Monika Maron «Das Haus», Hoffmann und Campe

Wie sehr wir uns einbilden, alles sei für eine Ewigkeit gemacht, sei es ein Leben, eine Liebe, eine Ehe, ein Zuhause. Monika Maron setzt in ihrem neuen Roman „Das Haus“ Menschen in ein neues Zuhause, Menschen, die alle spüren und wissen, dass das was kommt, endlich sein wird.

Eva hört bei Silvies achtundsechigsten Geburtstag von Katharinas Erbschaft, einem grossen Haus auf dem Land, das sie gerne zu einer Art Kommune für Freundinnen und Freunde herrichten möchte. Ein Landhaus mit grossem parkartigem Garten, alten Bäumen und einer Kapelle. Obwohl Eva im ersten Moment nichts von einer solchen Idee hält, wird alles anders, als man in der Stadtwohnung über ihr mit einem mehrmonatigen Umbau beginnt und Eva aus ihrer gewohnten Umgebung vertreibt. Und weil auf die Schnelle bei der aktuellen Wohnungssituation in Städten nichts zu finden ist, zieht Eva dann eben doch in Katharinas grossem Haus ein, allerdings nur „vorübergehend“. 

Monika Maron «Das Haus», Hoffmann und Campe, 2023, 240 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-455-01642-0

Eine Alterswohngemeinschaft. Eine ehemalige Buchhändlerin, ein von seiner Frau sitzengelassener Galerist, eine Tierärztin, ein angeschlagener Historiker mit seiner Ehefrau… lauter Menschen, die sich in ihrem neuen Zuhause ein Stück Zukunft mit neuer Perspektive erhoffen. Eva bleibt distanziert, so wie die Bewohner des Hauses bei meiner Lektüre seltsam distanziert bleiben. Eva geniesst die Ruhe, man gibt sich kultiviert, sitzt an lauen Abenden vor dem Haus bei einem Glas Wein oder im Raucherzimmer und diskutiert. Man speist am langen Tisch im grosszügigen Esszimmer, spaziert durch den Garten, durchs Dorf. Eine Idylle – bis Katharina, als ehemalige Tierärztin, einen Hund aufnimmt und es wegen einer angeblichen Hundehaarallergie der Ehefrau des Historikers zum ersten Mal Risse im filligranen Gefüge der Wohngemeinschaft gibt. Aber weil Katharina die Besitzerin des Hauses ist und sich alle davor fürchten, was ein Machtkampf auslösen könnte, scheint die Ruhe fürs erste zurückgekehrt, weil sich alle darum bemühen, den Vierbeiner nicht zu einem Stolperstein werden zu lassen.

„Simmt es, dass du auf Katharinas Gnadenhof gelandet bist?“

Irgendwann quartiert sich Alexander ins Gästezimmer der AltersWG ein. Ein Schriftsteller, Krimiautor. Mit jedem neuen Gast verändert sich das Klima in der Gemeinschaft, die sich alle nicht aus Freude am Experiment zusammenfanden, sondern wegen des Mangels umsetzbarer Alternativen. Alex ist ein scharfer Beobachter, der sich auch nicht scheut, Gespräche dorthin zu manövrieren, wo Ungemach droht. Eva spürt, wie der Haussegen zu kippen drohnt. Und als in der nahen Umgebung der Wald zu brennen beginnt, die sommerliche Hitze unerträglich wird und man die Dörfer in der Nähe evakuiert, entfernt sich die Stimmung im Haus immer mehr von Landhausidylle und Genussresidenz.
Erst recht, als eines Morgens ein Schrei die Stille im Haus zerreist. 

Monika Maron bläst nicht in die Glut des Zeitgeschehens, damit sich die Dramaturgie ihrer Geschichte entfacht. In ihrer unspektakulären Art des Erzählens bleibt das Geschehen in und um dieses Haus beinahe wattiert. Man diskutiert bei einem Glas Wein über Klimaveränderung und die zunehmende Gewalt in der Gesellschaft, über Extremismus und die drohenden Zeichen der Zeit. Aber man schenkt sich weiter Wein ein und versucht, bis in den letzten Augenblick zu geniessen, im Wissen darum, dass „die Welt brennt“. „Das Haus“ ist ein ganz und gar still erzählter Gesellschaftsroman, der mich deshalb schon „aus der Vergangenheit“ erzählt scheint, weil ausser dem Fernseher, an dem die Hausgemeinschaft allabendlich die Neuigkeiten entgegennimmt, nichts von dem ins Haus kommt, was die Gegenwart ausmacht; kein Mobilphone, kein Computer. Man liest Bücher. Man spricht miteinander. Man isst am langen Tisch, bei Kerzenlicht und leiser Musik. Es ist, als ob in diesem Buch betuliche Vergangenheit und bedrohliche Zukunft aufeinandertreffen.

Monika Maron, geboren 1941 in Berlin, ist eine der bedeutendsten
Schriftstellerinnen der Gegenwart. Sie wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik nach Hamburg und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane und mehrere Essaybände. Ausgezeichnet wurde sie mit zahlreichen Preisen, darunter der Kleistpreis (1992), der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg (2003), der Deutsche Nationalpreis (2009), der Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2011) und der Ida-Dehmel-Literaturpreis (2017).

Beitragsbild © Jonas Maron

Gaea Schoeters «Trophäe», Zsolnay

Wie weit wir uns als Menschen aus dem Gefüge der Natur entfernt haben, davon erzählt Gaea Schoeters beeindruckender Roman. Sie beschreibt jene Sorte Mensch, die sich als absoluten Mittelpunkt des Seins sieht und selbst den Kampf um Leben und Tod zu einem Spiel erklärt, dessen einziger Zweck die Befriedigung einer Herausforderung ist.

Klar geht es in diesem Roman um einen Mann, der in der Grosswildjagd jenen Nervenkitzel sucht, den ihm sein Leben als Immobilienhai nicht bieten kann. In dessen Leben Geld längst keine Rolle mehr spielt und dessen Sehnsucht nach Glück, Befriedigung und Zufriedenheit eine ganze Maschinerie in Bewegung setzt, die an Dekadenz kaum zu überbieten ist. Ein Mann, der seine Sicht der Dinge, seinen Blick auf die Welt längst so ausgerichtet hat, dass jede seiner Handlungen «zum Wohl der Gemeinschaft» beiträgt.

Klar verfolge ich als Leser mit angehaltenem Atem den ungleichen Kampf der letzten Giganten in den immer enger werdenden Weiten Afrikas. Aber Gaea Schoeters macht mit ihrem Roman viel mehr, auch wenn sie mit scheinbar profanen Mitteln der Spannung eine Geschichte erzählt, in der es um alles und nichts geht.

Hunter White stammt aus einer Jägerdynastie. Männlichkeit, Erfolg und Prestige werden mit grosskalibrigen Gewehren geschrieben. Sein Dasein misst sich an jenen Momenten, in denen er über das Leben jener gebietet, die in der Natur sonst kaum je die Gejagten sind. Die Big Five Afrikas sind das Mass aller Dinge; Elefant, Nashorn, Büffel, Löwe und Leopard. Zusammen mit seinem Freund und langjährigen Jagdpartner Van Heeren, der in Afrika lebt und alles, was an Equipment zu einer solchen Grosswildjagd organisiert, bricht Hunter auf, unterstützt von einheimischen Fährtensuchern und aller notwendigen technischen Ausrüstung, einen alten Nashornbullen zu jagen, selbstverständlich mit einer teuer erkauften Lizenz, die das Überleben aller anderen Tiere in der Gegend sichern soll.

