Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrem Mann Michael Köhlmeier in Vorarlberg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, dem Solothurner Literaturpreis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet. Mit ihrem Roman „Schau mich an, wenn ich mit dir rede“ (2017) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Für „Die Bagage“ (Roman, 2020) erhielt sie den Schubart-Literaturpreis 2021 der Stadt Aalen. Zuletzt erschienen von ihr bei Hanser die Romane „Vati“ (2021), mit dem sie erneut für den Deutschen Buchpreis nominiert war, und „Löwenherz“ (2022).
„Die Jungfrau“ – Der neue Roman von Monika Helfer Zwei Jugendfreundinnen – die eine reich, die andere arm. Nach einem halben Jahrhundert begegnen sie sich wieder. Gloria und Moni sind beste Jugendfreundinnen – die eine reich, die andere arm. Ein halbes Jahrhundert später begegnen sich die beiden Frauen wieder und Gloria beichtet ihr Lebensgeheimnis: Nie hat sie mit jemandem geschlafen. Früher kam Gloria immer gut an, war exzentrisch und schön, wollte Schauspielerin werden, war viel unter Menschen. Gloria und Moni wachsen auf im Mief der sechziger Jahre, sind konfrontiert mit Ehe, Enge und Gewalt. Wie wurden die beiden zu denen, die sie sind? Monika Helfer macht aus Lebenserinnerung grosse Literatur. Nach der Trilogie über ihre Familie und Herkunft ist „Die Jungfrau“ ein atemloser Roman über die jahrzehntelange Freundschaft zwischen zwei Frauen.
Lesung in der Buchhandlung Bodan, Kreuzlingen, Freitag, 15. September 2023, Beginn 19.30 Uhr, Moderation Gallus Frei-Tomic, literaturblatt.ch, mit anschliessendem Apéro
Einmal im Leben allen Mut fassen und jenen Schritt wagen, der einem etwas von jenem Glück bringt, dass überall zu spriessen scheint. Robert Seethales Roman „Das Café ohne Namen“ ist die Geschichte eines Mannes, der sich am Glück durch seine Gegenwart hangelt, zurückhaltend erzählt aber mit viel Liebe für jene, denen das Siegen nicht in die Wiege gelegt ist.
Wer Bilder aus den letzten Jahren des Krieges und der Nachkriegszeit in den Grossstädten Deutschlands sieht und jene des Krieges jetzt in der Ukraine, kann sich kaum vorstellen, dass dereinst wieder ganz „normale“ Leben an jenen Orten stattfinden kann. Auch grosse Teile der Stadt Wien standen in Schutt und Asche. Ein Jahrzehnt stand die Stadt unter Zwangsverwaltung der Siegermächte. Aber noch ein Jahrzehnt später, in der Zeit, in der Robert Seethalers neusten Roman zu spielen beginnt, schien in der Stadt an der Donau alles im Umbruch, alles möglich. Wer es sich zutraute, wagte den Schritt in die Selbstständigkeit. Die Zukunft schien rosig, die Vergangenheit, das Versagen der Väter wollte man hinter sich lassen. Eine Generation später wuchs aus den Trümmern eines verlorenen Krieges, aus den Trümmern einer Idiologie ein scheinbar neuer Mensch, ein scheinbar neues Bewusstsein. Überall wurde gebaut, die Wirtschaft prosperierte.
Simon, der den Krieg bloss noch als Kind erlebte, dessen Eltern ihre Leben auf ganz unterschiedliche Art und Weise an den Krieg verloren. Sein Vater satrb den Heldentod im Feldlazarett, seine Mutter kurz danach an einer Blutvergiftung. Simon verdient sein Brot, sein Bett mit Gelegenheitsarbeiten auf dem Markt; mal dort etwas helfen, hier was austragen. Es reicht grade so, um über die Runden zu kommen. Man mag ihn, nimmt seine Hilfe gerne in Anspruch, nicht zuletzt deswegen, weil er nicht jede Hilfeleistung mit Geld vergolten haben will. Er ist zufrieden, auch wenn er weiss, dass es nicht ewig so weitergehen will, erst recht dann nicht, wenn weil dereinst das Glück auch auf seiner Seite stehen soll.
Robert Seethaler «Das Café ohne Namen», Claassen, 2023, 288 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-546-10032-8
Frisch einquartiert bei einer Kriegswitwe übernimmt er ein leerstehendes Café nicht weit vom Markt, auf dem er als Gelegenheitsarbeiter sein Auskommen fand. Ein heruntergekommenes Gefiert, schmutzig, wenig versprechend. Aber Simon weiss, dass es seine Chance sein muss. Kaffee, Limonade, Himbeersoda, Wein und Bier, Schmalzbrot mit oder ohne Zwiebel, Essiggurken und Salzstangen – nicht viel. Und weil ihm kein Name richtig erscheint, bleibt das Café jenes ohne Namen.
Auch wenn die Anfangszeit schleppend verläuft, entwickelt sich das Café mehr und mehr zu einem Treffpunkt all jener, denen im Leben ein Stück Zuhause fehlt, aber auch jener unruhigen und mutlosen Seelen, die in der aufstrebenden Stadt durch die Maschen fallen, traumaisiert von ihrer Vergangenheit, fallengelassen von der Gegenwart, erschlagen von der Zukunft.
Die noch junge Mila wird zu seiner Hilfe und irgendwann gelingt es Simon gar, einen Tag in der Woche nicht im Schankraum zu erscheinen, um an der Donau dem Wasser zuzuschauen. Er freundet sich mit dem Fleischermeister auf der anderen Seite der Strasse an, dessen Familie ungewollt mehr und mehr wächst, dessen Frau abzudriften droht und einer Geschäft, das von den ersten Supermärkten arg in Bedrängnis gerät. Nicht alle in Wien gehören zu den Gewinnern. Auch Simon nicht.Oder Renè Wurm, einem der Ringer vom Neumarkt, die in inszenierten Schaukämpfen vom grossen Geld, von einer Karriere in Amerika träumen. Ein grosser, schwerer Mann, furchteinflössend aber mit der grossen Sehnsucht nach Nähe und einem Ort, der sein Zuhause ist. Oder mit der Witwe, bei der Simon sein Zimmer hat, einer Frau, die in ihrer Vergangenheit hängengeblieben ist und immer mehr in eine fortschreitende Demenz taumelt.
Was Robert Seethalers Roman lesenwert macht, ist die Leichtigkeit seines Erzählens. Ein ruhiger Streifzug durch die Stadt Wien um 1970. Man riecht den alten Mief in den Gassen. Man friert mit, wenn der alte Ofen aussteigt oder gar explodiert. Man sieht in Lumpen gekleideten Gescheiterten, die über dem ewig gleichen Glas in einer schummrigen Ecke des Cafés ihr Dasein aussitzen. Man begleitet diesen freundlichen, zurückhaltenden Mann, der ein Café betreibt wie damals seinen Dienst am Markt. Robert Seethalers Roman ist Denkmal all jener, die an der Seite der Verlierer das Leben meistern. Die Menschen, die in dem Café ein Stück Zuhause, ein Stück Heimat und Geborgenheit finden, sind Archetypen. Er erzählt einfach und süffig, ohne Effekthascherei, so unverkrampft und leicht, dass mich das Lesen für einmal in einen fast tranceartigen Zustand versetzt, ohne die harten Schickale jener Zeit schönzureden.
