Margret Kreidl «Hier schläft das Tier mit Zöpfen», nicht irgendeine Lesung

Margret Kreidl war und ist für zwei Monate Stipendiatin der Kulturstiftung Thurgau im Bodmanhaus in Gottlieben. Nachdem ein übler Stolperer nur einen Monat am Seerhein ermöglichte, wird Margret Kreidl im Sommer 2019 noch einmal einen Monat im Thurgau leben und schreiben. Anlässlich dieses ersten Teils ihres Stipendiats las die Dichterin in einer sonntäglichen Matinee aus ihren letzten beiden Veröffentlichungen.

Leitsätze

Am Anfang steht der Anleger.
Nach einer Bank kommt eine Bank.
An China führt kein Weg vorbei.
Das Defizit ist weiblich.
Zum Erben muss man geboren sein.
Wer nicht arbeitet, hat keine Freizeit.
Geld ist alles, was der Fall ist.
Die unsichtbare Hand führt uns nach Griechenland.
Inflation muss sein.
Jobs gibt es nur in der Mehrzahl.
Man sollte die Kurse nicht vor dem Abend loben.
Leerverkäufe füllen Taschen.
Der Mittelstand ist ein Angstzustand.
Die schwarze Null ist Glod wert.
Der Osterhase legt alle Eier in einen Korb.
Ein Portfolio kann man nicht essen.
Die Quadratur ist die Krise.
Die Rahmenbedingungen müssen stimmen.
Für den Schweinezyklus braucht man keine Schweine.
Tiger stehen auf tönernen Füssen.
Der Umsatz ist die Summe aller Geschäftsideen.
Vorsorge ist Schicksal.
Morgen weht der Wind von morgen.
Ein X ist ein U, die Wahl hast du.
Wer den Yen nicht ehrt, muss mit dem Dollar rechnen.
Die Zukunft verschwindet in Futures.

(aus «Zitate, Zikaden. Zu den Sätzen, Edition Korrespondenzen, Wien, 2017)

Dass Lyrik nichts Verklärendes haben muss, nicht Romantisierendes, dass Lyrik ganz nah an der Aktualität ist, an den Realitäten, dass Lyrik aufreissen und entblössen kann, dass sie sich nicht ziert und nicht scheut, das alles beweist Margret Kreidl. Die Autorin ist eine Sammlerin. Nicht nur Eindrücke und Zitate aus der Presse (Margret Kreidl ist eine sehr aufmerksame Zeitungsleserin!), sondern Wörter an sich, Wendungen, die aus dem Kontext extrahiert erst recht ihre Wirkung zeigen. So werden wie in den «wirtschaftlichen» Leitsätzen oben, im Alphabet geordnet, aus scheinbarer Wirklichkeit Ausgeschnittenes, zur Paradoxie, ein Gedicht zur Breitseite gegen die Allmacht der Wirtschaft.

Die Kulturstiftung Thurgau gewährte der Dichterin, Hörspielautorin, Dramatikerin aus Wien ein zweimonatiges Stipendium im Bodmanhaus in Gottlieben. Zeit, um neue Ideen wachsen zu lassen, zu schreiben und mit Sicherheit auch das eigene Tun aus anderer Perspektive zu sehen. Für meine Moderation ihrer Lesung im Literaturhaus am Seerhein traf ich die Autorin schon ein paar Wochen zuvor in einem Café am Wasser. Zugegeben, ich war aufgeregt, denn eine Lyrik-Moderation schien mir wesentlich anspruchsvoller als eine, bei der man über einen Roman, eine Geschichte, einen Plot sprechen kann. Aber Margret Kreidl nahm vom ersten Augenblick alles Verkrampfte, alles rein Intellektuelle, zeigte, wie sehr ihre Lyrik nicht nur mit ihrem Blick auf die Unmittelbarkeit verknüpft ist, sondern wie sehr sie Biographisches mit den verschiedensten Stimmen aus der Welt verbindet. Margret Kreidl ist eine Verküpferin, eine sprachliche Verkupplerin.

Sätze im Fluss

Gegen Salzverlust bei großer Hitze
nimm Schwedentabletten und bleib
im Schatten sitzen. Wenn es regnet,
schau aus dem Fenster und schreib
ein Haiku über Pfützen. Mach es wie
die Buddhisten: Sei eine Distelblüte
im Frühlingswind. Lern in Freude
schweben, sagt Walther von der
Vogelweide. Ja, Zitate sind nützlich.
Eine Brücke aus Bleistiftstrichen trägt
die glückliche Leserin: Das bin ich.
Ist Margarethe warm und nass,
gibts viel Frucht und grünes Gras.
Die Schafe reisen auf der Wiese ins
Satte. Ein Esel frisst Rosen. Lies nach
bei Apuleius. Der Hundsstern bringt
die Sätze in Fluss. Ich träume von
Oktobereis in Pfützen und einem
Forellenschluss. Da hast du den Salat:
fest und knackig, aber trotzdem zart.

(aus «Zitate, Zikaden. Zu den Sätzen, Edition Korrespondenzen, Wien, 2017)

«Sätze im Fluss» ist ein dialogisches Gedicht «mit» der Dichterin Zsuzsanna Gahse, mit der Margret Kreidl freundschaftlich verbunden ist.
In «Hier schläft das Tier mit Zöpfen», ihrer neusten Publikation, sammelt Margret Kreidl wieder Gedichte, die um verschiedenste Themen kreisen. Jeder Gedichtband der Autorin ist eine Bibliothek von Namen, eine Ausstellung von Wortbildern. Jedem der Gedichte in «Hier schläft das Tier mit Zöpfen» ist am Seitenende eine Fussnote hinzugestellt, am Schluss ein Hinweis darauf, wo und wie die Autorin das Gedicht an die Wirklichkeit heftet. Eine Fussnote wie ein Türöffner, eine Fussnote, die wie ein Titel wirkt, eine Fussnote, die mich als Leser sehr oft zur Recherche zwang und mit jedem Lesen noch tiefer führte.

Hart
trocken
holzig
zerrieben
Reibefrucht
klein genug
hart genug
Gedicht.

 

Denn das Gedicht ist immer, schreibt Jorge Viegas, der haste Kern einer Revolution.