„Für ihn ist Afrika ein grosses Naturreservat, von Gott geschaffen, um ihm Freude zu bereiten.“

Gaea Schoeters «Trophäe», Zsolnay, 2024, aus dem Niederländischen von Lisa Mensing, 256 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-552-07388-3

Doch die Jagd endet in einem Desaster. Hunter schrammt nicht ein erstes Mal knapp am Tod vorbei, auch wenn das zum Nervenkitzel dieser teuren Freizeitbeschäftigung gehört. Man bringt ihn um diesen einen Schuss, die Big Five voll zu machen. Ein Versäumnis, das im ersten Moment durch nichts zu ersetzen ist, ein Coitus interruptus des Jagens. Um ihm, der für sein Vergnügen teuer bezahlte, einen ebenbürtigen Ersatz zu bieten, ein anderes Ziel in einer ganz anderen Dimension verspricht, flammt die Lust, die Herausforderung neu auf, auch wenn die lebende Zielscheibe diesmal eine ganz andere Dimension aufreisst. Von den einheimischen Jägern gefeiert, stellt man ihm !Nqate zur Seite, einen afrikanischen Jäger, der sich nicht nur in der Gegend auskennt, einen Einheimischen, einen Jäger in afrikanischer Tradition. Sie brechen auf in ein Abenteuer mit offenem Ausgang, einem letzen Gegenübertreten zweier ungleicher Welten, einem Showdown mit tödlichem Ausgang.

Es ist nicht einfach eine „wilde Geschichte“, ein afrikanisches Duell in einer aus westlicher Sicht fast lebensfeindlicher Umgebung. Gaea Schoeters stochert in einem Riss tektonischer Platten. Einem Riss der Weltansichten. Dem Riss zwischen westlicher Weltsicht, die die Natur längst zum Freizeitpark erklärt hat und Jagd zu einer Mischung aus Kosmetik und Regulierung, und der traditionellen afrikanischen Sicht, in der die Jagd ein Teil des Überlebens ist, eine Notwendigkeit, die rein gar nichts mit Vergnügen zu tun hat. Hunter wird zum Prototypen westlicher Dekadenz, einer Art Mensch, die sich die ganze Welt untertan macht, die sich Macht mit ihrem unermesslichen Reichtum erkaufen kann, die das Blut fliessen lassen muss, um sich selbst lebend zu spüren.

„Der Augenblick, in dem er, der Jäger, über Leben und Tod entscheidet. Danach verlangt er. Das treibt ihn an.“

Am stärksten in diesem Roman sind die Szenen und Dialoge zwischen den Jägern Hunter und !Nqate auf ihrem Tripp durch die Savanne. Jagd ist nicht gleich Jagd. In Zeiten, in denen wir unseren Fleischhunger mittels Massentierhaltung stillen, wird die Jagd sehr schnell zum Spiel mit maximalem Nervenkitzel. Royale Fotos von Prinzen auf Grosswildjagd generieren höchstens Kopfschütteln und Hemingways Posieren Peinlichkeit. „Trophäe“ trifft mitten ins Herz!

Gaea Schoeters, geboren 1976, ist eine flämische Autorin, Journalistin, Librettistin und Drehbuchautorin. 2012 hat sie den Großen Preis Jan Wauters für ihren kreativen Umgang mit Sprache gewonnen. Für «Trophäe» wurde sie mit dem Literaturpreis Sabam for Culture ausgezeichnet. 

Lisa Mensing, geboren 1989, übersetzt Prosa, Poesie und Theaterstücke aus dem Niederländischen und arbeitet am Institut für Niederländische Philologie der Universität Münster.

Beitragsbild © Sébastien Van Malleghem

Jens Steiner «Die Ränder der Welt», Hoffmann und Campe

Dass bei Jens Steiners neuestem Roman ein Zitat von Julio Cortázar voransteht, scheint Vorsatz und Programm. Nicht nur dass die Literatur selbst, die Kunst in diesem Werk eine Rolle spielt. Jens Steiners Roman bricht aus einer helvetischen Erzähltradition aus, nicht nur wegen seiner Schauplätze, auch im Gestus des Erzählens. Dieser Roman ist in vielerlei Hinsicht phantastisch.

Ein Roman eines Suchenden, über Freundschaft und Liebe, ein Familienroman, ein Abenteuerroman, ein Künstlerroman. Ein Roman der vom ganz Kleinen ins Grosse auf- und ausbricht, aus dem Mief der Kleinbürgerlichkeit ins Provisorische, Abenteuerliche, hinaus an die Ränder der Welt. Jens Steiner begibt sich auch sprachlich auf eine Abenteuerreise, eine Reise, die ich als Leser beeindruckt und ergriffen verfolge.

Kristian Aavik, noch während des letzten Weltkriegs geboren, ist der einzige Sohn estnischer Flüchtlinge, die im baslerischen Kleinhünigen nach einer schmerzhaften Flucht ein neues Leben zu beginnen versuchen. Sein Vater als Übersetzer, die Mutter in der Hoffnung, dereinst von ihren selbstentworfenen Schnittmustern für Kleider leben zu können. Lebensträume, die sich nie verwirklichen, ein Leben, dass sich mehr und mehr in sich selbst zurückzieht, auch das des noch jungen Kristian, der am liebsten in seiner Abgeschlossenheit liest. Estnische Wurzeln, die ein Leben lang nach Bedeutung pochen, erst recht darum, weil ihr Herkunftsland hinter dem eisernen Vorhang abgeriegelt ist.

Jens Steiner «Die Ränder der Welt», Hoffmann und Campe, 2024, 304 Seiten, CHF ca. 34.00, ISBN 978-3-455-01710-6

Kristian ist aber nicht nur von der Geschichte seiner Herkunft gezeichnet, der Enge der kleinen Wohnung, der Schwermut seines Vaters. An seiner linken Hand zählt man sechs Finger. Eine Anomalie, bei der Grossvater bei der Geburt zur sofortigen Amputation rät, der Vater sich aber widersetzt, eine Sonderbarkeit, die ihn als Kind zum Aussenseiter macht. Einziger Freund in dieser Zeit wird der fahrige Mikkel Jacobsen. Im Schutz seiner Freundschaft, eine Freundschaft zwischen Faszination und Abstossung, eine Freundschaft, die Kristian sein ganzes Leben begleitet, auch in den Jahren, in denen sich die beiden aus den Augen verlieren, auch nach Zerwürfnissen, die sich tief in die Biographien eingraben.

Nach dem Versuch, in Basel eine Ausbildung zum Bildhauer zu absolvieren, einer Reise nach Paris, die eigentlich der Beginn eines Künstlerlebens hätte werden sollen, bricht Kristian endgültig aus und folgt der Einladung seines Freundes Mikkel nach Kopenhagen in seine Wohngemeinschaft. Kristian macht sich auf die Reise, mit der Absicht, dort dänische Literatur zu studieren. Aber in jener Wohnung, die zum Schmelztiegel dessen geworden ist, was sich später zur Freistadt Christiana auswachsen würde, verliert sich der noch junge Kristian, bis er über den Dächern Kopenhagens Selma Olsen kennen und lieben lernt, eine Vertriebene und Getriebene wie er selbst. Selma stammt aus Grönland, hatte jene Vergangenheit zurückgelassen, so wie er die seine. Sie heiraten, eine Liebe mit einem grossen Versprechen, bis es erneut Mikkel ist, der einen Keil in das schlägt, was für Kristian zu Heimat wurde, in eine Welt, die endlich festigte, was bisher nur Ahnung war.

