Marius Schmidt «Der leichte Mensch», Plattform Gegenzauber

Frage 1:

Um ihren persönlichen Hintergrund besser berücksichtigen zu können, stellen wir ihnen zuerst einige Fragen zu ihrem Elternhaus. Uns liegt als erstes Dokument eine irritierende Photographie ihrer jungen Person zusammen mit ihrer Mutter vor. Sie ist jedoch nicht zu erkennen. Wie ist es hierzu gekommen?

Frage 2:

Berichten sie, unter welchen Bedingungen diese Aufnahme entstand. Wie beurteilen sie die Rolle ihrer Eltern in dieser Situation?

Eine solche Photographie entstand tatsächlich im Oktober des Jahres 1895. Ich war damals nicht ganz ein Jahr alt – was auch der Grund ist, weshalb mir die Details hierzu nicht aus erster Hand bekannt sind. Ich erinnere lediglich, auf dem Schoß meiner Mutter gesessen und in ein erschreckend schwarzes Loch geblickt zu haben. Die Entstehungsgeschichte dieser Aufnahme zählte jedoch zum steten Repertoire meiner Mutter, wenn es gefragt war, Anekdoten über meine früheste Kindheit zum Besten zu geben. Aus diesem Grund kann ich wohl einige Fakten beisteuern. Meines Wissens hängt das nämliche Foto noch heute im Treppenhaus meiner Eltern in ihrer Villa in Ehrenfeld.

Der Photograph trug den Namen Jakob Fürchtegott Lempke und er war, soweit mir berichtet wurde, aufgrund seiner tadellosen Arbeit recht angesehen in Köln. Deshalb wurde ihm auch die Ehre zuteil, mich als jüngstes Mitglied der Familie Orlovski porträtieren zu dürfen.

Gemäß den Berichten meiner Mutter hatte Lempke am Tag der Aufnahme einen Assistenten namens Wilhelm bei sich. Seine Aufgabe bestand darin, die schweren Einzelteile der Kameraausrüstung aus der Kutsche hinauf in unseren Salon zu schaffen. Eine äußerst unangenehme Pflicht, wenn man Größe und Gewicht der damals gebräuchlichen Kameras bedenkt. Als er mehrere Einzelteile zugleich die Treppe zu unserem Haus hinauf und durchs Eingangsportal schleppte, entglitt ihm ein großes, eisenbeschlagenes Dreibein aus Walnussholz und hinterließ beim Aufprall auf den Dielenboden eine recht tiefe Macke, an die ich mich auch aus meiner noch folgenden Kindheit sehr gut erinnere, da meine Mutter darin wiederholt mit ihrem Absatz hängen blieb und sich beinahe den Knöchel brach. Einmal musste sie sogar einen Verband tragen, das erinnere ich.

Im Versuch, den Sturz des Dreibeins aufzuhalten, ließ Wilhelm eine Kiste mit Porträtobjektiven fallen, die er auf der rechten Schulter balanciert hatte. Zahlreiche Linsen sprangen in Folge des Aufpralls aus ihren Fassungen und rollten über den Boden davon. Die Hälfte seiner Ausrüstung solcherart ramponiert vor sich, war Lempke gezwungen umzudenken. Er verwarf kurzerhand die geplanten klassischen Porträtaufnahmen des Kleinkindes, das ich war. Stattdessen schlug er ein breites Panorama vor, welches meine Mutter als blütenweiße, stille Felsenwand, vor der sich wiederholenden Landschaft unserer, aus Paris importierten Mustertapete zeigen sollte. In der Mitte ich, gelöst wie ein Bergsteiger im Moment einer kurzen Rast, den Ausblick betrachtend.

Die Decke, in die meine Mutter eingeschlagen wurde, hatte uns der damalige deutsche Kaiser Wilhelm II. anlässlich des vergangenen Weihnachtsfestes überbringen lassen. Als bedeutende Ausstatter des Deutschen Heeres waren meine Eltern schon damals Persönlichkeiten der Gesellschaft. Die Kaisertreue meiner Eltern war mir wohl vererbt worden, denn ich schlief umgehend ein im, mit royalen Falten überzogenen, Schoß meiner Mutter. Sie wissen wahrscheinlich, wie man meinen Vater nannte? – Den Schraubenfürst von Köln.

Frage 3:

Ihre Eltern spielen in dieser Darstellung nur eine Nebenrolle. Gibt es andere Menschen, die in jungen Jahren eine Bezugsperson darstellten?

Ich hatte damals einen Onkel, er hieß Albert. Wir waren oft bei ihm zu Gast – besonders im Sommer. Denn er hatte einen sehr schönen Garten, nicht ganz eine Stunde von unserem Haus entfernt, am Rhein. Dort habe ich sehr glückliche Stunden mit seinem Hund Zeus verbringen dürfen, einem ausgesprochen treuen und genügsamen Golden Retriever. Ich würde noch heute behaupten, dass er mein liebster Freund zu dieser Zeit war und bis heute geblieben ist.

Die größte Freude kam auf, wenn uns erlaubt wurde zu zweit und fernab der Erwachsenen am Flussufer zu spielen. Dann postierten wir meine große Sammlung französischer Zinnsoldaten entlang des kurzen Strandes und schmuggelten anschließend in der Rolle preußischer Kuriere kleine Leckereien wie Himbeeren oder Kekse an den feindlichen Linien vorbei an Land.

Solcherart erfolgreich im Transportieren von Kleingut sah ich uns beide einen eigenen Kurierdienst eröffnen. Ich habe meinen Eltern einige Male den Wunsch unterbreitet, nach der Schulzeit Lieferjunge werden zu dürfen. Jedes Mal verpasste mir mein Vater daraufhin eine schallende Ohrfeige. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass ich irgendwann von meinen beruflichen Zielen absah. Darüber hinaus muss ich gestehen, recht unkonkrete – um nicht sagen zu müssen: gar keine Vorstellungen meiner Zukunft gehabt zu haben. Lediglich ein ganz natürlich wirkendes Gefühl, dass mein eigenes Leben rein gar nichts mit den Erfahrungen, Errungenschaften und Erwartungen meiner Eltern zu tun haben sollte. Das hatte ich wohl schon sehr früh.

Frage 4:

In unseren Unterlagen können wir keinen Onkel Albert finden. Wie verhält es sich mit dieser Personalie?

In der Tat war Albert Jankowski kein Onkel im familiären Sinne. Er war ein enger und langjähriger Freund meines Vaters Oskar aus jener Zeit, als er noch nicht als Schraubenfürst gefürchtet war, sondern eben gerade einen kleinen, hochverschuldeten Eisenwarenladen in der Kölner Innenstadt geerbt hatte.

Mein Großvater hatte dieses Geschäft um das Jahr 1863 gegründet und man konnte dort alles Erdenkliche kaufen, was aus Metall gefertigt wurde. Großvater Orlovski verbrachte die letzten zwanzig Jahre seines Lebens in diesem Geschäft. Wenn meine Eltern sich seiner in meiner Gegenwart erinnerten, dann erzählten sie stehts wie er in der Mitte seines Ladens stand – eine schwere, dunkelblaue Lederschürze übergeworfen – und grollte, dass ihm die Deutschen doch endlich bessere Kunden werden sollten. Seine Anklage verhallte jedoch zwischen all den Nägeln, Suppenkellen, Axtköpfen und Rohren. Der Familienbetrieb war in schwerer wirtschaftlicher Bedrängnis, als mein Vater schließlich seine Nachfolge antrat. Die innerstädtische Konkurrenz im Kölner Eisenwareneinzelhandel war zu jener Zeit ausgesprochen stark. Es war ihm zwar möglich uns von den dürftigen Einnahmen zu ernähren, immer öfter jedoch konnte er die Ladenmiete nicht aufbringen. Man kann sich vorstellen, wie verzweifelt er gewesen sein muss. Später erfuhr ich, dass aus dieser Zeit jener Revolver stammte, den er in seiner Schublade aufbewahrte, in ein violettes Tuch eingeschlagen und mit fünf Messingpatronen bestückt. Einige Male holte ich ihn später heraus, um ihn anderen Knaben zu zeigen, die uns besuchten.

Der Zufall wollte es, dass eben jenes Haus, in dem sich der Betrieb unserer Familie seit Jahrzehnten befand, in den Besitz von Albert Jankowski überging. Ihm war dieses Wohnhaus von seinem Schwiegervater im Zuge seiner Eheschließung mit Johanna- Luise Buttermann – einer Kölner Bankierstochter – anvertraut worden. Als Sicherheit für das junge Paar. Albert sah sich damals in einer verzwickten Situation, die so gar nicht zu seinen politischen Überzeugungen passen wollte. Er selbst war seit einiger Zeit beseelt von der Vorstellung internationaler Solidarität und bemerkte zunehmend einen Widerspruch zwischen seiner eigenen Tätigkeit als Angestellter des Bankhauses Buttermann und jenen frischen Ideen, die seinerzeit Kapital und Gesellschaft miteinander zu versöhnen suchten.

Er trug stets einschlägig bekannte und berüchtigte Schriften in seiner Aktentasche mit sich herum und verbarg sie zwischen Butterbrotdose und zahlreichen Papieren vor den Ordnungshütern und seinem Schwiegervater, dem er in dieser Sache nicht allzu viel Vertrauen schenkte.

So akkumulierte Albert im Stillen Vorwürfe und moralische Fragen, für die er zunehmend verzweifelt ein Ventil suchte. Als er von Oskar Orlovskis misslicher Lage erfuhr, fiel all die Grübelei auf einen Schlag von ihm ab und freudig begann er ein Exempel zu statuieren: Kurzerhand erließ er Oskar – zum großen Ärger der Buttermanns – die ausstehenden Mieten und befreite ihn zusätzlich von jeglichen zukünftigen Zahlungsverpflichtungen solange, bis der Betrieb ein ordentliches Auskommen versprechen ließe.

Um mich kurz zu fassen: Die neuen Umstände und die sich ihm bietende Gelegenheit messerscharf erfassend, stürzte sich mein Vater in einen ruinösen Preiskampf mit der Kölner Eisenwarenbranche. Im Zuge dieses, später als „Kölner Schraubenschwemme“ bezeichneten, Feldzugs, war es meinem Vater am Ende des Jahres 1898 gelungen, einen Großteil seiner Konkurrenten im Innenstadtbereich in den Bankrott zu drängen und den örtlichen Handel mit Eisenkleinwaren unter seine ausschließliche und alleinige Kontrolle zu bringen.

Diese Geschichte vom Aufstieg der Familie Orlovski erzählt man sich noch heute, freilich in verschiedenen Variationen – je nachdem, welche der damals beteiligten Parteien man fragt. Wie Sie sich denken können, habe ich aufgrund dieser Vorgänge so manches Mal Prügel bezogen oder Schlimmeres angedroht bekommen, wenn ich als Knabe durch die Stadt marschierte um Besorgungen für meine Eltern zu erledigen oder Freunde zu besuchen.

Ich kann nicht sagen, ob mir am Ende ein erfüllteres oder leichteres Leben vergönnt gewesen wäre, wenn mein Vater nicht zum größten Lieferanten für Bolzen und Nieten Preußens aufgestiegen wäre. Diese Fragen betrachte ich als müßig. Ich bin jedoch überzeugt, dass diese Erfahrungen tiefster Feindschaft bereits in meiner frühesten Kindheit Prägungen in meinem Wesen hinterlassen haben. Auch in späteren Jahren, als ich jeden Grund gehabt hätte einen Stolz auf meine Arbeit zu entwickeln, spürte ich diese Eindrücke als schwersten Ballast, so dass es mir vorkam, als würde mir, immerzu wenn ich mich voller Stolz aufblähen wollte, ein eiserner Ring um die Brust gelegt, der mir nicht nur die Luft nahm, sondern auch meine Schultern, mein Haupt und mein ganzes Sein tiefer und tiefer zog.

***

Das Buch «Der leichte Mensch «erzählt die Erlebnisse des jungen deutschen Chemikers Otto vor, während und nach dem ersten Weltkrieg. Er erlebt den Krieg nicht als Soldat an der Front, sondern als Teil einer sich stark verändernden und technisierenden Rüstungsindustrie. An diesen historischen Hintergrund knüpft die Geschichte eine phantastische Idee: Im Zuge seiner Forschungen für die deutsche Luftwaffe entdeckt der junge Mann die Chemikalie „Helitamin“, mit der Menschen fliegen können. Diese Entdeckung scheint Chancen und Möglichkeiten für ihn selbst, aber auch für das kollabierende Kaiserreich bereitzuhalten. Doch der passive und kontaktscheue Chemiker steht seiner Entdeckung eher ratlos gegenüber – im Gegensatz zu seinem agitatorischen, völkisch-nationalen Vorgesetzten Dr. Strohbrück.

All dies erfährt der Leser im Frage-Antwort Rhythmus eines schriftlichen Dialogs. Otto reflektiert sein Verhalten anhand einer Reihe, von einer höheren Instanz gestellter Fragen, die ihn immer wieder zum Rückblick und zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit anhalten.
Das Buch ist über die Webseite des Autors zu beziehen.

Marius Schmidt lebt in Berlin, wo er Bildende Kunst studiert hat. Seither schreibt und produziert Marius Schmidt Geschichten, die Bilder und Texte miteinander zu neuen Erzählformaten kombinieren.

https://www.instagram.com/msacrhimuisdt/

Webseite des Autors

Marion Poschmann «Laubwerk», Verbrecher Verlag, der Siegertext von «Wortmeldungen», dem Literaturpreis für kritische Kurztexte

WORTMELDUNGEN-Preisträgerin Marion Poschmann im Gespräch mit der Crespo Foundation zu ihrem Text «Laubwerk»: «Das Ferne nah heranholen, das Abwesende in die Gegenwart bringen, das Unsichtbare sichtbar machen, dem Unsagbaren Ausdruck verleihen!»