(aus «Hier schläft das Tier mit Zöpfen. Gedichte mit Fussnoten, Neue Lyrik aus Österreich, 2018)

Margret Kreidl, geboren 1964 in Salzburg, von 1983 bis 1996 in Graz, lebt als freie Schriftstellerin in Wien. Prosa und Lyrik: Sprachspiele, Lautpoesie, Genretravestien, Mate­rialtexte. Textinstallationen im öffentlichen Raum. Veröffentlichungen seit 1986. Hörspiele, Theaterstücke, Minidramen. Zuletzt erschienen 2017 bei Edition Korrespondenzen der Band «Zitat, Zikade – Zu den Sätzen» und 2018 in der Reihe Neue Lyrik aus Österreich «Hier schläft das Tier mit Zöpfen. Gedichte mit Fussnoten».

literaturblatt.ch dankt den Verlagen für die Genehmigung, Auszüge aus Margret Kredits Werk zu veröffentlichen. Fotos © Lucas Cejpek

Arja Lobsiger mit STORIES im Theater 111

Die junge CH-Autorin Arja Lobsiger las zusammen mit dem Musikerduo STORIES, mit Christin Berger und Dominic Doppler aus ihrem im Orte-Verlag erschienen Roman «Jonas bleibt». Auch wenn die Konkurrenz in St. Gallen mit einer Lesung von Franz Hohler hart war, fand sich ein feines Publikum für einen bezaubernden Abend im kleinen Theater 111. Ein Abend, der Grenzen sprengte!

Arja Lobsiger, geboren 1985, Schriftstellerin und Lehrerin, veröffentlichte Essays, Gedichte und Kurzgeschichten. Ihr Debüt-Roman „Jonas bleibt“ erhielt viel Beachtung in der Presse. «Ein berührender Roman über drei Menschen auf der Suche nach ihrem Weg aus der vermeintlichen Ausweglosigkeit. Der tragische Unfall eines Jungen verändert die Familie, und das Gefüge droht auseinanderzubrechen. Die Schwester fühlt sich am Tod des Bruders mitschuldig, die Mutter fällt in eine Depression, und der Vater verfängt sich in Wünschen und Vorwürfen. Eines Tages bricht die Mutter auf und sucht ihr Glück auf einer Insel im Mittelmeer. Taugt dieser Ort als Paradies ohne Erinnerungen?»

„Wortklang“, das Zusammenwirken von Literatur (Programm: Gallus Frei, literaturblatt.ch) und Musik (Christian Berger: Saiteninstrumente und Dominic Doppler: Percussion) definiert an sechs Abenden die Begegnung zwischen Wort und Klang, zwischen Literatur und Musik neu. Das Gegensätzliche verschmilzt und lässt Harmonisches in Spannungen um Aussagen ringen. Jeder Abend ein Unikat und einmaliges Erlebnis, das Hörerinnen und Hörer begeistern soll!

«Vielen Dank Gallus für die Einladung zu diesem wunderbaren Wort-Klang-Abend im gemütlichen Theater 111 in St. Gallen! Es war ein einzigartiges, unvergessliches Erlebnis, mit Dominic Doppler und Christian Berger auf der Bühne zu stehen und meine Worte in ihren Klangteppich zu weben. Dieser Teppich gab meinem Text einen neuen Rhythmus, andere Pausen, betonte Passagen und schuf eine Atmosphäre, in welcher die Worte zum Klingen gebracht wurden. Ganz gemäss dem Motto: Wort-Klang Klang-Wort.» Arja Lobsiger

Fotos © Philipp Neff, schliff.ch

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Nächste Veranstaltung:

Freitag, 26. Oktober, 2018, 19.30 Uhr, außer Programm in der Galerie Bleisch, Arbon:
Michelle Steinbeck („Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch“) liest aus Prosa und Poesie.
Michelle Steinbeck, 1990 geboren, ist Redaktorin der Fabrikzeitung (Rote Fabrik, Zürich), Veranstalterin und Mitglied von „Babelsprech, junge deutschsprachige Lyrik“. Sie veröffentlichte Prosa, Lyrik und Szenen in Sammelbänden, Heften, im Rundfunk und auf Theaterbühnen. «Mein Vater war ein Mann an Land und im Wasser ein Walfisch» war ihr erster Roman, mit dem sie 2016 sowohl für den Schweizer wie für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Michelle Steinbeck stellt zusammen mit dem Musikerduo Christian Berger und Dominic Doppler Gedichte und Kurzprosa aus ihrem frisch erschienen Gedichtband «Eingesperrte Vögel singen mehr» (Voland & Quist) vor.

«Ihre Gedichte und Geschichten sind ungezähmt, störrisch und kunstvoll arrangiert. Sie drücken und jucken, schreien mal schrill und flüstern mal leise, sie erzählen Märchen, schöne wie schauderhafte, und sie führen ein stets aufmerksam blickendes Ich sowie jede Menge groteskes Personal auf die Bühne der Literatur.

Matthias Schönweger «Der Augen Blick», alphabeta Verlag

Matthias Schönweger, der seit langem zu den originellsten Figuren der Südtiroler Literaturszene gehört, hob just am 1. August, dem 93. Geburtstag  Ernst Jandls, einem der Väter der experimentellen Lyrik, in Meran seinen neuen, schwergewichtigen Lyrikband aus der Taufe. Dass alles an diesem Abend zu einer Performance wurde, deutete sich schon zu Beginn der Veranstaltung an, einem Abend, der den Grenzen der Sprache gewidmet war.

Mag sein, dass jene, die sich experimenteller Sprache öffnen können, zahlenmässig immer weniger werden. In einer Zeit, in der selbst erzählende Literatur nach ihrer «Wahrhaftigkeit» und Plausibilität gemessen wird, wenn sie nicht überdeutlich in der schwer zu definierenden Welt von Fantasy und Fantasie angesiedelt ist, in der Schrift und Sprache lesbar und unzweideutig gelesen werden will und man alles was «unwahr» erscheint in den Abfalleimer «Fake» kippt, haben es Wortkünstler und Sprachakrobaten wie der Südtiroler Matthias Schönweger schwerer als je zuvor. Auch wenn der neu erschienene Band «Der Augen Blick» mit seinen fast 600 Seiten einen enzyklopädischen Eindruck hinterlässt.

ES
DAUERT

BIS ICH
ENDLICH
BEGREIFE

DASS ICH
ENDLICH
BIN
DAUERT

MICH
SEHR

ZUWEILEN

KAUM

ZU
GLAUBEN

In einem kleinen, mageren Pärklein an der Franz Innenhofer Strasse (benannt nach dem österreichischen Schriftsteller 1944 – 2002) in Meran unmittelbar neben dem mondänen Hotel Palace, das der kleinen, etwas schäbigen «Country-Bar» im Pärklein die kalte Schulter zeigt, standen etwas mehr als zwanzig orange Plastikstühle im Kreis. Hundert Jahre zuvor hätte wohl im Palace daneben die literarische Soiree in feiner Gesellschaft, mit langstieligen Gläsern und auch sonst viel Stil stattgefunden. Heute rutscht Lyrik an Orte wie dieses Pärklein ab, in dem man Subkultur vermutet, süsslichen Rauch und süsser Rausch.