Kristian flieht erneut, über Italien bis in das von einer Militärchunta regierte Argentinien, wo er mit einer fremden Identität ganz im Süden eine neue Existenz aufzubauen versucht, ein neues Leben, abgenabelt von seinen Geschichten. Er glaubt ein Zuhause gefunden zu haben und spürt doch, dass ihn nicht loslässt, was ihm schon ein ganzes Leben Unruhe in seine Seele bläst.

Jens Steiner schildert Kristians letzte Reise auf eine Insel. Kristians Geschichte in Rückblenden sind die Schritte zurück zu jenem Mann, der ihn in seinem Leben gleichermassen hinzog wie wegstiess. Nach Jahrzehnten der Trennung macht sich Kristian auf zu Mikkel, der ein ganz anderer geworden ist. Kristians letzte Flucht ist sein endgültiges Ankommen, eine Versöhnung mit seinem Freund gleichermassen wie mit seiner Geschichte. Jens Steiner erzählt von einer lebenslangen Odyssee durch die Wirren der Zeit, auf der Suche nach einem Zuhause, nach Freundschaft und Liebe. Was Jens Steiner mit seinem Roman gelingt, gelingt nur wenigen in der hiesigen Literaturszene. Nichts an diesem Buch riecht nach Kleinräumigkeit, Selbstreflexion und Biederkeit, selbst dann, wenn es diese beschreibt. Und doch evoziert Jens Steiners Buch genau jene Fragen, um die sich ein ganzes Leben unentwegt drehen kann: Worher kommen wir? Wo ist mein Platz? Wohin soll es gehen?

Bücher wie „Die Ränder der Welt“ machen glücklich.

Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik und Philosophie in Zürich und Genf. Sein erster Roman «Hasenleben» erschien 2011 und stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. 2013 gewann er mit «Carambole» den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Es folgten die Romane «Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit», «Mein Leben als Hoffnungsträger» und «Ameisen unterm Brennglas«. Jens Steiner lebt heute als Schriftsteller und Journalist in der französischen Region Burgund.

«Das Gleichgewicht der Welt» Kurzgeschichte von Jens Steiner auf der Plattform Gegenzauber

Webseite des Autors

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Julia Kulewatz «An der Wortgrenze», Plattform Gegenzauber

Es gab eine Unzeit, in der mein schmal gewordenes Fenster zu einer fremdbestimmten Außenwelt in einem ungewollten Briefschlitz in einer fremden Halbstadt ohne Hafen, in einem noch fremderen Rathaus bestand. Als Strandgut war ich zunächst unerwartet angespült worden, und es gab Menschen, die mich über den Schlitz fütterten.

Währenddessen bewohnte ich ein mir zugeschriebenes Zimmerquadrat, einen Container in Beton auf Zeit in einem Hinterhaus, vor dem das zweigeteilte Rathaus stand, in dem alle Mitbewohner einen ständigen Wechselreigen vollzogen, der einem absurd bedrohlichen Tanz ohne Syntax glich. Nur ich blieb, weil das vertraglich eben so geregelt war, und schrieb um mein Leben. Andere hatten dieses bereits abgeschrieben. Das Rathaus stand auf einer steinernen Brücke, unter der ein träge reißender Fluss floss, der seine Fließrichtung dem politischen Geschehen anpasste. Wann und wie das geschah, entschied allein der Fluss. Ich aber ernährte mich von verzweifelten Briefen.

Nachts wurden Stimmen als Gewirr an mir laut. Alles kratzte an Beton. Sie von außen, ich von innen. Strukturen und Risse bekamen einen eigenen mitternachtslangen Atem. Die Verlebendigung der Dinge lauerte in jeder Ecke, und an den vier Betonquadratflächen wuchs ein vielstimmiges Brummen aus männlich anmutenden Hohlkörpern, die ein dissoziatives Klangkollektiv bildeten, von dem ich wusste, dass es mich mit der Zeit auflösen würde, je näher es kam. Jemanden abschreiben ist ein pathologischer Prozess. Das wusste auch der Fluss unter der steinernen Brücke, in den ich mich nicht stürzen konnte. Unter-Wasser-Sein war einer meiner wenigen, völlig freien Gedanken, den ich gleichzeitig auf meinem Trommelfell tanzend fühlen konnte. Wenn die Stimmen aufrückten, begann ich, bereits ausgelesene Briefe unbeantwortet in mich hineinzustopfen. Meine Stopfbewegungen während des Fressvorganges waren wie alles andere hier streng durchchoreographiert. Gut, dass das niemals irgendjemand zu sehen bekam. Papier war wertvoll, Zeile-für-Zeile-Zweifel. Ich-hungrig. Hunger-Ich. Hungrich. Zurück blieb alles Einverleibte, Schalldämmung, als sei ich ein luftloses Gummiboot, dem man weder Pumpe noch Atem hätte spenden können.

Ich erblickte das Licht der Welt unter Wasser an einem Freitag, dem 13. Es war der Tag, an dem meine Schwester an mir ertrank. Ich habe vergessen, wie Schwimmen geht, wie man sich oben, den Kopf über Wasser hält. Alle erinnerten Bewegungen, die damit in Zusammenhang stehen, sind ohne Hoffnung auf Bergung hinter meiner Stirn verschwommen. Wasserwege kennt auch die Urgroßmutter im Mittelmeer. Nur noch ein halber Mensch, vielmehr im Unterleib schon eine weiterhin sinkende Fürstin zur Tiefsee. Wir trieben voreinander her, immer dann, wenn ich meine Gedanken an den Fluss trug.

Jetzt halte ich ein Meermahl mit Briefen ab, und wir verschlingen einander, bis es um uns stiller wird. Bis ich ganz voll bin und mit dem Platzen drohe, Wortfetzen spuckend, so will es das Bild. Ich sehe ein, der Schlitz ist mir nur ein halber Freund, das Rathaus gar keiner, der Fluss ein ferner Geliebter auf Reisen, wie die verschleierte Sonne, aber manchmal mit Perlenkoffer und dann mit für immer verschlossenen Süßwassermuscheln in den Geheimtaschen eines verwaschenen Fracks. In Salz reingewaschen, kann man nicht lügen, das ist wie Tränentrinken.

Neben mir war das Quadrat von Büchern bewohnt. Ein wackliger Turmbau-zu-Babel-Versuch wankte in jeder der vier Zimmerecken eigenmächtig rufend vor sich hin. Ich war und blieb nicht mehr als ein Geist unter ihren durchsichtigen Stimmen, mit denen sie unaufhörlich auf mich einsprachen, um Berührung baten. Man wollte mich zum Lesen bewegen. Keinen einzigen Brief hatte ich verdaut, am schwersten aber wogen die Handschriften in mir, die hatten, so ahnte ich es, ganze Schiffe versenkt, aber was sonst hätte ich hier essen können? Schließlich wusste man nie, was der Fluss trieb und wie weit.

Ein einziges Wochenende im Jahr stand der Fluss in bunten Flammen, war nach oben und unten hin in allen Farben verspiegelt und die betrunkenen Gummiboote meiner Erinnerung trieben munter und völlig unkoordiniert durch das von Nord- und Südseerauch begleitete Feuerwerk des Flusses. Das Feuerwerk war ein menschgöttlicher Frevel und strebte wie die Buchtürme meines Containers dem Himmel entgegen, bevor es ganz in sich zusammenfiel, bevor alles auslief. Mir war es dann, als würde die Urgroßmutter, die ich liebevoll „Tiefsee“ nannte, den spitzen, dauerhaft aufgeweichten Zeigefinger heben. Ich stellte mir vor, wie ihr alle Fische gehorchten, selbst die auf dem Wasser treibenden, wenn sie auf ihrem Thron aus Knochen und Gräten saß, eine eigene Ahnenlinie aus Fischen und Menschenleibern in jeder Silberschuppe. Mit diesem Gedanken schlage ich die Augenlider nieder, und meine Wimpern werden mir selbst ein fadenscheiniger Vorhang aus feinsten Haarkurven, das ein oder andere Mal sogar lückenlos und wasserfest getuscht. Ich weiß es nun ganz sicher: In Salz rein gewaschen, kann man nicht lügen, das ist wie Tränentrinken.