Robert Seethaler, geboren 1966 in Wien, ist ein vielfach ausgezeichneter Schriftsteller und Drehbuchautor. Seine Romane «Der Trafikant» (2012), «Ein ganzes Leben» (2014) und «Das Feld» (2018) wurden zu grossen internationalen Publikumserfolgen. Seine Bücher wurden in über 40 Sprachen übersetzt. Mit seinem Roman «Ein ganzes Leben» stand er auf der Shortlist des International Booker Prize. Zuletzt erschien von ihm der Roman «Der letzte Satz» (2020) bei Hanser Berlin. Robert Seethaler lebt in Berlin und Wien.
Sarah Elena Müller zu Gast im Literaturhaus Thurgau
Sarah Elena Müllers Debütroman „Bild ohne Mädchen“ scheint LeserInnen genauso zu verunsichern wie die Literaturkritik, in der über das Unausgesprochene im Roman eifrigst geschrieben wird, über Pädophilie, Kindsmissbrauch. Nicht dass das Thema nicht wichtig wäre. Aber der Roman der jungen Autorin ist weit mehr als die Auseinandersetzung mit einem Tabuthema, das sonst eigentlich eher sprach- und fassungslos macht.
Sarah Elena Müllers Roman ist schwere Kost. Zum einen, weil er von mir einiges abverlangt, weil die Autorin der Kontur ihrer Figuren, dem Geschehen ganz langsam von einem traumhaft nebulösen Aussen gegen ein traumatisches Innen folgt, zum andern, weil es der Autorin nicht darum geht, dort den Täter als lüsternes Monster und hier das Mädchen als hilfloses Opfer zu zeichnen. Sarah Elena Müller geht es um die Zwischenräume. Zum einen um die fluide Welt eines Mädchens, das sich selbst überlassen ist, zum andern um die kaputte Welt eines Mannes, der die Bodenhaftung gänzlich verloren hat im Gravitationsfeld abgefahrener Gedankenwelten und den Untiefen seiner verlorenen Seele. Die Autorin schafft es, das Unsägliche zu beschreiben, die Verlorenheit einer Gesellschaft, die sich aus wahrhaften Beziehungen verabschiedet hat, in der die Zentrifugalkraft der Individualisierung aus dem Einzelnen einen einsamen Komet macht. Sie beschreibt Bilder aus den Grenzregionen zwischen Realität und Traum, zwischen den Feinheiten von Empfindungen und düsterem Alp.
Sarah Elena Müller «Bild ohne Mädchen»; Limmat, 2023, 208 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03926-051-5
Ein Bergdorf irgendwo. Der Grossvater des Mädchens ist gestorben, die Grossmutter die einzige, die dem Mädchen ein Gesicht zeigt. Die Mutter, eine verstiegene Bildhauerin, der Vater Biologe und Umweltaktivist, beide auf ihre Art nie da, selbst dann, wenn sie das Wort an das Mädchen richten. Das Mädchen bleibt mit sich allein. Allein mit einem Engel, allein mit ihrem Nachbarn, einem schrulligen Medienmann, einem ehemaligen Professor aus Berlin, mit Bildschirmen, Computern und allem möglichen Filmequiment, bei dem sie tun darf, was ihr zuhause verwehrt bleibt, zum Beispiel Bildschirmkonsum. Ege gibt ihr die Aufmerksamkeit, die ihr zuhause fehlt. Dort spielt sich Welt ab, hat selbst der Engel, den das Kind begleitet, eine Stimme. Das Mädchen hat keinen Namen, ganz im Gegenteil zu Ege und seiner Partnerin Gisela, die eigentlich genau spürt, was in den Kellerzimmern ihres Hauses geschieht, aber die Bilder von sich wegwischt.
Selbst das Bettnässen des Kindes, die schulischen Schwierigkeiten, das Fehlen von Freunden, das Schwänzen – nichts alarmiert die so sehr mit sich selbst beschäftigten Eltern, dass irgendetwas sie zum Handeln zwingen würde. Das Mädchen, mit seinem einzigen ernsthaften Gegenüber, dem Engel, mit dem sie Zwiegespräche führt, ist sich selbst überlassen. Was zu Beginn des Romans wie eine Welt in leicht zunehmender Schieflage erscheint, wird mit der Dauer des Romans immer mehr zu einer dunklen Fahrt in die Untiefen menschlichen Verlorenseins. Die Kapitel, überschrieben mit „das Kind – das Mädchen – die Tochter – die junge Frau“ begleiten ein Leben, in dem ein Trauma zum Koloss wird. Eine Erfahrung, die die Autorin in umfangereichen Recherchen mit dem Schreiben dieses Romans nachempfinden wollte. Es geht der Autorin weder um Schuldzuweisung noch um Verurteilung. Wir leben in einer Welt, in der man die Nähe zueinander verloren hat, in der Wegschauen zur Überlebensstrategie wurde. Alle in Sarah Elena Müllers Roman sind Verlorene – und vielleicht ist das das letztlich Schwere an diesem Roman; dass mich Sarah Elena Müller nicht in eine wiedergefundene Ordnung entlässt – ganz im Gegenteil.
Der eigentliche Protagonist dieses Buches ist der Sound, die Sprache. „Bild ohne Mädchen“ ist ein tiefer schwarzer Brunnenschacht, an dessen Rand man in die Tiefe lauscht und weiss, dass da unten seltsam dunkle Gesänge tönen.
Sarah Elena Müller, geboren 1990, arbeitet multimedial in Literatur, Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Theater. Sie tritt im Mundart Pop Duo «Cruise Ship Misery» als Ghostwriterin und Musikerin auf und leitet das Virtual Reality Projekt «Meine Sprache und ich» – eine Annäherung an Ilse Aichingers Sprachkritik. 2019 erschien ihr Szenenband «Culturestress – Endziit isch immer scho inbegriffe» beim Verlag Der gesunde Menschenversand. 2015 erschien die Erzählung «Fucking God» beim Verlag Büro für Problem. Als Mitbegründerin des Kollektivs RAUF engagiert sie sich für die Anliegen feministischer Autor*innen in der Schweiz. Sarah Elena Müller war 2023 Stipendiatin im Literaturhaus Thurgau.
Erste Etappe unserer Heimreise. Diesmal nicht wie bei der Hinreise mit dem „Schlafbus“ nachts, jetzt mit Fensterplatz in einem gecharterten Bus, dem man in Europa mit Sicherheit keine Fahrerlaubnis mehr geben würde.