FEUERPAUSEN

LADEN
SCHARFSCHÜTZEN
ZUM
VERWEILEN

 

SCHARSCHÜTZEN
VERWEILEN
ZUM
LADEN

Auf dem niederen Tischen vor dem Autor lagen und standen drei Tiroler Plastikmusikantenfiguren, ein Kerzenständer mit heruntergebranntem Stummel, ein Stoffaffe mit Banane im Mund, ein silberner Fingerring mit übergrossem Edelweiss, eine Fahrradglocke, ein hölzernes Kruzifix mit einem Jesus, dem ein Arm fehlte, eine kleine hölzerne Truhe, die wie ein Buch aussah, zwei Rosenkränze aus Plastik, eine Perlenkette, eine dunkelblaue Kochschürze, eine Schildkappe, ein weisser Pastorenkragen, eine Muh-Box, ein Wäscheholz, eine Spieldose und vieles mehr. Als wolle Matthias Schönweger als Sprachalchemist mit seinem rätselhaften Instrumentarium durch lyrischen Exorzismus die Grenzen von Sprache und Bildern sprengen.

ALFA

 

ROMEO
E
GIULIETTA

 

OMEGA

Jedes Gedicht, jeder Text auf eine Seite gesetzt, immer in Grossbuchstaben, zumeist deutsch, machmal italienisch, selten beide Sprachen ineinander, jedes Gedicht wie eine Tafel, über die ganze Seite gesetzt, aufs Weiss komponiert. Texte, die einschlagen, aufsitzen, aufrütteln, ausschütteln. Ein Buch, das Raum braucht und dem beim Lesen ein Platz gebührt, wo man eben nicht daran vorbeigeht. Matthias Schönweger zauberte aus einer unendlich tief scheinenden Schatzkiste Zettel um Zettel, kleine Briefe aus einer Welt, in der er die Fäden spinnt, mit verschmitztem Blick, tiefem Witz und entlarvender Ernsthaftigkeit.

«Sprachbewusstsein und grafisches Bewusstsein verbinden sich bei ihm zu einem höchst innovativem Werk‚ das die Grenzen der herkömmlichen Literatur weit überschreitet. Vielleicht ist gerade das ein Grund dafür‚ dass er keineswegs das Ansehen genießt‚ das ihm gebührt. Ein anderer Grund ist‚ dass man ihn schwer zitieren kann‚ denn seine Texte leben von seinen Büchern: Papierqualität‚ Farbe‚ Schrift‚ die umgebenden Texte sind untrennbar vom einzelnen Text.»
Sigurd Paul Scheich


Matthias Schönweger
, geb. 17.01.1949, veröffentlichte als erster in Südtirol Proben von konkreter Dichtung und trat mit Aktionslyrik und Happenings in Erscheinung. Studium von geisteswissenschaftlichen Fächern in Verona, Innsbruck und Padua. Dr.phil. 1979. Tätig als Deutschlehrer in einer italienischen Schule in Meran. Weitere Tätigkeiten u. a. als Zeichner und Graphiker. Mitglied der Grazer Autorinnen Versammlung. 1997 Ausstellung (gemeinsam mit Thomas Feuerstein) beim Projekt Die Welt als Tastatur von Ulrike Mair. Lebt als freier Schriftsteller, bildender Künstler und Performer in Meran.

Webseite des Autors

Beitragsfoto © Gallus Frei-Tomic

23. Literaturfestival Leukerbad: ein Rückblick

Solche mit Bikes, andere mit Wanderschuhen und Funktionswäsche, etliche mit Sonnenhüten, riesigen Koffern und dem staunenden Blick in die felsige Kulisse, manchmal in Bademäntel gehüllt und über dieses eine Wochenende im Sommer eine ganze Schar von Leuten mit Stofftüten, die die Therme in Leukerbad betreten, ohne jemals nass zu werden, die von eine Lokalität zur nächsten wandeln oder hetzen, ins Gespräch vertieft oder die Nase tief in einem Buch – Literaturfestival Leukerbad.

Ein solches Festival ist ein Ort der Begegnung. Leserinnen und Leser untereinander; trifft man doch oft die immer Gleichen, Unverbesserlichen, die jedes Jahr verkünden, das nächste Jahr dann einmal ein Pause einzulegen, um den Vorsatz irgendwann zu vergessen, weil Literatur lockt.

Man kommt Schriftstellerinnen und Schriftstellern so nah wie sonst nie. Nicht wie bei einer Lesung, bei der es während des Signierens für ein paar unbeholfene Nettigkeiten reicht. Man begegnet ihnen auf der Strasse, im Café, unterwegs, im Publikum, auf dem Heimweg.

So wie der Lyrikerin und Performerin Nora Gomringer auf dem Weg nach Bern und später nach Klagenfurt zum Bachmann-Wettlesen. Sie sitzt dort in der Jury und hat sich vorgenommen, an jedem Tag ein anderes T-Shirt mit einem Bachmann-Zitat zu tragen, um so wenigstens etwas von der Namensgeberin ins Showlesen hineinzugeben.

Oder Sasha Maria Salzmann, die mit ihrem Erstling «Ausser sich» in Leukerbad las und diskutierte und mit ihrer Moderatorin Jennifer Khakshouri jenes Haus suchte, in dem James Baldwin vor einem halben Jahrhundert in der Abgeschiedenheit Leukerbads sein Romandebüt vollendete.

Oder den Künstler, Buchgestalter, Illustrator und Herausgeber Christian Thanhäuser, der einem in ein Gespräch verwickelt, von seinen Freundschaften zu Autoren erzählt, der Zusammenarbeit und dem Entstehen eines Buchprojekts, wie man mit Jaroslav Rudis Bier trinken kann, was ebenso wichtig für ein gemeinsames Buch- oder Kunstprojekt sein kann, wie schürfende Gespräche.

Oder den schüchtern wirkenden Péter Nádas, der 1942 in Budapest geborene grosse Chronist, der in Leukerbad aus seinen Memoiren «Aufleuchtende Details» liest und mit jedem Bild aus seinem umfassenden Werk nachempfinden lässt, was es heisst, untrennbar mit der Geschichte eines Landes, eines Volkes, seiner Familie verbunden zu sein. (Auf dem Beitragsfoto zu Beginn des Textes sitzt Péter Nádas zwischen der Moderatorin Ilma Rakusa (rechts, Schriftstellerin, Übersetzerin und Publizistin) und seiner Übersetzerin Christina Viragh (Schriftstellerin)).

Vier Bücher, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Vier Perlen, die in Leukerbad aufleuchteten und denen ich wünsche, dass die viele Leserinnen und Leser finden.