Die Zeit floss träge an mir vorüber, solange ich gut zu schweigen übte. Die Stimmen verschwanden nicht, vielmehr fanden sie einander und kreierten neue Geschichten aus unbelebten Texten. Jedes Buch war ein Zuschlag, Briefe von Fremden, gelandet im Briefschlitz mehr oder weniger schmackhafter Nachschlag. Wie hätte ich auch nur an Befreiung aus dem Betonquader denken können, jetzt, wo mir nachts die Tiefsee sang? Jetzt, wo mir unser aller Urgroßmutter den Kopf höchstpersönlich schüttelte?

Es ist nicht so, dass ich das Schwimmen inzwischen neu hätte erlernen können. Alles, was ich tat, waren Übungen auf dem Trockenen, oft ohne Sinn und Verstand. Ich wusste mit aller Klarheit, dass selbst ein sehr kleines Aquarium im Zimmer mir eine Art Rettung hätte bedeuten können. Natürlich hätte die Grundform ein Quadrat sein müssen. Es wäre bestenfalls ein Schweigen mit befreundeten Fischen geworden, alles hinter Glas, durchsichtig, wie ich. Mondscheinfadenfische oder Mosaike wäre schön gewesen, eine Kommunikation über Fäden und Finger, über Augenpaare und glänzende, zuckende Leibeigenschaft. Wie gut, dass es hier um mich keine Spiegel gibt. Es ist seltsam, wenn auch der Wasserhahn zu krähen aufhört, im Schweigen ist er lauter geworden, rostig gar und kalkig verhärtet war sein Gesang. Jedem Fisch hätte ich einen quarzigen Stein der Anbetung geschenkt, und gemeinsam hätten wir alle Gebete geschwiegen.

Ich hätte weiter von Weltenflucht träumen können, wäre da nicht eines Tages plötzlich das Boot gewesen …

Eines Tages steckte man durch den Briefschlitz des inzwischen modernisierten, aber noch immer geteilten Rathauses ein sehr eng zusammengefaltetes Gummiboot. Es passte nach der Entnahme genau auf meine linke Hand, die sich der Welt durch ungewollte Wassereinlagerungen beachtlich angeschwollen darbot. Man verschloss wie im Vorübergleiten meine Sicht mit dieser freundlich anmutenden Geste ganz, ich sah noch die fremde Hand, wie sie an einem schwarzen Anzug herabhing und im Schlendergang von mir ging. Auch das Boot war ein Geteiltes: Die Unterseite war von himmelblauer Farbe, die obere gab sich wie ein weites, gelbstinkendes Rapsfeld. Ich könnte Teil des Flusses werden, wenn mir nur nicht zu früh die Puste ausginge, schoss es mir augenblicklich durch den Kopf. Der spitze, aufgeweichte Zeigefinger meldete sich daraufhin kurz. Ich erinnerte mich an ein Bild der Urgroßmutter, Tiefsee, mit knöchellangen, schwarzfließenden Haaren auf einem durchnässten Kleid. Das Boot kam überraschend und ohne Zubehör, aber mit eindeutigem Slogan: „LASST UNS ALLE DIE ZÄHNE FLETSCHEN!“ stand in serifenlosen Capital Lettern zwischen falschem Himmelblau und stinkendem Rapsgelb als wasserfeste Wortgrenze in drohend glänzendem Schwarz auf dreieinhalb Metern weichgemachtem PVC geschrieben. Ich wusste; die Tiefsee hatte bis zu ihrem Tod alle Weisheitszähne behalten.

Übereilt beschloss ich eine Flucht in Wortfetzen, von mir gesponserter Atemluft und in mir gelagertem Wasser, denn ein eigenes Aquarium, so musste ich einsehen, blieb ein unerfüllbarer Traum vom artübergreifenden, allumfassend gemeinsamen Schweigeerleben. Ich befürchtete, einem aufgeblasenen Tierkörper Leben einzuhauchen, das Boot hatte Zähne, das wusste ich bereits. Jeden Tag befüllte ich das Rettungsmittel, bis ich keinen Atem mehr hatte. Ich würde schwimmfähig werden durch Luftverkehr. Es kam der Tag, an dem das Boot beinahe mein ganzes Zimmer füllte. Ich aber war weniger als ein luftloses Geistwesen, das noch immer schwere Briefe zu verdauen hatte. Mit der Atemluft waren Buchstaben aus den Briefen aus meinem Verdauungstrakt in das Innere des Schlauchbootes gewandert, Rapsgelb und Himmelblau hatten einander buchstäblich eingetrübt. Die Wortgrenze verschwamm. Doch ich war sicher, alles unter mir würde dem Flusswasser standhalten. Meine Befreiung gestaltete sich unerwartet leicht. Der Vertrag lief aus, und man gestattete mir nicht länger, ein „überteuertes Pensionszimmer“ hinter dem Rathaus zu bewohnen, auch die Büchertürme müssten schnellstmöglich verschwinden, sagte eine Altfrauenstimme hinter dem mir zugeteilten Briefschlitz barsch, während sie einen letzten unverdaulichen Brief in meinen Rachen einwarf. Ich trennte das Zimmerquadrat auf die sanfteste Art von mir ab und ließ nichts zurück, das man mit mir hätte verbinden können. Ich war nicht traurig, denn in Salz reingewaschen, spricht man die Wahrheit, das ist ein Tränentrocknen. Befreit trug ich alle meine Bücher im Schlauchboot auf den Fluss hin zu. Die Tiefsee aber schwieg in mir.

Julia Kulewatz studierte Literaturwissenschaft, Philosophie, Modezeichnen, Choreografie in Erfurt und Seoul. Sie ist Dozentin für Kreatives Schreiben an verschiedenen Universitäten und Volkshochschulen sowie Verlagsleitung von kul-ja! publishing. Sie veröffentlichte Kurzgeschichten, Lyrik, wissenschaftliche und literarische Essays und Romane. 2022 wurde sie mit dem Stadtschreiberstipendium von Neu-Ulm ausgezeichnet, 2023 mit dem KUNO-Essay-Preis.

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Zum 46. Mal Literatur total!

So sehr sich engagierte LeserInnen auf diese Tage in Solothurn freuen, so sehr ist ihr Stellenwert in der Literaturszene Schweiz eine übersteigerte. Die Solothurner Literaturtage, das Highlight für die einen, die marktiefe Enttäuschung für die anderen.

Kein literarisches Ereignis in der Schweiz kann und will den Solothurner Literaturtagen das Wasser reichen. Nirgends ist der Publikumsanmarsch grösser, auch dieses Jahr mit Rekordzahlen. Kein Literaturfestival in der Schweiz generiert mehr Aufmerksamkeit. Nur die Solothurner Literaturtage schaffen es, selbst Radio SRF mit einem eigentlichen Begleitprogramm an ihre Seite zu binden. Das ist gut so und tut der Literatur gut, erst recht jenen ausgesuchten AutorInnen, die in der kleinen, zum Radiostudio umgestalteten Weinbar an der Aare mit einem grossen Publikum beglückt werden. Umso grösser die Enttäuschung jener, die von der Programmkommission nicht eingeladen werden. Eine Enttäuschung, die bis zur Frustration auswachsen, nie versiegenden Schmerz auslösen kann.

