Ruth Geiser „Tschuldigung“ 1

Frau Fichte hatte lange nachgedacht. Sie war daran, ihr Leben zu ordnen. Letztes Jahr war sie 85 geworden. Es war Zeit, sich um die ewigen Werte zu kümmern. Das Jahr neigte sich dem Ende zu. Vorher aber stand Weihnachten ins Haus. Für das Fest der Liebe hatte sie ein besonderes Projekt. Sie suchte nach dem zugehörigen Zettel. In letzter Zeit hatte sie für alles Postit Zettel geschrieben. Heja, mit zunehmendem Alter nahm das Gedächtnis ab. Sie heftete die Notizen an die Türrahmen ihrer Wohnung.
Für den Weihnachtszettel hatte sie rot gewählt, da war sie praktisch sicher. So ging sie von Tür zu Tür und las alle roten Zettel. Zweimal musste sie zwischen den Türen in die Küche zurück, um auf dem Tageszettel nachzulesen, was sie eigentlich suchte.

Schliesslich fand sie den dicht beschriebenen Zettel mit den Weihnachtsdetails. Er war grün. Macht auch Sinn, dachte sie.
Auf dem grünen Postit war eine Liste ihrer amourösen Beziehungen, von der Sandkastenliebe über den Schulschatz, zum Tanzkursverehrer und der Tennisplatzliebe. Danach war sie vier Jahrzehnte mit demselben Mann verheiratet. Sein Name war nicht auf der Liste, aber auf einem Grabstein im Zentralfriedhof.
Dann waren da noch zwei Namen: Ruedi Hugentobler und Ernst Gmünd. Die Erinnerung an diese beiden Herren war etwas verwaschen, dafür stand bei beiden eine vollständige Postadresse.
Frau Fichte wollte an Weihnachten nicht alleine sein. Die Idee war, dass sie eine Art Wiedervereinigung in die Wege leitete. Sie stellte sich vor, dass sie all ihren Liebhabern die Chance gäbe, mit ihr zu feiern. Die Idee kam ihr nach dem ABBA Film, den sie an einem Altersnachmittag im Kirchgemeindehaus gesehen hatte. Klar, der Film war nicht nur voller Lieder, sondern auch mit viel Klamauk und Drama. Das ging natürlich nicht an Weihnachten, aber gerade deswegen war es das richtige Datum für das Treffen. Schliesslich nannte man Weihnachten doch oft das Fest der Liebe.
Verschiedentlich hatte sie sich Szenen ausgedacht. Wer wird welche Rolle übernehmen? Wer ist der unterhaltsamste Erzähler? Wird die Romantik wieder aufscheinen im weihnachtlichen Kerzenlicht?
Sie kramte die Karten hervor. Es waren sechs Weihnachtskarten, wie sie von vielen versandt werden. Nur der Text, den sie entworfen hatte, war eher unüblich, aber für alle Empfänger derselbe.

Mein Lieber
Ich wünsche dir ein ruhiges und besinnliches Weihnachtsfest.
Wenn du magst, komm am Heiligabend bei mir vorbei.
Es gibt etwas Feines. Weder Gans noch Truthahn, aber was würzig Warmes.
Ich würde mich sehr freuen.

Angelika Fichte

Eigentlich wollte sie alle Karten gleichzeitig wegschicken. Sie begann mit den beiden, von denen sie die Postadresse hatte.
Währenddem sie die erste Karte schrieb, lief ihr schon der Speichel im Munde zusammen. Ein Tropfen davon fiel auf den eben geschriebenen Text, genau auf das f von freuen. Das Wort konnte jetzt mehrere Sachen heissen: „reuen“? “treuen“? „leuen“?
„Papperlapapp“, sagte Angelika steckte die Karte in den Umschlag und schrieb die Adresse darauf, dann kam die zweite Karte.
So, genug Büro für heute, ich will noch an die frische Luft, auf dem Spaziergang kann ich gleich die Karten einwerfen.
Sie kramte zwei alte Briefmarken hervor. Spucke hatte sie genug, nahm Schirm und Mantel und machte sich pfeifend auf zum Briefkasten.
Auf halbem Weg realisierte sie, dass sie I have a dream gepfiffen hatte. Sprunghaft und etwas beschämt wechselte sie zu Mama mia.