Marin Poschmann hat mit ihrem Text «Laubwerk» einen eindringlichen Text darüber geschrieben, wie eine veränderte Wahrnehmung auf die Zeichen der Natur unser Handeln ganz direkt beeinflussen kann. Marion Poschmann zeigt, dass «Engagierte Literatur» direkt in den gesellschaftspolitischen und sozialen Diskurs eingreifen will und kann.

Ihr Text Laubwerk wird mit dem WORTMELDUNGEN-Literaturpreis 2021 ausgezeichnet. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?

Mir ist diese Auszeichnung wichtig, weil sie nicht nur einen literarischen Text hervorhebt, sondern auch meinem Anliegen einen besonderen Nachdruck verleiht. Ich bin dankbar, dass mit diesem Preis die Stadtbäume etwas stärker in den Fokus rücken, dass diese Bäume und all das, wofür sie stehen, ein Forum erhalten.

Ihr Schreiben wird häufig dem Nature Writing zugeordnet. Welche Parallelen und welche Unterschiede sehen Sie zwischen Ihrem Schreiben und der angloamerikanischen Tradition des Nature Writings? Was macht zeitgenössisches Nature Writing aus?

Marion Poschmann «Laubwerk», Verbrecher Verlag, 2021, 69 Seiten, CHF 19.90, ISBN 978-3-95732-489-4

Ich selbst verwende für einige Aspekte meines Schreibens eher den Begriff Naturdichtung, aber ich sehe zum Nature Writing durchaus einige Gemeinsamkeiten. Der literarische Naturbezug hat in Deutschland spätestens seit der Romantik eine Tradition, die allerdings nicht so kontinuierlich fortgesetzt wurde wie im angelsächsischen Raum. In Deutschland gab es immer wieder und ganz besonders in der Nachkriegszeit ein politisch motiviertes Misstrauen gegenüber der Natur als einem Sujet der Kunst. Schnell kam der Verdacht auf, sich in eine falsche Idylle zurückzuziehen, wenn man „Petersil und Dill“ besang oder sich ausgerechnet mit Bäumen beschäftigte. Bertolt Brecht hat diese Zeitstimmung in dem berühmten Zitat aus dem Gedicht «An die Nachgebo- renen» zusammengefasst:
«Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschliesst!»
In der Ökobewegung der 1980er Jahre kam die Natur zwar wieder als Thema vor, aber mit der zunehmenden Dringlichkeit des Naturschutzes verlor sich auf der Seite der Kunst die ästhetische Qualität. Das Spezifische am Nature Writing ist vielleicht, dass beim Schreiben über Natur der Kunstanspruch nicht vernachlässigt wird, dass ein gewisses Niveau nicht unterschritten wird, weil es zu den Kriterien dieses Schreibansatzes gehört, genaue Beobachtung mit Sorgfalt und Konzentration im Ausdruck zu verbinden. Nature Writing geht mit einer Verfeinerung der Wahrnehmung einher, und diese Sensibilität, sowohl der Welt als auch der Sprache gegenüber, trägt dazu bei, sorgsamer mit dem umzugehen, was wir gewöhnlich unter „Natur“ subsumieren.

„Wenn wir die Natur bewahren und eine ökologische Katastrophe verhindern wollen, ist eine neue Romantisierung der Welt, eine poetische Naturwahrnehmung unumgänglich“, schreiben Sie. Was meinen Sie mit einer solchen Romantisierung konkret und was kann durch sie erreicht werden?

Ich möchte Romantisierung als einen Teilaspekt der Aufklärung verstanden wissen. „Die Welt romantisieren heisst, sie als Kontinuum wahrzunehmen, in dem alles mit allem zusammenhängt“, schreibt Novalis in seinen Fragmenten. In der Aufklärung war die Devise, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Das hat unter anderem den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt befördert, bis zu dem Punkt des Übermasses, an dem wir heute sind. Die Romantik hat den Aspekt der Empfindung hinzugefügt: Das Subjekt kann sich aus seiner Unmündigkeit und Abhängigkeit befreien, indem es einen unendlichen Gefühlsraum betritt. Diese Empfindsamkeit könnte dazu beitragen, sich selbst als einen Teilhaber im Kontinuum der Welt zu akzeptieren, den Punkt, von dem aus alles mit allem zusammenhängt. Das ökologische Ungleichgewicht geht durch den menschlichen Körper hindurch, die Probleme der Natur spiegeln sich in Geist und Psyche, Romantisierung könnte auch ein Schritt sein, dies überhaupt zu bemerken.

Unter dem Schlagwort Anthropozän findet das Thema Natur derzeit wieder stärker Beachtung. Natur ist nicht mehr Idylle und Moment des Schönen, vielmehr Schauplatz von Umweltproblemen, Verkehrspolitik und Klimawandel. Was ist die besondere Qualität von Kunst in Bezug auf den Klimawandel? Was kann sie – insbesondere auch in Abgrenzung zur Wissenschaft – erreichen?

Ein auffälliger Aspekt am Anthropozän ist die Ungreifbarkeit. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel und den damit verbundenen Problemen lassen sich schwer kommunizieren, sie sind oft abstrakt, und die konkreten Auswirkungen für den Einzelnen bleiben vage oder schlagen sich anderswo nieder, weit weg. Die Informationen der Wissenschaft erreichen viele Leute kaum, sie treffen, plakativ gesagt, die Menschen nicht ins Herz. Hier läge das Potential von Kunst: das Ferne nah heranzuholen, das Abwesende in die Gegenwart zu bringen, das Unsichtbare sichtbar zu machen, dem Unsagbaren Ausdruck zu verleihen.

Die Fragen stellten Sandra Poppe und Katja Schaffer (WORTMELDUNGEN-Team der Crespo Foundation).

Das vollständige Gespräch ist im Band «Laubwerk» von Marion Poschmann erschienen als Band 2 der WORTMELDUNGEN-Reihe im Verbrecher Verlag abgedruckt.

WORTMELDUNGEN – Der Literaturpreis für kritische Kurztexte wird von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35000 Euro dotiert und wird jährlich für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die in der Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen den Nerv der Zeit treffen. Der mit 15000 Euro dotierte Förderpreis soll junge Autor:innen motivieren, sich mit dem Thema des Gewinner:innentextes auseinanderzusetzen und eine eigene literarische Position zu formulieren.

Marion Poschmann (geb. 1969 in Essen) studierte Germanistik, Philosophie und Slawistik und lebt in Berlin. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen für Lyrik und Prosa, zuletzt 2021 den Bremer Literaturpreis für den Gedichtband «Nimbus». 2019 hielt sie die Zürcher Poetikvorlesungen und 2020 hatte sie die Kieler Liliencron-Poetikdozentur inne. Ihr Roman «Die Kieferninseln» stand 2017 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und 2019 auf der Shortlist des Man Booker International Prize.

Beitragsbild © Heike Steinweg / Crespo Foundation

Lea Catrina «Mit beiden Händen in der Luft», Plattform Gegenzauber

Ich habe Elias nie gefragt, woran er glaubt. Wenn ich ihm dabei zusehe, wie er die Erde umgräbt, wie er in der sengenden Hitze jeden anlächelt, der an ihm vorbeigeht, scheint es keine Rolle zu spielen. Es stimmt, was man über Sterbende sagt. Sie haben dieses innere Leuchten, bevor die Dunkelheit sie einholt, Momente reinster Dankbarkeit. Vielleicht weil er jetzt weiß, warum er hier ist. Ich bin hier, weil uns die Zeit davonläuft.
«Sienna», sagen sie, «Sienna, du kannst jetzt nicht tanzen.» Ich kann. Manchmal will ich in die Luft springen und jubeln, aber dann erinnere ich mich daran, dass man auch das nicht tun sollte. Keiner tut das. Schon gar nicht, wenn die Liebe deines Lebens stirbt. Du kannst jetzt nicht tanzen. Ich weiß gar nicht, warum ich das will.

Vor ein paar Monaten ging ich auf eine Party, auf der Elias hätte sein sollen. Nach dem Gymnasium studierte er Landwirtschaft und Literatur, ich Textildesign, zwei Stunden entfernt. Von da an trafen wir uns einmal im Jahr. Er aß Pizza, ich Pasta, wir tranken Bier, später Wein, bis zu dem Punkt, an dem wir einander unsere Liebe gestanden. Nicht wirklich. Nur indem wir nicht nach Hause gingen, er zu seiner Freundin und ich zu Hannah, sondern die ganze Nacht weitersprachen. Unsere Geschichten hörten sich an, als könnten sie in jede Richtung verlaufen.
«Bis bald, meine Sienna», sagte er.

Elias kam nicht zu der Party. Ich war davon ausgegangen, dass er auftauchen würde, wenn ich nur fest genug an ihn dachte, an seine blauen Augen, sein braun gebranntes Gesicht, seinen blonden Irokesenhaarschnitt.

Er war, ist noch immer, der unzuverlässigste Mensch, den ich kenne. In seinem Kopf schwirren zu viele Ideen durcheinander. Offensichtlich sieht er sich dazu gezwungen, sie alle zu erkunden. Er spricht von Erdbeeren für den nächsten Frühling, von kleinen Tomaten, die man wie Geranien in den Fensterkästen ziehen kann. Ich stehe auf und sage: «Hör mal auf, sei hier bei mir, die Zeit läuft uns davon.» Aber das interessiert ihn nicht. Er gräbt weiter die Erde um.
«Sie läuft uns nicht davon. Sie kommt uns entgegen», sagt er.
«Ja, genau!»
«Nein, Sienna. Du verstehst nicht. Sie hat mir dich gebracht.» Er kommt auf mich zu, greift nach dem beschlagenen Wasserglas und leert es in einem Zug. Dann nimmt er meine Hand und küsst die weißen Knöchel, einen nach dem anderen.

Die Zeit, die Zeit. Auch Hannah hatte sie gespürt. Fünf Jahre wohnten wir zusammen, sie in ihrem Zimmer am Ende des Ganges, ich in dem zwischen Küche und Wohnraum, bevor ich meine Sachen packte.
Mir war damals nicht klar, dass mein bisheriges Leben mich auf das vorbereiten sollte, was noch kommen würde. Und dass der leichte Teil vorbei war. Als sie an dem Abend nach Hause kam, nicht direkt Musik auflegte und sich stattdessen in meinen Türrahmen stellte, begann der Teil danach. Bei Hannah muss man mit allem rechnen.
«Ich werde vierunddreißig, Schätzchen», sagte sie. «Ich habe keinen Bock noch länger zu warten. Heutzutage braucht man eh keinen Mann mehr, um ein Kind zu bekommen.»
«Bist du dir sicher? Du willst alleine ein Kind großziehen?»
«Spinnst du? Wir ziehen es zusammen groß. Hier, in unserer Glücksbude, du und ich.»
Gefragt hat sie mich nicht. Hannah fragt nie. Dafür habe ich sie schon immer bewundert.

Am nächsten Tag erhielt ich den Anruf. Schon seltsam, wie ein Schock auf den nächsten folgt. So fand ich mich wieder, zwischen Hannah und Elias, zwischen Leben und Tod.
Eigentlich sind wir doch alle selbst schuld. Wir wollen nur lachen oder weinen und alles dazwischen hat keine Bedeutung. Es ist eben nur das Dazwischen.
Zwischen, zwischen. Erinnert mich an das Zischen der Bügelpresse. Man drapiert den Stoff auf die Platte, legt die kleinen Ausschnitte darauf, so wie es einem gefällt, mit der Klebefläche nach unten, dann drückt man zu. Hinterher ist es, als wären die vielen Einzelteile nie getrennt gewesen.
Elias legt die Harke weg und setzt sich zu mir in den Schatten.

Als der erste Schnee fällt, sind wir wieder an der gleichen Stelle unter dem Ahorn, der im Sommer begonnen hat, das Haus zu fressen. Jetzt, ohne die Blätter, sieht es eher nach einer Umarmung aus. Lieben ist so viel einfacher, als sich lieben zu lassen.
«Ich halte nicht viel von der Ehe», sagt Elias, «aber da unsere sowieso kurz sein wird, sollten wir vielleicht heiraten.» Noch so eine Idee. Wieder will ich tanzen, jubeln.
Höchstens ein Jahr, hatten sie gemeint. Wie kommen die immer auf so was? Ich wollte gar nicht wissen, ob es drei Wochen, fünf Monate, ein Jahr oder auch zwei sind. Jede Minute mit ihm ist alles. Ein Jahr ist nichts.

Hannah kommt nicht zur Hochzeit, das hat sie mir geschrieben. «Sorry, Placenta praevia, kannst es ja googeln.» Ich weiß, wenn sie lügt.

Im Trauzimmer ist es still. Die Standesbeamtin raschelt mit dem Papier, bevor sie anfängt zu sprechen. Elias hört nicht zu. Er lächelt mich an, flüstert, wie schön ich aussehe, und streichelt mir über den Rücken. Die Standesbeamtin räuspert sich, aber er hört noch immer nicht zu.
«Du bist dran», sage ich.
«Lass mich dich noch einen Moment lang anschauen», sagt er.

Seine Eltern, ein paar Freunde und wir beide sitzen am Tisch. Es ist das einzige Restaurant im Dorf. Natürlich wissen alle, dass wir heute geheiratet haben. Einer nach dem anderen kommen sie, um uns zu gratulieren, bringen Geschenke und stoßen mit uns an. Der Raum füllt sich, wellenartiges Gelächter, ein Glas zerbricht auf dem Plattenboden, die Gemeindepräsidentin hat die Damentoilette vollgekotzt.