Mag sein, dass Klimaanlage und Motor noch einwandfrei laufen. Aber bei jeder Bodenwelle, von denen es unzählige und heftige gibt, knarzt die Aufhängung, als ob die Achse direkt am Rumpf befestigt wäre. Südvietnam ist ein Land der tausend Brücken. Unzählige Kanäle durchschneiden das Land. Bei kleineren Brücken scheint es, als hätte man eine Betonplatte darüber gelegt und eine Asphaltschicht darauf , mit einer „Rampe“ davor und danach. Jedes Mal muss der Chauffeur bis auf Schritttempo drosseln, damit das schwerfällige Gefährt nicht einknickt. Für die 300 Kilometer braucht unser Bus mit zwei Stopps mehr als acht Stunden. Dafür sind nicht bloss Brücken und Stossdämpfer verantwortlich. Obwohl die Strassen viel besser sind als ganz im Süden, wo unser Bustaxi zum Teil im Schritttempo über ganze Felder von Schlaglöchern und wassergefüllten Untiefen schaukeln musste, sondern die Verkehrssituation und das Bedürfnis nach Toiletten. Bei zwei Fahrspuren in einer Richtung gehört die linke ganz aussen den unzähligen Motorrädern, auf den manchmal auch eine vierköpfige Familie mit Hund fährt. Die Spur rechts dem Rest, den noch schnelleren Schlafbussen, den klapprigen Lastwagen, all den grossen und kleinen Taxis und all den „Normalen“. Öffentlichen Verkehr, staatlich organisiert und finanziert, gibt es nicht. Die eine, einspurige Eisenbahnlinie, die aber in Saigon endet! Wer in Vietnam reist, nimmt den Fernbus, wer sich sonst fortbewegt, ein motorisiertes Vehikel. Fahrräder sieht man kaum noch, Fussgänger schon gar nicht. Einen der Stopps machen wir an einer Busraststätte. Bus an Bus parkiert vor einer riesigen Halle, in der man essen, sich erleichtern und immer auch ein bisschen shoppen kann. Eigentliche Fressmaschinen. Nicht anders als auf Schweizer Autobahnraststätten. Nur die Färbung ist eine ungewohnte.
Weiter geht die Reise. Vom Süden des Südens, der ganz der Fisch- und Meeresfrüchtezucht gehört gen Norden durch ausgedehnte Reisfelder und vor Saigon an Fruchtplantagen vorbei. Raumplanung scheint es keine zu geben, Regeln wie auf der Strasse gerade so viel, dass das System noch nicht zusammenbricht. Kennen Sie die Grimmmärchen vom reichen und armen Nachbarn? Hier in Vietnam gäbe es die Kulisse dazu. Neben Verhauen aus Blech, Plastik und Palmenblättern stehen irrwitzige Kleinpaläste, weisse Zuckerschlösschen zwischen Disney und Barock. Klar, bei uns zeigt man auch, was man hat. Aber hier treibt es der zu Reichtum Gekommene auf die Spitze. Angesichts der grassierenden Armut nicht weniger dekadent als bei uns, nur schlagender!
Am späten Nachmittag erreichen wir Ho Chi Minh Stadt – Saigon. Ein Moloch. Bald 10 Millionen Einwohner. Die Luft stinkt, im Einbahnverkehr spült es den Verkehr durch die Stadt. Wer sich als Fussgänger fern eines Zebrastreifens mit Ampel über die Strasse will, muss sich trauen und rennen. Freiwillig hält niemand, man verringert nicht einmal das Tempo. Auf der Strasse herrscht das Gesetz des Stärkeren. Unser Hotel, noch einmal das gleiche wie in der ersten Nacht nach unserer nächtlichen Ankunft in Vietnam (Hotel Love!) steht an einer stark befahrenen Strasse unweit des Flughafens. Wieder ein Zimmer ohne Fenster, mit vakuumisierten Frotteetüchern, warmem Kühlschrank und brettharter Matratze. Aber es ist unsere letzte Nacht in Vietnam. Und weil wir auch schon auf dem Boden schliefen, ist ein solches Bett schon Luxus. Chúc ngủ ngon!
Die Wahrscheinlichkeit, Vietnam noch einmal zu bereisen, ist klein. Nicht weil ich das Land nun gesehen hätte – mitnichten. Schon gar nicht, weil ich meiner vietnamesischen „Verwandtschaft“ überdrüssig wäre. Aber meine Flug- und Tourismusscham wird bei mir mit Sicherheit jede Form von „Lust dazu“ schon im Keim ersticken.
Aber weil es der letzte Tag in der südlichsten, grösseren Stadt Ca Mau war und uns der Bus nach Saigon zum Flughafen am nächsten Morgen schon um sechs vor dem Hotel einsammeln wird, wagte ich mich nachmittags noch einmal hinaus in die feuchte Hitze. Ein letzter Spaziergang. Ein letztes Mal die erstaunten Gesichter Einheimischer, wenn ein paar europäisch aussehende, weisse Männer durch die Strassen bummeln und Unerklärliches fotografieren.
Es gibt sie überall, die entzückenden Details, aber man muss sie sehen, nach ihnen suchen oder den Ausschnitt wählen. Ganz in der Nähe unseres Hotels befindet sich der „Vogelpark“, wohl eher einer der unzähligen Parks im Land zu Ehren Ho Chi Minhs, dem eigentlichen Landesvater Vietnams (1890 – 1969, vietnamesischer Revolutionär, kommunistischer Politiker und von 1945 bis zu seinem Tod Präsident der Demokratischen Republik Vietnams). Prächtig angelegt, aber zu grossen Teilen verkommen und kurz vor dem „Kollabieren“. Stehendes Wasser stinkt und von den Vögeln auf verblichenen Plakaten ist keiner geblieben, zumindest habe ich keinen gesehen. Der Park wurde wohl einst als zukünftige Sehenswürdigkeit der Stadt angelegt. Aber weil die erhofften Touristenströme ausblieben, verkommt nicht nur der Park, auch die Promenade am Fluss, das Shoppingcenter oder das Hotel, in dem wir logieren.
Wir spazieren der Hauptstrasse entlang. Die Läden sind vielfältig, vom Süsswarenhersteller über Apotheken alle paar hundert Meter, Handwerksschuppen, Möbelgeschäfte, offene Schlachtereien (an einem Stand sitzen mehrere Frauen um ebenso viele Plastikwannen und zerschneiden mit Scheren Frösche), Läden für Monsterkühlschränke und Tresore, Textilgeschäfte hinter Schaufensterpuppen mit westlichen Gesichtern und Läden, bei denen zumindest meinerseits nicht eruierbar ist, was die Produktpalette ausmachen soll. Und überall Imbiss- und Verpflegungsmöglichkeiten, die einen angeschrieben mit „Café“, aber der Kaffee ist mit Eis, gesüsst mit Zucker und Kondensmilch, klebrig geil. Erst am Ende dieses letzten Spaziergangs finden wir ein Café, das Trung Nguyên Legend Café, wo man Café trinken kann, der meinen Ansprüchen genügt – eben Kaffee – heiss mit Schäumchen!
