buchvorstellung im April 2021 in Dornstetten, könnte vor jedem seiner Gedichte stehen.

Nichts, nur der Vollmond, der sich spiegelt im ruhigen Wasser, ein an den See entrichteter Obolus der Nacht. 
Nichts, nur ein paar Raben, Funktionäre der Farbe Schwarz, hocken im Geäst, zerkrächzen die Sicht.

Nichts, nur die Runde am Nebentisch, Schaumkronen setzen sie sich auf, erlassen ihre Edikte, danken ab.
Nichts, nur: diese Tonfolge, dieser Auftakt.

Walle Sayers Werke sind meistens im Verlag Klöpfer&Meyer erschienen, einen Überblick über seine Bücher lässt sich am besten auf literaturport nachlesen. 

© Burkhard Riegels-Winsauer

Beitragsbild © Charly Kuball

Alexander Estis «Handwörterbuch der russischen Seele», Plattform Gegenzauber

A

ARALSEE. Ob es im Aralsee Korallen gibt, das ist nach wie vor ungeklärt. Nicht weil man es nicht untersucht hätte, sondern weil man zu bequem ist, es nachzulesen.
Obwohl es also ungeklärt ist, ob es im Aralsee Korallen gibt, glauben viele, daß er seinen Namen von den darin möglicherweise vorhandenen Korallen hat und früher Korallsee hieß. Aber auch das ist natürlich ungeklärt.

ARBEITSTEILUNG. Einer schaufelt, zwanzig schnauben; einer schraubt und zwanzig schauen; einer schmiedet, zwanzig klauen; einer schreit und alle glauben.

ARMEE, UNSERE. Unsere unbesiegbare Armee, unser unschlagbares Heer, unsere braven Jungs, unsere tapferen Männer, unsere furchtlosen Verteidiger, unsere großen Eroberer, unsere glorreichen Gefallenen, unsere sieghaften Versehrten, unsere hilflosen Invaliden, unsere hungernden Veteranen, unsere verarmten Rückkehrer, unsere nicht zurückkehrenden Kinder.

AUSLAND, Ausland! Wieso willst du in dieses Ausland, Swetlana? Es ist nicht gut hier, sagst du? Aber im Ausland eben auch nicht, Swetotschka, nein, sogar noch schlechter. Wie viel mehr schreckliche Katastrophen ereignen sich im Ausland als hier? Wie viel mehr verrückte Absurditäten? Und wie viel mehr Terror und Krieg? Die Kriege sind alle im Ausland, Swetlanotschka, selbst unsere Kriege. Schalt doch den Fernseher mal an. Im Ausland ist alles schlechter, zumindest vom moralischen Standpunkt aus. Und der moralische Standpunkt, Swetlana, wo ist der? Hier!

B

BABUSCHKA Großmutter, alte Frau. Babuschka heißt eigentlich Matrjoschka. In einer Matrjoschka ist immer noch eine und darin noch eine, und darin wiederum noch eine. Babuschkas kommen meist auch zu mehreren vor, aber sie sind innen hohl.
Babuschkas bilden die stabilste Institution Rußlands. Babuschka ist Gesetzgeberin, Strafverfolgerin, Staatsanwaltschaft, Rechtsprechung und Strafvollzieherin in einem. Ihr Hauptwerkzeug, das Geschnatter, von dem man nie wissen kann, ob es von ihr selbst oder von den sie begleitenden Elstern ausgeht, ist, demgemäß, zugleich Gesetz, Urteil und Höchststrafe. Es verfolgt und findet dich überall.
Also kauf dir lieber Matrjoschkas.

BAUMSTUMPF. Wenn ein Verbannter nach drei Jahrzehnten ins heimatliche Dorf zurückkehrt, aus solcher Gegend, wo ödes Felsgrau oder das trockene Gras der Steppe oder nur weißer, unendlich weißer Schnee den Boden zudeckt; wenn ein Verbannter von dort zurückkehrt und findet keinen, nur leere Häuser, nur, längst erkaltet, Kohle, Asche, dann lehnt er sich an eine Mauer oder hinunter schaut er in den Brunnen oder er setzt sich auf einen Baumstumpf und bleibt dort sitzen.

BALALAIKA Russisches Saiteninstrument; ebenso die Gusli. Die Balalaika hat nur drei Saiten, und zwei davon sind auch noch gleich. Aber ich mag die Balalaika trotzdem. Manchmal denke ich, das ist doch öde, drei Saiten, und zwei davon auch noch gleich. Nicht nur gleich, sogar identisch, ganz identisch, fast als wäre es eine einzige Saite. Dann hätte die Balalaika insgesamt sogar nur zwei Saiten. Und das ist doch öde, denke ich manchmal.
Balalaika, sage ich dann vorwurfsvoll, sieh dir die Gusli mal an, sage ich, so viele Saiten hat die Gusli, die kann ich nicht einmal zählen! Aber die Balalaika antwortet: Iwan, wenn du sie nicht zählen kannst, dann kannst du sie auch nicht spielen. Also sei es zufrieden. Und sie hat recht!

BALLETT. Das Ballett ist ein Traum, weil der Mensch vom Ballett träumt. Der Mensch träumt von den schwindelerregenden Pirouetten, von den artigen Pas de trois, von der schwerelosen Akkuratesse der Bewegung; davon träumt der Mensch.
Aber in Wirklichkeit träumt er nicht vom Ballett, er träumt vielmehr davon, vom Ballett zu träumen. In Wirklichkeit träumt er von Warmwasser. Davon träumt der Mensch. Oder vielleicht von Wohnraum. Aber er würde gern von was anderem träumen, der Mensch, und zwar vom Ballett.