Am 24. Dezember gegen Abend war eine besondere Stimmung in den Stadtbussen. War es Fröhlichkeit, Feierlichkeit, Erleichterung, Aufgeräumtheit, Versöhnlichkeit oder eine Mischung aus allem?
Ein älterer Mann in gepflegter Kleidung sass ganz vorne mit einem Blumenstrauss auf dem Schoss. Drei Stationen nach ihm stieg ein Mann in ähnlichem Alter zu. Sie verliessen den Bus an derselben Haltestelle. Sie musterten einander beim Aussteigen. Beide schlugen denselben Weg ein. Eine Weile war nicht klar, wer der schnellere war, wer sich überholen lassen würde und wer als erster gehen würde. Als sie vor demselben Haus abbogen und sich auf die Haustüre zubewegten, entfuhr dem einen ein „Eh!?“
Der andere war schlagfertiger und erwiderte: „Auch eingeladen?“
„Ja“, sagte der erste, „aber wohl nicht bei derselben….“, er zögerte… „nicht in derselben Wohnung!“
Aber beim Klingelknopfwählen kollidierten ihre Zeigefinger. Und beide im selben Augenblick: „Tschuldigung!“
Im Lift dann eindringlicheres Mustern und dann schallendes Gelächter. „Bei der Engelhaften!“, schrie der eine halberstickt zwischen den Lachsalven, die sein Zwerchfell strapazierten. „Ja klar unterm Fichtenbaum“, plapperte der andere. In bester Laune fanden sie sich vor Frau Fichtes Wohnungstür, klingelten und warteten.
Darf ich mich vorstellen? Ruedi!“
„Sehr erfreut, ich bin der Ernst.“
Nach mehrfachem Klingeln öffnete sich die Türe ein Spalt und ein grauer Haarbusch war zu sehen. Eine barsche Stimme sagte: „Ich brauche nichts!“
Und schon wollte sich die Türe wieder schliessen. Aber Ruedis robuster Schuh machte das unmöglich. Er hatte jahrelang im Aussendienst gearbeitet.
„Angelika, du hast uns doch eingeladen!“, flötete er durch den Türspalt.
„Und wenn Engel rufen, kommen die Hirten“, schob Ernst nach.
Zögerlich öffnete Angelika die Tür. Schliesslich wimmelte die Welt von Enkelbetrügern. Aber die zwei schienen nicht sehr kriminell.
Als ob sie ihre Gedanken erraten hätten, zogen beide wie ferngesteuert die Einladung aus der Brusttasche. Angelika war beruhigt.
Mit einem unauffälligen Rundumblick erfasste Ruedi die Lage und entfernte sich ein paar Schritte, nahm das Handy ans Ohr und bestellte drei Pizzen.
„Sag mal Angelika, hättest du vielleicht eine Flasche Wein, die ich für dich entkorken könnte? Schliesslich haben wir allen Grund zum Feiern,“ bemerkte Ernst.
„Was feiern wir denn?“ Angelika war noch nicht in Stimmung.
„Es ist Weihnachten und wir haben uns lange nicht gesehen!“, erklärte Ernst mit Engelsgeduld.
Angelika gab ihm den Kellerschlüssel. Ernst kannte die Verhältnisse. Sein Gedächtnis liess nichts zu wünschen übrig. Er kam mit drei verstaubten Flaschen zurück.
Von da an ging’s rund. Ruedi fragte nach etwas Musik und Angelika legte die grössten Hits von ABBA auf.
Sie sangen mit und abwechslungsweise tanzten sie mit Angelika, während der andere das Vokale unterstützte.
Die Pizzen trafen ein, waren lecker und wurden bis auf den letzten Krümel verspeist.
Die dritte Flasche wurde entkorkt.
Die Stimmung ging durch die Decke.
Ruedi schlug das Stripp-Spiel vor. Sie spielten es in der Tanzversion und hatten einen Heidenspass.
Es ging gegen elf Uhr, da klingelte es.
Plötzlich Ruhe. „Kommt noch jemand?“
„Aufmachen Polizei!“
Das klang dringend.
Mit einer lasziven Bewegung nahm Angelika das Tischtuch, bedeckte ihre Blössen und machte auf.
„Tschuldigung!“ Dem Uniformierten versagte die Stimme.
„Geht’s auch leiser ?“
Schallendes Gelächter aus der Wohnung.

„Keine Sorge, wir sind bald durch!“

Ruth Geiser, geboren 1956 von  Roggliswil LU, Ausbildung zur Primarlehrerin, unterrichtete als Primarlehrerin, 1984 Diagnose Parkinson, Studium Geschichte, Englische Literatur und Europäische Volksliteratur, Assistenz bei Professor Schenda, Europäische Volksliteratur, unterricht Englisch und Geschichte an Gymnasien, Fachhochschule und in der Erwachsenenbildung, Aufgabe der Berufstätigkeit aus gesundheitlichen Gründen 2005, schreibt Gedichte, Kurzgeschichten, sowie autobiografische Texte.

Illustration © leale.ch

Thomas Heimgartner «Koenigs Weg», pudelundpinscher

Thomas Heimgartners Karl Koenig ist König, wenn auch das Reich, über das er regiert, ein kleines ist. Koenig ist es gewohnt, sein Leben nach seiner Fasson einzurichten, auch wenn ihm nicht bewusst ist, dass er die Bodenhaftung längst verloren hat.

Thomas Heimgartner schrieb einen Roman über eine Spezies Mensch, die sich schleichend auszubreiten scheint, versteckt hinter all den Errungenschaften der Moderne. Über all jene, die sich selbst genügen, in ihrem Leben eingerichtet haben, optimiert, sauber, reibungslos und stets auf gebührenden Abstand bedacht. Obwohl da in der Vergangenheit einmal der Plan war zu schreiben, ist Korrektur daraus geworden. In einem ehemaligen Kiosk, nicht gleich in der Innenstadt, betreibt Koenig sein Büro; Koenigs Korrektionsanstalt. Arbeit hat er genug, nicht weit weg eine schöne Wohnung, alles zweckmässig eingerichtet, seit 16 Monaten Single. Seine Arbeit genügt ihm, so wie die Art und Weise, die Welt aus der Distanz zu betrachten.

Thomas Heimgartner «Koenigs Weg», edition pudelundpinscher, 2023, 150 Seiten, CHF ca. 30.90, ISBN 978-3-906061-33-7

Bis ihn eine Kurznachricht seiner Ex erreicht: „Ich bin übermorgen wieder einmal in Deiner Stadt, falls Du Zeit hast.“ Eine Mitteilung, die er reflexartig zuerst mit seinem Korrekturblick scannt, bevor er den eigentlichen Inhalt an sich heranlässt. (Angesichts der weit verbreiteten Manie, hinter und unter allem ein lauerndes Etwas zu vermuten, eine durchaus verständliche Vorgehensweise) Mirela trennte sich von ihm, weil er sich ohne Rücksprache mit ihr unterbinden liess. Für ihn damals ein Akt der fürsorglichen Voraussicht. Für sie das letzte Puzzleteil einer Person, die sich die Welt nach eigenem Gusto formt, die sich selbst ins Zentrum setzt.

«Das Leben ist kein verdammter Text, den du am Schreibtisch verbessern kannst.»

Koenig sitzt zur ausgemachten Zeit in einem Café und wartet. Aber Mirela erscheint nicht, dafür beginnt ein wildes Hinundher im Netz mit einem Avatar, der sich Bosnamirela nennt, in Anlehnung an ihre Herkunft, eine Person, die behauptet, nicht „seine“ Mirela zu sein, bei der Koenig aber genau spürt, dass es nicht irgendwer sein kann.

Koenig lässt sich auf ein Spiel ein, das mehr und mehr zum Ernst wird. So sehr, dass es ihn aus seinen Gewohnheiten und Gewissheiten reisst, so sehr, dass er sich auf eine Reise begibt, ausgerechnet er, der sich so sauber und propper in einer selbstgemachten Welt eingerichtet hatte. Er schliesst sein Büro, verlässt seine Wohnung, seine sichere Welt und macht sich auf in jenes Land, aus dem Mirela einst in die Schweiz kam. Er macht sich auf nach Bosnien, auf eine Reise mit ungewissem Ausgang, in eine Welt, die ihm fremd ist, eine Welt, die ihn endlich spiegelt – den Mann ohne Eigenschaften.