Wer zu Fuss geht und einen Blick hinter Absperrungen, Sichtsperren oder in kleine Gassen wirft, sieht als biederer Schweizer Dinge, die einem mehr als nachdenklich machen; nicht nur die komplett schimmelschwarzen Gebäude, nicht nur all der liegengebliebene Müll, sondern die Ahnung, dass dort Menschen leben, Kinder aufwachsen und bei Regen eine trübe Suppe fliesst.
Ich werde morgen in den Bus steigen und Tage später mit Sicherheit ungläubig den idyllischen Ausschnitt vieler Fotos bewundern. Am letzten Abend bei der Gastgeberin zum Essen eingeladen, sitzen Vietnamesinnen und Schweizer auf dem Fussboden und spielen mit grösstem Vergnügen völkerverbindendes „UNO“!
Es gibt keinen ruhigeren Ort für einen Spaziergang als das Neubaugebiet um achtzehn Uhr dreißig. Die Häuser stehen in Zehnerblöcken, weißer Putz, schwarze Dachziegel. Wer es ausgefallen mag, versieht die Fassade mit einem Farbstreifen auf halber Höhe. Fetzig, so muss der Auftrag gelautet haben, fetzig soll es aussehen. Man kann sie riechen, die fetzige Farbe, so wie man den Rasen, den Asphalt, die freigelegte Erde aus den Baugruben riecht. Noch sind die Hecken nicht hoch genug, noch lassen sich hinter den Glasfronten die frischen Familien beobachten. Die Kinder mit geraden Rücken und baumelnden Beinen, die Eltern mit großen Gesten am Herumreichen, hier die Butter, dort der Landschinken, gern schneid ich dir noch eine Scheibe vom Brot ab, ist das nicht toll, aus dem Holzofen,nein, schmieren musst du es schon selbst. Im Garten davor steht der Spielturm aus dem Baumarkt, der alles hat, wirklich alles: Schaukel, Rutsche, Klettergriffe, Häuschen, Sandkasten. Warmes Abendlicht legt sich über den Holzkoloss. Irgendwo piepst ein Marderschreckgerät. Eine Perserkatze huscht über den Gehweg, das Fell noch kurz, auch sie eine Neuanschaffung. Ein Elektroauto surrt in seine Einfahrt. Daneben stehen die Jungbäume Spalier, an Pfähle geknotet, so wachsen sie gerade. Die Straßen heißen Bertolt Brecht, Theodor Fontane und Friedrich Schiller.
Was macht eigentlich Anna Blum? Immer wieder treibt mich die Frage um während meines Besuchs in Dornhan. Anna war das strohblonde Mädchen, lebhaft und auf eine meist gute Weise frech, das den Jungs aus der Realschule Paroli bot, wenn die in der großen Pause zu uns Grundschülern rüberkamen. Sie hatte denselben Schulweg wie ich und ab und zu war ich wohl ein bisschen verliebt, wenn sie vor ihrem Haus unter dem Straßenschild wartete, damit wir zusammen gehen konnten. Das erste Mal fahre ich auf dem Weg vom Bahnhof daran vorbei, als mein Vater mich vom Bahnhof abholt. Später noch einmal mit dem Fahrrad. Irgendwann fällt mir auf: Ich nehme immer denselben Weg, obwohl es viele andere gäbe.Da ist das schicksalhafte Gefühl, dass ich ihr begegnen werde. Dort vor ihrer Einfahrt, vielleicht sogar unter dem Straßenschild. Oder später, beim Laufen mit dem Hund. Da bin ich mir fast sicher, dass sie mir gleich entgegenkommen wird, und dann werde ich sagen: „Anna Blum! Mensch, wie geht’s dir, Anna Blum? Und was machst du eigentlich mittlerweile?“ Wir werden ein paar Sätze wechseln und uns gutmütig zulächeln und wieder unserer Wege gehen, und ich werde denken: Ah ja, das macht sie also! Am Samstagabend treffe ich im Spitz, der speckigen Stammkneipe neben der Kreissparkasse, den Chrisi und den Jerke. Chrisi hat zwar immer noch seine Tunnelohrringe, ist aber mittlerweile nach Stuttgart gezogen und hat bei seinem Arbeitgeber vier Tage Homeoffice pro Woche rausgehandelt. Jerke hat das Abi abgebrochen, dann ein FSJ gemacht, dann ein Informatik-Studium abgebrochen, jetzt aber eine Ausbildung zum Jugendbetreuer in Stuttgart begonnen, wo alles super ist bis auf den Nachbarn. Der ist ein richtiges Arschloch, das in seinen Beschwerde-Mails an die Hausverwaltung die verschiedenen Geräusche, die er um halb eins gehört haben will, nach Typen sortiert aufzählt: Möbelrücken, mehrstimmige Unterhaltungen, Türquietschen, lautes Gelächter. Wir trinken Weinschorle und Pils und den ganzen Standardkram. Darüber vergessen wir das Championsleague-Finale, das die restlichen Kneipengäste an den Fernseher fesselt. Einer nach dem anderen packen wir die alten Geschichten auf den Tisch. Die Europatour mit der Jungschar. Die Partys bei Chrisi im Keller mit Billigvodka und miesem Tomorrowland-Techno. Überhaupt die Partys. Auf den Grillplätzen, in den Bauwägen, den Turnhallen und den Festzelten, und nichts anderes zählte als dabei zu sein, dabei so hart und so lange wie möglich. Dabei, damit man sich am Montag erzählen konnte, wie der Luca am Straßenrand eingepennt oder der so und so sich die Ina geklärt hatte. Irgendwann spät am Abend, wir sitzen angetrunken und zugekifft am Kneipentisch und träumen von den Zeiten, in denen der Spitz noch Bockwurst mit Senf verkaufte, sagt Jerke: „Leute, wisst ihr, was ich mich immer wieder frag, wenn ich daheim aufm Bett lieg und an früher zurückdenk?“ „Ne Digger, was denn?“ „Was macht eigentlich Anna Blum?“
