Marius Schmidt «Der leichte Mensch», Plattform Gegenzauber

Frage 1:

Um ihren persönlichen Hintergrund besser berücksichtigen zu können, stellen wir ihnen zuerst einige Fragen zu ihrem Elternhaus. Uns liegt als erstes Dokument eine irritierende Photographie ihrer jungen Person zusammen mit ihrer Mutter vor. Sie ist jedoch nicht zu erkennen. Wie ist es hierzu gekommen?

Frage 2:

Berichten sie, unter welchen Bedingungen diese Aufnahme entstand. Wie beurteilen sie die Rolle ihrer Eltern in dieser Situation?

Eine solche Photographie entstand tatsächlich im Oktober des Jahres 1895. Ich war damals nicht ganz ein Jahr alt – was auch der Grund ist, weshalb mir die Details hierzu nicht aus erster Hand bekannt sind. Ich erinnere lediglich, auf dem Schoß meiner Mutter gesessen und in ein erschreckend schwarzes Loch geblickt zu haben. Die Entstehungsgeschichte dieser Aufnahme zählte jedoch zum steten Repertoire meiner Mutter, wenn es gefragt war, Anekdoten über meine früheste Kindheit zum Besten zu geben. Aus diesem Grund kann ich wohl einige Fakten beisteuern. Meines Wissens hängt das nämliche Foto noch heute im Treppenhaus meiner Eltern in ihrer Villa in Ehrenfeld.

Der Photograph trug den Namen Jakob Fürchtegott Lempke und er war, soweit mir berichtet wurde, aufgrund seiner tadellosen Arbeit recht angesehen in Köln. Deshalb wurde ihm auch die Ehre zuteil, mich als jüngstes Mitglied der Familie Orlovski porträtieren zu dürfen.

Gemäß den Berichten meiner Mutter hatte Lempke am Tag der Aufnahme einen Assistenten namens Wilhelm bei sich. Seine Aufgabe bestand darin, die schweren Einzelteile der Kameraausrüstung aus der Kutsche hinauf in unseren Salon zu schaffen. Eine äußerst unangenehme Pflicht, wenn man Größe und Gewicht der damals gebräuchlichen Kameras bedenkt. Als er mehrere Einzelteile zugleich die Treppe zu unserem Haus hinauf und durchs Eingangsportal schleppte, entglitt ihm ein großes, eisenbeschlagenes Dreibein aus Walnussholz und hinterließ beim Aufprall auf den Dielenboden eine recht tiefe Macke, an die ich mich auch aus meiner noch folgenden Kindheit sehr gut erinnere, da meine Mutter darin wiederholt mit ihrem Absatz hängen blieb und sich beinahe den Knöchel brach. Einmal musste sie sogar einen Verband tragen, das erinnere ich.

Im Versuch, den Sturz des Dreibeins aufzuhalten, ließ Wilhelm eine Kiste mit Porträtobjektiven fallen, die er auf der rechten Schulter balanciert hatte. Zahlreiche Linsen sprangen in Folge des Aufpralls aus ihren Fassungen und rollten über den Boden davon. Die Hälfte seiner Ausrüstung solcherart ramponiert vor sich, war Lempke gezwungen umzudenken. Er verwarf kurzerhand die geplanten klassischen Porträtaufnahmen des Kleinkindes, das ich war. Stattdessen schlug er ein breites Panorama vor, welches meine Mutter als blütenweiße, stille Felsenwand, vor der sich wiederholenden Landschaft unserer, aus Paris importierten Mustertapete zeigen sollte. In der Mitte ich, gelöst wie ein Bergsteiger im Moment einer kurzen Rast, den Ausblick betrachtend.

Die Decke, in die meine Mutter eingeschlagen wurde, hatte uns der damalige deutsche Kaiser Wilhelm II. anlässlich des vergangenen Weihnachtsfestes überbringen lassen. Als bedeutende Ausstatter des Deutschen Heeres waren meine Eltern schon damals Persönlichkeiten der Gesellschaft. Die Kaisertreue meiner Eltern war mir wohl vererbt worden, denn ich schlief umgehend ein im, mit royalen Falten überzogenen, Schoß meiner Mutter. Sie wissen wahrscheinlich, wie man meinen Vater nannte? – Den Schraubenfürst von Köln.

Frage 3:

Ihre Eltern spielen in dieser Darstellung nur eine Nebenrolle. Gibt es andere Menschen, die in jungen Jahren eine Bezugsperson darstellten?