„Koenigs Weg“ ist eine wirblige Geschichte über Kontrollverlust. Über einen Mann, der feststellen muss, dass die Wirklichkeit weit über das hinausgeht, was sich auf einem Blatt Papier mit Text korrigieren lässt. Über einen Mann, der existenziell aus der Reserve gelockt werden muss, um aus einer beinahe antiseptischen Lebenswirklichkeit ausgeklinkt zu werden. „Koenigs Weg“ liest sich vergnüglich, auch wenn der Roman in mir jene Seite offenlegt, die wie Koenig eine aus den Angeln gehobene Welt am liebsten nur noch hinter Panzerglas betrachten will.

am 30. November Lesung und Gespräch

Thomas Heimgartner, geboren 1975 in Zug, lebt in ­Luzern. Er hat Sprach- und Literaturwissenschaften stu­diert und unterrichtet Deutsch an der Kantonsschule Zug. Bei pudel­undpinscher sind die Bücher «Kaiser ruft nach» und «Koenigs Weg» erschienen. Zusammen bilden sie eine »kaiserlich-königliche« Dilogie.
Zuvor erschienen kürzere und längere Erzählungen als Book on Demand und in anderen Publikationen.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Matthias Jurt

Ich lade Sie ein ins Literaturhaus Thurgau! 2. Dezember 18 Uhr!

In den 40 Monaten unter meiner künstlerischen Leitung im Literaturhaus Thurgau waren es 86 Veranstaltungen, rund 120 Künstlerinnen und Künstler, Stipendiatinnen und Stipendiaten und Gäste in der Autorenwohnung, die das literarische Leben im Bodmanhaus ausmachten. Lesungen, Performances, Ausstellungen, Konzerte, Diskussionen, Vorträge – ein reiches Programm. Im letzten Monat meiner Amtszeit lade ich alle Freundinnen und Freude, alle Zugewandten und Interessierten zu einer ganz besonderen Abschiedsveranstaltung ein. Gäste sind:

Alice Grünfelder, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. Sie war Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie unter anderem die Türkische Bibliothek betreute. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Alice Grünfelder ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen („Wolken über Taiwan. Notizen aus einem bedrohten Land“, u. a.) und veröffentlichte unter anderem Essays und Romane. Sie lebt und arbeitet in Zürich. Im Gepäck ihr 2023 erschienener Roman „Jahrhundertsommer“.

Urs Faes, aufgewachsen im aargauischen Suhrental, arbeitete nach Studium und Promotion als Lehrer und Journalist. Sein literarisches Wirken begann er als Lyriker, in den letzten drei Jahrzehnten sind indes eine Vielzahl von Romanen entstanden. Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet. 2010 und 2017 war er für den Schweizer Buchpreis nominiert. Zuletzt erschienen bei Suhrkamp «Halt auf Verlangen» und «Untertags«. Urs Faes lebt in Zürich. Er nimmt sein neustes Manuskript mit, das in Teilen in Gottlieben entstanden ist.

Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula), zu zweit «Stories», Musiker aus der Ostschweiz, besitzen die besonderen Fähigkeiten, sich improvisatorisch auf literarische Texte einzulassen. Schon in mehreren Projekten bewiesen die beiden auf eindrückliche Weise, wie gut sie mit ihrer Musik Texte zu Klanglandschaften weiterspinnen können. 

Datum: Samstag, 2. Dezember 2023
Zeit: 18.00 Uhr / Türöffnung 17.30 Uhr
Ort: Literaturhaus Thurgau / Bodmanhaus
Eintritt: CHF 15.- regulär // CHF 10.- Freunde des Bodmanhauses // CHF 5.- in Ausbildung und KulturLegi

Hier zur Anmeldung!

Martina Caluori «Ich weine am liebsten in Klos», lectorbooks

Heute dauert ein Song, ein Lied um die drei Minuten, selbst dann, wenn der Inhalt existenziell ist, wenn von den „grossen Dingen des Lebens“ ein Lied gesungen wird. Martina Caluori singt wohl nicht, aber sie setzt ihren lyrischen Text in einen Soundteppich, ganz im Puls der Zeit.

Ein Buch mit 120 Seiten. Auf der einen oder anderen Seite sind nicht mehr als zwei Zeilen abgedruckt. Das könnte leicht falsch verstanden werden, denn Martina Caluoris Text oder Texte wären in einem Booklette zur CD falsch gewichtet. Es braucht das Buch. Es braucht auch das viele Weiss auf den Seiten, nicht zuletzt dafür, den Gedanken, den inneren Bildern jenen Raum zu geben, den Text und Musik evozieren.

Vorne im Buch ist ein QR- Code abgedruckt (auf der Verlagswebseite eine Tondatei direkt). Ich legte mich in meiner Bibliothek auf mein Lesesofa, liess die Tonspur über meine Kopfhörer abspielen und las im Buch den Text mit, den Martina Caluori mit dem Soundkünstler Marcel Gschwend in Wort und Musik zu einer Bildlandschaft zusammenfügten. Nach jeder Textpassage schloss ich die Augen und öffnete sie erst wieder, wenn mich die Stimme der Autorin auf die nächste Seite trug.

Marina Caluori «Ich weine am liebsten in Klos», mit Marcel Gschwend aka Bit-Tuner, lectorbooks, 2023, 120 Seiten, QR-Code mit Zugang zu SoundCHF ca. 26.90, ISBN

„Ich weine am liebsten in Klos“ ist eine lyrisch-musikalische Reise durch die Gefühlswelt einer jungen Frau. Auch wenn nur angetönt wird (hier durchaus wörtlich gemeint), dreht sich vieles um Verlust. Zum einen um den Tod Nahegestandener, zum anderen um den Verlust jenes Gefühls, irgendwo hinzuzugehören, Teil einer intakten Welt zu sein. Auch wenn der Titel „Ich weine am liebsten in Klos“ auf den ersten Blick in seiner Banalität provoziert, erschliesst sich nach der 35minütigen Reise ein beinah lebensfeindliches Gefühl des Ausgeschlossenseins, der Einsamkeit und des Verlassenseins.