Später sitzt keiner mehr. Sie alle stehen in unruhigen Knäueln beieinander. Nur ich, ich sitze noch. Ich bin bis ganz ans Fenster gerückt, weil ich von hier aus alles sehen kann. Ihn sehe ich nicht. Ich spüre, wie sich die Kälte durch den dünnen Spalt reinschleicht und lege meine Finger darauf. Es hat wieder angefangen zu schneien. Das Licht aus dem Lokal landet weich auf der schneebedeckten Straße.
Da ist er, draußen, allein, die Kopfhörer auf, die Augen geschlossen.
Er tanzt. Er tanzt mit beiden Händen in der Luft.

Lea Catrina ist Autorin und Texterin. Sie hat Multimedia Production in Chur sowie Literarisches Schreiben in Zürich studiert. Zudem ist sie seit 2019 Mitglied des Literaturkollektivs «Jetzt». Catrina ist in Flims aufgewachsen, lebt heute in Zürich und verbringt einen Teil des Jahres in der San Francisco Bay Area. Beim Arisverlag ist ihre Roman «Die Schnelligkeit der Dämmerung» erschienen.

«Die Schnelligkeit der Dämmerung», Rezension mit Interview

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Oceana Galmarini

„Ich bin in erster Linie ein Leser“

Über volle Satteltaschen, das eigene Schreiben und die Lust am Moderieren – eine Begegnung mit dem Literaturliebhaber und Kritiker Gallus Frei-Tomic, nach 1000 Artikeln auf seiner Literaturwebseite literaturblatt.ch.

Frank Keil

von Frank Keil; Hamburg
freier Journalist

Am frühen Morgen wie versprochen, die E-Mail:
„Lieber Frank, als ich dann merkte, wie schwer die Bücher sind, packte ich doch nur 5 ein: Ulrike Edschmid „Levys Testament“, Wolfgang Hermann „Herr Faustini bekommt Besuch“, Pascal Janoviak „Der Zoo in Rom“, Peter Terrin „Blanko“ und Patricia Melo „Gestapelte Frauen“.

Am Tag zuvor hatte mich Gallus Frei-Tomic mittags vom Bahnhof von Frauenfeld abgeholt. Er hatte auf den kleinen Rollkoffer gezeigt, den er gleich ratternd durch die Straßen ziehen würde: „Meine Abendgarderobe“, die Erklärung. Dann die Frage: „Magst du etwas essen?“ Gerne! Ich war schließlich einmal durch die halbe Schweiz gefahren, durch dieses für mich so fremde, freundliche und aufgeräumte Land.
Wir setzen uns ins ‚La Terrasse‘, ein großer Schirm hält die Sonne fern, wir bestellen das Menü Eins und das Menü Zwei. Alle viertel Stunde fährt grollend der Stadtbus vorbei. Auch zu hören: die Glockenschläge der Stadtkirche St. Nikolaus, ebenso aller 15 Minuten, aber zeitversetzt. Mein Aufnahmegerät steht zwischen uns; manchmal, wenn wir im Eifer des Gesprächs mit den Beinen oder den Ellenbogen gegen den Tisch stoßen, fällt es um und will wieder aufgerichtet werden und das geschieht dann.

Er ist so selbstverständlich gut gelaunt wie ich ihn von unseren zugegeben wenigen Treffen kenne. Strahlt und macht sich über den das Menü einleitenden Salat her. Und fängt gleich an zu erzählen: von der Fahrradtour, die er morgen in aller Frühe starten wird, den Rhein hinauf bis hoch nach Köln, wenn alles gut geht. Er sagt: „Ich stelle mir vor, ich fahre so mit dem Fahrrad, komme irgendwo um zwei Uhr an, ziehe meine Radlersachen aus, dann lege ich mich irgendwo auf eine Wiese oder – keine Ahnung – ich sitze in einem Garten-Restaurant, lese, schreibe.“
Entsprechend wird er in den Satteltaschen Bücher haben. Aber welche? Schwierig. Nur eines ist gewiss: „Ich nehme viele Autoren mit, die ich nicht kenne. Ich muss mich bei der Rezensiererei sehr fest bemühen, dass ich nicht immer wieder meinen Lieblingen verfalle, manchmal werde ich auch von den Lieblingen enttäuscht.“ 
Die Getränke kommen. Für ihn eine Selter, für mich eine Rivella (rot), weil ich das immer witzig finde, in der Schweiz eine Rivella zu bestellen, ich bleibe damit immer der einzige, bisher jedenfalls.

Also die Reise, die Fahrradtour: Er plündert dafür seine Extrakasse; die Kasse, in der sich das Geld sammelt, das er nebenher für Rezensionen in Zeitungen außerhalb seiner handschriftlich verfassten und auf echtem Papier gedruckten Literaturblattes und seiner Plattform www.literaturblatt.ch bekommt, also verdient. Und dass er eben bewahrt und sammelt, dieses Geld der Leidenschaft, für Unternehmungen, für die er nicht die häusliche Familienkasse belasten möchte. Extrageld, also, seine Vergnügungspauschale.

Aber wie hat es eigentlich alles angefangen mit dieser so Gallus’schen Bücherleidenschaft? Das will ich natürlich wissen. Aber noch ist es nicht so weit. Noch sind wir beim Warmplaudern, schauen nebenher nach links und nach rechts, wer da so neben uns sitzt. Der Himmel ist hoch und blau.

(Wir werden später, satt und zufrieden, noch in die Buchhandlung am Ort gehen und zueinander Sätze sagen wie „Habe ich noch nicht gelesen, soll aber richtig gut sein …“ oder „Diesmal war ich enttäuscht, dabei ist sie so eine gute Autorin …“ oder „Einer meiner Lieblingsautoren, ist aber Geschmackssache …“, während uns die Buchhändlerin ein wenig säuerlich beobachtet, weil wir ja doch nichts kaufen werden, wie wir da um die vollgepackten Büchertische tänzeln, wir bekommen ja so gut wie alles an Büchern geschickt, aber dieser Buchhandlungsbesuch kommt noch, am Ende).

Also: Wie hat es eigentlich angefangen? 
Oder soll ich nicht erst mal fragen, ob er eigentlich selbst schreibt? Oder ist das zu direkt, zu sehr mit der Tür ins Haus gefallen, wie man bei uns sagt? 
„Also weißt du …“, sagt er nach einer langen Pause, als ich dann frage: ‚Schreibst du eigentlich auch literarisch?‘ „Probiert habe ich es schon oft, schon ganz früh.“
Er legt sein Besteck kurz zur Seite, faltet die Hände, als müsse er sich sammeln: „Ich habe schon mal ein Manuskript fertig gemacht, das hieß ‚Der Bruch‘. Ich habe es sogar verschickt, denn ich fand es gut“, sagt er schließlich. 
Er bekam damals bald von den Verlagen leicht erkennbar vorgefertigte Absagen zugeschickt. Was auch einem Freund so erging, der gleichfalls ein Manuskript bei diversen Verlagen eingereicht hatte: „Wir haben dann diese Absagen auf einer großen Platte aus Messing abgelegt, haben sie ritisch verbrannt und sind um dieses Feuer getanzt.“ Er lacht und nimmt Messer und Gabel wieder in die Hand: „Damit war es vergessen und weggelegt, aber ich schreibe eigentlich immer Tagebuch.“
Er beugt sich zur Seite und holt aus dem Koffer ein dickeres Heft, Format etwa Din A 5, schlägt es auf, zeigt die Seiten, engstens Zeile für Zeile eng beschrieben. Robert-Walser, denke ich, „So Robert-Walser-mäßig“, sagt er. „Wobei: Es ist schon lesbar.“ 
Und nach einer Pause, ich merke, die Frage nach seinem Schreiben, dem eigenen, lässt ihn nicht los, er nimmt einen neuen Schwung: „Vor zwei Jahren habe ich mich um einen Schreibaufenthalt bemüht und war tatsächlich einen Monat im Meran, und ich habe mich bemüht, dass ich mir nicht allzu viele Hoffnungen mache, dass in diesen vier Wochen irgendwas passiert.“
Also: kein Plan, keine Ideen-Skizze, nichts habe er sich vorgenommen, rein gar nichts. Stattdessen dabei: ein Koffer voller Bücher. „Ich habe mir gesagt: ‚Gallus, alles gut‘.“ Denn wenn nichts passiere, lese er eben den Koffer leer, und dann schrieb er vier Wochen lang: „160 Seiten, wie in Ektase, das habe ich genossen, in diesem ekstatischen, völlig ungestörten Zustand zu sein – aber am Schluss gab es einen Rohling.“ Er wiegt seinen Kopf leicht hin und her: „Ich habe es dann gewissen Leuten zum Lesen gegeben, die haben gesagt, es hätte gutes darin, aber es sei ungeschliffen.“ 
Er hebt ein wenig abwehrend die Hände: „Ich sage nicht ‚Diamant‘ – sondern: ‚ungeschliffen‘.“ 
Aber er hätte dann nicht den Ehrgeiz gehabt, vielleicht nicht die Kraft, noch mal in die Vollen zu gehen: „Gallus, habe ich mir gesagt, da musst du dich entscheiden, willst du auf die Fährte setzen, ich schreibe selbst was und vielleicht wird was draus und vielleicht auch nicht – oder machst du weiter, wo ich jetzt schon weiß, dass ich es kann und dass es zumindest von ein paar Leuten gelesen wird.“
Er hat sich entschieden. Aber ist die Entscheidung auch gültig? „Es tut nicht weh“, sagt er nun abschließend: „Ich denke auch nicht von mir: Eigentlich geht der Welt was ab, geht ihr was verloren, wenn ich nicht dran bleibe.“ Will zum nächsten Thema springen (gleich!), sagt dann: „Obwohl, manchmal lese ich schon ein Buch, wo ich ein wenig überheblich denke …“

„Es sind die guten Bücher, die mich wirklich verblüffen und die meine Welten bei weitem überschreiten“, setzt er nach. Wie bei Rolf Lappert. „Dieser Rolf Lappert“, sagt er und schnalzt fast mit der Zunge: „Dieses episch breite Erzählen – ich habe keine Ahnung, wie ich das angehen würde. Also was der Rolf Lappert jedes Mal abliefere: „Ein Monolith! Und nicht eine Ansammlung von Steinen.“

Heute Abend wird er ihn moderieren, im Literaturhaus Thurgau, sozusagen nebenan, das Haus, dass er seit einiger Zeit leitet, dazu später mehr: „Ich mache das wahnsinnig gerne, ich moderiere extrem gerne.“ Der Rolf Lappert war schon bei ihm zu Hause, war zu Gast, las, man sprach, man aß gemeinsam, am Familientisch, „Literatur am Tisch“, heißt die Veranstaltung, falls ‚Veranstaltung‘ noch der richtige Begriff ist. „Wenn ich dann noch die Autoren persönlich kenne“, ist er wieder bei heute Abend, bei den Stunden, die noch kommen werden, „macht das nur Freude, und ich genieße dieses Engagement. Wenn ich Programm mache, das ist wie ein Geschenk. Ich habe quasi eine Freikarte, mir die Leute ins Haus zu holen, die ich gerne habe. Wer kann das schon? Ich! Finde ich super.“

Das Beste sei gewesen, dass ihn die Stiftung, die das Literaturhaus Thurgau führt und also finanziert, angefragt habe, ob er sich das vorstellen kann: eben jenes Haus die nächsten drei Jahre zu leiten: „Das setzt ja voraus, dass man das Gefühl hat, ich sei der richtige Mann für diese Aufgabe. Weil: Hätte ich mich bewerben müssen, hätte ich niemals den Mut gehabt.“ Er habe ja nicht Literaturwissenschaft studiert. Er sagt und sagt es mit schlichter Präsenz: „Ich bin in erster Linie ein Leser.“

Und nun steht der abschließende Kaffee vor uns, in Espresso-Form und wuchtig-schaumig als Latte macciato, der danach ruft, dass man mit dem langstieligen Löffel rührt und rührt, dass sich Kaffeebraun und Milchweiß mischt: „Mein Glück ist, dass ich vor fünf Jahren mit dieser Bloggerei begonnen habe. Weißt du, da fängst du an und dann siehst du Besucherzahlen, hast pro Tag zwei Besucher. Das war für mich schon verblüffend, dass diese fünf Jahre, die ich das jetzt mache, das Bloggen, das sie gereicht haben, dass ich zumindest in der kleinen Literaturszene Schweiz meinen Platz bekommen habe. Das war nicht mein Ziel! Es war eine schöne Begleiterscheinung.“

Sein eigentliches Rückgrat sind zuvor seine ‚Literaturblätter‘, handschriftlich niedergeschrieben empfiehlt er je vier herausragende Bücher fünfmal im Jahr; seit zehn Jahren gibt er sie verschickend heraus, nur an zahlende Abonnenten, von denen er gut 200 hat, die „Freunde der Literaturblätter“. 
Und dann, vor fünfeinhalb Jahren, hat er, der hauptberufliche Lehrer („‘Primarlehrer‘ sagt man bei uns in der Schweiz, also ‚Grundschullehrer‘ bei euch“, sagt er), ein Burnout: „Vor dem Burnout hat mir mein Schwiegersohn auf meinen Geburtstag die Domäne geschenkt, weil er der Meinung war: ‚Gallus, du musst Werbung machen für dein Literaturblatt‘.“ Und dann hat er diese Domäne. Mehr nicht. 
Er holt tief Luft: „Ja, dann war dieses Burnout, ich musste mich irgendwie beschäftigten, habe angefangen mit diesem Literaturblatt.ch, aus einer Not heraus, ich musste eine Aufgabe haben – in einer Zeit, wo ich dachte: Ich kann nie wieder unterrichten, ich hatte Angst auf der Straße meinen Schülern zu begegnen, ich hatte Existenzängste, ich war ja schon über 50 und fragte mich: Wozu kann man mich noch brauchen?“ Er nickt: „Und da war dieses Literaturblatt.ch genau das Richtige.“

Das war die erste Initialzündung. Und dann die zweite, da ist der März vorbei, das Frühjahr steht vor der Tür, er kann sechs Einträge, also Beiträge auf seinem Literaturblatt-Blog vorweisen: „Und dann habe ich stinkfrech das Literaturfestival im Leukerbad angefragt, ob ich für meinen Blog über das Festival berichten darf.“ Ja, natürlich dürfe er. 
Er fährt hin, er meldet sich bei der Festivalleitung an, stellt sich vor; sagt, wer er ist: „Ich hatte schon erwartet, dass ich eine Dauerkarte für die Lesungen bekomme – aber die haben mir das Hotel bezahlt!“
Und dann, nach einem kurzen Moment, platzt es aus ihm heraus, eine kleine Freudenexplosion: „Das war so schön!“ Sagt: „Ich hatte noch keine Klicks, hatte gar nichts, niemand hat mich gekannt und die bezahlen mir das Hotel.“ Und er weiß damals, dass er gelesen wird, dass man ihn wahrnimmt, und er sagt abschließend: „Es war eine Erleuchtung.