BÄR, DER. Der Bär, das ist ein richtiger Russe. Er redet nicht gern, brummt nur vor sich hin, und nicht einmal das macht er gern. Er ist mürrisch und träge. Erst wenn du ihn am Riemen ziehst und mit dem Zuckerwürfel lockst, wenn du ihn wachrüttelst, ihn, sozusagen, involvierst in den Trubel, dann erst wird er rege, kommt in Fahrt, jongliert, brüllt, tanzt dir was vor auf der Arena. Danach nimmt er seinen Zuckerwürfel entgegen. Und dann wird er wieder mürrisch, kauert sich in die Ecke seines Käfigs und leckt sich die Pfoten.

BAZAR Markt; Händel. Maxim sagt, Kostja sei ein Gauner und ein Dieb obendrein. Kostja sagt, das sei reine Verleumdung, weil Maxim einen Neid habe auf seinen, also Kostjas, neuen Wagen. Kostja sagt, Maxim gebe sich für einen Polizisten aus, sei aber in Wirklichkeit nur ein Bahnkontrolleur, und selbst das nur im Regionalverkehr. Maxim sagt, Wirklichkeit sei ein Konstrukt und allein der Geist der Sittlichkeit könne uns retten. Kostja sagt, Maxim sei ein hundselender Idealist. Maxim sagt, Kostja sei Materialist und gerade deswegen ein Gauner, egal ob er den Wagen ge- stohlen habe oder nicht. – Was für ein Bazar!

BEMITLEIDEN, SICH SELBST. Wir haben gelernt, uns niemals selbst zu bemitleiden. Wir sind unermüdliche, eherne Pioniere, wir sind allzeit bereit. Doch auf Dauer zermürbt es natürlich, immer bereit zu sein, ehern und unermüdlich, nie sich selbst zu bemitleiden, auf Dauer raubt das alle Kraft. Ach, wir armen, wir elenden Pioniere!

BENEHMEN. Der Russe kann sich nicht benehmen, besonders in Deutschland, und zwar weil er nicht muß. Müßte er sich benehmen, könnte er es allerdings auch nicht, und zwar weil er nicht will. Aber wollte er sich benehmen, dann könnte er es, auch wenn er’s nicht müßte.

BESOBRASIE. Ungestalt, Formlosigkeit, Schande und Häßlichkeit. Davon gibt es in Rußland viel, aber auch außerhalb; aber vor allem innerhalb. Sagen wir, deine Frau hat dich verlassen, aber nicht einfach so, sondern sie hat den Schmuck deiner Großmutter mitgenommen, aber nicht einfach mitgenommen, sondern verkauft und mit dem Geld einen Anwalt bezahlt, aber keinen einfachen, sondern mit Beziehungen, und der hat Alimente durchgesetzt, und nun suhlt sich die Frau auf den Malediven im Sand und schlürft Mojitos und hat sich sogar Großmutters Schmuck zurückgekauft: wie fühlst du dich da? Und, sagen wir, gleichzeitig ist auch noch Krieg irgendwo im Kaukasus. Besobrasie.

BIRKEN. Weißt du, Bruder, Birken gibt es nur in Rußland. In den unendlichen heimatlichen Wei- ten, die es auch nur in Rußland gibt. Du sagst, es gibt woanders auch Birken? Das weiß ich doch, du Esel. Es gibt auch woanders Birken. Aber eben nicht solche Birken. Das hier sind schlanke, hochgewachsene Birken, wie im Lied, Birken- mädchen sind das. Verstehst du? Es sind unsere Birken. Hör mir auf mit deinem woanders, du profaner Kerl. Es gibt nur hier russische Birken, nirgends sonst. Und warum? Weil es woanders die heimatlichen Weiten nicht gibt, Bruder, dar- um gibt es auch nicht die russischen Birken.

BLINYS Russische Pfannkuchen. Singular: Blin; Plural: Bliny. Blinys ist die Mehrzahl von Bliny. Bliny wiederum ist die Mehrzahl von Blin. Schon dadurch sind Blinys sehr demokratisch. Darüber hinaus sind sie aber noch rund, sodaß man von jeder Seite gleich gut abbeißen kann. Sehr demokratisch. Aber das ist noch nicht einmal alles. Zusätzlich kann man sie mit allem möglichen befüllen, mit Schmand, mit Pastete, mit Marmelade, mit Kaviar, sogar mit deutscher Mettwurst oder amerikanischer Erdnußbutter. Ja, das ist alles möglich. Und das ist noch immer nicht alles. Blinys schmecken allen gleich gut, ob du aus Jakutien kommst, aus Mordwinien oder Baschkirien, ob du Holzfäller bist oder Leiter der Nationalbank, ob Patriot oder Staatsfeind. Ja, sogar dem Staatsfeind schmeckt es. Blinys sind reine demokratische Materie. Nur geplättet.

BORSCHTSCH. Borschtsch muß man schlürfen. Richtig mit Geräusch. Deshalb heißt er auch so: Borschtsch. Vorher muß man ihn allerdings kochen. Dazu braucht man Herzblut, Geduld und Rote Beete, von allem etwa gleichviel. Am Ende gibt man Schmand hinzu. Man schmeißt ihn, schleudert, schmettert ihn richtig in den Suppenteller. Deshalb heißt er auch Schmand.