Beitragsfoto: Fotocredit Literaturfestival Leukerbad, Ali Ghandtschi

23. Literaturfestival Leukerbad: Gipfelstürmerinnen

Esther Kinsky, Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen, Lyrikerin und Erzählerin, vielfach ausgezeichnet, mit ihrem neusten Roman «Hain» 2018 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, ist mit ihren Büchern eine literarische Offenbarung. Sasha Maria Salzmann, geboren 1985 in Wolgograd und seit 1995 als jüdischer «Kontingentsflüchtling» in Deutschland lebend, mit ihrem Debütroman «Ausser sich» eine Entdeckung.

An einem Literaturfestival will man sich überraschen lassen. Dass man das auch von einer bekannten Autorin kann, beweist Esther Kinsky, deren Roman mich aus unerklärlichen Gründen abschreckte. Vielleicht, weil niemand kritisiert, vielleicht wegen der Beschreibung «Geländeroman». So wie mich Geländeautos abschrecken, mich schlicht nicht interessieren, vermochte es «Hain» von Esther Kinsky nicht. Welch ein Irrtum!

«Hain» erzählt aus der Sicht einer Icherzählerin von drei Reisen nach Italien, Begegnungen mit ihrem Vater und dessen Geschichte. Drei Reisen in ein Italien, das die Autorin kennt, weil es sie bei Stipendienaufenthalten an Orte in Italien verschlug, von denen sie mehr an die Rückseiten italienischer Sehenswürdigkeiten, Landschaften sah. Ein «Geländeroman»? Gelände ist Textur, Oberfläche, mit der man in Berührung kommt. «Landschaft» als Begriff bleibt viel distanzierter. Und «Hain» greift an und unter die Oberfläche, lässt sich sprachlich auf eine Gegend ein, das Licht dieser Gegend erkennend, immer neues Sehen erlernend.

In einer Phase der Trauer lernt die Protagonistin dieses neue Sehen. In einer Sprache, die mich umschmeichelt. Sprache, die sich einem Ort annähert, ihm in einer Intensität nahekommt, die nur sein kann, wenn man nicht einfach reist oder sich aufhält. Sprache, die mich in Trance versetzen kann. Durch Sprache, durchs Schreiben bilden sich Erinnerungsschichten. Esther Kinsky skizziert und malt in sprachlichen Bildern, in bestechender Feinarbeit, sie ist Teil ihrer selbst.

Esther Kinsky wurde 1956 in Engelskirchen geboren und lebt in Berlin. Für ihr umfangreiches Werk, das Übersetzungen aus dem Polnische, Russischen und Englischen ebenso umfasst wie Lyrik, Essays und Erzählprosa, wurde sie vielfach ausgezeichnet.

Sasha Maria Salzmanns Roman «Ausser sich» ist ein Zitat James Baldwins vorangestellt, aus seinem Roman «Eine Strasse und kein Name». Und James schrieb im Winter 1951 an seine Essay «Der Fremde im Dorf» in einem verschlafenen Nest im Kanton Wallis in der Schweiz, in Leukerbad. James Baldwin, so etwas wie einer der Paten für Sasha Maria Salzmanns Debütroman. Die Geschichte der Zwillinge Alissa und Anton, die Geschichte von Ali, der einst Alissa war, auf der Suche nach seiner Vergangenheit. Eine Familiensaga über vier Generationen, Geschichten ineinander verwoben, so wie man sich Geschichten erzählt, niemals geordnet, chronologisch. Vier Generationen jüdischer Geschichte an verschiedensten Schauplätzen, erzählt von einer jungen Autorin, die zu bannen versteht, die ihr Handwerk aus dem Theater mitbrachte, bei der man spürt, dass sie als Dramaturgin weiss, wie Dialoge funktionieren, die mit Witz und durchaus jüdischer Erzählweise gespickt mit unendlich vielen Kleinstgeschichten Grosses werden lässt, die weiss, wie Generationen aufeinanderprallen, Erinnerungen, die in der Zeit, in den Generationen stets neu überschrieben werden.

«Schreiben ist Kontrollverlust.»

Ein Roman, der keine Helden zeigt, von Menschen erzählt, die von Gewalt gefangen sind. Ein politisches Buch, das weder erklärt noch manifestiert, das Antisemitismus schildert, ohne jemals zu moralisieren, von postsowjetischer Geschichte ohne zu urteilen. Literatur, die von Frische strotzt!

© Heike Steinweg

Sasha Marianna Salzmann studierte Literatur/Theater/Medien an der Universität Hildesheim sowie Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste. Sie ist Theaterautorin, Essayistin und Dramaturgin und war Mitbegründerin des Kultur- und Gesellschaftsmagazins freitext. Seit der Spielzeit 2013/2014 ist sie Hausautorin am Maxim Gorki Theater Berlin und war dort bis 2015 Künstlerische Leiterin des Studio Я. Ihre Theaterstücke werden international aufgeführt und sind mehrfach ausgezeichnet.

Webseite von Sasha Maria Salzmann

«Wo die Musik spielt», ein Rückblick von Yaël Inokai

«Mein Roman wird aus drei verschiedenen Perspektiven erzählt. Stimmen. Jede hat ihren eigenen Klang, ihre eigene Melodie. Nora, Adam und Yann werden von der Gegenwart in die Vergangenheit geworfen, hin und zurück. Jeder Absatz hat sein eigenes Tempo. „Mahlstrom“ ist ein Geflecht; die größte Herausforderung war es stets, die Stimmen miteinander zu verweben, so, dass es stimmt. Ich saß oft abends alleine vor dem Text und habe ihn laut gelesen. Nur wenn er stimmte, jedes Wort und jedes Satzzeichen, klang er auch.
Ob das Schreiben von Texten dem Schreiben von Musikstücken gleicht, kann ich nur vermuten. Musik schreibe ich nicht. Ich glaube aber, dass beides Komponieren ist. Vielleicht ist Musik nicht unbedingt Wort. Aber Wörter sind ganz bestimmt Musik.

Am 9. Juni traf ich im Theater 111 ein, ein ehemaliges Kino, ein Kleinod mit roten Sesseln, in das man sich sofort verliebt. Man hat Erinnerungen an diesen Ort, obwohl man noch nie da war, denkt an die vielen Hände, die sich im Dunkel gegenseitig gesucht und gehalten haben müssen.
Christian Berger, Dominic Doppler und ich bespielten an diesem Abend den Saal. Wir machten Musik: Sie auf ihren Instrumenten, ich aus meinem Roman.