Ich hatte damals einen Onkel, er hieß Albert. Wir waren oft bei ihm zu Gast – besonders im Sommer. Denn er hatte einen sehr schönen Garten, nicht ganz eine Stunde von unserem Haus entfernt, am Rhein. Dort habe ich sehr glückliche Stunden mit seinem Hund Zeus verbringen dürfen, einem ausgesprochen treuen und genügsamen Golden Retriever. Ich würde noch heute behaupten, dass er mein liebster Freund zu dieser Zeit war und bis heute geblieben ist.

Die größte Freude kam auf, wenn uns erlaubt wurde zu zweit und fernab der Erwachsenen am Flussufer zu spielen. Dann postierten wir meine große Sammlung französischer Zinnsoldaten entlang des kurzen Strandes und schmuggelten anschließend in der Rolle preußischer Kuriere kleine Leckereien wie Himbeeren oder Kekse an den feindlichen Linien vorbei an Land.

Solcherart erfolgreich im Transportieren von Kleingut sah ich uns beide einen eigenen Kurierdienst eröffnen. Ich habe meinen Eltern einige Male den Wunsch unterbreitet, nach der Schulzeit Lieferjunge werden zu dürfen. Jedes Mal verpasste mir mein Vater daraufhin eine schallende Ohrfeige. Es erübrigt sich zu erwähnen, dass ich irgendwann von meinen beruflichen Zielen absah. Darüber hinaus muss ich gestehen, recht unkonkrete – um nicht sagen zu müssen: gar keine Vorstellungen meiner Zukunft gehabt zu haben. Lediglich ein ganz natürlich wirkendes Gefühl, dass mein eigenes Leben rein gar nichts mit den Erfahrungen, Errungenschaften und Erwartungen meiner Eltern zu tun haben sollte. Das hatte ich wohl schon sehr früh.

Frage 4:

In unseren Unterlagen können wir keinen Onkel Albert finden. Wie verhält es sich mit dieser Personalie?

In der Tat war Albert Jankowski kein Onkel im familiären Sinne. Er war ein enger und langjähriger Freund meines Vaters Oskar aus jener Zeit, als er noch nicht als Schraubenfürst gefürchtet war, sondern eben gerade einen kleinen, hochverschuldeten Eisenwarenladen in der Kölner Innenstadt geerbt hatte.

Mein Großvater hatte dieses Geschäft um das Jahr 1863 gegründet und man konnte dort alles Erdenkliche kaufen, was aus Metall gefertigt wurde. Großvater Orlovski verbrachte die letzten zwanzig Jahre seines Lebens in diesem Geschäft. Wenn meine Eltern sich seiner in meiner Gegenwart erinnerten, dann erzählten sie stehts wie er in der Mitte seines Ladens stand – eine schwere, dunkelblaue Lederschürze übergeworfen – und grollte, dass ihm die Deutschen doch endlich bessere Kunden werden sollten. Seine Anklage verhallte jedoch zwischen all den Nägeln, Suppenkellen, Axtköpfen und Rohren. Der Familienbetrieb war in schwerer wirtschaftlicher Bedrängnis, als mein Vater schließlich seine Nachfolge antrat. Die innerstädtische Konkurrenz im Kölner Eisenwareneinzelhandel war zu jener Zeit ausgesprochen stark. Es war ihm zwar möglich uns von den dürftigen Einnahmen zu ernähren, immer öfter jedoch konnte er die Ladenmiete nicht aufbringen. Man kann sich vorstellen, wie verzweifelt er gewesen sein muss. Später erfuhr ich, dass aus dieser Zeit jener Revolver stammte, den er in seiner Schublade aufbewahrte, in ein violettes Tuch eingeschlagen und mit fünf Messingpatronen bestückt. Einige Male holte ich ihn später heraus, um ihn anderen Knaben zu zeigen, die uns besuchten.

Der Zufall wollte es, dass eben jenes Haus, in dem sich der Betrieb unserer Familie seit Jahrzehnten befand, in den Besitz von Albert Jankowski überging. Ihm war dieses Wohnhaus von seinem Schwiegervater im Zuge seiner Eheschließung mit Johanna- Luise Buttermann – einer Kölner Bankierstochter – anvertraut worden. Als Sicherheit für das junge Paar. Albert sah sich damals in einer verzwickten Situation, die so gar nicht zu seinen politischen Überzeugungen passen wollte. Er selbst war seit einiger Zeit beseelt von der Vorstellung internationaler Solidarität und bemerkte zunehmend einen Widerspruch zwischen seiner eigenen Tätigkeit als Angestellter des Bankhauses Buttermann und jenen frischen Ideen, die seinerzeit Kapital und Gesellschaft miteinander zu versöhnen suchten.