“
Ich schaue ihn an, sehe, wie er sich noch heute freut, wie er glücklich ist, nebenan wird neu eingedeckt, der Stadtbus ist zu hören, wie der Fahrer die Gänge schaltet, die nächste Uhrzeit wird glockenschlagend verkündet, wir nicken uns zu, stehen auf, rücken dabei die Stühle knarrend zurück, er greift nach seinem Rollkoffer: „Wollen wir noch eine kleine Runde gehen? Da oben gibt es noch eine Buchhandlung …“

Anna Butan «Masken»

Die Leute tragen Masken, fast alle von ihnen. Und sie lassen sich in zwei verfeindete Parteien aufteilen: diejenigen, die Masken verehren und diejenigen, die sie ablehnen. Es liegt in der menschlichen Natur zu kämpfen, zu hassen, sich gegen etwas aufzulehnen. Wenn es nicht die Masken wären, dann wäre es etwas anderes, egal was. Diejenigen, die Impfungen befürworten und diejenigen, die sich lebhaft gegen die Vorstellung davon auflehnen. Diejenigen, die das Desinfektionsmittel verehren und diejenigen, die es kritisieren. Diejenigen, die darauf bestehen, dass wir alle zu Hause bleiben sollten und diejenigen, die schreien, dass wir so oft wie möglich draussen an der frischen Luft sein sollten. Diejenigen, die an das Coronavirus glauben und diejenigen, die es nicht tun.

Auch wenn es Covid-19 nicht gäbe, würden die Leute weiterhin in Polaritäten denken. Sie würden sich weiterhin in militante Gruppen aufteilen und einander angreifen, statt sich zu vereinigen und Solidarität zu zeigen, nur um ihre Überlegenheit, ihre Macht zu demonstrieren, um den inneren Egoismus auszuleben. Manchmal scheint es, dass sie sich gegen etwas auflehnen, nur um sich gegen etwas aufzulehnen. Wie viele Jahrhunderte und wie viele Kataklysmen braucht die Menschheit, um zu verstehen, wie sinnlos und absurd das ist? 

Im Hamsterrad des Alltags verfehlen alle das Ziel. Wenn die Münder mit Masken verdeckt sind, dann bleiben nur noch die Augen, der Spiegel der Seele, und diese lügen nicht. Nur die Augen sprechen die Wahrheit. Münder sind nicht vertrauenswürdig. Was, wenn die Masken unsere Strafe dafür sind, dass wir zu viel reden? Eine Maske versperrt den Mund wie ein Maulkorb. Sie verhindert das Heraussprudeln von Worten. Ja, die Masken sind eine Strafe, eine Strafe dafür, dass wir die falschen Worte ins Universum aussenden. Dafür, dass wir unsere Worte nicht abwägen. Dafür, dass wir sie im Affekt unseren Geliebten an den Kopf werfen. Dafür, dass wir sie als Waffen benutzen, als Abfall. Dafür, dass wir zu viele davon verwenden. Zieh die Maske an und behalte deine Worte für dich, vergeude sie nicht. Wäge deine täglichen Worte ab, bevor du sie ins Universum schickst.

Im Alter von neunzig Jahren kennt Nora den Wert der Wörter. Und darum wählt sie die Stille. Ihre Familie fühlt sich unwohl, wenn sie stundenlang in ihrem Zimmer sitzt und kaum ein Wort sagt. Aber wozu? Alles, was hätte gesagt werden können wurde bereits gesagt. Ihre Worte würden daran nichts ändern.

Ihr Sohn Philip ist das genaue Gegenteil. Er mag es zu reden. Reden ist seine Berufung. Er ist Journalist. Er mag es so sehr zu reden, dass er manchmal mit sich selbst spricht. In diesen Momenten wünscht sich Nora einen magischen Schirm zu haben, um ihren Kopf vor dem Schwall an Wörtern, der sich gegen ihren Willen über ihrem Kopf ergiesst, zu schützen. Wie viele Jahre, gefüllt mit bedeutungslosem Geplapper und inhaltslosen Gesprächen sind in den Zeitungen zu finden? Insbesondere jetzt, wenn Corona uns eine derart einzigartige Gelegenheit gibt. Was Nora am meisten aufregt, ist, dass ihr Sohn mittendrin ist. Er arbeitet Tag und Nacht, um Worttürme zu aufzubauen und diese dann den Leuten an den Kopf zu werfen. Wie kann sie ihm widersprechen? Nur indem sie seinen verbalen Durchfall mit Stille bekämpft.

Aber wenn Philip nicht zu Hause ist, ruft ihre Tochter Lea an und beschwert sich über die Arbeit. Lea beginnt die Unterhaltung normalerweise in einem positiven Tonfall, beendet diese aber unausweichlich immer mit Klagen: «Es gibt nicht genügend chirurgische Masken im Spital, die Lieferung, die sie letzte Woche bestellt hatten, war beschädigt und sie mussten sie zurücksenden.» «Jemand stahl letzte Nacht ein Pack Masken. Sie mussten eine teurere Ladung von einem anderen Lieferanten bestellen.» Nora schliesst die Augen und versucht sich einen unendlichen Vorrat an Masken im Universum vorzustellen. Masken, Masken, Masken… Masken in verschiedenen Formen, Grössen und Farben, ein Maskenregen, ein Maskensturm, ein Masken-Hurrikane. Eine grosse Maske bedeckt ihre ganze Stadt wie ein weisser Dom, damit die Leute sich sicher fühlen und sich erneut im Gespräch austauschen können. Bedeutungsvoll. Unverfälscht. Sinnlich.

(aus «Noras kleines Corona-Alphabet»)

Anna Butan, wurde 1982 in Russland geboren. Sie hat Kulturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Literatur an der Universität Bern studiert. Ihr Debütroman «Helen the Man» wurde als E-Buch auf lucify.ch veröffentlicht. In ihren letzten Roman „Noras kleines Corona-Alphabet“ erzählt sie intime Geschichte einer Frau, die an Demenz leidet und versucht, durch die Linse der von Corona beherrschten Gegenwart, einen Sinn für ihr Leben zu finden. 

Der Web Magazin www.lucify.ch wurde von hochausgebildeten Frauen mit Migrationshintergrund gegründet, die sich ihren Platz in den Schweizer Medien seit 3 Jahren erfolgreich erkämpft haben und einnehmen. Neben ihrem journalistischen Engagement haben Zaher Al Jamous (Syrien), Maya Taneva(Nordmazedonien), Anna Butan(Russland), und Faten Al Soud (Irak) ihren Beruf als Schriftstellerinnen weiterverfolgt und so wurde ein Teil des Lucify Kollektivs in eine Gesellschaft der Schriftstellerinnen umgewandelt. Die Lucify Schriftstellerinnen sind an Zuwachs interessiert und kreieren ein wichtiges Netzwerk der Schriftstellerinnen mit Migrationshintergrund in der Schweiz.

Johanna Lier «Zwischenfall», Plattform Gegenzauber

Leere.

Ich sehe die stille Strasse. Die aufgereihten Wohnblocks. Den Windstoss in dem pinkfarbenen Schirm. Ich sehe sein blitzartiges Auftauchen. Schatten an meiner Seite. Raubtiersprung. Seine Brust auf meinem Rücken.
Ich sehe den jungen Mann in Pullover, Jeans und Sportschuhen weglaufen. Sein tänzelnder Gang, seine aufrechte Körperhaltung, sein Zögern angesichts meiner Schreie und die Wendung seines Kopfes.
Meine Tiertasche in seiner Hand.
Ich sehe meine angezogenen Knie und den Rahmen des Hauseingangs an meiner Wange und wie ich meine Fusssohle festhalte. Ich sehe den Polizisten, der sich hinkauert, den Krankenwagen unter rotierendem Blaulicht. Ich sehe das Tier, das seine Schnauze in meine Jacke drückt, dorthin, wo der junge Mann Hand angelegt hat.

Ich sehe das karierte Nachthemd. Die weissen Strümpfe. Die Zeitungen. Den Tisch am Fenster. Die übrigebliebenen Nahrunsgmittel in Glasschalen.
Ich sehe das Zimmer mit den braunen Vorhängen. Mit den Wanzenkotspuren am Boden. Den schwarzen Flecken auf der Matratze.
Ich sehe meinen bewegungslosen Körper auf dem Bett. Ich sehe, mein unruhiges Herumtigern in der Wohnung. Ich sehe, wie ich für wenige Minuten mich hinsetze, um wieder aufzustehen, um einen neuen Platz zu suchen.

Ich sehe, wie meine Hand nach der Teeschale greift. Ich sehe den umgestürzten Teekrug. Ich sehe, das gelbe Wasser, das sich auf dem Tisch ausbreitete. Ich sehe das Papier, das sich vollsaugt.

Ich sehe die Blüten, die aus dem Baum quellen. Gestern hat der Baum Blüten getrieben. Ich sehe vor dem inneren Auge das, was ich in der Vergangenheit bereits gesehen habe.

Ich höre, wie die Blätter aus dem Baum platzen. bald wird der Baum Blätter treiben. Ich höre das, was ich noch nicht gesehen habe. Ich höre das, was in meinem Bewusstsein noch nicht existiert.

Ich sehe mich im Wohnzimmer sitzen. Im Rücken die Bücherregale. Vor mir die Couch und das Gästebett. Und die Bilder. Ich sehe meine Füsse, die auf dem gegenüberliegenden Stuhl liegen. Ich sehe die blutrote Narbe, die sich um den Knöchel und über den Rist bis zur Sohle zieht. Ich sehe die Wolldecke, die ich um meine Hüfte geschlungen hab. Ich sehe die zwei Teeschalen, die weisse und die schwarze und den grünen Tee. Ich sehe den Bildschirm meines Computers und Filmbilder, die kommen und gehen.

Bestehe ich auf meinem Vorfahrtsrecht, knalle ich gegen die Wand. Schlage ich Nägel in die unberührte, weisse Wand, wage ich es nicht. Löst sich ein Schmerz an der Fusssohle, ist das wegen den Nägeln in den Hufen der Tiere.
Verbrennen die Fusssohlen im Sand zu Mittag am Meer.

Die Gegenwart, ein Nebelstreif zwischen Vergangenheit und Zukunft, so vage, dass sie faktisch nicht existiert. Die Gegenwart, solcherart dünn, dass ein Fuss in der Vergangenheit und der andere in der Zukunft steht.

Ich sehe, wie ich meine Sachen zusammenpacke, wie die maskierten Freunde in der Dunkelheit meine Habseligkeiten raustragen und in die zwei Autos räumen, ich sehe, wie ich im Hinterhof stehe und warte, bis die Wohnung leer ist, wie ich in der Kälte den Mantel über der Brust zusammenziehe, wie die Freunde in der leeren Küche die Masken abnehmen und Bier trinken und auf dem Balkon rauchen.

Ich bin zum Meer gezogen. Die Hütte ist klein. Das Bett bunt. Die Küchenzeile schmal. Die Bäume hoch. Der Blick weit.

Die goldfarbenen Tiere sind gross. Ihre Nacken sind wulstig, die Rücken fleischig, sie riechen nach Pisse, das Fell stachelt oder schmeichelt. Sie gewichten sich schwer an mein Knie.
Sie knurren mich an, wenn ich mich vor dem jungen Mann in Pullover, Jeans und Sportschuhen fürchte und ihm zuschaue, wie er über mich herfällt. Sie bestrafen mich mit ihren gelben Zähnen und ihren nassen Lefzen für meine sündigen Gedanken.

Plätschert das Meer blau, setze ich mich auf die unterste Stufe der hölzernen Treppe, die zum Strand führt. Liegt der Strand leer, füllt sich die Brust mit Glück und ich wühle mit den Händen.

Ich halte dich in Händen, obwohl ich dafür gesorgt hab, dass du nicht da bist.

Hör ich mit hoch erhobenem Kopf in die Zukunft, sehe ich nicht, was unter meinen Füssen soeben geschehen ist. Starre ich zu meinen Füssen und versuche meine Sohlen zu erkennen, die kurz davor die Erde irgendwo berührt haben, höre ich die Zukunft nicht.

Leere.