Marcel Gschwend vertieft diese Gefühlswelt mit einem langen Band aus Rhythmen und tiefen Beats, mit Sounds, die Türen öffnen und mich auf dem Sofa lesend in eine Welt «auf der anderen Seite» hineinstossen. Martina Caluoris Stimme ist unspektakulär, was mich immer wieder zum Text zurückholt. „Ich weine am liebsten in Klos“ ist ein erfrischendes Experiment mit Nachhall!

Interview

Du beschreibst ein Lebensgefühl. Das Nichtdazugehören, das Zurückgelassensein, die Einsamkeit, das Eingeschlossensein. Gefühle einer ganzen Generation. Jener Generation, die das Gefühl von „Alles ist möglich“ verloren hat. Die Gefühle einer Generation, der man den Boden unter den Füssen weggezogen hat. Ist das der Grund, warum Du nicht einfach Lyrik schreiben kannst? Ist dir traditionelle Lyrik schlicht zu leise?
Dieses Lebensgefühl, für mich der lange Abschied, dem gesellschaftlich nur wenig Raum zugestanden wird, benenne ich. Vielleicht ist das nicht leise. »Ich weine am liebsten in Klos« versteckt sich nicht hinter Kompliziertem, Konstruiertem; es sind prägnante Sprachbilder, die sich auf wenige Worte zurückziehen und so Raum öffnen. Für das Geschriebene, für die Lesenden und mit dem Audiowerk für eine weitere Form der Rezeption. Lyrik ist verdichtete Gegenwart; und diese verlangt immer wieder nach eigenen oder eben anderen Formen.

„Du bist tot“, kann sich auf vieles beziehen, nicht nur auf den Tod eines Menschen, eines Vertrauten. Die 35 Minuten mit Dir und Markus Gschwend haben durchaus etwas von einem psychodelischen Trip. Und vielleicht unterschätzt man die Nebenwirkungen. Oder ist genau das Deine Hoffnung?
Ich glaube, die gab es nicht, weil wir uns mit der Begegnung von Musik und gesprochenem Text auf etwas einliessen, dessen Wirkung wir nicht vorhersagen konnten. Im Schaffensprozess gab es einen Punkt, der uns trippen liess und ebendiesen neuen Raum eröffnete. Auch mit Nebenwirkungen, die für den Zugang zum Erlebnis des Werks wurden. 

Vernissage Kulturgarage OKRO

Wie kam es zu der Zusammenarbeit mit Markus Gschwend? Veränderte sich der Text mit der Zusammenarbeit?
Es ist die Thematik, schlussendlich wahrscheinlich die Dichte in ihrer Kürze der Fragmente und Gedichte, welche mich zur Rezeptionsform des Auditiven mit Marcel führte. Der Text stand bereits bei Beginn der künstlerischen Kollaboration mit Marcel und hat sich indes auf der textlichen Ebene nicht verändert. Für den Audiotrip in Albumlänge war der Text Ausgangspunkt. Marcel hat diesen musikalisch aufgenommen, interpretiert und eigens Sound dafür produziert. Text und Sound sind sich künstlerisch begegnet und haben so einen neuen Sprach- und Soundkosmos eröffnet. Die Rezeptionsform des Textes hat sich dadurch verändert und damit auch seine Bedeutung. Eine weiter schweifende, die von Marcels Sound wie der Symbiose von Sound und Text. Es entstand eine neue Form, das Buch zu erfahren – und diese verändert den Text natürlich als solchen auch.

Du bist eine junge Stimme, Dein „Ich weine am liebsten in Klos“ könnte auch in einem Veranstaltungsraum mit Lichteffekten abgespielt werden, wie ein lange dauerndes Musikstück, das zu Bewegungen einlädt. Die Musik ist sphärisch, weit, schiesst Deinen Text in einen offenen Raum. Ich erinnere mich an ein Virtual Reality Projekt mit Klaus Merz und dem Filmemacher Sandro Zollinger („Los“). Willst Du Grenzen sprengen?
Das war ihr Spalt in die Ewigkeit mit einer neuen literarischen Erfahrung. Ja, Literatur in neue Räume und Klangspektren zu führen, ist sicherlich Kernstück des Werks. Live-Performances und Installationen bieten sich dafür an. Ich möchte aber vielmehr dort öffnen und Raum geben, wo wir ihn zugemacht oder gar verloren haben – oder schlicht nicht öffnen wollen. Und da gehören Interdisziplinarität und Rezeptionsformen dazu. 

Ist Dein Buch auch der Versuch, Lyrik einem jungen Publikum zu öffnen?
Diese Frage habe ich mir so nicht gestellt. Die Integration vom Audiowerk ins Buch ermöglicht sicherlich einen weiteren Zugang und lässt eine andere Auseinandersetzung mit Lyrik zu, auch performativ. Ist das junge Publikum nicht bereits wieder näher an Lyrik? Wenn du von dieser sprichst, ist meine versuchte Öffnung wohl eine generationenübergreifende, eine gesellschaftliche. 

Martina Caluori ist 1985 geboren, studierte Publizistik und Filmwissenschaften und lebt als Autorin in Chur und Zürich. 2019 erschien ihr Lyrikdebüt «Frag den Moment», 2021 in Co-Autorenschaft mit Lea Catrina, «Öpadia – A Novella us Graubünda» und 2022 ihr Kurzprosadebüt «Weisswein zum Frühstück» (lectorbooks). Daneben publiziert sie in Magazinen und Anthologien, kuratiert Literaturveranstaltungen und ist in Kunst- sowie Kulturprojekte involviert. 2022 wurde sie mit dem literarischen Werkbeitrag der Stadt Chur ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

Marcel Gschwend aka Bit-Tuner, 1978 in St. Gallen geboren, lebt und arbeitet in Zürich. Der Autodidakt produziert seit 2001 elektronische Musik. Bit-Tuner hat mit verschiedenen Künstlern zusammengearbeitet, wie zum Beispiel Manuel Stahlberger, Dani Göldin, !Mediengruppe Bitnik, Anna Frey, IOKOI, Audio88 & Yassin und Johannes Dullin. 2015 war er für den Schweizer Musikpreis nominiert. Sein musikalisches Ausdrucksfeld reicht von Experimental Hip-Hop bis Electronica, von Bass Music bis Noise.