BREITE DER SEELE. Die deutsche Seele ist in ihren Maßen konstant. Mit der russischen Seele verhält es sich ganz anders. Nicht an jeder Stelle ist die russische Seele gleich breit. Oft kommt es einfach darauf an, wie sie gerade liegt. So kann sie sich wider jedes Erwarten plötzlich als außerordentlich breit erweisen oder umgekehrt. Das ist das Geheimnis ihrer Breite.

(Die wiedergegebenen Texte sind nur die jene unter den Anfangsbuchstaben A und B!)

Alexander Estis wurde 1986 in einer jüdischen Künstlerfamilie in Moskau geboren; hier erhielt er eine Ausbildung an Kunstschulen und bei Moskauer Künstlern. Seit 2016 lebt er als freier Autor in Aarau. Alexander Estis arbeitet vorwiegend in literarischen Kleinformen (Kürzestprosa, Aphoristik, Glossen, szenische Miniaturen, Epigramme und lyrische Fragmente). Seine Texte werden in Anthologien und Zeitschriften (u.a. Sinn und Form, Lichtungen, Entwürfe) sowie als eigenständige Sammlungen publiziert. Ausserdem verfaßt er Essays, Glossen und Kolumnen (NZZ, Frankfurter Rundschau, Berner Zeitung, The European, Unabhängige Moskauer Zeitung u.a.). Für seine Texte erhielt er mehrfach Auszeichnungen und Stipendien, zuletzt den Rolf-Bossert-Gedächtnispreis. 2020–2021 ist er Lydia-Eymann-Stipendiat in Langenthal (Schweiz).

Alexander Estis «Handwörterbuch der russischen Seele.
Für den täglichen Privatgebrauch in deutschen Haushalten»,
Parasitenpresse Köln, 2021, mit Zeichnungen von Lydia Schulgina
70 Seiten, CHF 19.00, ISBN: 978-3-947676-70-5

Was ist der Unterschied zwischen Babuschka und Matrjoschka? Warum gibt es nur in Rußland richtige Birken? Wo gelangt man hin, wenn man mit der Transsibirischen Eisenbahn fährt? Warum hat die Balalaika nur drei Saiten? Worin besteht die Aufgabe des FSB? Welcher Kaviar schmeckt besser – roter oder schwarzer? Warum ist Putin fast wie Puschkin? Und vor allem: Weshalb ist die russische Seele so breit? Wer sich diese und ähnliche Fragen schon einmal gestellt hat, wird im »Handwörterbuch der russischen Seele« von Alexander Estis fündig werden – aber keine Antworten erhalten.

Webseite des Autors

HEARTBEATS – Lesung im Gedenken an Hans Peter Gansner (1953–2021) & Ira Cohen (1935–2021)

von Florian Vetsch

„Alles ist Herz; Herz ist alles!“, sagte einmal der am 1. Mai verstorbene Dichter, Romancier und Journalist Hans Peter Gansner (1953–2021). Der Tag der Arbeit passt zu dem bekennenden Linken. Doch wenn einer wie Gansner stirbt und ein weiterer Stuhl leer am Tisch bleibt, kann einem das schon zu Herzen gehen: konsequenter Antikapitalist, schlagkräftiger, scharfzüngiger Kritiker ungerechter Herrschaftsstrukturen, Freund des grossen Oikos, der Pflanzen, Tiere und Planeten, der Menschen auch, Liebender, an Herz-Insuffizienz demütig und kreativ Leidender, fulminanter Barde, freizügiger Conteur, Gründungsmitglied der Solothurner Literaturtage, ein Ausbund an Ideen und Projekten bis zuletzt… Auf der Homepage des Songdog Verlags schreibt Andreas Niedermann in seinem Nachruf: „Sein Output, sein Œuvre, ist beeindruckend und umfasst so ziemlich jede literarische Gattung. Un vrai homme de lettres.“ Bei Songdog, Bern/Wien, erschienen in den letzten Jahren Gansners „Herz“-Gedichtbände; darin spürt er in einem weiten Verweisungszusammenhang den konkreten und symbolischen Bezügen seines Leitthemas nach.

Der vor 10 Jahren verstorbene US-amerikanische Dichter, Fotograf und Filmemacher Ira Cohen (1935–2011), 18 Jahre älter als Gansner, wurde wie dieser von der Beat Generation beeinflusst, insbesondere von Brion Gysin, dem Entdecker der Cut-up-Methode. Surrealismus und Dadaismus, Alchemie, Dante und Rimbaud bildeten weitere Inspirationen seines Schaffens. Cohen unterhielt in New York eine Kammer, in der er die von ihm erfundene Mylar-Fotografie, eine Zerrspiegeltechnik, praktizierte und Jimi Hendrix, William S. Burroughs u.v.a.m. porträtierte. Er lebte in den 1960er Jahren in Marokko und in den 1970er Jahren in Katmandu, Nepal, wo er im Schatten des Himalaya auf einer Reispapier-Handpresse Erstausgaben von Paul Bowles, Diane di Prima oder Gregory Corso druckte. Er hinterlässt zahlreiche Gedichtbände, darunter Wo das Herz ruht (Stadtlichter Presse, Wenzendorf 2010) und Alcazar (Moloko Print, Pretzien 2021), beide zweisprachig erschienen.