Aber du machst Lärm. Er liegt in der Luft. Ich hebe den Kopf und höre das Rascheln deiner Hemden. Ich höre, deine leichten schnellen Schritte. Ich höre das zaghafte, aber hungrige Lachen. Ich höre die von Bewusstheit und Gier gesättigte Stimme. Ich höre die Musik. Ich höre deine nackten Füsse auf dem Holzboden. Ich höre die Kleider auf den Sessel fallen, rauschendes Wasser am Morgen, das von deinen Bewegungen unterbrochen die Richtung ändert, das Klacken der Kaffeekanne, heisere, ungeduldige Rufe, meinen Namen, oder eine alberne Verballhornung, die Schluckbewegungen und das Mahlen der Zähne.
Ich höre deine Belehrungen, ich höre deine Erzählungen, ich höre diese kurzen, aufforderden Sätze, die bekunden, dass du zuhörst, ich höre deine Bemühungen mich zu überreden.
Ich höre die Unsicherheit beim Aufzählen deiner Vorzüge. Ich höre den scheuen Triumph im Moment deiner Siege.
Ich höre deine Handinnenfläche an meiner Haut. Ich höre deine Finger in meinem Haar. Deinen Atem.
Ich hab dich so viele Male gesehen. In vergangenen Tagen. Aber das warst nicht du.
Wenn ich hinhöre bist du. Irgendwo. Ich versuche den Kopf in Richtung zu wenden …

Johanna Lier studierte Schauspiel und absolvierte einen Master of Arts in Fine Arts. Nach jahrelanger Tätigkeit als Schauspielerin lebt sie als Dichterin und freie Journalistin in Zürich und unterrichtet kreatives Schreiben an der Kunsthochschule Luzern.

2018 und 2019 verbrachte Johanna Lier mehrere Monate in Griechenland und auf der Insel Lesbos und kam eher zufällig ins Registrierung- und Ausschaffungszentrum Moria. Eine Gewalterfahrung, die eine Antwort erforderte. Die Autorin kehrte nach Moria Camp zurück und begann, basierend auf Kriterien aus James Baldwins Essay «Everybodys Protest Novel», zu recherchieren und zu schreiben.
Neun Männer und Frauen aus dem Lager Moria auf der Insel Lesbos, Geflüchtete und Aktivistinnen, erzählen der Autorin (oder ihrem fiktiven Alter Ego Henny L.), was es braucht, um dort zu überleben. Es geht um Hunger, Kälte, Hitze, Warten, Gewalt und um den radikalen Kontrollverlust über das eigene Leben.
Sie fliehen vor Krieg, Diktatur, Hunger und den Auswirkungen der Klimakatastrophe; manche sind auf der Suche nach einem besseren Leben; sie kommen aus dem Mittleren Osten, aus Südostasien, dem Maghreb und subsaharischen Ländern. Allen ist gemein, dass sie in seeuntüchtigen Gummibooten das Ägäische Meer überqueren und auf den griechischen Inseln in Lagern gefangen gehalten werden, bis entschieden ist, ob sie in Europa Asyl beantragen dürfen – oder ob sie in die Türkei deportiert werden. Das kann Jahre dauern.
Amori. Die Inseln ist keine Chronik der Skandale, sondern ein dokumentarischer Bericht, der mit literarischen Mitteln die Nähe zu den Beteiligten sucht. Jahrhundertealte europäische Praxis wird dokumentiert: die Selektion und das Lager. Die Protagonistinnen und Protagonisten setzen ihr die ganz eigenen Vorstellungen von persönlicher Erfüllung und Freiheit entgegen.

Rezension zu «Wie die Milch aus dem Schaf kommt» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Michael Buselmeier «Elisabeth. Ein Abschied», Morio Verlag

Sie fällt vom Fahrrad, weiss dann kaum noch, wo sie ist, und er schreibt gegen das Verschwinden an – Michael Buselmeier erzählt in „Elisabeth“ herzergreifend von der Demenzerkrankung seiner Frau und kommt selbst nicht gut weg dabei.

Frank Keil

Bilanz eines Abschieds
von Frank Keil

Es beginnt schleichend, man weiss das, man hat das oft genug gelesen, hat es auch gehört, aus dem Freundes- und Bekanntenkreis, womöglich aus der Familie: Da wird jemand unkonzentriert, fahrig, wirkt kurz orientierungslos und dann ist alles wieder gut und alles an seinem Platz. Bis die nächsten Irritationen einsetzen, Seltsamkeiten, ‚das musst du doch wissen‘, sagt man dann; fragt, was denn los sei. Und will den naheliegenden Gedanken nicht denken.

Bei Elisabeth Buselmeier, Michael Buselmeier Frau, er selbst Jahrgang 1938, damit nach unseren heutigen Massstäben solide alt, aber noch nicht hochbetagt, das kommt noch, beginnt die Verwirrung sich zu verstärken nach ihrer Pensionierung, nach einem aufreibenden Leben als Dozentin an der Frankfurter Hochschule und noch dazu hat sie sich um das Haus zu kümmern, um den Haushalt, um den Garten und die Texte ihres Mannes, die abzutippen waren. Und nun notiert er: «Elisabeth ist nicht mehr die Frau, die ich vor einem halben Jahrhundert geheiratet habe.» Zuvor hat er sich nicht ohne ironische Selbstbetrachtung an all die Dichter erinnert, deren Frauen oft weit vor ihren Künstler-Männern starben: Orpheus, Novalis, Benn, Pound, Rilke, Kafka. «Und andere», wie er verlegen hinzu setzt.

Dabei sollte anderes geschehen: Seine Frau sollte endlich Zeit und Ruhe und Kraft finden ihr eigenes Werk in Angriff zu nehmen, es durchzuarbeiten und es zu beenden, wo es doch seit Jahrzehnten auf den Weg geschickt ist: eine grosse wissenschaftliche Arbeit, die Geschichte der Heidelberger Germanistik zu schreiben. Das Material füllt dicht aneinandergereihte Aktenordner, prall bestückt mit Exzerpten, mit Entwürfen, mit ausgewerteten Archivfunden; mit Zeitzeugenberichten greiser Professoren, wie Buselmeier Michael diffizil schreibt. Doch das Scheitern dieses schreibenden Projektes ist unübersehbar, das geht nicht spurlos an einem vorbei, der fürs und der mit dem Schreiben lebt: «Schon lange ist sie mir keine Gesprächspartnerin mehr», auch diese Notiz findet sich, gemeint ist natürlich seine Frau.

Die langsam wegdriftet, die auch tagsüber Stunden im Bett liegt, sich hin und her wälzt, die dafür nachts durchs Haus irrt, die sich ihre Hemden falsch herum anzieht, die keine Termine mehr einzuhalten versteht, bei der Gymnastik, beim Klavierunterricht, die während freudig erwarteter Familientreffen teilnahmslos danebenhockt, die auf Depressionen hin durchgecheckt und behandelt wird, bis weitere ärztliche Untersuchungen sachliche Gewissheit bringen.

Michael Buselmeier «Elisabeth», Morio Verlag, 2021, 200 Seiten, CHF 27.90, ISBN: 978-3-945424-86-5

Buselmeier erzählt immer auch von sich, wenn er von seiner Frau erzählt, er lässt tief blicken, wie er, ohnehin vom eigenen Alter mehr als gebeutelt, versucht noch zum Schreiben zu finden, während seine Frau im Haus lärmt oder mit dem Fahrrad unterwegs ist und womöglich schon bald von besorgten Nachbarn oder gleich der Polizei zurückgebracht wird, mit leichteren oder schwereren Blessuren, auf jeden Fall ohne Fahrrad, das wird er nun irgendwo im Dunklen in der Gegend suchen und finden müssen. Dabei muss er doch schreiben, muss weiterschreiben, muss sich fertigschreiben, es ist nicht noch genug und lange nicht zu Ende, was er bisher zu Papier gebracht hat, wie man so sagt.
Wütend schreibt er zugleich gegen das Schreibende an, gegen die Unverschämtheiten des Alters, die mürben Knochen, die Halsentzündung, die Rückenschmerzen, die längst dazugehören; dazu der Druck der nachrückenden Dichtergeneration, die einen aus dem Weg drängt, all die jungen Kerle, die ihren Platz wollen, während sich schon die nächsten aufmachen, die ‚Hier!‘ und ‚Ich!‘ schreien und es eilig haben.
Reicht das nicht allein? Ist das nicht schon schwer genug und schon so kaum auszuhalten? Und nun muss noch die eigene Frau dement werden und alles vergessen, am Ende auch ihn?
Obwohl: Wer weiss, wer sich in zehn, zwanzig Jahren überhaupt noch an ihn erinnern wird, trotz der Literaturpreise und der Ehrungen und der Bücher mit seinem Namen auf dem Einband, auf dem Cover, die man ins Regal stellen kann; was er dann für Figur ist im Literaturkanon, der ja selbst immer mehr an Bedeutung verliert, auch das ist Schmerz, der kaum auszuhalten ist.
Und so ist es kein Wunder, das er an einigen, wenigen Stellen die Kollegen heranzieht, er ist ja nicht der erste, der mit Demenz zu tun hatte und der – wozu ist er Schriftsteller – schreibend zu reagieren und das mit ihm Geschehene zu erfassen sucht: Arno Geigers freundlich-lustiges Roman-Porträt seines Vaters in ‚Der alte König in seinem Exil‘, das so erfolgreich war für den Sohn, haben wir das nicht alle gerne gelesen, voraustankend Trost darin vermutet – er glaubt ihm heute kein Wort mehr. Dagegen setzt er das am Ende kurz, brutale Schicksal des wesensverwandten Schriftstellers Günter Herburger, nicht nur ein Altersgenosse, sondern auch einer, der mit dem Leben so schwer hadert (drei gebrochene Lendenwirbel, niemand will seinen gewiss letzten Gedichtband herausgeben, das könnte man doch erwarten); und der bald an den Folgen eines Hausbrandes stirbt, den vermutlich seine Alzheimer-kranke Frau gelegt hat. Da – und das ist die Botschaft, die ankommt – ist es dann endgültig vorbei mit dem Schick der Demenz.

Denn und dann – der Schluss: Buselmeier, der Mann, der Schriftsteller, der Chronist der Krankheit, er zieht sich zurück, er lässt seine Frau zu Wort kommen. Erlaubt uns in einige, wenige, aber prägnante Dokumente schauen: Zettel, Notizen, kurze Berichte, Notate. Aus dem Krankenhaus, in dem sie untersucht wird und aus dem sie nur noch raus will. An einen Hund erinnert sich Elisabeth Buselmeier, der überfahren wurde, recht schnell, ein Dackel. Einen letzten Artikel – schreibt sie – hat sie noch veröffentlicht, unter grossen Mühen. Ihr grosses Schreibprojekt aber, es verweht: «Unsere Kinder, spätestens die Enkel, werden diese Fragmente einmal wegwerfen müssen, um sich von ihnen zu befreien.» Bilanz eines Abschieds.
Und vieles, das man eben gelesen und dem man gefolgt ist, erscheint in einem doppelt schlaghellen Licht: wie Elisabeth, die Schriftstellerfrau, notiert, wie ihr nach und nach die Gewissheiten verloren gehen. Wie sie einsamer und einsamer wird, in sich selbst. Wie ihr Mann ihr immer weniger der Mann und der Gefährte und der ‚Lebensmensch‘ ist, wie Thomas Bernhard den anderen genannt hat, den man doch so braucht, erst recht zum Schluss. 

Michael Buselmeier wurde 1938 in Berlin geboren und wuchs in Heidelberg auf, wo er bis heute als Schriftsteller, Publizist, Herausgeber und Literarischer Stadtführer lebt. Zahlreiche Veröffentlichungen. 2010 erhielt Buselmeier den Ben-Witter-Preis der ZEIT-Stiftung, 2011 stand er mit «Wunsiedel» auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis, 2014 wurde ihm der Gustav-Regler-Preis der Stadt Merzig und des Saarländischen Rundfunks verliehen. Zuletzt erschienen bei Morio die Heidelberger Schloß-Anthologie «Alles will für dich erglühen» und der Gedichtband «Mein Bruder mein Tier» (beide 2018).

Beitragsbild © Philipp Rothe

Andri Beyeler «20.30 gleiches Ambiente», Plattform Gegenzauber

Ein Popduo, bestehend aus Marthe und Mägpi, gastiert in der Kleinstadt, aus deren ländlichem Umfeld Mägpi stammt. Vor gut zehn Jahren hat seine damalige Schülerband, bestehend aus Gwaag, Fink und ihm, in demselben Lokal eines ihrer letzten Konzerte gegeben.

I. Marthe
Mir hocked i eim vo däne Sofas, wo mr immer dinn hocked, und denäbed schtoht ein vo däne Chüelschränk, wo immer denäbed schtönd, au de obligat Täller mit de drei Öpfel, zwei Banane und de Orange ufem Tischli vorem Schpiegel fählt nid, und gliich isch da etz also die Garderobe, wie da nu die Garderobe isch, so wie de Mägpi di ganz letscht Ziit drüber gredt hät, ohni dan er drüber gredt hett, und ich gliich und genau gmärkt ha, dan er nu über da redt.
«Isch okay doh, oder?», frogt de Mägpi. «Doch», säg i und de Mägpi: «Nüt bsunders, aber okay.» –«Doch, hät nid tosche, de erscht Iidruck.» – «Klar ischs eis vo däne Löcher.» – «Es Ässe isch guet gsi.» – «Mol nid, hüt gits, was niemez susch git, wa denn gliich immer s Gliich isch wie überall, bis uf d Sauce villicht.» – «Würkli guet.» – «Schtimmt.» – «Und d Lüüt sind au fründlich.» – «So sind s halt doh», seit de Mägpi und ich: «Du mueschs jo wüsse.»