Beitragsbild © Michel Gilgen

Kathrin Burger «Vor mir wird es Morgen»

Wenn es also keinen Anfang und kein Ende gibt, ist alles, was wir erkennen und erleben, dazwischen. Leben im Dazwischensein – im inter-esse – das ist die Grundierung von Kathrin Burgers fesselndem Erstling «Vor mir wird es morgen».

Gastrezension von
Franco Supino

Fesselnd nicht, weil eine abenteuerliche, actionreiche Story erzählt wird, fesselnd weil Kathrin Burger den Blick erzählerisch darauf richtig, was das Leben im Inter-esse – zwischen Erleben und Erinnern, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Natur und Kultur – ausmacht. Und das macht ihren glanzvoll poetischen Text einmalig

«Wir beginnen mit dem Anfang»: Dieses Bonmot von Karl Valentin entpuppt sich wie immer bei hintergründigem Humor als ambivalent. Sobald wir über etwas nachdenken, hat es schon begonnen – und ebenso gibt es kein Ende, denn die Instanz, die das Ende feststellt, kommt erst danach. Wenn es also keinen Anfang und kein Ende gibt, ist alles, was wir erkennen und erleben, dazwischen. Leben im Dazwischensein – im Inter-esse – das ist die Grundierung von Kathrin Burgers fesselndem Erstling «Vor mir wird es Morgen». Fesselnd nicht, weil eine abenteuerliche, actionreiche Story erzählt wird, fesselnd weil Kathrin Burger den Blick erzählerisch darauf richtig, was das Leben im Inter-esse – zwischen Erleben und Erinnern, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Natur und Kultur – ausmacht. Und das macht ihren glanzvoll poetischen Text einmalig interessant. 

Wenn ich überlege, was mich am Text fasziniert, klingt es abgedroschen, etwa: Das Leben spielt sich in Augenblicken ab. Diese wahrzunehmen und formvollendet in Sprache zu giessen … Aber das ist Kathrin Burgers grosse Kunst. Wir erleben mit der Autorin den Moment im Theater, wenn «das Licht im Zuschauerraum langsam ausgeht, die Geräusche verebben, das Stimmengewirr verstummt, das Rascheln der Programm, das Klicken der Handtaschen, das Husten, Räuspern, Schnäuzen aufhört, wie es dunkel und still wird und alle Aufmerksamkeit sich nach vorne auf den Vorhang richtet.» Oder das Ritual, das die Protagonistin uns Leser:innen täglich vorführt: Sie sitzt am Morgen vor der Dämmerung am Fenster ihres Hauses und schaut, wie sich aus den «schattenhaften Konturen Farben entwickeln», und schliesst mit: «Es wird Zeit für den Tag.» 

Kathrin Burger «Vor mir wird es Morgen», Rotpunkt, 2023, 192 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-85869-978-7

Der Tag ist die erzählerische Einheit von Kathrin Burgers Roman, wie in Kinder-Bilderbüchern, die immer damit enden, dass die Protagonist:innen sich schlafen legen. Für Kathrin Burger ist der Morgen der Katalysator für ihren Text: Jeder Tag ist gleich und jeder Tag ist anders, das Dazwischen ist das Geheimnis der grossen Erzählerin Burger, das sie uns Kapitel für Kapitel enthüllt. Wenn es Zeit wird für den Tag, liegt vor uns nicht die Zukunft. Was wir sehen, ist ja längst entstanden, und also steckt darin die Vergangenheit. Nicht die einzelne Erinnerung ist wichtig, nicht was die Protagonistin in Paris oder im Gebärsaal erlebt hat, sondern was davon heute noch sichtbar ist. «Die Schatten der Nacht sind gewichen, die Schatten der Vergangenheit erwachen.» 

Der Reiz von Kathrin Burgers Prosa liegt darin, dass sie Poesie mit Weisheit verbindet, ohne aufzutrumpfen, einfach so. Sie ist eine Debütantin im fortgeschrittenen Alter, aber absolut keine Anfängerin. Man möchte manchen Satz immer und immer wieder lesen, und wenn es gälte, in Freundschaftsbücher zu schreiben, ihre Sätze unseren Liebsten für die Ewigkeit widmen. «Die Zukunft liegt nicht vor mir, sie wartet, für mich unsichtbar, hinter mir.»

Darum, zum Schluss, der keiner ist, noch dies: «Jeder Anfang ist leichtfüssig, jedes Ende wiegt klumpenschwer. Aber die eigentliche Herausforderung liegt dazwischen.» 

Kathrin Burger, geboren 1949 in Menziken, studierte Germanistik in Zürich und promovierte über Georg Trakl. Sie unterrichtete als Gymnasiallehrerin in Fribourg, in Baden und dreissig Jahre lang in Aarau. Daneben engagierte sie sich in verschiedenen kulturellen Institutionen sowie für die Frauenbewegung. Sie lebt mit ihrem Mann in Küttigen und hat drei erwachsene Kinder.

Über das Unsichtbare – Gianna Olinda Cadonau im Literaturhaus Thurgau

Wir leben zwar im Zeitalter der Information und Kommunikation und trotzdem leben wir in einem Zeitalter, in dem das Dialogische immer schwieriger zu werden scheint. Ob in der Politik, in Betrieben, in Familien, in Beziehungen, überall. In „Feuerlilie“ von Gianna Olinda Cadonau ist das eines der Themen, die angesprochen werden, aber eben in einer ganz eigenen, sehr oft verschlüsselten Art. 

