Anna Butan «Masken»

Die Leute tragen Masken, fast alle von ihnen. Und sie lassen sich in zwei verfeindete Parteien aufteilen: diejenigen, die Masken verehren und diejenigen, die sie ablehnen. Es liegt in der menschlichen Natur zu kämpfen, zu hassen, sich gegen etwas aufzulehnen. Wenn es nicht die Masken wären, dann wäre es etwas anderes, egal was. Diejenigen, die Impfungen befürworten und diejenigen, die sich lebhaft gegen die Vorstellung davon auflehnen. Diejenigen, die das Desinfektionsmittel verehren und diejenigen, die es kritisieren. Diejenigen, die darauf bestehen, dass wir alle zu Hause bleiben sollten und diejenigen, die schreien, dass wir so oft wie möglich draussen an der frischen Luft sein sollten. Diejenigen, die an das Coronavirus glauben und diejenigen, die es nicht tun.

Auch wenn es Covid-19 nicht gäbe, würden die Leute weiterhin in Polaritäten denken. Sie würden sich weiterhin in militante Gruppen aufteilen und einander angreifen, statt sich zu vereinigen und Solidarität zu zeigen, nur um ihre Überlegenheit, ihre Macht zu demonstrieren, um den inneren Egoismus auszuleben. Manchmal scheint es, dass sie sich gegen etwas auflehnen, nur um sich gegen etwas aufzulehnen. Wie viele Jahrhunderte und wie viele Kataklysmen braucht die Menschheit, um zu verstehen, wie sinnlos und absurd das ist? 

Im Hamsterrad des Alltags verfehlen alle das Ziel. Wenn die Münder mit Masken verdeckt sind, dann bleiben nur noch die Augen, der Spiegel der Seele, und diese lügen nicht. Nur die Augen sprechen die Wahrheit. Münder sind nicht vertrauenswürdig. Was, wenn die Masken unsere Strafe dafür sind, dass wir zu viel reden? Eine Maske versperrt den Mund wie ein Maulkorb. Sie verhindert das Heraussprudeln von Worten. Ja, die Masken sind eine Strafe, eine Strafe dafür, dass wir die falschen Worte ins Universum aussenden. Dafür, dass wir unsere Worte nicht abwägen. Dafür, dass wir sie im Affekt unseren Geliebten an den Kopf werfen. Dafür, dass wir sie als Waffen benutzen, als Abfall. Dafür, dass wir zu viele davon verwenden. Zieh die Maske an und behalte deine Worte für dich, vergeude sie nicht. Wäge deine täglichen Worte ab, bevor du sie ins Universum schickst.

Im Alter von neunzig Jahren kennt Nora den Wert der Wörter. Und darum wählt sie die Stille. Ihre Familie fühlt sich unwohl, wenn sie stundenlang in ihrem Zimmer sitzt und kaum ein Wort sagt. Aber wozu? Alles, was hätte gesagt werden können wurde bereits gesagt. Ihre Worte würden daran nichts ändern.

Ihr Sohn Philip ist das genaue Gegenteil. Er mag es zu reden. Reden ist seine Berufung. Er ist Journalist. Er mag es so sehr zu reden, dass er manchmal mit sich selbst spricht. In diesen Momenten wünscht sich Nora einen magischen Schirm zu haben, um ihren Kopf vor dem Schwall an Wörtern, der sich gegen ihren Willen über ihrem Kopf ergiesst, zu schützen. Wie viele Jahre, gefüllt mit bedeutungslosem Geplapper und inhaltslosen Gesprächen sind in den Zeitungen zu finden? Insbesondere jetzt, wenn Corona uns eine derart einzigartige Gelegenheit gibt. Was Nora am meisten aufregt, ist, dass ihr Sohn mittendrin ist. Er arbeitet Tag und Nacht, um Worttürme zu aufzubauen und diese dann den Leuten an den Kopf zu werfen. Wie kann sie ihm widersprechen? Nur indem sie seinen verbalen Durchfall mit Stille bekämpft.

Aber wenn Philip nicht zu Hause ist, ruft ihre Tochter Lea an und beschwert sich über die Arbeit. Lea beginnt die Unterhaltung normalerweise in einem positiven Tonfall, beendet diese aber unausweichlich immer mit Klagen: «Es gibt nicht genügend chirurgische Masken im Spital, die Lieferung, die sie letzte Woche bestellt hatten, war beschädigt und sie mussten sie zurücksenden.» «Jemand stahl letzte Nacht ein Pack Masken. Sie mussten eine teurere Ladung von einem anderen Lieferanten bestellen.» Nora schliesst die Augen und versucht sich einen unendlichen Vorrat an Masken im Universum vorzustellen. Masken, Masken, Masken… Masken in verschiedenen Formen, Grössen und Farben, ein Maskenregen, ein Maskensturm, ein Masken-Hurrikane. Eine grosse Maske bedeckt ihre ganze Stadt wie ein weisser Dom, damit die Leute sich sicher fühlen und sich erneut im Gespräch austauschen können. Bedeutungsvoll. Unverfälscht. Sinnlich.

(aus «Noras kleines Corona-Alphabet»)

Anna Butan, wurde 1982 in Russland geboren. Sie hat Kulturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Literatur an der Universität Bern studiert. Ihr Debütroman «Helen the Man» wurde als E-Buch auf lucify.ch veröffentlicht. In ihren letzten Roman „Noras kleines Corona-Alphabet“ erzählt sie intime Geschichte einer Frau, die an Demenz leidet und versucht, durch die Linse der von Corona beherrschten Gegenwart, einen Sinn für ihr Leben zu finden. 

Der Web Magazin www.lucify.ch wurde von hochausgebildeten Frauen mit Migrationshintergrund gegründet, die sich ihren Platz in den Schweizer Medien seit 3 Jahren erfolgreich erkämpft haben und einnehmen. Neben ihrem journalistischen Engagement haben Zaher Al Jamous (Syrien), Maya Taneva(Nordmazedonien), Anna Butan(Russland), und Faten Al Soud (Irak) ihren Beruf als Schriftstellerinnen weiterverfolgt und so wurde ein Teil des Lucify Kollektivs in eine Gesellschaft der Schriftstellerinnen umgewandelt. Die Lucify Schriftstellerinnen sind an Zuwachs interessiert und kreieren ein wichtiges Netzwerk der Schriftstellerinnen mit Migrationshintergrund in der Schweiz.