Bei Oma und Opa ist neben der Klopapierrolle jetzt ein Haltegriff in die Fliesen geschraubt. Auf der Kloschlüssel liegt ein sperriger weißer Aufsatz. Oma plant ihre Tage so, dass sie nur einmal die Treppe runtersteigen muss. Am Dienstagmorgen, bevor der Mann vom Pflegedienst kommt, frühstücken wir deshalb im Schlafzimmer. Sie im Sessel, Opa und ich auf der Bettkante. Opa zieht das Rouleau hoch. Ein breiter Streifen Morgenlicht fällt auf den Teppichboden. „Ich mag das ja nicht, wenn man hier so reingucken kann ohne den Rollo.“ „Och Alida, nun lass doch mal gut sein. Hier guckt doch niemand rein, was haben die denn davon.» „Ja. Aber ich muss denn nachher auch sehn, dass ich rechtzeitig fertig bin, bevor der Mann von der Pflege kommt.“ „Alida. Der kommt um zehn Uhr. Das ist noch über eine Stunde, das wird uns ja wohl reichen.“ Die Löffel klimpern in den Müslischalen, dann Oma, wie zu sich selbst: „Ich mag das einfach nicht leiden, Termine am Morgen.“ Später auf der Terrasse herrscht konzentriertes Schweigen. Augen zusammenkneifen hinter Lesebrillen. Opa mit der Lokalpolitik, Oma mit dem ADAC-Prospekt. Bis vor einem Jahr waren es hier Oma, Opa, Tante Anne, Onkel Carl. Der Doppelhaustraum, dann der Unfall.Um eins holt Anne Carl aus dem Pflegeheim. Die Sportsonnenbrille und die Kappe sitzen schief. Er gibt ein dünnes „Moin!“ von sich und legt eine Reihe Schneide- und Eckzähne frei. Gemeinsam hieven wir ihn die Rampe von der Garage zur Terrasse herauf, dann rollt Anne ihn an seinen Platz im Schatten der Markise. Sie rückt die Kappe und die Sonnenbrille zurecht, schiebt ihm ein Kissen unter die Hände. „Alles gut, Carl?“, frage ich. „Ne!“, sagt er. Oma hat derweil einen Bericht über die Mecklenburgische Seenplatte entdeckt. „Ach, wenn ich all die Urlaubsorte sehe, da möchte man glatt nochmal reisen.“ Ihre Stimme wackelt verdächtig. Opa bedient sich seiner altbewährten Abwehrstrategie, ein bisschen Humor hat noch niemandem geschadet: „Ja, da musst du das wie Friedel machen, die war da überall schon.“ Friedel sitzt im Altersheim und schaut dort allabendlich ihre Reisereportagen. Seit einem halben Jahr lässt eine fortschreitende Makuladegeneration ihr Sichtfeld verschwimmen. Wenn die Stimme aus dem Off sagt, dass die Mecklenburgische Seenplatte aus über tausend Seen besteht, die durch ein engmaschiges Netz aus Flüssen, Bachläufen und Kanälen verbunden sind, sieht Friedel auf dem Fernseher grüne, braune und blaue Schlieren; den Rest ergänzt ihr Gedächtnis. Abends, nachdem Oma die Reise Richtung Bett angetreten und Opa sich, „Ou, jetzt kommt mein Barnaby!“, vor den Fernseher gesetzt hat, sitze ich mit Anne auf der Terrasse. Wir trinken Whiskey Sour. „Das ist anders geworden, das ist wirklich alles ganz anders geworden. In den letzten zwei Jahren, da hat sich das alles verändert hier bei uns. Willst du noch einen?“ Wir diskutieren das Mischverhältnis und die Familiengeschichte und den Sternenhimmel und das Flugverhalten der Fledermäuse. Anne schenkt nach.
Cornelius Müller studiert Psychologie an der Universität Konstanz mit einem Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. Er veröffentlicht Kurzgeschichten im Konstanzer NUN-Magazin und hat im Laufe seines Studiums diverse Schreibseminare besucht, zuletzt die Schreibakademie Kurzgeschichte bei Hanns-Josef Ortheil. Im Rahmen seines Projekts „Heimat – ein Reisetagebuch“ sammelt er Eindrücke, die zwischen seinem Studienort, seinem Heimatdorf im Schwarzwald und dem Wohnort seiner Großeltern an der Nordseeküste pendeln.
Vietnam ganz im Süden ist ein Land der Wasser, ob als Flüsse, Teiche oder Meer, ob als Feuchtigkeit in der Luft oder als Regen mit Blitz und Donner, der sich hier anders anzuhören scheint wie in unseren Breitengraden.
Zumindest in den europäischen Sommermonaten ist der Süden Vietnams ein Land mit feuchtem Klima, schwülheissen Temperaturen und sintflutartigen Niederschlägen. Kein Wunder wächst in diesem Treibhausklima alles fast von selbst. Alle Arten von Früchten werden an jeder Ecke angeboten und es scheint Menschen zu geben, die ihren Lebensunterhalt mit einem Kleinststand mit drei Büscheln Bananen verdienen, während in Supermärkten, in den ich in der Schweiz meine Früchte kaufen würde, das Angebot an frischen Früchten eher bescheiden ist.
Aber es wachsen auch unliebsame Dinge. Nicht nur viele Hausmauern sind schwarz vor Feuchtigkeit und Schimmel. Feuchtigkeit und Schimmel hocken überall, selbst in den Bustaxis. Von den Hotels, in denen wir einquartiert waren , und die aus vietnamesischer Sicht bestimmt zu den besseren gehören, war nur ein einziges ohne Schimmel. Und wahrscheinlich nur deshalb, weil jenes Hotel noch nicht lange seine Dienste anbietet. Der Schimmelbefall ist in manchen Zimmern derart hoch, dass wir uns gezwungen fühlten, das Zimmer, manchmal gar das Hotel zu wechseln. In einem Zimmer schien der Schimmel beim Einschalten der Klimaanlage förmlich aufs Bett zu regnen.
Fast alles ist klimatisiert. Aber wenn man sich wie wir abseits vom Tourismus bewegt und all die Blechverhaue sieht, in denen die Menschen leben, die sich ein Kühlaggregat gar nicht leisten können, höchstens einen Ventilator, von denen überall welche stehen, wundert man sich nicht, dass eine westlich orientierte Bauweise in diesem Klima nur schwer funktionieren kann. Früher waren wohl alle Behausungen hier luftdurchlässig, offen, wie die Tempel auch, die ein erstaunlich frisches Klima verströmen. Im Hotelzimmer in Ca Mau ist der dicke Teppichboden nach einem nächtlichen Starkregen trotz geschlossener Fenster triefend nass. Wie sollte der trocknen! Nach einigen Tagen in Vietnam huste ich, ohne das Gefühl, mich erkältet zu haben, aber mit der Vermutung, dass meine Atemwege auf den permanenten Wechsel von klimatisierten Räumen und feuchtwarmer Umgebung kombiniert mit Schimmelsporen, mit Husten reagiert.