«Gottlieben ist regenverhangen, in der Nacht soll es stürmen. Umso schöner ist es, in dieses alte Haus einzutreten, ins grüne Zimmer hinaufzusteigen, zusammen mit dir, Gallus, und einem sehr aufmerksamen Publikum über die Figuren, die Landschaft und alles Unsichtbare in meiner „Feuerlilie“ nachzudenken. Das Bodmanhaus ist einer dieser Orte, an den ich immer wieder zurückkommen möchte, den ich mitnehme, in meinen Alltag. Danke!» Gianna Olinda Cadonau

Gianna Olinda Cadonau ist in Scuol aufgewachsen, hat in Genf internationale Beziehungen und in Winterthur Kulturmanagement studiert und ist gegenwärtig an der Lia Rumantscha in Chur für die Kulturförderung verantwortlich. Vor ihrem belletristischen Debüt veröffentlichte Gianna Olinda Cadonau bereits zwei Gedichtbände mit den schönen Titeln „Letzte Stunde der Nacht“ und „wiegendes Land“. 
Kennengelernt habe ich Gianna Olinda Cadonau an der SAL, der Schule für angewandte Linguistik, in Zürich. Und vor fast einem Jahr lud ich eine kleine Gruppe jener StudentInnen hier ins Literaturhaus ein. Gianna Olinda Cadonau war eine von ihnen.

Heute, nachdem ihr Debüt mit dem Studer/Ganz-Preis ausgezeichnet wurde, liegt ihr erster Roman „Feuerlilie“ auf den Verkaufstischen und ist bereits heftig im Gespräch. „Feuerlilie“ ist ein Buch, dass sich nicht ganz so einfach einordnen lässt. Zum einen wegen seiner Erzählart, aber auch wegen seiner Sprache. Ich würde sogar behaupten, „Feuerlilie“ setzt einiges voraus. Wer bloss in einer konsumierenden Rolle unterhalten werden will, findet den Roman wahrscheinlich ziemlich anstrengend.

Drei Menschen. Die junge Journalistin Vera, die sich ins Engadin, ins Dorf ihrer Kindheit zurückziehen will, um an diesem Ort zu schreiben. Ihre ältere Schwester Sophia, die sie manchmal besucht, auch wenn sie in ihrer ganz eigenen Welt lebt und Kálmán, ein Fremder, der sich dort in einem alten geerbten Haus mit seiner Kriegsvergangenheit auseinandersetzen muss. Ein Berühungsroman, ein Roman um ein empfindliches Gravitationsfeld dreier Planeten, die es aus der Bahn zu werfen droht. Vera flüchtet, wenn auch im „Kleinen“ (vor ihrem Partner, dem Rummel, dem Stress), Sophia vor ihren Schwierigkeiten, ihre Psyche in den Griff zu bekommen, Kálmán vor einer Vergangenheit.

„Feuerlilie“ schert sich in seiner Machart nicht um aktuelle Strömungen, sehr wohl aber in seinen Themen; Isolation, Trauma, Auswirkungen von Gewalt… Cadonau erzählt von der Begegnung dreier Menschen, zweier Schwestern und eines Mannes in einem Ort im Engadin. Es kann nicht einmal gesagt werden, Cadonau erzähle die Geschichten, weil sie in ihrem Roman nicht ausleuchtet, nicht ausbreitet, nicht darlegt. Wer ihr Buch liest, ist bis zum Schluss mit Geheimnissen, Schatten und Leerstellen konfrontiert.

Es sind Räume, Häuser, Zimmer, Türen. Judith Hermann erzählte mir in einem Gespräch, Romane seien Häuser. Manchmal wie Puppenstuben. Mit versteckten, verborgenen Zimmern. Und eine Schriftstellerin jene, die mit Licht gerade soviel erhellt, dass sich Konturen zeigen, sprachliche Konturen. Gianna Olinda Cadonau geht es nicht um Klärung, nicht um Er-klärung, nicht um Durchsicht, nicht einmal um Einsicht. 
Vera will sich zurückziehen. Sie braucht Zeit, um in ihrer Arbeit voranzukommen. Und sie braucht Abstand von ihrem Partner. Umstände, die nicht weiter erläutert werden. Aber Umstände, die ausstrahlen. Denn ausgerechnet sie tritt in den Bannkreis eines Mannes, der eigentlich auch nur in Ruhe gelassen werden will.
Ob „Feuerlilie“ auch eine zarte Liebesgeschichte ist, darüber liesse sich diskutieren. Aber zwischen Vera und Kálmán knistert es, wenn auch nur zaghaft, verhalten und durchsetzt von Unsicherheiten, um nicht noch mehr „versehrt“ zu werden. 

Es sind Gegensätze; die Idylle eines Engadiner Ortes mit seinen schmucken Häusern, die menschlichen Abgründe, die tiefen Verletzungen, ein Ort in der Schweiz, Sinnbild für Konstanz und Standhaftigkeit, Menschen darin, die hypersensibel festen Untergrund zu finden versuchen. Die Wirkung verstärkt sich so.

Beitragsbilder © Sandra Kottonau

«Sich lichtende Nebel» von Christian Haller ist Schweizer Buch des Jahres! #SchweizerBuchpreis 23/14

Es war keine Überraschung und ist die richtige Wahl. Als Christian Haller auf die Bühne im Foyer des Stadttheaters Basel auf die Bühne gebeten wurde und sich FotografInnen und erste GratulantInnen positionierten, darunter Ständerätin Eva Herzog, trat ein tief gerührter Mann ins Rampenlicht und dankte für das «Sahnehäubchen» auf einer grossen Arbeit.

Hier wiedergegeben die Laudatio von Michael Luisier, SRF Literaturredaktor und seit diesem Jahr Mitglied der Jury des Schweizer Buchpreises:

Die Geschichte ist bekannt. Ein Mann geht durch Nacht und Nebel. Betritt einen Lichtkreis, verlässt ihn wieder und taucht im nächsten Lichtkreis wieder auf. Ein anderer Mann beobachtet ihn dabei. Und weil der sich gerade mit physikalischen Fragen auseinandersetzt, mit Atommodellen und der Beschaffenheit des Lichts, kommt ihm der Gedanke, respektive die entscheidende Frage in den Sinn: Woher weiss man, dass ein Mensch, der soeben einen Lichtkreis verlassen hat und weitergeht, im nächsten Lichtkreis wieder auftaucht? Und nicht einfach verschwindet?