Die japanische Schriftstellerin Sayaka Murata auf der grossen Bühne

Was für Lesende, Bücherbegeisterte und FeinschmeckerInnen zum tagelangen Festmal wird, zu einem Tempel der Offenbarungen, einem Schnittpunkt vieler Begegnungen, einem Hort neuer Hoffnungen, ist für andere der Beweis für Ignoranz und unverständliche Verirrung. Sie waren da, die grossen Namen und enttäuschten nicht, Anne Weber, die den Solothurner Literaturpreis erhielt, Klaus Merz, den man mit dem Schweizer Literaturpreis auszeichnete oder die grosse japanische Schriftstellerin Sayaka Murata, die mit ihrem Erzählband „Zeremonie des Lebens“ gleichermassen entzückt wie verunsichert. Und auch die Namen, die überraschten, die zu entdecken waren, wie Elvira Dones, die in ihren Romanen mit starken Bildern tief ins Mark brennt oder Levin Westermann, der mit seinem Prosadebüt auf langen, räumlichen und literarischen Spaziergängen den menschgemachten Veränderungen nachgeht.

Klaus März lässt sich im Stadttheater Solothurn feiern.

Ich war drei Tage in einem Rausch und danke all den nicht Beklatschten für ihren grossen Einsatz und den Hochgenuss an Wortkunst. Perfekt organisiert, mit erneutem Wetterglück und gestärkter Hoffnung auf eine Zukunft mit gedrucktem Buch, waren die Literaturtage, bei denen grosse Experimente ausblieben, ein Abbild dessen, was die Welt bewegen muss. Erstaunlicherweise ohne Demonstration, mit einer einzigen Ausnahme. Erstaunlicherweise aber auch ohne Repräsentanten der nationalen Politik. Erstaunlicherweise auch ohne ernstzunehmende Konfrontationen auf der Bühne.

Ariane Koch, Theres Roth-Hunkeler mit Miderator Lucas Marco Gisi im Gespräch

Einmal sass ich für eine Pause vor dem Restaurant Kreuz, dem Geburtsort der Solothurner Literaturtage. Bei einem Glas Weisswein sah ich so viel junge BesucherInnen wie noch nie. Zumindest war das mein Eindruck, ist doch die Frage, wie man junges Publikum lockt, bei literarischen Veranstaltungen allgegenwärtig. Sie sind da. Sie mischen sich ein, ob im Publikum oder im Rampenlicht. Das macht Hoffnung! Zumal sich das Urgestein der Schweizer Literatur, Peter Bichsel, nur noch punktuell am Festival zeigt. Solothurn lebt! Die Literatur gedeiht! Auch wenn da die eine oder der andere sich schwertut, die bittere Pille zu verdauen.

Pedro Lenz füllt an der „offenen Bühne“ die Treppe zur Kathedrale bis zum letzten Platz.

Die nächsten Solothurner Literaturtage finden vom 30. Mai bis 1. Juni 2025 statt. Keine Frage, ich komm wieder!

Beitragsbilder @ fotomtina

Gerrit Kouwenaar «Fall, Bombe, fall», C. H. Beck

Holland im Mai 1940. Der siebzehnjährige Karel macht sich mit dem Zug auf in die Stadt, um für seinen Onkel einen Brief zu übergeben. Eine Reise, die in den Wirren der Zeit zu einer Katastrophe wird. „Fall, Bombe, fall“ ist eine Novelle, die nichts an ihrer Brisanz verloren hat.

Vor der Lektüre dieses schmalen Buches war mir Gerrit Kouwenaar kein Begriff. Der in den Niederlanden zu den meistgelesenen Autoren des 20. Jahrhunderts zählende Schriftsteller schrieb wenige Jahre nach Veröffentlichung dieser Novelle fast nur noch Lyrik, versuchte sich zuvor aber in allen Gattungen, nicht zuletzt auch auf experimentellen Wegen. „Fall, Bombe, fall“ erzählt die Kriegsgeschehnisse im Frühsommer 1940. Gerrit Kouwenaar war damals selber siebzehn. Der Krieg wütete vor den Grenzen. Viele im Land waren davon überzeugt, dass das Schiessen mit dem Eingreifen Englands ein schnelles Ende nehmen, der Krieg ein Intermezzo sein würde. Statt dessen überrannte die deutsche Kriegsmaschinerie die Niederlande und ihre Nachbarstaaten in wenigen Tagen. Effektive Gegenwehr gab es kaum. Es passierte, womit kaum jemand gerechnet hatte. Hunderttausende Juden waren der faschistischen Willkür ausgesetzt. Die schiere Überlegenheit der deutschen Wehrmacht. Wer Einsicht und Mittel hatte, floh.

„Es ist Krieg und der Vater geht schlafen.“

Karel ist siebzehn. Alt genug, um in den Dienst eingezogen zu werden. Wonach er sich auch sehnt. Endlich geschieht etwas! Endlich reisst die Langeweile auf, die Monotonie dessen, was er in der Welt der Erwachsenen sieht. Ein Krieg schlimm? Er fände es herrlich. Aber gleichzeitig spürt Karel die drohende Gefahr, das nichts so bleiben würde, wie es war. Zwei Seelen in der Brust des jungen Mannes, der nicht mehr will, als aus dem Trott des Vorbestimmten herauszutreten.

Einzige Ausnahme in der wattierten Lethargie seine Familie ist sein Onkel, der ihm bei seinem Besuch nicht nur eine Zigarre anbietet und ihm einen Geldschein in die Hand drückt, sondern Karel bittet, einen delikaten Brief in die Stadt zu bringen.
Karel macht sich auf den Weg durch eine Gegenwart, die zu kippen droht. Da die Sehnsucht, es möge endlich geschehen, was die Zeit aus dem Schlaf reisst. Dort die Angst, dass sich das Töten und Sterben mit seinem Leben vermengt.

Gerrit Kouwenaar «Fall, Bombe, fall», C. H. Beck, 2024, aus dem Niederländischen von Gregor Seferens, 124 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-406-81390-0

In der Stadt klingelt er an einer Wohnung, bei einer Frau Mexocos. Ein Mädchen, so alt wie er, öffnet ihm und heisst ihn einzutreten. Frau Mexocos ist Künstlerin, die Wohnung so ganz anders als sein Zuhause. Man schenkt ihm Sherry ein und beginnt zu plaudern, auch wenn der Krieg hier bereits seine Spuren hinterlassen hat. Man beabsichtigt, mit dem Schiff nach England überzusetzen. Mutter und Tochter sind Jüdinnen. Was Karel in den wenigen Stunden im Haus der beiden betörenden Frauen erlebt, bringt ihn nicht weniger aus dem Gleichgewicht wie der drohende Krieg, nicht zuletzt die Frage der jungen Ria, ob er mit ihr wegfahre.

Karel fährt nach Hause , hin- und hergerissen, hält es nicht mehr aus in seinem nestwarmen Heim und fährt noch einmal zurück, weil dort in der zaghaften Umarmung jenes Mädchens etwas lag, was ihn fesselt. Aber aus der erneuten Fahrt in jene Stadt, längst donnern deutsche Soldaten durch die Strassen, wird eine Fahrt ins Ungewisse.