herzlinie

ich habe gelesen: der daumen des prokurators
war nach unten gerichtet und eine hohle hand
wurde verstohlen nach dem lohn ausgestreckt
während rohe fäuste nägel durch hände hämmerten
errichtend das weltreich des faustrechts.
ich weiss: kolbenhiebe haben die hände verstümmelt
des sängers im stadion von santiago de chile
und fäuste schlagen noch immer in stumme gesichter
und die finger am abzug krümmen sich wieder und wieder
im sinternden licht des morgengrauens.
du berichtest: eine hand hat den schlagstock ergriffen
und eine andere im aufgerissenen kopfsteinpflaster gewühlt
um den ersten stein zu werfen auf die gletscherwand
und die hand eines verzweifelten lege schon die lunte
an die zellentür hinter der er erstickt.
und doch glaube ich: eine faust wird sich öffnen
und zeigen dass sie leer ist und ein finger wird sich
nicht krümmen sondern ausgestreckt
vorwärts weisen und der verstümmelte wird mit
seinen armstümpfen dirigieren in der erinnerung des volkes
bis zur befreiung. und die hand des verzweifelten zieht
die zündschnur zurück und eine hand dreht den schlüssel
im schloss und stein und schlagstock entfallen den erhobenen
händen die endlich zueinander finden nach den handgreiflichkeiten
und allen wird schliesslich ihre schwesterliche hand reichen
eine neue und nie gekannte herzlichkeit

(aus Hans Peter Gansner: „megaherz – Gedichte“. Songdog. Wien 2016)

Webseite von Hans Peter Gansner

Wikipedia Eintrag

Viceversa Eintrag

Autoreneintrag Songdog Verlag

Interview in der Schaffhauser Zeitung

 

LAST POEM

When I have nothing
more to say
will some greater truth
come forth to fill the page
with an understanding
never experienced before?
Will the precious yellow satin
cover my thoughts & speak
of secrets hidden from my
deepest self?
After all the scratching out
will anything remain to say
that recovery follows crucifixion
that loss engenders victory
in the passing of things,
that to stand alone
is to encounter the world
and be done with it once &
                    for all

Dec 27, 2006

DAS LETZTE GEDICHT

Wenn ich nichts mehr
zu sagen habe
wird dann eine höhere Wahrheit
eingreifen, um die Seite
mit einem Verstehen zu füllen
das noch nie zuvor erfahren wurde?
Wird die kostbare gelbe Atlasseide
meine Gedanken verhüllen & von
Geheimnissen sprechen, die meinem
tiefsten Selbst verborgen sind?
Nach all dem Geschabe wird
noch etwas zu sagen bleiben
dass Aufschwung auf die Kreuzigung folgt
dass im Lauf der Zeit
Verluste den Sieg erzeugen
dass wer allein steht
der Welt begegnet
und damit hat sich’s erledigt, ein für
                       allemal

27. Dez. 2006

(aus Ira Cohen: „Alcazar – 17 Poems / 17 Gedichte“. Moloko Print. Pretzien 2021)

Ira Cohen auf Wikipedia

New York Times, 1. Mai 2011

Ira Cohen: THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA (1968) 

Ira Cohen: KINGS WITH STRAW MATS (1998)

Ira Cohen im Interview 1999

The Ira Cohen Archive LLC

Florian Vetsch über Ira Cohen im Saiten

Beitragsbild (Gansner) © Helen Brügger, (Cohen) © Florian Vetsch

Christian Futscher «Der Vogel», Plattform Gegenzauber

Es war an meinem zehnten oder elften Geburtstag, als mein Vater bei meiner Geburtstagsfeier, die in einem Garten stattfand, auf einen Baum kletterte. 
Als er oben war, rief er: „Ich bin ein Vogel!“ 
Dann begann er zu pfeifen und zu zwitschern.
Meine Freunde fanden das lustig, ich nicht.
Mein Vater bewegte die Arme, als ob sie Flügel wären. 
Dabei fiel er fast vom Baum.
Meine Freunde lachten, ich nicht.
„Komm sofort herunter!“, rief ich.
Als er endlich wieder unten war, sagte ich: „Wenn du noch einmal lustig bist, dann bringe ich mich um.“ 
Er hat nicht aufgehört, lustig zu sein.
Und ich lebe immer noch.

 

Kuh spielen

Im Schwimmbad trafen wir Freunde von mir, die sich zu uns setzten.
„Wer spielt mit mir Kuh?“, fragte mein Vater plötzlich in die Runde.
Meine Mutter und ich sahen uns an.
„Wie geht das?“, fragte einer meiner Freunde, und mein Vater antwortete: „Auf allen vieren durch die Wiese gehen, immer wieder laut muhen, mit dem Mund Gras zupfen, blöd in die Luft schauen …“, und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „und mit dem Schwanz die Fliegen vertreiben!“ 
Daraufhin musste er selbst am meisten lachen.

 

Die bissige Banane

Einmal waren zwei Freunde von mir zu Besuch, die auch mit uns zu Abend aßen. Es gab Würstel mit Senf und Ketchup.
Nach dem Essen gingen meine Freunde und ich ins Wohnzimmer, um dort fernzusehen. 
Plötzlich stürmte mein Vater mit einer geschälten Banane in der Hand ins Zimmer und rief: „Hilfe, die Banane hat mich gebissen! Au weh, au weh, tut das weh!“
In ein Ende der geschälten Banane hatte er einen geöffneten Mund, das heißt, ein aufgerissenes Maul hineingeschnitten, an dem sich etwas Ketchup befand. Und auch auf dem linken Unterarm, in den ihn die Banane gebissen hatte, war Ketchup.  
Mein Vater zeigte auf die Wunde an seinem linken Unterarm und wiederholte mit schmerzverzerrtem Gesicht: „Die Banane hat mich gebissen! Böse Banane! Ganz ganz bö-se Ba-na-ne!“
Später im Bett soll ich zu ihm gesagt haben, er sei „deppert, ultradeppert und sogar ultraschalldeppert“.