II. Mägpi
Müest i allwäg scho, und allwäg wüüsst is au, aber ich säg nüt meh dezue, wien i di ganz letscht Ziit nüt meh dezue gseit ha, wenns druf use gloffe isch, öppis meh dezue z säge, da mr hüt z Obed doh, wo d Marthe und ich etz ide Garderobe devo, us irgendere Gegend chömed mr schliesslich alli; überhaupt hockt me bequem i däm neue Sofa, brummt er aagnehm, dä neu Chüelschrank, und da ganz Gmües ufem Tischli vorem Schpiegel gseht au frisch pflückt us. Doh cha d Marthe nu so chli umetrömmele mit de Finger wie de Gwaag denn so chli mit de Sticks, tänk i und tänk dra, wien i tänkt ha: Guet, trömmelet er da nomol dure.
«Wa?», frogt de Gwaag, und ich säg: «Dä Rhythmuswächsel.» – «So», seit de Gwaag und ich: «Wa mr no gänderet händ halt.» – «Da isch nid würkli en Rhythmuswächsel, da isch eifach de Akzänt e biz andersch gleit», seit de Fink und ich: «Hauptsach, es chunnt denn.» – «Chunnt denn so oder so», seit de Gwaag und ich: «Jo, da sowiso.» – «Chunnt denn scho.» – «Klar chunnts denn scho, wie immer alles denn scho chunnt bi dir chunnt immer alles irgendwie», säg i und leg d Gitarre uf d Siite. «Färtig gschtumme?», frogt de Gwaag, und ich säg: «Für s erschte.» – «Scho klar. Und du?», frogt de Gwaag de Fink, wo uf sim Bass no so chli vor sich aneklimperet. «Wa?», frogt de Fink, und de Gwaag frogt: «Am ufwärme?» – «Nid würkli», seit de Fink und de Gwaag: «Natürli.» – «Hät nid schlächt tönt», säg ich und de Gwaag: «Sind jo schliesslich au kän Schportverein.» – «Ämel so wiit wie mes ghört hät.» – «Kä verdammti Junioreabteilig vo wa weiss ich wa für ere Kampfmannschaft.» – «Chönt me villicht öppis drus mache.» – «Wa für e Kampfmannschaft?», frogt de Fink und leit sin Bass wäg. «Nochwuchsband, wenn i da nu scho ghör», seit de Gwaag, und de Fink schtoht uf. «Wa machsch?», frog i, und de Fink macht en Schritt Richtig Türe.

III. Fink
Ich schtoh doh ide Garderobe und schtreck mi dure, no massig Ziit und langsam e chli äng doh inne, sowiso chönt me mol go luege, wär scho doh und öb überhaupt scho öpper; en erschts Mol go seiche sött i au, also use us däm Kabuff doh und über d Bühni dur de Zuschauerruum, wo no nid würkli de Huufe los isch und au no niemert umeschtoht, wo sichs lohne würd, schtoh z bliibe defür, wiiter Richtig Schtäge, und won i die denn grad durue wott, chömed grad zwei die durab, di eint vo ine känn i, märk i, und si, won i nu so vom Gseh känne, chunnt diräkt uf mich zue.
«Und, scho chli ufgregt?», frogt si. «Wa?», frog ich, und si seit: «Du ghörsch doch zu däne, wo etz denn doh.» – «Scho», säg ich und si: «Äbe.» – «Wa?» – «Scho chli ufgregt?» – «Und sälber?» – «Kän Grund dezue, oder?» – «Wa weiss ich.» – «Da würd i gärn wüsse.» – «Wa?» – «Äbe.» – «Chumm, isch guet etz», seit d Nati, und si, won i nu so vom Gseh känne – oder söll i säge: vom Luege – seit: «Guet.» – «Hoi», seit d Nati, und ich säg: «Hoi.» Und d Nati: «Dasch d Charlotte.» Uf da abe d Charlotte: «Hoi.» Denn isch en Momänt lang schtill. «Schö, chömed er cho lose», säg i und d Charlotte: «Öbs schö würd, ghöred mr denn.» – «Sind scho gschpanne», seit d Nati, denn isch en Momänt lang schtill. «Also bis schpöter», säg ich, und d Nati seit: «Jo bis nochane.» – «Bis denn», seit d Charlotte, und ich gang wiiter. Worum dan i nid no gschnäll gfroget ha, öb di andere au no chömed, weiss i allerdings au nid. «So isch er halt», seit d Nati und d Charlotte: «Denn wäred mr etz doh.» – «Oder tuet er zmindscht.»

IV. Charlotte
Wäred mr etz also gliich doh, au wenn mr üs bis zletscht nid würkli einig gsi sind, öb mr söled oder nid und defür is Kino, oder diräkt uf die Fete, aber etz simmr doh, zmindscht d Nati und ich schtönd doh etz vor de Bühni, bis da d Nati denn mol a d Bar goht, und wo da d Corinna und d Nico sind, wär weiss, si chöm e chli schpöter, hät d Corinna gmeint, guet, lueged mr mol, aber lieber wärs mr, ich gsähcht denn d Nico, au wenn die vo Aafang aa degege gsi isch, wan i jo au irgendwie verschtoh cha, aber irgendwie verschtohn is gliich nid. Klar ischs iren Brüeder, wo hüt z Obed doh, nu ischs jo nid nu er, und so wie d Corinna und d Nati verzellt händ, ischs eh vor allem er am Schlagzüüg, wo me nie wüssi, wa alles chös cho vo im; hät zwor vorane uf de Schtäge gar nid so de Iidruck gmacht, villicht eifach nomol froge, wär genau wa schpilt, wenn d Nati denn zrugg isch mitem Bier.
«So, doh wär i wider.»
De Kusi schtreckt mr da Bier ane, wie mr da denn d Nati anegschtreckt hät, fallt mr uf.
«Voilà.»
Und das d Nati und ich denn aber vo öppis anderem gha händ, fallt mr ii.
«Proscht.»
Wien i au etz bi öppis anderem bi weder de Kusi, wo wider aafangt und nomol erklärt, worum da Rock and Roll never dead will:
«Rock and Roll will never dead will…»

Illustration © Andri Beyeler

Andri Beyeler, geboren 1976 in Schaffhausen, lebt in Bern. Mitglied der freien Tanz-Theater-Gruppe Kumpane. Mehrere Theaterstücke, Bearbeitungen und Übertragungen. 2017 wurde er von der Stadt Bern mit dem Welti-Preis für das Drama ausgezeichnet. 2018 erschien bei Der gesunde Menschenversand «Mondscheiner«, eine Ballade.

Beitragsbild © Beat Schweizer

Thommie Bayer «Die Begegnung von Henne und Ei an einem Nachmittag im Kurpark von Badenweiler», Plattform Gegenzauber

„Ach“, sagt der Mann, der mich eben überholt hat und nun, nach einem Seitenblick, den Kopf zu mir her dreht, „ich verfolge deine Arbeit mit Ver­gnügen.“
Er trägt Cordhosen, ausgetretene Schuhe und einen dieser hellen, beigen Rentneranoraks. Sein schütteres Haar ist weiss, und sein Gesicht hat diesen alterslosen Ausdruck zäher Sportler. Er ähnelt Luis Trenker.
Geschmack ist wichtiger als Benehmen, denke ich und verzeihe ihm das Duzen, nicke mit dem Kopf und lächle, wie immer, wenn jemand mich lobt. Ohnehin gehöre ich der Generation an, die das Duzen einst für ei­nen Fortschritt hielt und sich nur langsam zur Revision früherer Ideale durchringt. Allerdings: wie rede ich ihn an? Der Mann ist sechzig oder siebzig.
„Natürlich auch mit du“, sagt er mit herablassender Geduld, „ich tre­te in der ersten Person Einzahl auf.“ Kann der Gedanken lesen?
„Ja“, sagt er. „Eine der leichteren Übungen.“
Er zieht mich am Arm zu einer Parkbank. Entgeistert folge ich ihm und denke, dass ich, wenn das wirklich stimmt, jetzt nichts mehr denken darf.
„Versuch das gar nicht erst“, sagt er und lächelt.
Ich bin gern in Badenweiler, spaziere durch den Park und stelle mir vor, wie hier früher mondäne Damen, Dichter, Schwindler und Emporkömm­linge, Ausbeuter und Adel über den…
„Ausbeuter“, sagt der alte Mann, „so ein Quatsch. Erschien dir nie der Gedanke plausibel, ich könnte euch mit Bedacht so gebaut haben? Sagt dir der Name Darwin denn gar nichts?“
Will der Typ mir etwa im Ernst weismachen, er sei… er habe… das darf doch wohl nicht wahr sein!
„Doch“, sagt er, „darf es wohl. Du hast die Wahl: glaub‘s, glaub‘s nicht, mir egal, ich bin nicht so empfindlich wie ihr meint.“
Ich wage es kaum ihn anzusehen, aber irgendwie muss ich raus aus dieser verflixten Situation. Er sieht gar nicht aus wie ein Spinner. Aber wie sehen die aus? Spinner gibt‘s in jeder Form. Ich muss ihn loswerden. Schnell und höflich. Vor allem schnell. Ich hebe den Kopf und versuche, das Gesicht aufzusetzen, mit dem ich schon manches geschniegelte Mor­monenpaar Sonntag morgens um elf aus meinem Hausflur komplimen­tiert habe, aber mein Ausdruck blasierter Starre muss dem vollständiger Verblüffung gewichen sein, als ich ihn grinsend vor mir sehe, und er ist umgezogen!
„Da staunst du“, sagt er nur.
Allerdings staune ich. Er hat auf einmal einen Turban auf dem Kopf, Sandalen an den Füssen und ein indisches Gewand am Leib. „Tja“, sagte er und deutet mit dem Daumen auf zwei vorübergehende Inder, „das kommt von denen da.“
„Sie sind ein Zauberer, stimmt‘s? Sie wollen Ihre Tricks an mir pro­bieren“, sage ich. „Noch ein, zwei Wunder, dann geben Sie mir Ihre Karte, sagen Nichts für ungut und laden mich zu Ihrer Vorstellung ein.“
„Du“, sagt er nur.
Ich bin verärgert und fühle mich gehänselt. „Fällt mir schwer, Sie zu duzen, wenn Sie mir diese respekteinflössenden Nummern hier vorführen. Hauen Sie gleich noch ein Fünfmarkstück durch die Tischplatte? Soll ich in meine Brieftasche gucken, und da liegt dann Ihre Visitenkarte?“
„Deine“, sagt er.
„Ich hab keine“, antworte ich trotzig. 
„Keine Tricks, ehrlich.“ Seine Kleidung ist wieder wie vorher. „Und ausserdem, welche Tischplatte überhaupt?“
„Ich kapiere nichts mehr“, sage ich.
„Das fällt mir auch auf.“ In seiner Stimme ist ein Unterton von Spott. „Ich hätte gedacht, dass du ein wenig flinker wärst. Deine Bücher machten mir den Eindruck.“
Jetzt hat er mich wieder. Meine Bücher – wie schön so etwas klingt. Der Mann ist ein Fan und will mich beeindrucken, weil er selbst von mei­ner Arbeit so hingerissen ist. So jemanden fertigt man nicht ruppig ab, das wäre nicht anständig. 
„Ihr seid doch alle gleich“, sagt er seufzend, „die affigsten Ungeheu­er, die man sich vorstellen kann“, aber es klingt verzeihend und so, als freue er sich, den richtigen Knopf gedrückt zu haben. Dass er das weiss, ist mir peinlich.
„Komm schon, so war‘s auch nicht gemeint. Es ist nur, weil du manchmal über mich schreibst und ich bei deinen Texten hin und wieder schmunzeln musste, da dachte ich, ich mach dir eine Freude und sprech dich mal an.“
„Nett“, sage ich, „danke.“
„Na, auf geht‘s, du willst mir doch Fragen stellen. Die Gelegenheit, mich mal persönlich zu sprechen, das ist doch was, oder?“
„Aber ich glaube doch nicht mal an Sie…, dich.“
„Was meinst du, weswegen ich mit dir rede?“
„Weil ich‘s noch nötig habe vielleicht?“ 
„Hör mir gut zu“, jetzt klingt er ernstlich ungehalten. „Meine Zeit will ich nicht mit dir verplempern. Wenn du dich blöd stellst, dann war es das. Ich hatte so eine Vorstellung von amüsantem Geplauder. Auf zähen Dialog, bei dem es nur darum geht, dich von mir zu überzeugen, bin ich nicht scharf. Das ist ein bisschen unter meiner Würde, weisst du?“
„Alles klar“, sage ich, „Du bist es. Ich stell mich nicht mehr stur. Ver­sprochen. Und ich stell dir Fragen. Zum Beispiel die, warum du mit mir sprichst, obwohl ich nicht an dich glaube. Sprichst du nur mit Ungläubi­gen?“
„Ausschliesslich“, sagt er, „ja. Und unter denen am liebsten mit den Künstlern.“
„Und wieso?“
„Die lassen mir ein bisschen mehr Freiheit.“
„Die Künstler?“
„Die Ungläubigen überhaupt. Die haben keine so genaue Vorstel­lung von mir, da ist noch ein bisschen Spielraum zur Entfaltung drin. Und die Künstler haben den Vorteil, mich als Konkurrenz anzusehen, das macht es kurzweiliger. Übrigens, da du davon sprichst, so ungläubig, wie du glaubst, bist du nicht. Die Art, wie du mich angezogen hast, spricht Bände. Dieser Anorak hier: ich bitte dich. Die weissen Haare. Dieser Turnlehrerstil. Du hast sehr wohl eine feste Vorstellung von mir.“
„Soll das heissen, dass du immer so aussiehst, wie sich jemand dich vorstellt? Dass du eine Art Chamäleon bist? Dass die Menschen dich phan­tasieren, und du die Gestalt ihrer Bilder annimmst?“ 
„Brav. Er hat‘s kapiert. Schön, dass du wieder klar bist. Mach einen Test.“
Das ist keine schlechte Idee. Ich muss ihn mir nur vorstellen und prü­fen, ob er sich entsprechend verwandelt. Aber nein, Mist, das geht ja nicht. Er kann doch Gedankenlesen. Das bewiese also gar nichts.
„Bist du immer noch am Beweisen? Ich dachte, das hätten wir hinter uns.“
„Entschuldige“, sage ich betreten.
Er legt seine Hand auf meinen Arm und sagt: „Schau mich an, wenn jemand vorbeikommt. Vielleicht hast du Glück und es ist ein Japaner. Achtung. Da kommen welche. Sogar schön hintereinander, die Versuch­sanordnung stimmt also. Konzentrier dich, dann hast du was zu lachen.“
Bis die drei Spaziergänger nah genug herangekommen sind, frage ich ihn noch, ob er hier wohne, er sagt „Nur zur Zeit, bin auf Kur“, und da passiert uns schon der Erste, ein älterer Herr mit sensiblem Gesicht, einer Baskenmütze und langem, weissem Haar. Ich beobachte meinen Neben­mann genau, und tatsächlich verwandelt er sich blitzschnell in eine rötli­che Wolke voller undefinierbarer Gestalten, ich glaube Tiere zu sehen, ei­nen Baum, eine Art Vulkanausbruch und eine Menge Gewusel, dessen Konturen ich nicht zu erfassen vermag. 
„Pech“, sagt er und hat wieder seine normale Gestalt. „Das war ein Waldorflehrer. Achtung, der Nächste. Pass auf.“
Der Zweite, auch ein älterer Herr, im Pullover und mit einer Akten­tasche unterm Arm, geht mit schnellem Schritt an uns vorbei. Wieder ver­wandelt sich mein Turnlehrer, und sein Anblick wechselt schnell und ab­gehackt wie unter Stroboskoplicht zwischen einem Dreieck mit Auge und dem klassischen, bärtigen, nikolausähnlichen alten Mann. „Na siehst du?“ sagt er und lächelt mich an. „Au, jetzt bin ich selber gespannt. Eine Mutter mit Kind.“
Die Frau geht vorbei. Sie ist jung, trägt ihr Baby in einem Tuch über der Schulter und lächelt mir flüchtig zu. Ich habe keine Zeit, zurückzulä­cheln, oder mich zu wundern, dass sie nur mich und nicht den alten Herrn neben mir beachtet, weil ich seine Verwandlung nicht verpassen will. Es ist unglaublich: Er ist zwei Gestalten gleichzeitig. Die eine sieht ein bisschen aus wie George Clooney oder Cary Grant, aber ich kann mich nicht darauf konzentrieren, denn die andere ist eine riesige weibliche Brust. Ein phä­nomenaler, in seiner Monstrosität befremdlich skurriler Anblick. Ich bin sprachlos.
Er sitzt wieder vor mir in seinem Anorak und lacht von Ohr zu Ohr. „Das war gelungen, auf sowas hab ich gehofft“, sagt er, „das lässt uns den fehlenden Japaner verschmerzen.“
Wir schweigen eine Weile, denn mein Kopf ist jetzt tatsächlich so leer, wie ich ihn noch vor wenigen Minuten gern gehabt hätte. Er wartet geduldig, bis ich wieder soweit gefasst bin, dass ich eine vernünftige Frage stellen kann: „Heisst das, also, begreif ich das richtig, dass die Menschen dich erschaffen? Ihre Vorstellung von dir ist alles, was es gibt?“
„Na, der Gedanke wird dir doch nicht neu sein. Ja, um dir richtig zu antworten, das heisst es.“
„Sehen sie dich?“
„Nur die Künstler. Normale Menschen haben ihre Phantasien nicht als Wirklichkeit vor Augen.“
„Wenn jetzt einer vorbeikäme, der das Geld anbetet, würdest du dann als Tresortür oder Bündel von Scheinen hier liegen?“
„Theoretisch ja“, sagt er, „aber praktisch kommt das nicht vor. Kein Mensch stellt sich mich als Geld vor. Das ist eine Metapher. Hat nichts mit der Realität zu tun.“
„Und bei einem Atheisten?“
„Nichts. Absolut nichts. Da verschwinde ich einfach. Kommt aller­dings sehr selten vor. Echte Atheisten sind sehr, sehr dünn gesät.“
„Halt“, sage ich nach kurzem Nachdenken, „da stimmt doch was nicht. Vorher hast du behauptet, du habest die Menschen so gebaut, dass einer den andern ausbeutet, und jetzt soll ich dir glauben, dass die Men­schen dich erschaffen, entsprechend ihrer Wünsche und Phantasie. Da stimmt doch die Reihenfolge nicht!“ Ich bin stolz auf meine glasklare Lo­gik.
„Du meinst“, sagt er, „wenn ich die Menschen erschaffen habe, dann können sie nicht mich erschaffen haben?“
„Ja“, sage ich. „Genau.“
„Denk noch mal drüber nach. Ich kann sie doch so erschaffen haben, dass sie mich phantasieren, und sie können mich so phantasieren, dass ich sie erschaffen habe. Mit deiner Logik kommst du nicht so weit, wie du glaubst.“
„Hm“, sage ich. 
„Ich muss los.“ Er erhebt sich von der Bank. „War nett mit dir zu plaudern. Hast du noch eine Frage?“
„Ja, halt.“ Ich bin erschrocken, denn da das Eis nun mal gebrochen ist, könnte ich ewig so weiterfragen. „Moment, eine Frage noch: Gibt es dich?“
„Frag dich selber, ich bin deine Idee.“
Er geht, ich bleibe sitzen und rufe ihm nach: „Wenn du meine Idee bist, was ist dann mit dieser Begegnung hier? Ich treff dich, obwohl ich nicht mal an dich glaube. Das kann doch nicht meine Idee sein!“
„Doch“, ruft er fröhlich, „Selbstverständlich. Du musst mal dein Ver­hältnis zu Ideen überprüfen.“
Auf einen Schlag ist er verschwunden. Die späte Blondine im Pelz­mantel, die eben an ihm vorbeiging, das heisst, nur auf ihn zu, muss also ei­ne echte Atheistin sein. Ich hätte Lust, sie darauf anzusprechen, aber mein Bedarf an Gesprächen ist gedeckt.