«Er hatte sich Krieg gewünscht, sein Wunsch war erhört worden, und die grosse Wende in seinem Leben stand vor der Tür.»

„Fall, Bombe, fall“ ist von betörender Klarheit. Die Novelle erzählt von menschlicher Naivität, von der Unfähigkeit, der Gefahr ins Auge zu sehen. So wie man beim Einmarsch deutscher Truppen damals glaubte, es würde bei einem kurzen Scharmützel bleiben, eine territoriale Verunsicherung, so glaubten viele auch beim kriegerischen Einmarsch der Russen in der Ukraine an ein kurzes Desaster, der Druck des Westens würde Schlimmes verhindern. „Fall, Bombe, fall“ beschreibt den Krieg in der Seele, im Kopf und im Herz eines Siebzehnjährigen, die Wirkung von unkontrollierbaren Hormonen, den Sturm, den Halbwahrheiten anrichten. Die Novelle beschreibt den Krieg zwischen jugendlicher Leidenschaft und kalter Realität, der Sehnsucht, am Weltgeschehen teilhaben zu wollen und der Tatsache von ihr überrollt zu werden.

Dass „Fall, Bombe, fall“ 73 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung noch immer Gültigkeit besitzt und sprachlich nichts von seiner Prägnanz einbüsst, macht die Novelle zu einem literarischen Kleinod!

Gerrit Kouwenaar (1923 – 2014) ist einer der bekanntesten und meistgelesenen niederländischen Dichter. Er schrieb zunächst einige Prosa-Werke, verfasste dann hauptsächlich Lyrik und übersetzte u.a. Werke von Brecht, Dürrenmatt, Sartre und Tennessee Williams.

Gregor Seferens, geboren 1964, lebt und arbeitet als Übersetzer, Lektor, Autor und Gelegenheitsschauspieler in Bonn. Seine Übersetzungen wurden wiederholt mit Preisen ausgezeichnet.

© Fotocollectie Anefo

Marie-Hélène Lafon «Die Quellen», Atlantis

Marie-Hélène Lafon ist Meisterin darin, eine Geschichte auf den Punkt zu bringen, ohne diesen vor mir auszubreiten. Die Autorin trifft den Punkt und es breiten sich Wellen aus, Wellen aus feinen Beobachtungen, Blicken nach innen und solchen nach aussen. Und darüber hinaus ist „Die Quellen“ ein unspektakulärer, literarischer Gang an den Ursprung.

Eine junge Frau, irgendwo in Frankreich, verheiratet, Mutter dreier Kinder, seit sieben Jahren mit ihrem Mann auf dem gemeinsamen Hof, weit ab, auf 1000 m über Meer. Ihr Leben ist eingepfercht und festgefahren. Sie spürt es nicht nur an den blauen Flecken, Spuren ihres Mannes, dass sie verloren ist, wenn sie bleibt. Aber der Hof gehört zur Hälfte ihr. Und es hätte ein gutes Leben werden sollen, auch wenn ihre Beziehung schon bald in beklemmende Schieflage kam. Das schmerzhafteste ist die Tatsache, dass sie sich selbst nicht mehr genügt, dass sie sich selbst fremd geworden ist. Warum akzeptiert sie, was nur noch Schmerzen verursacht? Die Frau, die sie im Spiegel sieht, ist ihr fremd geworden, aufgeschwemmt, nicht nur in ihrer Figur aus der Form geraten.

«Ihr Leben ist ein Desaster, sie weiss es, sie steckt in der Klemme, festgenagelt mit den drei Kindern…»

Drei Kinder, zwei Mädchen und Gilles, der Jüngste. Nicht nur, dass sie sich vor ihrem Mann fürchtet. Sie fürchtet sich auch für ihre Kinder. Da sind auch die gelegentlichen sonntäglichen Ausflüge zu ihren Eltern keine Hilfe mehr, schon lange nicht mehr. Sie machen ihr nur bewusst, was sie verloren hat. So weit ab der Hof gelegen ist, so weit ab fühlt sie sich vom Puls der Welt, von alledem, was sie mit sich herumgetragen hatte. Ein Hof am Ende der Welt, ein Leben am Ende der Welt. Und über allem die Angst, dass man im Dorf etwas davon mitbekommt, dass die Fassade zu bröckeln beginnt, dass es der Anfang vom Ende sein könnte.

Marie-Hélène Lafon «Die Quellen», Atlantis, 2024, aus dem Französischen von Andrea Spingler, 128 Seiten, CHF ca. 30.90, ISBN 978-3-7152-5035-9

Sie kennt ihren Mann seit Schulzeit. Bevor sie heirateten, war er mehr als zwei Jahre Soldat weit weg, mehr als zwei Jahre, während derer sie sich schrieben und sie erst viel später wegen versteckter Fotos erfahren mussste, dass es dort ein Leben gab, dass ihr Mann verborgen hielt. Das Meer, ein Glück, eine Frau. Als er zurückkam, heirateten sie und kauften mit ihrem zusammengelegten Ersparten diesen Hof über dem Dorf. Was Glück hätte werden sollen, Erfüllung und Zuhause, ist zu einer eisernen Kette geworden, gleich mehrfach verankert; an ein Versprechen, an Kinder und den Hof.

«Er hat recht, sie stinkt.»

Nicht nur, dass er sie schlägt. Erniedrigungen, Beschimpfungen und seelische Pein sind zum permanenten Alp geworden, ihr Körper zu einer Wüste. Die verbalen Attacken lähmen sie. Kein Schritt in Haus und Hof ohne die immerwährende Angst, einen schmerzhaften Ausbruch zu riskieren.

Marie-Hélène Lafon beschreibt ein Leben, das bereits zu Ende ist, das sich mit diesem Ende arrangieren muss, um nicht alles andere mit sich in den Abgrund, in ein schwarzes Loch mitzureissen. Marie-Hélène Lafon beschreibt einen Überlebenskampf, eine Frau, die sich an immer Kleinerem festhält, um die Schwere des Grossen zu ertragen. Bis es ihr dann doch gelingt. Bis sie dann doch ausbricht.

«Sie denkt oft, dass sie, als sie ihn heiratete, in eine Art Winter eingetreten ist, der nicht enden wird.»

Im zweiten Teil schlüpft Marie-Hélène Lafon in den Mann, der auf dem Hof alleine zurückgeblieben ist, verbittert und trotzig. Marie-Hélène Lafon beschreibt den Typus Mensch, der nie wirklich zur Reflexion fähig ist, der die Welt nach seiner Fasson zurechtrückt, der seine Aufgabe, den Hof trotz gerichtlichem Beschluss und Unterhaltszahlungen in seinem Besitz halten will, zum höchsten Gut erklärt, zur letzten Bastion, zur allumfassenden Rechtfertigung.

Im letzten, ganz kurzen Kapitel, wird mir als Leser bewusst, wie sehr Marie-Hélène Lafon mit dieser Geschichte verzahnt ist. Eine Geschichte über einen langen Schmerz. „Die Quellen“ ist meisterhaft erzählt, so sehr verdichtet, dass dieser Sud in seiner Intensität seinen Schmerz überträgt. Grossartig!

Marie-Hélène Lafon, 1962 geboren, lebt heute in Paris. Die meisten ihrer rund fünfzehn Bücher, die vielfach übersetzt wurden, spielen im Cantal in der Auvergne, wo Lafon aufgewachsen ist. Sie gehört zu den markantesten literarischen Stimmen im gegenwärtigen Frankreich. 2016 erhielt sie den Prix Goncourt de la Nouvelle, 2020 den Prix Renaudot. Auf Deutsch liegen «Die Annonce», «Geschichte des Sohnes» und «Joseph» vor.