 

Lumpi

Irgendwann trieb mein Vater in einem Geschäft für Zauberartikel eine ganz besondere Hundeleine auf. Sie war verstärkt, in ihrem Inneren musste sich ein dickerer Draht befunden haben oder so etwas, an ihrem Ende war ein Hundegeschirr angebracht. Wenn man die Leine entsprechend hielt, sah es aus, als ob ein unsichtbarer Hund an der Leine wäre – eine beeindruckende, fast perfekte Illusion.
Mein Vater war begeistert von dieser Hundeleine. 
Dem unsichtbaren Hund gaben wir den Namen Lumpi.
„Lumpi ist ein Traumhund!“, sagte mein Vater. „Er bellt nicht, er haart nicht, er braucht nichts zu fressen und zu trinken, er beschwert sich nicht, jagt keinen Katzen nach, kackt nicht auf den Gehsteig, nicht einmal Gassi gehen muss man mit ihm.“  
Auch ich war eine Zeitlang begeistert von Lumpi.
Auf unseren Spaziergängen wurden wir immer wieder auf unseren unsichtbaren Hund angesprochen, was oft recht unterhaltsam war.
Kinder kamen gelaufen, interessierten sich für Lumpi, der auch recht laut knurren konnte, wenn mein Vater Lust hatte zu knurren.

 

Die Erbse

Meine Eltern und ich saßen in einem Gastgarten beim Essen. Auf meinem Teller befanden sich Fleisch mit Reis, Kohlsprossen und Erbsen. 
Während ich es mir schmecken ließ, sagte meine Vater plötzlich: „Die Erbsen sind die kleinen Brüder der Kohlsprossen.“ 
Ich korrigierte ihn: „Nein, es sind ihre Kinder!“
„Brüder!“
„Kinder!“
„Brüder!“
„Kinder!“

Meine Mutter mischte sich ein und rief: „Ruhe!“
„Nur eins noch“, sagte mein Vater: „Egal, ob die Erbsen die Brüder oder die Kinder der Kohlsprossen sind, keine von ihnen wird überleben!“ 
Kurz darauf sagte er: „Doch, eine schon!“ und wischte mit dem Messer eine Erbse vom Teller, so dass sie auf die Erde fiel.
Meine Mutter verdrehte die Augen, worauf er mit Unschuldsmine sagte: „Ich bin mit dem Messer ausgerutscht!“
Da musste ich so lachen, dass ich einen regelrechten Lachkrampf bekam. 
Ich konnte sehen, wie sich mein Vater darüber freute. 
Und auch meine Mutter musste jetzt lachen.
Dann setzte mein Vater noch eins drauf. Er trat mit dem Schuh auf die Erbse und sagte bedauernd: „Nein, leider, auch sie überlebt nicht. Das Leben ist hart! Hart wie eine Schuhsohle.“

(Alle Texte mit spezieller Erlaubnis zur Veröffentlichungen aus «Mein Vater, der Vogel»)

Christian Futscher «Mein Vater, der Vogel», Czernin, 2021, 160 Seiten CHF 30.90, ISBN 978-3-7076-0728-4

Christian Futscher, geboren 1960 in Feldkirch, Studium der Germanistik, lebt seit 1986 in Wien, wo er u. a. Pächter eines Stadtheurigen war. 1998 erfolglose Teilnahme beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt, dafür 2006 Publikumspreis bei der «Nacht der schlechten Texte» in Villach. 2008 Gewinner des Dresdner Lyrikpreises. 2014 österr.-ungarisches Austauschstipendium. Seit 2010 Verfasser von Schulhausromanen mit Schulklassen. 2015 Aufenthaltsstipendium in Schloss Wartholz und 2016 in Winterthur.

Rezension von «Mein Vater, der Vogel» mit Interview auf literaturblatt.ch

David Weber «Schwarzlicht», Knapp

Der Schweizer Autor David Weber legt seinen dritten Roman «Im Schwarzlicht» vor, in dem es um Abgründe in der Kunst und der Liebe geht. Der Philosoph Spinoza spielt darin eine wichtige Rolle. Der Autor erklärt die Hintergründe dazu.

«Malen ist befreiender.»
von Urs Heinz Aerni

Urs Heinz Aerni: Im ersten Roman «Kral» dreht sich eine Liebesgeschichte um die Raumplanung Schweiz, im «Reduit» zerbröselt ein Beziehungsgeflecht an einem Geschäftsmodell mit Überlebensbunkern und im Roman «Im Schwarzlicht» betreten Sie die Welt der Raubkunst umrankt mit einer zerstörerischen Liebe. Wenn Sie ein neues Buch beginnen, was ist denn als erstes da, die Kulisse einer Liebe oder der gesellschaftliche Aspekt?

David Weber: Im Falle dieses Romans war beides gleichzeitig da. Andys zerstörerische Liebe und der zerstörerische Sog eines Kunstwerks, dem Ludmilla verfällt.