Wie fühlt es sich an, nicht in die Stille hinein zu lesen? Erst ist es erstaunlich. Und dann, ganz schnell, hat man sich an den Klang der anderen gewöhnt. Man geht in seinem Text spazieren. Manchmal spüre ich intuitiv, dass ich loslassen könnte, schweigen, nur für einen Moment – aber ich traue mich nicht. Warum? Ist man es sich gewohnt, an seinem Buch zu kleben, auch wenn man die Erzählstimmen eigentlich schon auswendig kann? Hat man Angst davor, ohne nichts auf dieser Bühne zu stehen? Einmal wage ich es, und schließe die Augen. Und als wäre ich ein Kind, verschwindet tatsächlich für einen Moment die ganze Welt.

Das Buch wurde nicht vorgestellt. Mit keinem Wort gesagt, um was es geht. Anfangs vergaß ich sogar, meinen Passagen ihren jeweiligen Erzähler voranzusetzen. Ich grübelte nicht einen Moment, ob man versteht, was ich hier lese. Ich konnte diesem Text blind vertrauen. Christian und Dominic boten Begleitschutz.

Ein Wehmutstropfen bleibt: Es ist vorbei. Aber vielleicht, so hoffe ich, kann ich dereinst wieder per Mittagsflug in Zürich eintreffen, mich mit dem Zug nach St. Gallen bringen lassen, den Bus besteigen, der mich hoch zu den Weihern fährt, wo ich mich rücklings und ohne nachzudenken ins Wasser fallen lasse. Von dort aus werde ich erst den Blick zum Bodensee bestaunen, dann die klassische Badiverpflegung begehen – Pommes Frites, Cola und Eis – und gut genährt da hin aufbrechen, wo die Zeit stehen bleibt, wo man sagen kann: Ich hab zwei Stunden hier gesessen oder ein ganzes Filmuniversum durchschritten, ich hab einen Abend hier verbracht oder ein komplettes Romanleben: ins Theater 111.» Yaël Inokai

Yaël Inokai, (vormals Pieren) geboren 1989, arbeitete als Fremdenführerin. Sie veröffentlichte in verschiedenen Literaturzeitschriften und war Hildesheimer Stadtschreiberin. Nach ihrem viel beachteten Debüt „Storchenbiss“ (2012) legte sie 2017 mit „Mahlstrom“ ihren zweiten Roman vor. Barbara, die sich mit zweiundzwanzig im Fluss ertränkt. Ihr Tod, der im ganzen Dorf die Telefone schellen lässt, bringt die anderen zum Reden. Mahlstrom erzählt die Geschichte sechs junger Menschen, die in einer dicht verwobenen Dorfgemeinschaft herangewachsen sind. Zugleich geschützt und bedroht von den engen Banden, sind sie im Erwachsenenleben angekommen und stecken doch noch knietief in ihrer Kindheit. Erst Barbaras Selbstmord bringt den Stein ins Rollen und zwingt die Übriggebliebenen, sich mehr als zehn Jahre nach dem Verbrechen dem Geschehenen zu stellen.

Infos zu den folgenden Lesungen im Theater 111

„Ein Maximum an Bedeutung, aber ein Minimum an Form“

Zwei Höhepunkte an den 40. Literaturtagen in Solothurn waren aus meiner Sicht die 81jährige Anna Felder, die den Schweizer Grand Prix Literatur 2018 erhielt und die noch ganz junge Judith Keller, die mit ihrer ersten Geschichtensammlung «Die Fragwürdigen» längst nicht nur mein Herz rührt und meine Seele erquickt.

Anna Felder, die Tessinerin, die in Aarau lebt, hat nicht nur immer noch ein helles, offenes Gesicht. Sie besitzt ein helles, offenes Bewusstsein, ist eine stille und äusserst feinfühlige Beobachterin, die die Kostbarkeiten des Moments in literarische Bilder zu fassen vermag. Kleinsttragödien, die immer ein Spiegel von Grossem sind, Schöpferin von Texten, die allein durch den Klang der Assoziation eine Richtung geben können. Geschichten, die in Fragmenten aus der Stille steigen, die durchaus das Potenzial zu vielen hundert Seiten hätten. Anna Felder spürt der Kraft der Möglichkeiten nach, spielt mit der Imagination, nimmt sich dem Kleinen, Zarten an.
Wichtiger als Handlung ist ihr die Situation, alles, was aus der Vergangenheit in den einen Moment hineinwirkt. Ihre Geschichten im schmalen Band „Circolare“ sind Momentaufnahmen, langsam gewachsen, auch im Schreiben. Sie schreibt zuhause zu Beginn stets von Hand mit dem Blick in den Garten des Nachbarn. Ihr Papierkorb steht neben dem Stuhl, nicht nur um Sätze wegzuwerfen, sondern auch um nach ihnen zu suchen, wenn das Weggeworfene doch das Richtige war. Worte sind Schlüssel zu unendlich vielen Geschichten, einer Fülle an Leben. Momente, die mit Leben aufgeladen sind. Sie schreibt Geschichten, um Fragen ihres Lebens zu beantworten, im Wissen darum, dass stets neue Fragen entstehen, Fragen nie wirklich beantwortet sind.
Und ganz besonders erwähnenswert ist, dass die Geschichten in „Circolare“ äusserst sorgfältig übersetzt sind, nicht von ihrem Klang, ihrer Melodie einbüssen durch die Übersetzungen von Ruth Gantert, Maja Pflug, Barbara Sauser und Clà Riatsch. So sehr sich Anna Felder für die Kehrseiten der Menschen interessiert, so sehr bemüht sich Anna Felder um die Feinheiten des sprachlichen Ausdrucks. Grosse Literatur einer ganz bescheidenen, aber grossen Dichterin.

In der Kürze und Prägnanz mit einander verwandt und doch weit weg von Anna Felder sind die Geschichten der jungen Judith Keller. Einer Frau, die auf der Bühne ihre Geschichten aus einem rot gefütterten Hut fischt, zieht die aus einem Zauberhut, wägt ab, „wirft“ sie den Zuschauern zu, tief in den dunkeln Raum, einzelne Sätze wie Aufforderungen an das Publikum. Geschichten, die ins Lachen branden, ein Lachen, das bleibt, noch lange nachhallt. Judith Keller scheint in einem unendlichen Reservoir an Geschichten wühlen zu können. Ganz im Gegensatz zu Anna Felder sind es aber nicht unbedingt Beobachtungen an den Menschen, sondern an der Sprache, an Redewendungen, die ihr entgegenspringen, zum Beispiel bei der Lektüre der Zeitung, abstrakte Bezeichnungen, unbeabsichtigte Metaphern, schräge Momente in absoluter Normalität. Geschichten, die feststellen und im Moment ihrer Feststellung kippen. Judith Keller nimmt den Blick von aussen, auch jenen von Tieren, sei es auch nur eine Taube. Der Humor ihres Erzählers liegt nicht in der Pointe, sondern im Grad der Wiedererkennung des Lesers, der Zuhörerin.
Judith Keller ist eine Zauberin. Sie zaubert Geschichten her, so leicht, als wäre es keine Anstrengung, sie zu schreiben, ihnen nachzugehen, als wären sie immer zufällig da, bei ihr, wo sich die Geschichten materialisieren. Die Geschichten passieren sie. Sie, die im schwarzen Kleid mit weissen Tupfen, den roten, samtigen Schuhen und den roten mit einem schwarzen Band über dem Kopf zusammengebundenen Haaren auf der Bühne zaubert. Judith Keller, eine Gschichtenmagierin – bezaubernd!