Thommie Bayer «Das Glück meiner Mutter», Piper, 2021, 224 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-05726-4

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück», «Das innere Ausland» und zuletzt «Das Glück meiner Mutter».

Rezensionen von «Das innere Ausland«, «Seltene Affären» und «Das Glück meiner Mutter» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Peter von Felbert

Zaher Al Jamous «Die Liebe im Militärrat»

Heute vor genau dreissig Jahren und während ich in einer Lektion der Arabischen Sprache den Aufbau eines Satzes an der Wandtafel grammatikalisch erklärte, stürzte plötzlich der Lehrer des Fachs Militärisches ins Klassenzimmer. Er rief schreiend meinen Namen: „Al-Jamous, folge mir sofort, damit wir herausfinden können, wer der Täter ist und wer das Opfer!“ Hätte er den Boden unter meinen Füssen nicht schreiend zum Beben gebracht, hätte ich gedacht, er wäre gekommen, um anstatt meiner Selbst den Satz grammatikalisch auseinanderzunehmen. Doch er zeigte mit dem Finger verächtlich auf mich: ich müsste sofort das Klassenzimmer verlassen. Die Lehrerin für Arabische Sprache unternahm nichts dagegen, ja, sie traute sich nicht mal, nach dem Grund zu fragen. Als ich sie fragend anschaute, wurde mir klar, dass sie von mir nichts anderes erwartete, als den militärisch schreienden Lehrer zu begleiten. Sie sprach kein Wort, ihre strengen Augen jedoch rieten mir, seinen Befehl widerstandslos zu befolgen. Was ich auch auf der Stelle tat.

Ich erinnere mich gut daran, wie er mir befohlen hat, ihm zu folgen und als er die Türe hinter sich zugeschlagen hatte, stiess er mich mit seiner Hand, mit der Absicht, mich zu erniedrigen. Seine verachtenden Worte schlugen wie Blitz und Donner auf meinen Kopf und auf meine Ohren herab. Meine Tränen brachen hervor wie ein Platzregen. „Warum erniedrigen Sie mich so?“, fragte ich ihn weinend. Mein kindliches Auffassungsvermögen konnte seine wütende Antwort kaum erfassen: „Wie kannst du eine solche Frechheit haben, sowas zu fragen?!“ Seiner Auffassung nach hatte ich nicht das Recht, ihn zu fragen, denn was ich „getan“ hatte, war in seinen Augen selbstverständlich ein Verbrechen und darum dürfte ich keine Fragen stellen. Ein weiteres Mal stiess er mich, und zwar auf der Treppe vom zweiten in den ersten Stock. Ich hatte das Glück, das Geländer im letzten Moment beidhändig gefasst zu haben, bevor ich fallen konnte. Für einen Moment konnte ich stehen bleiben. Dann zog er mich an meinen militärischen Kleidern in Richtung des Büros des Schuldirektors. Unglücklicherweise war der meiner Meinung nach offenherzige Direktor nicht anwesend. Ahmad – so hiess der Militärlehrer – öffnete die Türe und stiess mich ein weiteres Mal, so dass ich vorausfiel – direkt vor den Militärrat.

Der Rat bestand aus drei Mitgliedern: Ahmad selbst, der für das Fach Militärisches zuständig war und dessen Name sowie dessen Aussehen ich mein Leben lang nicht mehr vergessen werde; Samira, die Schulsekretärin, die für unsere Schülerdokumentation zuständig war; und Ahmad, der Mathelehrer. Der Letztere verbrachte gerade seine Pause damit, mir zuzusehen, wie ich fast hingerichtet werden sollte. Ich hob meinen Kopf und fragte: „Was soll das alles?“ Ich fragte aber nicht danach, was ich denn getan hätte – ich hatte mir ja nichts zuschulden kommen lassen. „Warum all diese Gewalt?“, fragte ich erneut.

«Wie erlaubst du dir da sowas zu fragen?» antwortete Samira, während sie den Fuss nervös rauf und runter bewegte. In ihrer Hand hielt sie einen Olivenzweig, mit dem sie immer mal wieder Kinder zu schlagen pflegte, die sich nicht rechtzeitig im Schulhof zum militärischen Gruss an Al-Asad einfanden. Die ganze Schule musste dort jeden Morgen mit voller und einiger Stimme „Asad Qa‘iduna ila al-Abad“ – „Asad ist unser Führer bis in alle Ewigkeit“, rufen. Unsere Kinderstimmen waren ständig von den Worten „Asad“ und „Abad“ beherrscht und unser Bewegungsapparat war ebenfalls ständig beherrscht vom militärischen Armhervorstrecken in Richtung des mannigfaltigen Konterfeis des Führers, der in der Schule allgegenwärtig war. Eigentlich sahen wir nicht viel anders aus als die Hitlerjugend. Mit jenem Olivenzweig hatten meine beiden Hände sehr viel Erfahrung, denn Asad war für mich kein einziger Tag lang mein Führer.

„Mit welcher Frechheit wagst du es, uns anzuschauen und zu fragen? Gewalt? Von welcher Gewalt sprichst du!?“ Das ist nur ein kleiner Teil dessen, was du verdienst. Dein Vater und deine Brüder werden dich heute noch auspeitschen, schlagen und einsperren und sie werden eilends diese Schande wieder wettmachen, indem sie dich verheiraten. Du bist sehr frech“, fügte die Lehrerin noch hinzu und sie labte sich daran, wie sie meine Seele ohrfeigte.

„Schande? Von welcher Schande sprechen Sie, Frau Lehrerin?“, fragte ich sie. Ahmad, der Vorsteher des Militärrates, schrie: „Bist du in die Schule gekommen, um hier zu lieben und unmoralische Beziehungen einzugehen!? Du bist so unverschämt!“ Als ich gerade etwas sagen wollte und meinen Mund öffnete, begann anstelle der anderen der Mathematiklehrer, mich zu piesacken und mich niederzumachen. Sie wiederholten: „Wir werden es deinem Vater und deinen sechs Brüdern sagen; der jüngste und der älteste Bruder werden sich dabei abwechseln, dich zu schlagen.“ Also schrie ich ihnen zu: „Macht schnell und ruft sie an, damit mein Leiden bald ein Ende findet!“

Ein Satz durchbohrt mein Gedächtnis

Die Lehrerin sagte: “Natürlich werde ich anrufen, damit ich die Möglichkeit bekomme, zu sehen, wie deine Nase in den Dreck gedrückt wird und nichts wird deine Sünde wegwaschen ausser der Geruch von Blut.” Ich werde ihr Gesicht nie vergessen, als sie diesen Satz sagte, diesen Satz, der sich mir ins Gedächtnis brannte. Sie sagte dies, währendem sie ihre Zähne zusammenbiss wie eine Hyäne.

Samira die Hyäne fauchte ins Telefon und wies meinen Vater an, er solle sofort in die Schule kommen, ohne ihm zu sagen, warum es ging, aber das es sehr eilig wäre. Diese halbe Stunde, die mein Vater brauchte, um zur Schule zu gelangen, kam mir vor wie ein ganzes Jahr. Ahmad der Lehrer schwieg während dieses Jahres keinesfalls, und seine Worte waren schrecklicher als je zuvor. Seine Worte waren wie Steine, die von allen Seiten auf mich hereinprasselten. Schliesslich kam mein Vater zum Militärrat und ich war dort, die kleine Soldatin, die an der Guillotine kniete. Mein Vater eilte zu mir, hob mich hoch, drückte mich an seine Brust, küsste mich auf den Kopf und fragte die anderen wütend: „Warum kniet meine Tochter auf dem Boden!? Ich will sofort eine Antwort!“

Da sagte ihm Samira: “Wenn Sie wüssten, was sie gemacht hat, dann würden Sie sie ohrfeigen, anstatt sie zu drücken und zu küssen.”