Die Menschen ganz im Süden, wo die Niederschläge noch häufiger sind, nehmen Regenschübe mit stoischer Gelassenheit. Wenn man überhaupt reagiert, unterbricht man seine Arbeit im Freien. In der Stadt besitzen die meisten Motorradfahrer einen Plastikregenschutz und Fussgänger unter einem Schirm sieht man sowieso nicht. Warum sollte man zu Fuss gehen, wenn es leichter und schneller mit einem Motor geht. So sind in den Städten „Fusswege“ entlang von Strassen auch sehr oft mit Verkaufsständen, Motorrädern, Abfall oder sonstigem zugestellt. Ein Vorbeikommen zu Fuss unmöglich. Wasserpfützen in Strassen wird, wenn überhaupt möglich, mit grösster Vorsicht ausgewichen, weil niemand weiss, wie tief die Untiefen darunter sind.
Unsere Gastgeber ganz im Süden, die ihren Lebensunterhalt mit Fischzucht mitten im Wasser, einem einst angelegten System aus Dämmen, Teichen und Kanälen verdienen, fragte ich einmal, wie sie die Klimaveränderungen feststellen. Trotz Dolmetscher schien man meine Frage nicht zu verstehen. Vietnam ist im Aufbruch. Man versteht sich als Gesellschaft am Anfang einer „glorreichen“ Zeit. Ich bin mir nicht sicher, wie sehr sich die Menschen in der Propaganda ihrer kommunistischen Regierung verfangen haben. Es gibt nur den Weg nach vorne, zu welchem Preis auch immer.
Unser letzter Ausflug. Zusammen mit der Gastgeberin dürfen wir ihren Vater zu seinem Zuhause bringen. Eine Fahrt mit dem Boot, einem „Boot des langen Schwanzes“. Eine Fahrt in höllischem Tempo, angetrieben von einem 42 PS-Motor am Ende „des Schwanzes“. Potenz total!
Wir sitzen auf dem Boden des Bootes und als es wie befürchtet zu regnen beginnt, wird eine Plastikfolie über alle gebreitet und die Reise geht nicht weniger schnell weiter. Während der alte Vater in stoischer Ruhe neben dem knatternden Motor sitzt, meldet sich beim ungelenkisch gewordenen Schweizer der Rücken und die Sorge, die Reise unbeschadet zu überstehen. In meinem ganzen Leben bin ich noch nie derart schnell übers Wasser geflogen!
Keine Strasse, nicht einmal mit einem Motorrad erreichbar. An einem Seitenarm des Cửa Lớn Rivers. Wer hier einkaufen will, winkt das Boot zu sich, auf dem die wichtigsten Dinge verkauft werden, was Fluss und Garten nicht hergeben. Der 93jährige wohnte schon mit seiner vor 16 Jahren verstorbenen Frau hier. Ihr Grab liegt hinter dem Haus. Und weil der alte Mann aber nicht mehr alleine leben kann, wohnt ein geschiedener Sohn mit seiner Tochter hier. Hier gibt es kein Wlan, ein einfaches Klohäuschen neben dem Haus und auf der anderen Seite des Hauses unter Dach und vor Regen geschützt ein niederer Tisch, der auch als erhöhter Schlafplatz genutzt wird.
Kaum angekommen, giesst sich der alte Mann von seinem bitteren Tee ein. Hinter dem Haus ein Hühnerstall und in der Verlängerung des Wohnhauses ein länglicher Verschlag aus Holz und Palmenblättern mit weiteren Schlafräumen, Vorratskammer und der immer gleichen Küche. Ein Gasherd auf einem Tisch, die eigentlichen Arbeiten aber passieren auf dem Boden. Ein tönerner Kübelgrill neben der Gastgeberin, die mit Stäbchen das Fleisch wendet und gleichzeitig Gemüse rüstet. Kaum angekommen machen sich alle Frauen an die Zubereitung des Essens. Die Männer kümmern sich ums Bier, frischen Tee und wichtige Gespräche, bei denen der alte Herr der Hauses an seiner „Damenzigarette“ nippelt.
Bei der umständlichen Frage an die ca. 12jährige Tochter des Onkels, der hier wohnt, erfahre ich, dass Kinder wohl zur Schule gehen, die Eltern aber für alles bezahlen müssen. Kinder armer Eltern gehen nicht zur Schule, bleiben Analphabeten. Folglich sind die Chancen, aus dem Kreislauf der Armut aussteigen zu können, klein. Die meisten aus der Familie gehören zur Mittelschicht. Auf der Fahrt mit dem Boot oder mit dem Auto wird ziemlich schnell klar, dass viele weit ärmer sind. Viele haben nicht einmal ein fixes Dach über dem Kopf und schlafen in Blechherbergen in denen Duzende Hängematten nächteweise gemietet werden. Am Fluss bei der rasanten Vorbeifahrt sehe ich Verhaue aus Blech, die einen nächsten Sturm nicht zu überstehen scheinen.
Ich bin während der ganzen Reise hin und hergerissen, fasziniert und schockiert, begeistert und geprügelt. Am schlimmsten ist der untypische Schweizer, der sich auch ungefragt immer wieder meldet, der Selbstverständlichkeiten markiert, die hier nicht gelten. Vietnam mahnt mich, die Klappe zu halten. Was weiss ich schon!
Mit dem Taxibus fahren wir bis ganz in den Süden Vietnams. Die Strasse auf der wir fahren, wird immer holpriger. Manchmal sind die Schlaglöcher so tief, dass ich befürchte, aussteigen zu müssen.
Auch die sichtbare Armut wird immer schlagender. Während in Ca Mau fast alles aus Ziegel gebaut wurde, manchmal mit zuckersüssen Fassaden, als hätte man sich einen Kindheitstraum erfüllen wollen, nehmen Blech und Bananenblätter als Baustoff zu. Und überall Wasser. Manchmal stehen einfache Wohnhäuser regelrecht im Wasser, ganz im Gegensatz zu jenen, die auf Stelzen gebaut sind und bei denen eine grosszügige Freitreppe in den Wohntrakt führt. Nicht auszudenken, was hier passiert, wenn die Regenzeit Kapriolen schlägt. Irgendwann biegt der Bus in eine Strasse ein, in der Gegenverkehr unangenehm wird. Links und rechts von Mangrovendämmen begrenzte Wasserflächen, zwischendurch grössere Häuser, von solchen, die zu Reichtum gekommen sind, und Hütten, in denen man ausser einer Hängematte nicht viel sieht. Aber Tankstellen eine alleweil. Kein Wunder bei der Dichte an Verbrennungsmotoren.