Die Solothurner Literaturtage waren auch in ihrer 40. Ausgabe ein strahlendes Ereignis. Organisiert von Beseelten, die es schafften, jenen Geist des Aufbruchs in die Gegenwart hinüberzuführen. Die Solothurner Literaturtage sind weit mehr als eine Leistungsschau. Für drei Tage wird die kleine Stadt an der Aare zu einer grossen Stadt der lebendigen Literatur.

«Ich bin masslos enttäuscht» – eine Einschätzung

Bei der Lesung der Grande Dame der Holländischen Literatur Margret de Moor sassen eine Mutter mit ihrer Tochter in der Reihe vor mir, beide mit Brillen im Haar, die Junge mit schulterfreier, weisser Bluse. «Ich bin masslos enttäuscht. Ich habe geschrieben und angerufen. Aber alle hatten sie eine Ausrede. Ich bin enttäuscht von meiner Generation.»

Ich konnte mich ihrer lautstarken Entrüstung nicht entziehen. Die Lesung würde gleich beginnen. Sie, die junge Frau vor mir, wetterte weiter in Richtung ihrer Mutter. «Hast du gesehen, wer hier ist und wer hier fehlt? Meine Generation. Jene, die dauernd hausieren, was sie alles gelesen haben. Ich bin enttäuscht.» Nicht viel hätte gefehlt, und ich hätte mich eingemischt, hätte der Enttäuschung der jungen Frau beigepflichtet. Nicht um sie zu beschwichtigen, sondern um Öl ins Feuer zu giessen.

Die junge Frau hat recht. Auch wenn die Organisatorinnen und Organisatoren der 40. Solothurner Literaturtage nicht einmal in den Windeln waren, als das Festival vor 40 Jahren ins Leben gerufen wurde, sind die Besucher und Besucherinnen durchschnittlich deutlich im Rentenalter; durchaus frisch und jung geblieben, beweglich und offen. Aber ganz offensichtlich die aussterbende Generation derer, die sich von der Literatur aus der Komfortzone locken lassen. Keine Generation las so viel wie die junge heute. Aber es scheint nicht zu reichen für die Geheimnisse der Literatur.

Dabei sind sie da, die Stimmen, die Aktualität mit Literatur verbinden. Auch in den frischen Stimmen der Schweizer Literatur. Zwei Beispiele:

Alice Grünfelder, einst Buchhändlerin, dann Studium der Sinologie und Germanistik in Berlin und China, arbeitete lange beim Unionsverlag Zürich als Herausgebende der «Türkischen Bibliothek». Ihre Leidenschaft ist Asien. Eine Leidenschaft, die sie einen ersten Roman schreiben liess – «Die Wüstengängerin».
Anfang der 90er Jahre reist die Studentin Roxana  entlang der Seidenstrasse, um unbekannte buddhistische Höhlenmalereien zu erforschen als Beweis dafür, dass die Region dort nicht «immer» islamisch war. Zwanzig Jahr später reist Linda wegen eines Entwicklungsprojekts ebenfalls nach Xinjiang und stösst dabei auf die Spuren Roxanas.
So sehr das Schicksal der Uiguren aus dem Bewusstsein des Westens gefallen ist, so leidenschaftlich verpackt die Autorin die letzten zwanzig Jahre Geschichte eines Volkes, das vergessen von der Weltöffentlichkeit um seine Rechte kämpft. Das Gebiet der Uiguren war über Jahrhunderte immer wieder Durchgangsland, sowohl wirtschaftlich wie militärisch. Die chinesischen Repressalien heute und in den vergangenen Jahrzehnten sind strategisch. Die Gegend muss «ruhig» bleiben, um all die geopolitischen Absichten Chinas durchzusetzen.
Alice Grünfelders Auftritt im schmucken Stadttheater Solothurns hat Eindruck gemacht. Nicht nur weil das orange Vorsatzpapier ihres Romans, das textile Buchzeichen, ihr pelziger Fingerring und die orange Hose mit chinesisch anmutenden Stickereien Ton in Ton zueinander passten. Eine Wüstengängerin erzählt von «der Wüstengängerin», eine leidenschaftliche Frau von einer leidenschaftlichen Frau. Ein Roman, der eine politische Dimension beinhaltet, ohne zu belehren, der nicht nur dokumentieren will, ebenso unterhalten. Ein Roman, der fasziniert und mehrfach erstaunt.

Auch bei der 1979 geborenen Regula Portillo ist das Stadttheater proppenvoll. Ob Heimspiel, weil sie im Kanton Solothurn aufwuchs oder angelockt vom Mut einer jungen Frau, die ein Stück Geschichte Lateinamerikas aus der Sicht von Schweizern erzählt, bleibe dahingestellt.
Eine Parallelerzählung von Eltern und Töchtern, von einem zehnmonatigen Aufenthalt eines Ehepaars in Nicaragua während der Revolution, den Kämpfen zwischen Sandinisten und von den USA unterstützten Contras. Und den Töchtern, die nach dem Tod der Eltern das Haus räumen und erst da entdecken, dass die Eltern in ihrer verschwiegenen Vergangenheit ganz andere Leben führten. Sie entdecken die Hinterlassenschaft zweier Brigadisten aus der Schweiz, eines Paars, das in einer ganz anderen Welt an den Umständen von Revolution und Zerrissenheit zu zerbrechen drohte.
Viva Nicaragua! Viva la Revolución! Eine Mission voller Enthusiasmus, die an der Wirklichkeit zu scheitern drohte. Eine zehnmonatige Reise der Eltern in den 90ern in ein Land, in dem Umsturz, Revolution und neue Ideen das erreichen sollten, was in vieler Hinsicht nicht einmal im Heimatland zu erreichen war.
«Warum verschwand Jahrzehnte später das, was zuvor eine ganze Generation beschäftigte?», war eine der Motivationen der jungen Autorin Regula Portillo. 800 Schweizerinnen und Schweizer zogen damals nach Nicaragua, in der Absicht, sich an historischen Prozessen zu beteiligen. Eine Revolution, die in Lateinamerika stattfand, aber in den Herzen eingeschlossen in viele Länder zurückgetragen wurde, eingehüllt von Enttäuschung und Kränkung.
Nicht einfach ein Roman über die Revolution in Nicaragua! Wie weit dürfen wir uns in die Geschicke eines «fremden» Landes einmischen? Was nehmen Eltern mit dem Sterben mit ins Grab? Wo bleiben all die Geschichten, die unwiderruflich dem Vergessen drohen? Auch ein Roman über die Rolle der Frau, über ein Paar, das sich aussetzt, das Scheitern, über den Tod.