Er trug stets einschlägig bekannte und berüchtigte Schriften in seiner Aktentasche mit sich herum und verbarg sie zwischen Butterbrotdose und zahlreichen Papieren vor den Ordnungshütern und seinem Schwiegervater, dem er in dieser Sache nicht allzu viel Vertrauen schenkte.

So akkumulierte Albert im Stillen Vorwürfe und moralische Fragen, für die er zunehmend verzweifelt ein Ventil suchte. Als er von Oskar Orlovskis misslicher Lage erfuhr, fiel all die Grübelei auf einen Schlag von ihm ab und freudig begann er ein Exempel zu statuieren: Kurzerhand erließ er Oskar – zum großen Ärger der Buttermanns – die ausstehenden Mieten und befreite ihn zusätzlich von jeglichen zukünftigen Zahlungsverpflichtungen solange, bis der Betrieb ein ordentliches Auskommen versprechen ließe.

Um mich kurz zu fassen: Die neuen Umstände und die sich ihm bietende Gelegenheit messerscharf erfassend, stürzte sich mein Vater in einen ruinösen Preiskampf mit der Kölner Eisenwarenbranche. Im Zuge dieses, später als „Kölner Schraubenschwemme“ bezeichneten, Feldzugs, war es meinem Vater am Ende des Jahres 1898 gelungen, einen Großteil seiner Konkurrenten im Innenstadtbereich in den Bankrott zu drängen und den örtlichen Handel mit Eisenkleinwaren unter seine ausschließliche und alleinige Kontrolle zu bringen.

Diese Geschichte vom Aufstieg der Familie Orlovski erzählt man sich noch heute, freilich in verschiedenen Variationen – je nachdem, welche der damals beteiligten Parteien man fragt. Wie Sie sich denken können, habe ich aufgrund dieser Vorgänge so manches Mal Prügel bezogen oder Schlimmeres angedroht bekommen, wenn ich als Knabe durch die Stadt marschierte um Besorgungen für meine Eltern zu erledigen oder Freunde zu besuchen.

Ich kann nicht sagen, ob mir am Ende ein erfüllteres oder leichteres Leben vergönnt gewesen wäre, wenn mein Vater nicht zum größten Lieferanten für Bolzen und Nieten Preußens aufgestiegen wäre. Diese Fragen betrachte ich als müßig. Ich bin jedoch überzeugt, dass diese Erfahrungen tiefster Feindschaft bereits in meiner frühesten Kindheit Prägungen in meinem Wesen hinterlassen haben. Auch in späteren Jahren, als ich jeden Grund gehabt hätte einen Stolz auf meine Arbeit zu entwickeln, spürte ich diese Eindrücke als schwersten Ballast, so dass es mir vorkam, als würde mir, immerzu wenn ich mich voller Stolz aufblähen wollte, ein eiserner Ring um die Brust gelegt, der mir nicht nur die Luft nahm, sondern auch meine Schultern, mein Haupt und mein ganzes Sein tiefer und tiefer zog.

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Das Buch «Der leichte Mensch «erzählt die Erlebnisse des jungen deutschen Chemikers Otto vor, während und nach dem ersten Weltkrieg. Er erlebt den Krieg nicht als Soldat an der Front, sondern als Teil einer sich stark verändernden und technisierenden Rüstungsindustrie. An diesen historischen Hintergrund knüpft die Geschichte eine phantastische Idee: Im Zuge seiner Forschungen für die deutsche Luftwaffe entdeckt der junge Mann die Chemikalie „Helitamin“, mit der Menschen fliegen können. Diese Entdeckung scheint Chancen und Möglichkeiten für ihn selbst, aber auch für das kollabierende Kaiserreich bereitzuhalten. Doch der passive und kontaktscheue Chemiker steht seiner Entdeckung eher ratlos gegenüber – im Gegensatz zu seinem agitatorischen, völkisch-nationalen Vorgesetzten Dr. Strohbrück.

All dies erfährt der Leser im Frage-Antwort Rhythmus eines schriftlichen Dialogs. Otto reflektiert sein Verhalten anhand einer Reihe, von einer höheren Instanz gestellter Fragen, die ihn immer wieder zum Rückblick und zur Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit anhalten.
Das Buch ist über die Webseite des Autors zu beziehen.

Marius Schmidt lebt in Berlin, wo er Bildende Kunst studiert hat. Seither schreibt und produziert Marius Schmidt Geschichten, die Bilder und Texte miteinander zu neuen Erzählformaten kombinieren.

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