Christian Haller «Sich lichtende Nebel», Luchterhand, 2023, 128 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-630-87733-4

Diese Anekdote erzählt die Geschichte hinter der Entdeckung der Quantenmechanik durch den Physiker Werner Heisenberg. Sie ist der Ausgangspunkt einer Novelle, die sehr bald zu einer ähnlich dringenden Frage führt, nämlich: Wie geht man generell mit Dingen um, die stattfinden, obwohl sie eigentlich nicht stattfinden sollten? Und – hier kommt die Literatur ins Spiel – wie beschreibt man die? 

Wie sagt man Unsagbares? Wie beschreibt man – literarisch – nicht zu Beschreibendes? Das sind die zentralen Fragen des Texts.

Christian Haller, Schriftsteller und selbst Naturwissenschaftler, hat sich dieser literarischsten aller Aufgabe gestellt. Haller hat sich als Literat für die Novelle als Erzählform entschieden, weil es sich dabei grundsätzlich um die Vermittlung einer «sich ereigneten unerhörten Begebenheit» handelt, wie es bei Goethe heisst. 

Der Naturwissenschaftler, der sehr wohl weiss, dass die Naturwissenschaft nicht alles erklären kann, hat sich für ein nicht materielles Phänomen in einer materiellen Welt entschieden. Im Text ist von «Durchbrüchen» die Rede, erlebt durch die zweite Figur dieses Textes, den Beobachteten, dessen Weg genauso beschrieben wird wie der des Beobachters. An diesem zeigt Christian Haller diese «Durchbrüche», die man auch spirituell deuten kann, als Ausdruck von Rausch, als Zustände welcher Art auch immer. Oder vielleicht auch ganz anders, wer weiss. Es selbst sagt es nicht. 

Meisterhaft ist es Christian Haller gelungen, sich dabei aufs Wesentliche zu beschränken: Zwei miteinander verschränkte Geschichten im Wechsel erzählt, wobei nicht ein Wort zu viel ist, nicht ein Moment aus blossem Zufall entstanden scheint. Alles ist so einfach, schön und klar geschaffen, als könnte man Unsagbares tatsächlich nur auf diese Weise sagen. 

Ja. Die Novelle «Sich lichtende Nebel» von Christian Haller ist Klarheit, Schönheit und im besten Sinne auch Einfachheit. Drei Argumente für eine Verleihung des Schweizer Buchpreis 2023. Christian Haller, wir gratulieren Ihnen dazu.

Rezension von «Sich lichtende Nebel» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Gallus Frei

Nina Jäckle «Verschlungen», Kröner Edition Klöpfer

Nina Jäckle ist eine absolut faszinierende Erzählerin. Ihre Art des Geschichtenerzählens richtet sich nach Innen, ohne den Blick auf das Darüberhinaus zu verlieren. „Verschlungen“ ist ein Tauchgang in die Psyche einer Frau, die sich verzweifelt zu befreien versucht.

Im Heute wünschen wir uns Nähe und verabscheuen Dichtestress. Ganz offensichtlich wird der Akt der menschlichen Annäherung ein immer problematischerer, gespickt mit Fallgruben und bösen Überraschungen. Im Zug aber suche ich lieber ein freies Abteil und pfropfe Kopfhörer in die Ohrmuscheln, um mehr als deutlich zu signalisieren: „Ich will nicht“.

In Nina Jäckles neuntem Roman „Verschlungen“ geht es um eine in die Jahre gekommene, namenlose Frau. Sie wohnt abgeschieden und völlig zurückgezogen in einem kleinen Haus im Wald. Ihre Mutter und ihre Schwester hat sie verloren, die einzigen Personen in ihrem Leben, die eine Rolle spielten. Seit zwei Jahren versucht sie sich zurechtzufinden. Sie sucht ihren Platz, ihren Stand, ihre Mitte, ein Selbstbildnis, das nicht ständig massregelt, schimpft und straft, denn Ewa, ihre eineiige Zwillingsschwester, hat sie alleine zurückgelassen. Sie, die in tausendfachen Schwüren versprach, stets zu teilen, sie nie zu verlassen, im absoluten Gleichschritt durchs Leben zu gehen, als wären sie in zwei Körpern geborene Siamesische Zwillinge.

Libelle, Zeichnung © Renata Jäckle

«Wie kannst du nur ablassen von mir, wie kannst du es wagen, unsere Verträge zu missachten, keiner wird uns je küssen, keiner wird uns je berühren. Das haben wir uns auf immer geschworen.»

Nina Jäckle «Verschlungen», Kröner Edition Klöpfer, 2023, 160 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-520-77101-8

Sie und ihre Schwester Ewa blieben bis ins Erwachsenenalter bei ihrer Mutter und begleiteten sie bis in den Tod. Eine Art des Begleitens, die schon lange zuvor ein Distanzieren geworden war, denn je älter die Zwillinge geworden waren, desto unergründlicher und fremder wurden sie für eine Mutter, die sich mehr und mehr ausgeschlossen fühlen musste. Und weil es durch Erbschaften für die Zwillinge nie nötig wurde, sich mit anderen Menschen einzulassen und die beiden sich schworen, sich nie von Männern berühren zu lassen, weil diese nur zur Bedrohung ihrer Einheit werden würden, genügten sie sich selbst, auch wenn diese Genügsamkeit durch Schwüre, Drohungen und einem permanenten Hinundher zwischen Abstossung und maximaler Nähe verkettet werden musste.

«Das Zusammengehören also ist wie eine chronische Krankheit.»

Ewa, zwölf Minuten später zur Welt gekommen, schien die immer Stärkere, Dominantere, Herrschendere zu sein – die bessere Variante. Was sich ein Leben lang zwischen den beiden abspielte, war und ist eine Mischung aus Selbstzerstörung und Selbstzersetzung. Jedes noch so kleine Fünkchen Eigenständigkeit wurde zum Akt grösster Kraftaufwendung und selbst der Schnitt im Finger in Kindertagen, ein kleines Unterscheidungsmerkmal, wird zur offensichtlichen Bedrohung.

«Geborgenheit bezahlt man mit Enge.»