Ich bin nicht enttäuscht. Aber im Grunde genauso ratlos wie die junge Frau im Landhaussaal in der Reihe vor mir. Während Solothurn unter der Vorsommersonne voll mit jungen Menschen ist, die am Ufer der Aare ihre Seele baumeln lassen, bleiben die «Alten» unter sich. Und wenn die Solothurner Literaturtage dereinst auch das Pensionsalter erreichen sollten, bleibt die Frage existenziell, wie die jungen Generationen von Literatur erfolgreich infiziert werden sollen.

Titelbild: Alice Grünfelder und Moderatorin Bernadette Conrad

Judith Keller „Die Fragwürdigen“, Der gesunde Menschenversand

In ihrer ersten Buchveröffentlichung zeigt die junge Schweizerin ein ganz besonderes Geschick, die Perspektive des Sehens zu verändern. Wenn man den Geschichten der jungen Judith Keller eines nicht vorwerfen kann, dann ist es Geschwätzigkeit. Judith Kellers Geschichten sind Konzentrate, Sprachkunstwerke, die gleichermassen überraschen wie bezaubern. Eine literarische Entdeckung!

Zusammen mit den Autorinnen und Autoren Franz Hohler, Judith Keller, Thomas Flahaut, Alexandre Hmine und Jessica Zuan eröffneten die 40. Literaturtage in Solothurn ihr Jubiläumswochenende. Das literarische Schwergewicht Franz Hohler zusammen mit vier jungen Schreibenden aus den vier Sprachregionen der Schweiz.

Judith Keller nimmt das Wort beim Wort, nimmt es wörtlich. So wie sich andere der Metapher verschreiben, spürt sie dem Wort nach. Eine Handvoll ihrer Geschichten beginnt mit «Eine weit hergeholte Frau…». Meist tragen die Menschen in ihren Kurz- und Kürzestgeschichten Namen, ganz gewöhnliche, vielleicht etwas altmodische, im Kontrast zu ihrer Erzählweise, oder ausgefallene wie Nepomuk. Judith Keller wirft einen Blick in fremdes Leben, gibt dem Leben einen Namen oder lässt es bleiben, wenn der Moment mehr zählt als die Person, um die sich die Sätze schlaufen. Kurze Geschichten, in die man einsteigt und ganz unverhofft wieder aussteigen muss. Geschichten die auftun und nichts klären. Aber mit aller Deutlichkeit bewusst machen, dass selbst der schnelle Blick, diese eine Schlaufe um ein Leben, alles andere als einfach und einfältig ist. Es spiegelt sich Leben mehrfach in einem einzigen Satz. Es fächert sich auf. Manchmal nur als sprachlicher Schnappschuss, ein ander Mal als Bildfolge, aus Zusammenhängen sprachlich extrahiert, um sie mit dem Leben von Leserinnen und Lesern in neue Konstellationen zu bringen.

Keine Papiere
Esperance ist vor ein paar Jahren in einem Boot übers Meer geflohen. Sie ist nicht ertrunken. Aber jetzt lebt sie untergetaucht.

Judith Keller gibt dem Normalen intensive Farben, dem Farbigen Klarheit, auch wenn nicht die Deutung im Zentrum steht, sondern die Ahnung dem Genuss genügt. Sie schreibt kühn und so gar nicht in der Tradition der «Geschichtenerzähler» mit Mahnfinger und moralischer Motivation. Vielleicht bilden Franz Hohler und Judith Keller bei der Eröffnungsfeier der 40. Literaturtage in Solothurn mit Absicht ein «Erzählerpaar» der Gegensätze. Nicht nur, was ihr Alter betrifft. Der schon zu Lebzeiten zur Erzählerlegende gewordene Franz Hohler und die junge Judith Keller, die sich nur schwer in eine Schublade einordnen lässt.

Scheu
Amalia kennt den Vorwurf, sie sei arbeitsscheu. Es liegt ihr aber daran festzuhalten, dass die Arbeit ebenfalls scheu sei. Die Arbeit komme entweder gar nicht oder nur zögerlich auf sie zu, um dann gleich wieder zu verschwinden.

Mag sei, dass auch Judith Kellers Geschichten zuweilen einen moralischen Hintergrund besitzen. Aber diesen bette ich als Leser selbst unter den Text. Judith Keller setzt nichts vor, mahnt nicht, spiegelt nicht einmal mit Metaphern. Ihre Sprachkunst liegt in der Reduktion auf die Worte selbst, den Satz, der bezaubert, die Melodie, die mich betört. Judith Keller gibt dem Wort zurück, was Fakenews entwenden.

Judith Keller schreibt ganz in der Tradition Grosser, nicht zuletzt Mani Matters. Eindeutig, zweideutig, vieldeutig. So wie der grosse Berner Troubadour erzählt Judith Keller eindeutig und weckt vieles. Ich staune. Ich blicke mit den Geschichten Judith Kellers durch ein Kaleidoskop der Sprache, werde von Vieldeutigkeit überrascht und mit Sprachkunst überzeugt.
Franz Hohler und Judith Keller sind so etwas wie die Exponenten einer Kunst, die an den beiden ihre Vielfalt zeigt, wie viel sie miteinander verbindet und wie weit sie sich voneinander unterscheiden, wie viel sie verbergen und offenbaren, wie sehr sie schmeicheln und sich zieren.

Krieg
Er erklärt ihnen den Krieg. Sie verstehen ihn nicht. Er erklärt innen den Krieg. Sie verstehen ihn nicht. Er versucht es noch einmal. Sie verstehen ihn nicht. Weil er den Krieg nicht erklären kann, muss er zurück in den Krieg. Es gilt, keine Zeit zu verlieren. Im Flugzeug ist gerade noch ein Platz frei.

Unbedingt lesen und entdecken!

Ein kleines Interview mit Judith Keller:

Sie erzählen Geschichten in einer ganz eigenen Art und Weise. Es sind nicht einfach Erinnerungen, Episoden, „Geschichten, die das Leben schrieb“. Viele Ihrer Geschichten lesen sich wie „Negative“ (Fotografie), die den Blick auf eine Situation verändern, mein Auge, meine Wahrnehmung verunsichern. Wie werden Ihre Geschichten zu so kraftvollen Miniaturen?
Ich glaube, ich versuche, da aufzuhören, wo etwas anderes, vielleicht ein Denkvorgang, beginnt.