Das klingt nach einem persönlichen Moment als initialem Auslöser…

Richtig. Es begann mit einem Zufall, ähnlich wie ihn Andy Heim, der Hauptprotagonist, erlebt. In einem menschenleeren Atelier traf ich auf ein Bild, das mich faszinierte. Davor lag ein Ausstellungskatalog mit dem Porträt einer Frau. Ich nahm an, dass es die Künstlerin sein müsse. Diese zwei Dinge haben eine Gedankenspirale ausgelöst. Am nächsten Tag wusste ich, dass ich über eine verrückte Liebe und ein magisches Gemälde schreiben würde.

«Im Schwarzlicht» beginnt mit einem Prolog à la James Bond mit einer Auktion die mit Kopfschütteln über den gebotenen Betrag endet. Wann beginnen Sie mit der Dramaturgie, wenn die Geschichte schon steht, oder…?

Der Roman hat Züge eines Thrillers. Da muss der Plot stimmen, der kann nicht erst während des Schreibens entstehen. Aber ich lasse mich immer wieder überraschen. Anfang und Schluss des Buches waren so nicht geplant. Die Story würde auch ohne funktionieren, aber das Ende wäre zu abschließend gewesen. Jetzt verweist der Prolog auf den Schluss, so entsteht eine Art Bilderrahmen, zwischen dem sich die Geschichte entfaltet.

Die Figur Andy Heim verliert sich, das eigene familiäre Leben zerstörend, in das Charisma der Künstlerin Ludmila Borodin. Wird zum Geliebten, deren Muse ja Sklave. Ein gendergerechter Umkehrschub als Hommage der weiblichen Musen in der Kunstgeschichte?

David Weber «Im Schwarzlicht», Knapp Verlag, 2021, 390 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-906311-76-0

So habe ich das nicht gesehen, aber man kann selbstverständlich aus der Besonderheit, dass Andy zum männlichen Aktmodell wurde, diesen Schluss ziehen. Tatsächlich sind es vor allem weibliche Musen, die Geschichte geschrieben haben. Vermutlich, weil die Kunstgeschichte bis Ende des 20. Jahrhunderts von Männern dominiert wurde. Mir ging es darum, Ludmilla als starke, skrupellose Persönlichkeit zu zeigen, die sich nimmt, auf was sie Lust hat. Insofern sind die üblichen Geschlechterrollen vertauscht.

Was ganz anderes, Sie rhythmisieren Ihren Erzählstil, in dem Sie bei Dialogen auf Anführungs- und Schlusszeichen verzichten und auch den Umbruch des Layouts entsprechend so gestalten, dass pro Zeile manchmal nur ein Wort steht. Wie kam es dazu?

Es hat mit Abstraktion und Rhythmus zu tun. Der Fluss wird besser und der Text beginnt zu atmen. Der Satzbau ist natürlich auch ein Mittel, um Spannung zu erzeugen.

Interessant sind die gewählten Namen Ihrer Figuren. Die Künstlerin, die mit ihrer Verführungskunst und krimineller Energie zur Falle der Hauptfigur wird, heißt Ludmilla Borodin. Die russische Geschichte ist voll mit diesem Namen, von Komponisten, Banker über Fußballer oder Revolutionären.

Ich habe den Namen beim russischen Komponisten Alexander Borodin geliehen. Der Name musste klingen und zweifelsfrei russisch tönen. Dafür gibt es eine Bewandtnis, die erst gegen Ende der Geschichte aufgelöst wird.

Auch in diesem Roman spielen Sie das Spiel zwischen kleinbürgerlicher Provinz und große weite Welt, wie Toggenburg und Russland, was einen leichten ironischen Unterton erklingen lässt. Absicht?

Es sind die Gegensätze, die Spannung erzeugen. Wie das Glarner Hinterland und Nizza, beides Stationen von Andys Odyssee. Andy und Ludmilla sind gegensätzliche Persönlichkeiten, auch die Welten, in denen sich die beiden Hauprotagonisten bewegen, könnten nicht unterschiedlicher sein.

Durch diese ganze Geschichte führt der berühmte rote Faden durch den Philosophen Spinoza (1632 – 1677), was ein Grund mit für die Lektüre Ihres Romans spricht. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu diesem Denker beschreiben?

Ich habe mich erst mit Spinoza befasst, als ich für die Figur Andy Heim ein Thema für seine Masterarbeit suchte. Es musste ein Philosoph sein, der ihn überforderte. Mit Spinoza wollte er sich etwas beweisen, aber die «Ethik» verweigerte sich ihm. Erst als er sich dem zweiten bis fünften Teil dieses epochalen Werks zuwandte, erschlossen sich ihm die Lehrsätze. Die Lehre über die Affekte wurde völlig unerwartet zu einem Spiegel seiner Gefühle.

Mit anderen Worten, Sie haben sich mit dem Philosophen zu beschäftigen begonnen, als Sie wussten, dass Ihre Romanfigur über ein Werk Spinozas eine Masterarbeit schreiben wollte?

Kann man so sagen. Für den Roman musste ich mich mit diesem sperrigen Denker auseinandersetzen. Ich habe Philosophiestudenten und einen Philosophen interviewt und wurde tatsächlich gefragt, ob ich eine Masterarbeit über Spinoza schreiben würde.