Die Schwester unserer Gastgeberin ist hier im Süden Besitzerin einer Fisch-, Krabben- und Crevettenzucht und lud uns für zwei Tage zu sich ein. Kaum da, schaue ich zu, wie Jungfische aussortiert und für den Transport verpackt werden. Später lädt man mich ein, mit einem kleinen, schmalen Ruderboot die ausgelegten Krabbenfangkörbe mit Fischköder anzufahren. Kleine Sagexbojen markieren die Körbe. Die Ausbeute ist klein, das interpretiere ich aus den vietnamesischen Kommentaren meiner Begleitung. Kleine Tiere wirft er zurück ins Wasser, genauso die Weibchen. Allen grossen Männchen geht es wörtlich an den Kragen. Er bindet die Scheren, vor denen sich auch der Profi in Acht nimmt. Später sehe ich zu, wie er gefangene Krabben von gestern in die kochende Suppe wirft. Drei Sekunden dauert der Todeskampf. Eine Stunde später lange ich am Tisch trotzdem zu und knacke die orange-rot gewordenen Panzer. Wahrscheinlich war der Bootstripp auch mehr für mich als aus wirtschaftlichen Gründen. Dann schlägt das Wetter mit einem Mal um, obwohl die Gastgeberin gerade eben mit dem Motorboot weggefahren wurde, zum Haus einer an MS verstorbenen Schwester. Sie betet dort für sie. Sintflutartig peitscht der Reden nieder und ein angenehm kühler Wind streift ums Haus. Wenn ich in Ca Mau den Eindruck hatte, eine kaputte Welt anzutreffen, ohne Chancen auf Besserung, so ist das Leben hier von einer ganz anderen Qualität, nicht zuletzt deshalb, weil man hier bereit ist, für sein Glück nicht bloss zu nehmen.
Hier wachsen Ananas am Stassenrand, Sternfrüchte gleich neben dem Eingang. Kein Karaokelärm, kein Gehupe, kein Dieselrauch, nur ab und zu das laute Knattern der Boote, deren Motoren wie überdimensionale Stabmixer das Wasser quirlen. Hier sitzen die Menschen zusammen, plaudern, reden und sticheln. Hier lacht man. In den Städten ist es, als ob das Smartphone alles ersetzt, selbst bei den Kindern das Spielzeug An den Wassern weiterlesen
Anna Ospelt ist eine Meisterin der Miniatur. Sie malt mit scheinbar schnellem Strich Bilder, die sich einbrennen und hängen bleiben, öffnet Türen und grosse Fenster, die Verborgenes, Vergessenes, Verlorenes zeigen. Sie schreibt Bilder, die die Kraft des ganz Grossen bergen.
Anna Ospelts zweites Buch nach „Wurzelstudien“, mit dem sie sich mit ihrer Herkunft beschäftigte, eine lyrische Selbstbetrachtung durch die Natur, das Sichtbare hindurch ins Unsichtbare, die Erinnerung, jenem Wurzelgefüge, das das Woher beschreibt, legt die Dichterin mit „Frühe Pflanzungen“ eine eigentliche Fortsetzung vor. Wieder spielt die Natur, spielen Pflanzen, das Leben um sie herum eine wichtige Rolle. Aber in ihrem neusten Buch richtet sich der Blick noch mehr gegen innen. Weil da ein neues Leben wächst, weil ein Leben zu pulsen beginnt, das eine Mutter in einen ganz neuen Zusammenhang verwebt. Weil die Mutter spürt, wie verletzlich diese Zweisamkeit ist.
Ich sticke auf dem Stoff meiner Grossmutter, mit dem Faden meiner Mutter.
Ich bin ein Mann. Und vielleicht trifft mich dieses Buch gerade deshalb auf eine eigenartig empfindliche Weise. Mutterschaft und Vaterschaft unterscheiden sich diametral. Ich kann als werdender Vater ein Dutzend Bücher über Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft lesen. Ich kann unsäglich viele Dokus schauen. Ich bleibe aussen vor. Diese Erfahrung der Weltverbundenheit streife ich bloss. Ich bin Begleiter, Mittragender, Verbündeter. Meine Rolle als Vater ist nicht jene des Werdenden. Ich muss meine Rolle erobern, mich darum bemühen. Vielleicht ist die Lektüre von Anna Ospelts Buch deshalb so bewegend, weil mir dieser literarische Zugang zum Mutterwerden und Muttersein einen Blick eröffnet, der mir als Begleiter, Mittragender, Verbündeter sonst in dieser Intensität verborgen bleibt.
Es fehlt mir an Selbstsicherheit. Diese Frau mit dem Kind muss ich erst kennenlernen. Sie wurde ja gerade erst Mutter.
Anna Ospelt «Frühe Pflanzungen», Limmat, 2023, 96 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03926-052-2
Anna Ospelts Miniaturen sind das Hineinhören selbst. Aber kein verklärtes, kein erklärendes oder wertendes und schon gar kein klagendes, auch wenn man sehr wohl spürt, wie viel Kraft und Zeit absorbiert wird, wie schwer es sein und werden kann, wenn frau sich im Alltag die Momente abstehlen muss, in denen sie sich Zeit gibt, das zu dokumentieren, festzuhalten, was als beschreibende, zeichnende, malende Stimme nach Form sucht.
Heuer ist kein Eicheljahr. Und doch eines in Erzählkapseln.
In „Frühe Pflanzungen“ schreibt Anna Ospelt auch von „Wasserkindern“. Von Fehlgeburten, einem eigentlichen Unwort, denn nichts an solchen Kindern ist Fehler, gefehlt oder verfehlt. Der japanische Ausdruck für Fehlgeburten beschreibt „Kreaturen, die nie den ersten Ozean verlassen“. Anna Ospelt lauscht jenen Ungeborenen, „Nicht-werden-wollenden“, lauscht dem Schmerz der Machtlosen. Verknüpft mit Pflanzen- und Naturbetrachtungen schreibt Anna Ospelt in Bildern, die bei mir als Leser Verbindungen provozieren, die mich mit einer ganz eigenen Art des Sehens, Fühlens, Spürens konfrontieren.
Sehe wunden Wald. In den Himmel gebäumtes Wurzelwerk.
Vielleicht müsste man sich jeweils zwei dieser Bücher kaufen. Eines, das ich lese und eines, das ich in Schnipsel zerreise, die ich überall dort hinterlasse, wo mich das Bleiben zum Denken zwingt. Anna Ospelts Notate verbergen hinter Banalem Hallräume. Viele dieser Miniaturen sind Auseinandersetzungen, solche mit dem Ich, mit einem wachsenden Du, mit der Zeit, mit Herangetragenem, Aufgeschnapptem, Mitgenommenen.
Interview
Momentan liest man viel über Mutterschaft, Familie, das Nebeneinander von Elternschaft und künstlerischer Arbeit. Verweise über ihre Lektüre solcher Bücher in ihrem eigenen Buch gibt es manche. Und doch ist ihr Zugang zu diesem Thema ein geanz anderer. Sie fächern nicht auf, zerlegen nicht, breiten nicht aus. Sie konzentrieren, fokussieren. Vordergründig scheint ihre Art des Schreibens auch ein situationsbedingter Zwang zu sein. Gleichzeitig aber auch eine ganz eigene Art des Sehens, Spürens und Fühlens. Wie tauchen solche Miniaturen aus dem Einerlei des Alltags auf?