Sie nehmen das Wort beim Wort. Es liegt viel mehr Gewicht auf der Bedeutung eines einzelnen Wortes als auf dem Transport eines Geschehens. Sind sie eine Wörtersammlerin?
Ja, ich notiere mir oft Redewendungen, die ich höre oder in der Zeitung lese und über die ich nachdenken muss.

Der Umstand, das „Die Fragwürdigen“ beim Verlag „Der gesunde Menschenversand“ herauskommt, erscheint fast logisch. Da treffen sich zwei! Kein anderer Verlag hätte besser zu Ihren Texten gepasst. Ihre erste Erzählung „Was ist das letzte Haus“ erschien als E-Book beim überaus renommierten Verlag Matthes & Seitz Berlin. Öffnen sich die Türen so leicht?
Nein, ich habe viele Absagen bekommen für die kurzen Texte bei anderen Verlagen. Ich hatte sie auch schon vor ein paar Jahren dem gesunden Menschenversand geschickt, aber damals gab es einfach keinen Platz für neue Autorinnen und Autoren. Ich bin darum auch sehr froh, dass es jetzt geklappt hat, gerade bei diesem Verlag.

Ihre Geschichten liessen mich zuweilen stolpern, öffneten sich oft erst beim zweiten Lesen. Sie schreiben alles andere als Nabelschauen, scheinen stets für ein Publikum zu schreiben. Ihre Geschichten brauchen das Gegenüber. Testen Sie die Wirkung Ihrer Texte?
Ja, ich lasse sie oft ein paar Tage oder Wochen liegen und lese sie dann noch einmal wie eine fremde Leserin. Da spüre ich dann, ob es funktioniert oder nicht. Und dann gebe ich sie natürlich auch anderen zu lesen. Aber es kann schon auch vorkommen, dass ich nicht mehr weiss, ob es nur bei mir oder auch bei anderen funktioniert.

Dass Sie an der Seite von Franz Hohler, einem der Grossen der CH-Literatur die 40. Solothurner Literaturtage eröffnen, ist von der Festivalleitung her mit Sicherheit ein klares Signal, nicht nur für die Mehrsprachigkeit unseres Landes, die Vielfalt, sondern für die Qualität ihres Schreibens – und für mich keine Überraschung. Trifft sich dort auf der Bühne Tradition und Aufbruch?
Da kann ich leider zu wenig darüber sagen, weil ich die Texte der anderen nicht kenne. Ich glaube aber, dass sie genau so etwas wollen.

1985 in Lachen, am Zürichsee geboren, lebt Judith Keller in Zürich. Sie hat Literarisches Schreiben in Leipzig und Biel sowie Deutsch als Fremdsprache in Berlin und Bogotá studiert. Nach Veröffentlichungen in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien erschien 2015 ihre Erzählung «Wo ist das letzte Haus?» bei Matthes & Seitz als E-Book und wurde mit dem «New German Fiction» Preis ausgezeichnet.

(Ich danke dem Verlag «Der gesunde Menschenversand» für die Erlaubnis, aus Judith Kellers Buch «Die Fragwürdigen» drei Geschichten einfügen zu dürfen.)

Titelfoto: Sandra Kottonau

Den „Welttag des Buches“ mit Peter Bichsel

Wahrscheinlich wurde noch nie so viel gelesen wie heute. Züge sind voll mit Zeitungen, Menschen unentwegt in digitale Lektüre vertieft und wer eine der Grossbuchhandlungen besucht, mag denken: „Wer soll das alles lesen?“ So unbeirrt Kleinverlage mutig veröffentlichen, so gross das Angebot von Veranstaltungen rund um das Buch, so sehr Schriftstellerei noch immer ein Traumberuf in den Köpfen von Kindern, so unaufhaltsam das Verschwinden des Buches.

Noch gibt es sie, die Dinosaurier des Geschriebenen. Auch wenn Peter Bichsel kaum mehr von Hand schreibt, ist sein Medium das Buch, das gedruckte Buch, das Buch, das Geschichten auf Papier gedruckt erzählt. Ein Mann, der die Langweile liebt, sich einen Pessimisten heisst, weil alles Unheil von Optimisten herrühre. Ein Mann, den man gern den Beobachter nennt, der aber einer sein will, der schaut, der sich mit dem Gegenüber einlässt, der sich nicht drängen lässt, schon gar nicht von einer fremden Absicht.

Der Dichter, der Schöpfer von Büchern mit wunderschönen Titeln wie „Ein Tisch ist ein Tisch“, „Das süsse Gift der Buchstaben“ oder „Über das Wetter reden“ las aus Anlass des diesjährigen Welttag des Buches in der Buchhandlung Gutenberg im St. Gallischen Gossau.

Und als hätte er darauf gewartet, liest Peter Bichsel seine Kolumne „Der Beste und der Schlechteste“ aus seinem Buch „Doktor Schleyers isabellenfarbige Winterschule“. Ob wir den Unsinn im Radio gehört hätten und er beginnt zu lesen : Die Frage, welches mein Lieblingsbuch sei, finde ich beleidigend. Ich bin ein Leser. Ich lese gern. Ich lese viel. Mein Lieblingsbuch ist jenes, das ich jetzt lese. Mein Lieblingswein ist der, den ich jetzt trinke. Ja, es gibt besseren als den, den ich jetzt trinke. Aber warum soll jetzt ausgerechnet jener Wein, den ich jetzt nicht habe, mein Lieblingswein sein.“

Peter Bichsel raucht seine Zigarette unter dem kleinen Vordach der Buchhandlung bis zum Filter. Dann drückt er sie in einem kleinen portablen Aschenbecher aus und steckt diesen zurück in seine schwarze, lederne Weste, die er stets zu tragen scheint. Ich frage ihn, woher er seine eigenwillige Signatur habe. „Zum ersten Mal zeichnete ich sie bei einer Lesung in St. Gallen, vor vielen, vielen Jahren, als die „Kindergeschichten“ als Taschenbuch erschienen. Damals wollten dermassen viele von mir eine Widmung und ich als Legastheniker hatte meine Mühe bei all den THs und CKs. Seither ist es eine Blume und dazu mein Name. Als ich in Zürich einmal fragte, welches die beste Buchhandlung sei, antwortete man mir; die Fehr’sche in St. Gallen, jene legendäre, in der alles las, was Rang und Namen hatte.“

Peter Bichsel ist ein Ereignis, seine Lesungen sind es genauso, seine Bücher sowieso. Der Gutenberg Buchhandlung in Gossau herzlichen Dank für das kostbare Geschenk am Welttag des Buches 2018!