Ohne zu viel zu verraten, darf erwähnt werden, dass in Ihrem Roman die malende Kunst nicht nur den Kunsthandel antreibt, sondern einen therapeutischen Effekt ausübt. Wie sehen Sie das mit dem Schreiben?

Ich denke, Schreiben eignet sich nicht in dem Mass wie Malen als therapeutisches Medium. Natürlich gibt es Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ihr Ego mit Schreiben therapieren, aber dann ist die Peinlichkeit nicht weit. Beim bildnerischen Gestalten kann man sich mehr von der eigenen Person lösen. Insofern wirkt Malen befreiender.

Inspirationen generieren neue Objekte. Wie ist es in der Literatur? Bei der Lektüre erinnert man sich an den Roman «Athena» von John Banville, in dem sich ein Gutachter ebenfalls in eine Frau verliebt und sich deshalb im Kunstraub verheddert. Wie wichtig ist für Sie literarische Inspiration?

Natürlich gibt es die literarische Inspiration, ich lese viel, aber John Banville kenne ich nicht. Ich werde «Athena» nachholen. Ansporn, einen Thriller zu schreiben, war «Ruhelos» von William Boyd. Im Hinterkopf war das Werk vorhanden, als ich erste Skizzen zu «Im Schwarzlicht» entwarf. Thematisch ist es völlig anders gelagert, aber die Hauptrolle spielt ebenfalls eine starke Frau. 

«Nichts ist da, aus dessen Natur nicht eine Wirkung erfolgte» laut Spinoza. Welche Wirkung würden Sie sich für Ihre Leserinnen und Leser wünschen?

In erster Linie sollen sie sich gut unterhalten, sie sollen überrascht werden, das Buch verschlingen. Erste Feedbacks zeigen, dass Leserinnen und Leser Anteil an Andy Schicksal nehmen, das ist natürlich erfreulich.

Die Lektüre kann Boden locker machen…

Es gibt auch einige Geschichten in der Geschichte, die neugierig machen und Lust auf mehr wecken. Im Mittelpunkt des Romans steht ein Gemälde, eine Ikone der Kunstgeschichte. Die Legenden, die sich um dieses Mysterium ranken, kann der Leser gerne weiterverfolgen.

David Weber wurde 1952 in Zug geboren, studierte Architektur und befasst sich seit seiner Jugend mit Musik und Literatur. Er lebt und schreibt in Zug und Caccior (Bergell, Graubünden). Im Schwarzlicht ist sein dritter Roman. Bereits erschienen sind Kral (2018) und Reduit (2019).

Ira Cohen (1935 – 2011), zum 10. Todestag des US-amerikanischen Dichters

Am 25. April 2021 vor zehn Jahren starb in New York City der Dichter, Fotograf und Filmemacher Ira Cohen (1935 – 2011). Aus diesem Anlass publiziert das Literaturblatt hier aus Ira Cohens Gedichtband WO DAS HERZ RUHT (Stadtlichter Presse, Wenzendorf 2010) das Poem PEPE LE MOKO / PEPE LE MOKO LEBT. 

Gastbeitrag von Florian Vetsch, Autor, Übersetzer und Herausgeber amerikanischer und deutscher Beatliteratur

PEPE LE MOKO LIVES

for Yasha & Gherasim Luca

I would like to write a poem in French
as if I were a man with only one arm
returning from an alligator hunt
in the sewers of New York
It should be avant-garde as a menu
& could be titled Service Non Compris,
something really soulful
like the howl of a wolf
looking for food in the streets
of Paris during that terrible winter
when François Villon died
The poem should contain the black
lunettes worn by God
to protect Himself from his admirateurs,
O Mon Dieu, a poem without price
written for an audience not for sale,
something unforgettable as white
                                     excrement,
something with panache
and the taste of next year’s
Beaujolais
It should also be practical
as selling chemicals for poison gas
to Saddam Hussein
or arms to both sides
during a civil war in a backward country
                                     like Rwanda
Long live Haute Couture
Like a whore I want to please you
I would like to write a poem in French
which would last forever,
not a button without a buttonhole,
something logical & purposeful,
something mesmerizing & really feminine
                                   with no regrets
like the high kick of a cancan dancer
exposing everything just for fun
Like Boris Vian
I would like to spit on your grave
Artaud, Cocteau, Crapaud
Vive la France
The Power & The Glory
Let there always be injections
of surrealist intelligence
March on   March on
Long live Hemophilia!

 

PEPE LE MOKO LEBT

für Yasha & Gherasim Luca

Gerne schriebe ich ein Gedicht auf Französisch
wie ein Mann, der einarmig
von der Alligatorenjagd aus New Yorks
Kloaken zurückkehrt
Avant-garde sollte es sein wie eine Speisekarte
& sein Titel könnte Service Non Compris lauten
etwas so voller Seele wie
das Heulen eines Wolfs
der auf den Strassen von Paris
nach Fressbarem sucht in jenem fürchterlichen
Winter, als François Villon starb
Das Gedicht sollte die schwarzen
Lünetten besingen, die Gott zum Schutz
vor Seinen Admirateurs trägt
O Mon Dieu, ein unbezahlbares Gedicht
für ein Publikum geschrieben, nicht für den Verkauf
etwas so Unvergessliches wie weisse
                                     Exkremente
etwas mit Panasch
und der Blume vom nächstjährigen
Beaujolais
Ein Gedicht mit so viel Zündstoff
wie wenn man Chemikalien zur Giftgasproduktion
an Saddam Hussein
oder in einem Bürgerkrieg Waffen
an alle verfeindeten Parteien verschachert
in einem rückständigen Land
                                     wie Ruanda
Lang lebe die Haute Couture
Wie eine Hure will ich dich bedienen
Gerne schriebe ich ein Gedicht auf Französisch
eines, das Bestand hat
keinen Knopf ohne Knopfloch
etwas Zweckmässiges & Logisches
etwas Mesmerisierendes & echt Feminines
                                     ohne Reue
wie eine Cancan-Tänzerin ihre Beine hochwirft
& alles ausstellt, ein Heidenspass
Wie Boris Vian
würde ich gern auf eure Gräber spucken
Artaud, Cocteau, Crapaud
Vive la France
Die Macht & Die Herrlichkeit
Niemals soll es an Spritzen
surrealistischer Intelligenz fehlen
Marchons   Marchons
Lang lebe Hämophilia!