„Warum kniet meine Tochter auf dem Boden!?“, schrie mein Vater in ihr Gesicht.

Die Lehrerin beeilte sich, meinem Vater ihr Gift ins Gesicht zu speien und sagte: “Wir fingen einen Liebesbrief ab, der für Ihre Tochter bestimmt war.“ Mein Vater sah mich an und küsste mich noch einmal auf den Kopf. Dies überraschte die Schlange und sie sagte: „Aber ich sagte Ihnen: Wir haben einen Liebesbrief gefunden!“, und sie schaute zum Lehrer des Militärischen, sodass er sprechen sollte. Dieser zog seine Uniform zurecht, holte tief Luft, zog einen Brief aus seiner Hosentasche und sagte: „Als ich der neunten Klasse gerade beibrachte, wie man die Kalaschnikow auseinandernimmt und wieder zusammensetzt, sah ich einen Schüler, wie er einer Mitschülerin diesen Brief zusteckte. Ich riss den Brief aus ihrer Hand, las ihn und es wurde unmissverständlich klar, dass dies ein Liebesbrief war, der an ihre Tochter gerichtet war. Ein Liebesbrief in diesem Alter bedeutet, dass sie in Zukunft unzüchtige Taten begehen wird. So brachte ich Ihre Tochter hierher, da es unsere aller Pflicht ist, Sie davon zu unterrichten, damit Sie diese Schande tilgen.“

Mein Vater nahm einen tiefen Atemzug und schrie in sein Gesicht: „Sie sind derjenige, der die Schande wiedergutmachen muss, Sie Idiot!“

„Ich!? Es ist nicht meine Tochter, die lebendig begraben werden müsste!“, sagte Ahmad der Lehrer.

„Sie sind derjenige, der jemanden lebendig begraben sollte, und zwar sich selbst, Sie Idiot! Geben Sie ihr sofort den Brief!“, befahl mein Vater und zeigte auf mich. „Lies laut vor!“

Ich nahm den Brief entgegen und öffnete ihn und er verströmte sogleich einen zauberhaften Duft. Dies war der erste Brief, den ich von einem Militär anstelle eines Postmanns erhielt. Ahmad der Militärlehrer warf mir Blicke zu wie Kugeln aus Blei und Ahmad der Mathematiklehrer zählte meine letzten Atemzüge und berechnete, wie viele Minuten mir bleiben würden, bis ich diesen Militärrat für immer verlassen und sterben müsste. Ich sah Samira an, die meine Kindheit vergiftet hatte, und begann damit, den ersten Satz zu lesen.

Zaher, mein Schatz حبيبتي زهر

Mein Schatz, ich möchte so gerne dein Herz gewinnen. Seit ich dich zum ersten Mal sah, schlägt mein Herz im Rhythmus deines Namens. Was für ein Glück es ist, deinen Namen aussprechen zu dürfen. Dein Name allein bedeutet Glück. Wie gross doch mein Glück ist. Jeden Morgen versuche ich, dir ‚Guten Morgen‘ zu wünschen, wenn du wie eine Wolke an mir vorbeiziehst. Aber ich stottere, und in meinem Herzen regnet es Traurigkeit. Erneut versuche ich jeweils am Ende des Tages dir bis zur Tür deines Hauses zu folgen, um dir ‚Tschüss‘ zu sagen, aber ich stottere erneut. Jede Nacht versuche ich, mutig zu sein, denn deine Liebe sehnt sich nach einem mutigen jungen Mann. In meinen Träumen habe ich ein Treffen mit dir und flüstere dir Worte der Liebe in dein Ohr. Ich frage mich, wie oft ich dir noch morgens sagen werde, dass ich dich liebe, und wie oft ich dir noch sagen werde, dass ich dich abends vermisse. Ich werde zu dir segeln, währendem sich um mich herum Haie tummeln. Ich weiss, dass der Sturm gegen mein Schiff branden wird, aber ich werde das Ruder auf Kurs halten. Ein Tagtraum sagt mir, dass du als Meerjungfrau am Strand auf mich warten wirst. Ich werde als Prinz anlanden und eine Perlenkrone tragen. Mein Schatz, eile nicht, sodass du deine süsse Stimme nicht an eine der Seeschlangen verlierst. Ich wählte deine Liebe, denn deine Liebe funkelt so schön zwischen den Korallen und den Austern. Nimm meine Hand und tauche mit mir hinab – ich schenke meine Seele dem Wächter des Strandes.

Ich liebe dich, mein Mädchen.


Zahir زاهر

Es herrschte eine Todesstille im Exekutionssaal, jeder sah ins finstere Gesicht des Anderen. Da brach mein Vater die Stille und bat den Militärlehrer, den Zahir zu holen, und zwar ohne ihm weh zu tun, so wie er es mit mir gemacht hatte.

Zahir wurde hereingebracht, zitternd, mit gerötetem Gesicht und schwitzend. Wir wussten nicht, ob Ahmad der Lehrer Zahir beleidigt hatte, bevor er ihn ins Zimmer brachte. Aber er war offensichtlich verängstigt.

Mein Vater fragte ihn: “Hast du diesen Brief geschrieben?” Zahir antwortete nicht, denn er war sich nicht sicher, was da auf ihn zukommen würde. Mein Vater klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Du hast im Brief geschrieben: ‚..deine Liebe benötigt einen mutigen jungen Mann‘ – also, warum jetzt plötzlich so schüchtern?“ Zahir ergriff die Hand meines Vaters, küsste sie und sagte: „Bitte verzeihen Sie mir, ich habe einen Fehler begangen.“

Mein Vater legte den Brief in Zahir’s Hand und sagte noch einmal: “Lies ihn laut vor.” Während Zahir zitternd vorlas, wuchs in den Gesichtern der Mitglieder des Militärrates die Verblüffung. Zahir beendete seinen Brief und der Moment war gekommen, da alle eine Ohrfeige verpasst bekommen sollten. Die erste Ohrfeige kam, als mein Vater sagte: „Entschuldige dich nicht, denn du hast keinen Fehler begangen. Ich bin sehr stolz auf dich. Das nächste Mal, wenn du einen solch schönen Brief an meine Tochter senden möchtest, komm damit zu mir und ich werde ihn unter ihr Kissen legen. Oder gib ihn einem ihrer Brüder. Und stottere morgens nicht.“

„Und ihr, schämt ihr euch etwa nicht!?“, und er richtete das Wort direkt an den Militärlehrer. „Haben Sie etwa nicht eines Tages gelernt, dass man keine Briefe lesen darf, wenn sie nicht Ihren Namen oder etwa Ihre Adresse tragen!? Dieser Brief ist an meine Tochter adressiert und Sie haben nicht das Recht dazu, auch nur einen Buchstaben davon zu lesen! Und Sie“ – und er richtete sich an Samira – „Sie wurden wohl von mir enttäuscht, nicht wahr? Und Sie, Lehrer Ahmad, Sie werden sich beim Zählen definitiv verrechnen – Sie werden niemals herausfinden, wie viele Briefe zu meiner Tochter gelangen werden. Was für eine Schande!“


Der Wächter der Liebe

Ich hatte Zahir bis dahin nie kennengelernt. Es war das erste Zusammentreffen mit ihm, damals im Militärrat, aber es war nicht das Letzte. Während eines ganzen Jahres wartete er jeden Morgen darauf, dass ich aus dem Haus kommen würde, um an meiner Seite gehen zu können. Seit jenem Tag stotterte er nicht mehr, vielmehr wurde er Experte im Zurufen eines Hallos. Er wurde zum Wächter der Liebe, die in seinem Herzen wohnte. Er hat mir seitdem nie mehr geschrieben, sein erster Brief war auch sein Letzter. Ich sagte Zahir, dass ich ihn nicht lieben würde, dass ich zu jung wäre für die Liebe. Es war aber nicht deswegen, dass Zahir keine Briefe mehr schrieb, sondern weil seine Briefe von nun an von seinen Lippen kamen. Es verging kein Tag, an dem Zahir mir nicht seine Liebe bekundete, und jedes Mal kam es mir vor, dass seine Liebe grösser wurde, aber so wuchs auch meine Furcht.

Jahre vergingen und wir wurden älter, und Zahir wartete jeden Morgen am gleichen Ort auf mich.

Und so flogen die Jahre dahin, und ich merkte jeden Morgen mehr, dass eine Militäruniform für mich total unpassend war. Ich brüllte wie ein Büffel in der Herde und fand mich eines Tages verstossen wieder, wie ich da alleine brüllte.


Schweizer Regen und ein Arabischer Kuss, der nach Kardamom schmeckt

Hier, in der Schweiz, im Angesicht der Berge und am Fluss stehend, warf ich den Umhang der Politik ab und warf mir meinen eigenen Mantel über. Dieser Mantel ist leicht und durchsichtig, er sitzt mir gut und behindert meine Bewegungen nicht. Ich kann damit gleichzeitig tanzen und rennen, und der Mantel kann zwei Flügel ausfahren, mit denen ich fliegen kann, hoch hinaus fliegen. Der Mantel faltet sich auch zusammen, damit ich gut landen kann. Wie schön er doch ist! Er ist bestickt mit den Buchstaben des Alphabets. Nun muss ich nicht mehr beweisen, wer das Subjekt ist und wer das Objekt. Ich selbst wähle bloss die Buchstaben aus und vereine sie, ganz ohne einen grammatikalischen Vertrag und ohne eine politische Erlaubnis. Ich lasse die Vermählung der Wörter mit meinem Gesang hochleben. Wie schön ist es doch nun, mein Brüllen!

Er lächelte und sagte zu mir: “Wie sehr ich doch das Wort ‘Al Khwar – das Brüllen’ mag.” Ich antwortete ihm: „Es ist ein weiblicher Büffel, der schreibt, und nicht ein weiblicher Mensch.“ Er küsste mich, währendem ich Kaffee schlürfte und so kam es, dass der Kuss nach Kardamom schmeckte. Es war nicht ein Kuss wie alle anderen Küsse, und ich war ein weiblicher Büffel, also ungleich anderen Menschen.

„Wird die Geschichte so enden?“, frage mich mein Schatz.

„Nein, mein Lieber, Liebesgeschichten enden nicht, sie sind nur ein Anfang.“

Fortsetzung folgt.

Zaher Al Jamous

14/02/2021



Anmerkung für Leser:innen:

Mein Familienname ist “Al-Jamous”, was auf Arabisch „der Büffel“ bedeutet. Deswegen soll in diesem Text das Wort als „der Büffel“ übersetzt und verstanden werden.
Bevor die Schülerinnen und Schüler in Syrien in ihre Klassenräume gehen, müssen sie morgens vor der Syrischen Flagge salutieren und den Präsidenten Baschar al-Asad hochleben lassen. Früher war es sein Vater, Hafez Al-Asad. Wir haben auch militärische Schulfächer, wo wir die Grundätze des Militärischen lernen wie etwa das Marschieren, sowie auch, wie man eine Waffe auseinander nimmt und wieder zusammensetzt. Auch lernen wir das Benützen der Waffe. Der militärische Unterricht beginnt im siebten Schuljahr, also in der Sekundarschule, und die Schülerinnen und Schüler müssen auch eine militärische Uniform tragen. Sodass wir alle zusammen Soldaten Asads werden sollten – so nannte man uns auch in der Schule.
Der Lehrer des Militärfaches hatte eine irreguläre Autorität über alle anderen. Das bedeutet, dass er in den Herzen der Schülerinnen und Schüler Angst säte, und dies nicht nur durch strenge Anordnungen, die nichts mit Erziehung oder Schule zu tun hatten, sondern auch durch die Militäruniformen. Dies alles ist politische Symbolik, die zum Ziel hat, die Leute dem Diktat des Regimes von Al-Asad und seiner Entourage zu unterwerfen. Es sollte hier auch erwähnt werden, dass diejenigen Schülerinnen und Schüler, die später am Institut für Sport und Militärisches studierten, und die später Lehrerinnen und Lehrer für Militärisches wurden, meist diejenigen waren, die in der Sekundarschule schrecklich abschnitten.

Zaher Al Jamous wurde 1978 in Syrien geboren. Sie studierte englische Literatur an der Universität Damaskus. Sie ist Journalistin, arbeitete für das syrische Fernsehen und unterrichtete Englisch an syrischen Schulen. Al Jamous flüchtete mit ihren drei Kindern in die Schweiz, um in Bern eine zweite Heimat zu finden.

Der Web Magazin www.lucify.ch wurde von hochausgebildeten Frauen mit Migrationshintergrund gegründet, die sich ihren Platz in den Schweizer Medien seit 3 Jahren erfolgreich erkämpft haben und einnehmen. Neben ihrem journalistischen Engagement haben Zaher Al Jamous (Syrien), Maya Taneva(Nordmazedonien), Anna Butan(Russland), und Faten Al Soud (Irak) ihren Beruf als Schriftstellerinnen weiterverfolgt und so wurde ein Teil des Lucify Kollektivs in eine Gesellschaft der Schriftstellerinnen umgewandelt. Die Lucify Schriftstellerinnen sind an Zuwachs interessiert und kreieren ein wichtiges Netzwerk der Schriftstellerinnen mit Migrationshintergrund in der Schweiz.