Andrea Spingler, geboren 1949 in Stuttgart, ist seit 1980 als freie Übersetzerin tätig. Sie hat unter anderem Werke von Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet, Patrick Modiano, Jean-Paul Sartre, André Gide ins Deutsche übertragen. 2007 wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Preis für herausragende deutsch-französische Übersetzungen ausgezeichnet, 2012 mit dem Prix lémanique de la traduction. Sie lebt in Oldenburg und Südfrankreich.

Beitragsbild © Olivier Roller

«Du bist, also versagst du, das ist menschlich» , «Sensus» von Armin Senser (5)

«Was unterscheidet dann noch einen Attentäter von einem Busfahrer, der dreissig Kinder mit sich in den Tod reisst, weil er den Bus an eine Wand fährt. Weil er sich umbringen wollte? Und was unterscheidet einen Attentäter von einem Piloten, der eine volle Maschine zum Absturz bringt, um sich das Leben zu nehmen? Was unterscheidet die Absicht von den Folgen? Was die Folgen von der Absicht? Wer bist du?» Armin Senser 2018

Lieber Gallus

Dass es an den diesjährigen Solothurner Literaturtagen eine Begegnung mit Armin Senser geben wird, freut mich sehr. Das in grünem Farbton vorliegende Buch «Der ich bin» lese ich gerade mit Begeisterung. Im Sommer 2016 (oder 2017?) bin ich diesem Autor erstmals auf der Terrasse des «Alpina» am internationalen Literaturfestival in Leukerbad begegnet und auf den ersten Teil seiner autobiografischen Trilogie gestossen. Dass «Sensus, Chronik des Scheiterns» der erste Band einer Trilogie ist, wusste ich damals allerdings nicht. So ist das Erscheinen von «Der ich bin, Chronik des Vergessens» (2018) an mir vorübergegangen und erst jetzt vor meinen Augen. Aus dem dritten Teil «Requiem, Chronik des Erinnerns» wird der Autor in Solothurn lesen.

 

Armin Senser «Sensus. Chronik des Scheiterns» Edition Korrespondenzen, 2016, 112 Seiten, CHF ca. 26.90 ,ISBN 978 3 902951 25 0

In diesen drei «Chroniken» wird Autobiografisches mit dem Geschehen um Autor herum nicht erzählt, sondern als Collage voller Assoziationen literarisch gestaltet. Unverkennbar ist ein Lyriker am Werk. Armin Senser stellt Fragen zur eigener Identität («Wer ist ich?»), zu seiner Beziehung zu den Angehörigen (Suizidversuch des Bruders, Tod der Mutter) und zum eigenen Schreiben, zur Auswirkung der täglichen Katastrophenmeldungen in den Medien auf das eigene Leben. Da Literatur langsamer reagiert als die Massenmedien wirkt sie nachhaltiger, weil erlebt oft fassbarer. Die Lektüre dieser Bücher ist anspruchsvoll, aber belohnt mich als Leser mit tiefer Erkenntnis über mich, mein Wesen und meine Beziehung zur Umwelt. Auch sind diese Bücher eine kritische Auseinandersetzung mit der Informationsflut der heutigen Zeit.

Es erstaunt mich, dass dieser bemerkenswerte Autor im Literaturblatt nicht vorkommt. Kannst du mir berichten, warum?

Herzliche Grüsse

Bär

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Lieber Bär

Vielen Dank für Deine Gedanken, Deinen Tipp, Deinen überdeutlichen Schubser. Jedes Jahr, wenn die Gästeliste der Solothurner Literaturtage veröffentlicht wird, stürze ich mich auf die Namen: Sind Namen dabei, auf die ich warte? (Die Warteliste derer, auf die ich hoffe, wird nicht kleiner!) Welche Namen überraschen mich? (Manchmal mischen Namen die Literaturszene auf, die bisher meine Wahrnehmung verfehlten, von denen ich keine Ahnung hatte.) Und welche Namen tauchen überraschend auf, hätten eigentlich schon lange meine Beachtung verdient? Armin Senser gehört zu jenen. Seit ich weiss, das er liest, liegen seine Bücher auf meinem Nachttisch. Ich freue mich ungemein auf die Begegnung mit dem Autor.

Stimmt, Armin Senser hätte eine Auseinandersetzung auf dem Literaturblatt längstens verdient. Aber ich habe keine Chance, all jenen gerecht zu werden, die man pushen sollte, denen man eine Plattform bieten müsste, die man ins Rampenlicht setzen sollte, bevor ihr Stern im unbarmherzigen Kosmos der literarischen Sternbilder wieder verlöscht. Zu viele Sterne leuchten nicht mit jener Kraft, die sie ausstrahlen würden, wären nicht Störnebel in ihrer Nähe. Zuviele Sterne sind längst wieder ins kollektive Vergessen gerutscht. Wie gut, dass es Literaturvermittler wie Charles Linsmayer gibt, die mit ihren Büchern auch jenen einen Platz geben, die ihre Leuchtkraft verloren haben. Aber selbst so engagierte Kämpfer wie Charles Linsmayer hinterlassen einen Schweif, der Namen schwärzt, die seinem Geschmack missfallen. Einmal von relevanten Literaturkritiken geschwärzt, scheinen Namen auf ewig gezeichnet.

Darum mache ich mich alljährlich nach Solothurn auf, um mich von all jenen Namen überzeugen zu lassen, die bisher meiner beschränkten Lesekapazität entgingen. Ich freue mich auf die Tage im Epizentrum der nationalen Literaturszene – und die Streifzüge von Gallus und dem Bär.

Auf bald!

Gallus

Armin Senser, geboren 1964 in Biel. Der Lyriker und Schriftsteller studierte Philosophie, Germanistik und Linguistik an der Universität Bern. Nebenbei ist er als Übersetzer und Dramatiker tätig. Sein literarisches Schaffen wurde mit zahlreichen Preisen geehrt. Senser lebt in Berlin.

Anne Weber «Bannmeilen», Matthes & Seitz

Die deutsche Schriftstellerin Anne Weber, heuer mit dem Solothurner Literaturpreis 2024 für ihr Lebenswerk geehrt, lebt seit vier Jahrzehnten in Paris, einem Sehnsuchtsort vieler, einer Stadt, die wie kaum eine andere mit Klischees verhängt ist. „Bannmeilen“ ist der beeindruckende Versuch der Schriftstellerin, jenen Teil ihrer Stadt zu erkunden, der ihr bisher verschlossen blieb.

Anne Weber lebt und schreibt dort, wo andere Ferien machen – in der „Stadt der Liebe“. Eine ebenso irrwitzige Bezeichnung wie Ausblendung immer krasser werdender Gegensätze. Eine Blendung, der auch ich verfalle, einer Blendung, die zeigt, wie Wahrnehmung mit Wissen, mit Bereitschaft zur Aueinandersetzung verzahnt ist. Anne Weber liebt „ihre“ Stadt – und vielleicht ist genau diese Liebe der Ursprung für ein Abenteuer, dass der Schriftstellerin ihren Lebensmittelpunkt ganz neu erschliessen sollte.