aus dem Privatarchiv von Florian Vetsch

Ira Cohen (1935 – 2011) war ein US-amerikanischer Dichter, Fotograf und Filmemacher aus der Post-Beat-Ära. Sein Werk verarbeitet Elemente aus dem Dadaismus, dem Surrealismus, der Beat Culture sowie der ganzen Weltliteratur; Brion Gysin, den Erfinder der Cut-up-Schreibmethode, bezeichnete er als seinen grössten Inspirator. Ira Cohen wuchs in der Bronx von New York City als Kind tauber jüdischer Eltern auf. Er verbrachte die 1960er Jahre in Marokko und Amerika, die 1970er Jahre in Kathmandu, Nepal, dann kehrte er, nach einem dreijährigen Aufenthalt in Amsterdam, nach New York City zurück, wo er bis zu seinem Tod, unterbrochen von vielen Reisen, lebte.

Ira Cohen ist der Inventor der Mylar-Fotografie, einer fotografischen Zerrspiegeltechnik, mit welcher er in seinem psychedelischen Experimental-Streifen THE INVASION OF THUNDERBOLT PAGODA (1968) arbeitete und u.a. Persönlichkeiten wie William S. Burroughs, Pharoah Sanders, Jack Smith oder Jimi Hendrix porträtierte. In der Fulgur Press, New York City, erschien 2019, herausgegeben von Allan Graubard, INTO THE MYLAR CHAMBER, eine umfassende Würdigung von Ira Cohens Mylar-Arbeiten, mit Beiträgen von Ian MacFadyen, Thurston Moore, Ira Landgarten, Alice Farley and Timothy Baum. Cohens Film KINGS WITH STRAW MATS (1998) zeigt Cohen in Hardwar, Indien, zwei Mal an einem Kumbh Mela Festival, dem weltweit grössten religiösen Fest, das nur alle zwölf Jahre stattfindet; der Film kann auf YouTube zur Gänze angeschaut werden.

Cohen wirkte nicht zuletzt als Herausgeber; berühmt geworden sind seine in Kathmandu mit einer Reispapier-Handpresse hergestellten Bücher und Einblattdrucke mit Texten von Angus MacLise, Paul Bowles, Gregory Corso, Diane DiPrima, Charles Henri Ford u.v.a.m. – lauter Preziosen; legendär war bereits GNAOUA, das Magazin, das Cohen in Marokko zusammengeschlagen und 1966 in Brüssel herausgegeben hatte, mit Beiträgen u.a. von Allen Ginsberg, Brion Gysin, Michael McClure, Harold Norse und Ian Sommerville.

Ira Cohen war ein charismatischer Performer, der ohne Schwierigkeiten auch ein grosses Publikum zwei bis drei Stunden lang unterhalten konnte und zahllose Lesungen von Okinawa bis Leukerbad, von San Francisco bis Tanger gab; seine mesmerisierende Stimme halten mehrere CDs seit 1994 fest, als THE MAJOON TRAVELER – THE POETRY OF IRA COHEN (Sub Rosa, Brüssel) erschien, eine Kollaboration mit DJ Cheb i Sabbah, welche auch Klangmaterial von Don Cherry, Ornette Coleman und marokkanischen Jilala-Trancemusikern präsentiert. Der Multimedia-Schamane Ira Cohen veröffentlichte seine Poesie in ungezählten Little Mags und mehreren Gedichtbänden, die meisten davon in rar gewordenen Ausgaben, zuletzt POEMS FROM THE AKASHIC RECORD (Panther Books, New York City 2001), WHATEVER YOU SAY MAY BE HELD AGAINST YOU (Shivastan Press, Woodstock 2004), CHAOS AND GLORY (Elik Press, Salt Lake City 2004), GOD’S BOUNTY (Elik Press, Salt Lake City 2008) und die zweisprachige Ausgabe WO DAS HERZ RUHT (Stadtlichter Presse, Wenzendorf 2010); postum erschienen Gedichte von Ira Cohen in A NIGHT IN ZURICH (Gonzo, Mainz 2018), einer bunt illustrierten Kollaboration von Jürgen Ploog und Florian Vetsch, und im zweisprachigen Gedichtband ALCAZAR (Moloko Print, Schönebeck 2021).

The Ira Cohen Archive LLC 

Ira Cohen auf Wikipedia

New York Times, 1. Mai 2011

«Ich bin nur ein Schatten / der im Gras spielt» Würdigung im SAITEN vom 25. April 2021 von Florian Vetsch

Beitragsbild: Ira Cohen, Zürich, September 2000, Foto © Florian Vetsch