Sie tauchen leider nicht einfach so auf. Das weiss ich, da sie, die Miniaturen allzuoft untertauchen (und mit ihnen die Sprache). In den letzten rund vier Monaten habe ich zB. nicht geschrieben, mir haben der Schreibanlass, der Rahmen, der aufgeräumte Raum, die fokussierte Zeit gefehlt. Nun hab ich wieder eine Richtung eingeschlagen und versuche, täglich zu schreiben. Seit ein paar Tagen rollt es wieder, aber davor musste ich die Buchstaben regelrecht am Nacken packen und sie haben sich nur gesträubt, sodass ich sie erstmal sein liess.
Aber zurück zur Frage:Damals, als ich den Stoff des Buchs schrieb, habe ich mehr oder weniger täglich geschrieben. In der Schwangerschaft versuchte ich, ein tägliches Haiku zu verfassen. Danach, im Wochenbett, habe ich schlicht notiert. Mal mehr, mal weniger, aber eigentlich täglich, bereits zwei Tage nach der Geburt. (ja, dort wahrscheinlich etwas zwanghaft, aber ein sehr wohltuender Zwang, es war mein Zugang zu der denkenden Anna, deren Körper im Moment hauptsächlich gefragt war.)
Und nach dem Wochenbett schrieb ich wieder öfters Elfchen. Die Haiku haben da nicht mehr so gut gepasst, waren zu streng in ihrer Form. Da kleine Babys öfters am Tag ein kurzes Schläfchen machen, war das eigentlich der ideale Rahmen zum Schreiben. (nicht nur, natürlich, aber oft) Du spazierst, das Kind schläft ein, du zückst dein Lesebuch oder Notizbuch, wenn das Kind aufwacht, spazierst du wieder heim (es war in meinem Fall ein sehr milder Frühling, ein schöner Sommer).
Wir katologisieren und schubladisieren dauernd. Vielleicht rührt meine Betroffenheit bei der Lektüre Ihres Buches auch darin, dass ich mich als Mann mitgenommen und für einmal nicht getadelt fühle. Öffnen Sie bewusst? Wollen Sie es?
Spontan dachte ich: darüber habe ich mir nicht gross Gedanken gemacht. Das stimmt allerdings nicht, im Nachhinein wirkt alles so leicht und man vergisst die Arbeit am Text, das Sitzleder, das er erfordert, eingefordert hat. Aber tatsächlich: über Männer habe ich gar nicht soooo viel nachgedacht. ☺ Es hätte den Rahmen des Buchs gesprengt, wäre wohl ein Thema für sich. Wo ich sehr vorsichtig war, war bei folgendem Thema: Es passiert oft, dass man andere, insbesondere Eltern von gleichaltrigen Kindern, «schubladisiert», sich automatisch mit ihnen vergleicht und vorschnell wertet. Das tue ich genauso wie jeder und jede andere, wenngleich ich versuche zu reflektieren. Im Text habe ich das besonders in Bezug auf Mütter versucht aktiv zu vermeiden. Im Text soll sich jede und jeder aufgehoben fühlen, egal, wie man seinen Alltag in Bezug auf Rollenbild, Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung etc gestaltet. In unserer Gesellschaft wird da oft zu eindimensional gedacht und man wird als junge Eltern sowieso andauernd in Frage gestellt (nicht zuletzt von sich selbst) – das wollte ich nicht auch noch tun.
Ich beschäftige mich derzeit, beginnend erst, mit Fragen zum Thema Zeit. Zeit im Gegensatz zur Geschwindigkeit und finde diese Frage sehr politisch, auch im Zusammenhang mit Care-Arbeit, über die Elternschaft hinaus. (Care Arbeit für Mitmenschen, Care Arbeit für die Umwelt usw.) Ich habe also nicht gegen Männer angeschrieben, sondern gegen das Idealbild der sich aufopfernden Mutter. Das in unserer Gesellschaft konstant reproduziert wird. Und gegen gesellschaftliche Strukturen, die uns alle, ob Eltern oder nicht, viel zu sehr stressen. Wie Zitronen auspressen.
Ihre Miniaturen erinnern an Aphorismen, eine literarische Gattung, die kaum mehr eine Rolle spielt. Viele ihrer Notate würden selbst isoliert und aus dem Zusammenhang genommen Wirkung erzeugen. Überprüfen Sie die „Wirksamkeit»?
Da viele der Notate ursprünglich Haiku oder Elfchen waren, macht ihr Eindruck viel Sinn. Viele der Notate sind in die Länge gezogene Kürzestgedichte, zu Sätzen zurückgeformte Gedichte, die mal für sich standen und in einem zweiten Schritt erst Teil von etwas Grösserem wurden. (Ich hatte nie vor, ein Buch zu machen. Auch wenn es kokett klingt, habe ich erstmal einfach nur geschrieben, dem Schreiben zuliebe. Das Buch als Buch hat sich, als ich meine Notizbücher durchging, regelrecht aufgedrängt.)
„Frühe Pflanzungen» ist eine sehr sinnliche Auseinandersetzung mit Mutterwerden und Muttersein, diesem langsamen Hineinwachsen in einen „anderen» Zustand. Ist Ihr Buch eine Art Selbstbefragung?
Ich finde es interessant, durch das Schreiben meine Welt für mich lesbar zu machen. Sie zu übersetzen, mich zu übersetzen.
Muss ich mir Anna Ospelt mit einem Kinderwagen oder Tragetuch vorstellen, wie sie irgendo auf weitem Feld oder mitten im Wald stehenbleibt, ihr Notizheft zückt, eine Weile am Stift «kaut» und dann festhält, was ihr zufliegt?
Ja tatsächlich, allerdings habe ich nicht am Bleistift gekaut ☺ Ich hatte in diesem ersten Jahr mit Kind, in dem ich täglich stundenlang spaziert bin, immer die Schreibsachen dabei und habe Notizen gemacht, sobald die Kleine eingeschlafen ist. Ihre Schläfchen (im ersten Jahr gibt es ja viele davon, kurze) waren meine Schreib- und Lesezeit. Übrigens hat meine «Freundin aus Ankara» (die im Text auch vorkommt) beobachtet, als sie im Herbst bei uns war und meine Tochter ihre ersten Wörter sprach, dass sie bei jedem Buch, das sie sieht, «Mama» sagt. Sie ist wohl hunderte Mal aufgewacht und hat als erstes ihre Mutter mit Buch gesehen.
Anna Ospelt, geboren 1987 in Vaduz. Studium der Soziologie, Medien- und Erziehungswissenschaften in Basel. Sie publiziert Lyrik und Kurzgeschichten in Literaturmagazinen und Anthologien. Für «Wurzelstudien» erhielt sie u. a. ein Stipendium der Stiftung Kunst + Kultur im Rahmen des Deutschen Preises für Nature Writing und war für den Clemens-Brentano-Preis nominiert. «Frühe Planzung» ist derzeit für den Europäischen Literaturpreis EUPL nominiert. Anna Ospelt lebt in Vaduz.