Im Sommer 2024 finden in Paris die Olympischen Spiele statt. Wie immer bei solchen Mega-Sportevents will sich der Austragungsort von der besten Seite zeigen. Man baut und pflanzt, man gräbt und schleift. Die Erzählerin im Buch bittet ihren Freund Thierry, der einen Film über die Auswirkungen der Olympischen Spiele drehen will, ihn auf seinen Recherchestreifzügen begleiten zu dürfen. Thierry will wissen, wie sich Paris verändert, sein Paris, auch wenn er im Gegensatz zur Erzählerin, einen ganz anderen Bezug zur Stadt hat. Thierry ist algerischer Abstammung, zwar in Paris geboren und aufgewachsen, aber ganz anders sozialisiert wie sie, sie, die einst aus Deutschland in die Stadt an der Seine zog und dort wohnt, wo Einheimische und Touristen in Strassencafés Kaffee trinken und an noblen Schaufenstern vorbeispazieren. Thierry selbst ist in den Banlieues aufgewachsen, dort, wo sich normalerweise kein Tourist hinverirrt, in jenen Teil der Stadt, ein Vielfaches grösser als das Postkarten-Paris, in dem Armut, Dreck und soziale Ungerechtigkeit grassiert.

Anne Weber «Bannmeilen. Ein Roman in Streifzügen», Mattes & Seitz, 2024, 301 Seiten, CHF ca. 32.50, ISBN 978-3-7518-0955-9

Die beiden machen sich zu Fuss auf einen langen Weg durch jenen Teil der Stadt, der von Schnellstrassen und Autobahnen durchzogen, von schmutzigem Beton zugepappt, von Müllhalden gezeichnet und von der nach Idylle lechzenden Gesellschaft vergessen vor sich hindämmert. Dort gibt es kein Flanieren, schon gar keine einladende Bank in einem lauschigen Park, keine Läden, keine Cafés. Dafür Wohnsilos für Abertausende, Bauruinen, kaputte Strassen, Obdachlose, Zugefixte, Sans-Papiers, die unter Brücken hausen und schwarz gekeidete Chouffeurs, die allerorts auf Kundschaft lauern. Hinein in die Gegenden auf der anderen Seite des Boulevard périphérique, einer Ringautobahn rund um den Vorzeigeteil der Stadt Paris. 600 Kilometer auf unzähligen Streifzügen, für die beide den Blick des jeweils anderen brauchen. Sie beide spiegeln sich, in dem was sie mit ihrem Blick lesen, was hängen bleibt und zu Gespächen während ihrer Wanderungen führt. Paris ist viel mehr als der Eiffelturm, der Louvre und die Notre Dame. Paris pumpt sich dort auf, wo sich im Sommer der kollektive Blick bündelt, ungeachtet dessen, dass es für alle jene, die dort wohnen, oder auch von dort verdrängt werden, damit nicht besser wird.

Anne Weber spinnt in all die Streifzüge Geschichten. Thierry und die Erzählerin treffen sich immer wieder in einem der seltenen Cafés in den Banlieues, im Le Montjoie von Rachid, der mit jedem Besuch etwas mehr Vertrauen in die beiden fasst und zaghaft zu erzählen beginnt. Mitgenommene Geschichten wie jene des algerischen Marathonläufers Boughera El Ouafi, der bei den Olympischen Spielen 1928 für Frankreich zwar eine Goldmedaille erlief, der aber nach Profiläufen in den USA seinen Amateurstatus verlor, nicht mehr an Wettkämpfen zugelassen wurde, nach geschäftlichem Unglück immer mehr verarmte und schlussendlich durch eine Pistolenkugel sein Leben in der Bedeutungslosigkeit verlor. Ein Mann, der für einen kurzen Moment ruhmreicher Franzose sein durfte, begraben in einem vermüllten Pariser Friedhof.

Anne Webers „Roman in Streifzügen“ ist ein Bekenntnis zu den Schattenseiten, eine Vergewisserung des Andersartigen, eine Annäherung an eine fremde Welt. Es gibt diese Ausblendungen urbaner Tatsachen überall. Zu hoffen ist, dass das Café Le Montjoie von Rachid nicht zu einem Hotspot alternativer Reiserouten durch das unentdeckte Paris wird. Zu hoffen ist, dass Paris nach den Olympischen Spielen gewonnen hat. Nicht das Paris der Boulevards, sondern das Paris der Banlieues. Jene Orte, die sich mehr und mehr den Zugriffen eines Rechtsstaats entziehen, in denen die Gewalt alles frisst und sich Generationen der Hoffnungslosigkeit ergeben. „Bannmeilen“ ist ein Mahnmal, ein mutiges Buch, das einem beschämt zurücklässt.

Die fünfköpfige Jury des Solothurner Literaturpreises ehrt die deutsche Autorin Anne Weber für ihr Gesamtwerk. Der Preis ist mit 15’000 CHF dotiert und wird zum 31. Mal verliehen.
In der Begründung der Jury zum Solothurner Literaturpreis heisst es: «Ob historischer Stoff, politisches Verhängnis oder gescheiterte Liebesgeschichte: Anne Weber stellt sich mit jedem Buch einer neuen Herausforderung. Kühn setzt sie ihre Position als Autorin aufs Spiel und lotet die Beziehung von Fiktion und Leben neu aus, wobei sie darauf bedacht ist, ihrem Lesepublikum eine Rolle der aktiven Teilnahme zu gewähren. Anne Weber wird für ein schriftstellerisches Werk von formaler und thematischer Vielseitigkeit und Experimentierfreude ausgezeichnet, das vom Essay über den Roman bis zum Epos reicht.»

Anne Weber, 1964 in Offenbach geboren, lebt seit 1983 als freie Autorin und Übersetzerin in Paris. Sie hat sowohl aus dem Deutschen ins Französische übersetzt (u. a. Sibylle Lewitscharoff, Wilhelm Genazino) als auch umgekehrt (Pierre Michon, Marguerite Duras). Ihre eigenen Bücher schreibt sie sowohl in deutscher als auch in französischer Sprache. Ihre Werke wurden u. a. mit dem Heimito von Doderer-Literaturpreis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literaturpreis, dem Johann-Heinrich-Voß-Preis und dem Solothurner Literaturpreis 2024 ausgezeichnet. Für ihr Buch «Annette, ein Heldinnenepos» wurde Anne Weber mit dem Deutschen Buchpreis 2020 ausgezeichnet.

Anne Weber an den Solothurner Literaturtagen 2024

Rezension von «Kirio» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Bruno Boudjelal

Hauslesung mit Markus Bundi vom 4. Mai 2024

«Überraschende Begegnungen, gute Gespräche, neue Erfahrungen; das waren doch schon immer die Quellen fürs Schreiben. Dass es das alles aufs Mal gibt, kommt ja kaum vor – es sei denn, man ist in Amriswil bei einer Hauslesung von Irmgard und Gallus zu Gast. Ich danke sehr!» euer Markus Bundi

Rezension auf literaturblatt.ch

Markus Bundi, 1969 geboren, lebt heute in der Nähe von Zürich. Er studierte Philosophie und Germanistik, arbeitete als Sport- wie auch als Kulturredakteur und unterrichtet seit vielen Jahren an der Alten Kantonsschule Aarau. Seit Beginn des Jahrhunderts publiziert er literarische und essayistische Texte, zuletzt  «Vom Verschwinden des Erzählers. Ein Essay zum Werk von Alois Hotschnig» und «Des Möglichen gewärtig. Ein Essay zum Werk von Klaus Merz». 2018 veröffemtlichte er sein Essay zur Ästhetik in Franz Tumlers Spätwerk «Wirklichkeit im Nachsitzen» und seit 2011 erscheint unter Bundis Herausgeberschaft die Klaus-Merz-Werkausgabe im Haymon Verlag. Bei Septime erschienen bisher der Kriminalroman «Alte Bande, Der Junge, der den Hauptbahnhof Zürich in die Luft sprengte» und «Die letzte Kolonie».