Nun, die Mutter gestorben und sie seit zwei Jahren von einem Teil ihrer selbst abgeschnitten, amputiert und unheilbar verwundet, versucht die Erzählerin mit Verbannungen sich selbst zurechtzufinden. In Rückblenden, die sich lesen, als würde die Protagonistin in ihr Spiegelbild erzählen und Einsprengsel aus ihrem geheim geführten Tagebuch, öffnet sich das Psychogramm einer Eingeschlossenen, die verzweifelt versucht zu verstehen. Es braucht genau jenes Verstehen, um aus dem Gefängnis, der allumfassenden Umklammerung ausbrechen zu können. Nina Jäckle schreibt meisterlich, fesselt nicht nur mit der Ungewissheit, was aus Ewa geworden ist, sondern mit der Intensität ihrer Sprachkunst und der Tiefenschärfe ihres Erzählens. In „Verschlungen“ liegt derart viel Verblüffendes, dass ich während der Lektüre im Staunen versank.

Ameise, Zeichnung © Renata Jäckle

Interview

Ich bin überwältigt von Deinem neuen Roman, von Deiner Sprache, der Konstruktion, der Erzählweise und Deinem Mut. Du beschreibst eine Innenwelt, einen verzweifelten, lebenslangen Ausbruchsversuch. Die Sprache deshalb, weil der Sound das Zerstörerische, die Hilflosigkeit, die Angst miteinschliesst. Die Konstruktion deshalb, weil du Deinen Erzählperspektiven absolut treu bleibst und all jenen Verlockungen, denen ich erlegen wäre, widerstanden hast. Die Erzählweise darum, weil Du in Tiefen abtauchst, die mich schwindeln lassen und den Mut, weil Du durch Auslassungen meiner Lust nach Aufklärung entgegenwirkst. Alles geplante Absicht?
Geplante Absicht kenne ich beim Schreiben nicht. Nachdem ich merke, dass mich etwas thematisch interessiert und ich also erste Sätze dazu bilde, gerate ich in eine Stimmung. An dieser Stimmung entlang lasse ich meine Figuren denken und tun. Ich habe auf meinem Schreibtisch einen kleinen Lautsprecher und ich höre zum Schreiben, und natürlich passend zu dieser Stimmung, Musik. So entsteht nach und nach eine Playlist, eine Sammlung von Stücken, die in gewisser Weise am Tonfall des Textes mitwirken, Tag für Tag. Musik, die vielleicht sogar textliche Bewegungen mitgestaltet. Ich schreibe nicht planvoll, ich nehme niemanden an die Hand, ich führe niemanden von einem geplanten A nach einem geplanten B. Ich sammle Kleines auf, um Generelles darin abzubilden. In dieser dauererregten Zeit versuche ich, das Konzentrierte, die leisen Gedanken aus leiser Sprache mit einem eher reduzierten Plot dem Oberflächentrubel unserer Zeit entgegenzusetzen. Natürlich birgt dies das Risiko des Überhörtwerdens. Darüber denke ich aber nicht mehr nach, denn das Einflüstern ist meins, nicht das Ausrufen.

Wir leben in Zeiten von grassierender Einsamkeit und bedrohlichem Dichtestress. Dein Roman beleuchtet genau dies aus absolut überraschender Perspektive und in einer derartig beklemmenden Intensität, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass eine solche Geschichte so einfach ersonnen ist. Dein Roman übersteigt ein Mass der Einfühlsamkeit, die mich rätseln lässt. Wie bist Du eingetaucht?
Alles ist ersonnen. Das ganze Buch, von vorne bis hinten. Gespeist natürlich. In meinem Leben gibt es Rückzug und Einsamkeit und eine sehr enge Beziehung, es gibt in meinem Umfeld Falter und streunende Katzen, es gibt das Haus und windschief gewachsene Bäume. Es gibt Elfen-Krokusse und es gibt auch die Frage danach, „was man als gegeben gelten lassen, was man als gegeben anerkennen muss. Und so macht man sich auf die Suche nach dem Vorgegebenen und ebenso nach der definierbaren eigenen Form. Man versucht zu komponieren, auf dass man Urheber der Melodie des geführten Lebens werde…“

Heuschrecke, Zeichnung © Renata Jäckle

Der Name der Ich-Erzählerin wird nicht ein einziges Mal genannt. Das ist absolut konsequent, denn sie erlebt sich als eineiig, monozygot. Auch wenn ihr ganzes gemeinsames Leben mit ihrer Zwillingsschwester ein permanenter Versuch der Absetzung war, wenn auch nur in kleinen Aktionen. Du bist in den Körper der Erzählerin hineingeschlüpft und erzählst in der ersten Person.
Meine Protagonistin hat deshalb keinen Namen, weil es aus der Erzählperspektive heraus nicht plausibel wäre, ihn zu erwähnen. Und weil es mir unter Umständen nicht gelungen wäre, so lückenlos sie zu sein, wenn ich sie mit einem Namen ausgestattet hätte, der nicht der meine ist. Das „Ich“ wäre mir wohl dann wie eine Lüge vorgekommen. Aber Letzteres ist lediglich Spekulation.

„Verschlungen“ ist vieles, auch ein Roman über die Sehnsucht nach Individualität. Entspricht die rein menschliche Sehnsucht nach Individualität, nicht eigentlich einer völligen Selbstüberschätzung?
Natürlich ist „Verschlungen“ ein Text über die Sehnsucht nach Individualität. (Ich weiss nicht, ist es Selbstüberschätzung oder vielmehr der rührend verzweifelte Wunsch nach Bedeutung?) Auch schreibe ich über Obsession. Darüber, besessen zu werden und besessen zu sein, darüber, an einer Abhängigkeit von einem anderen Menschen zu erkranken, ich schreibe über den selbstzersetzenden Versuch, sich von einem Menschen abzuwenden, der genetisch mit dir vollkommen übereinstimmt. “Ich weiss nicht, und vermutlich werde ich es niemals wissen, bin ich denn nun durch dich das Doppelte, oder bin ich die Hälfte von eins?“, fragt sich jene ohne Namen, und ich kann es ihr nicht wirklich beantworten, tendiere aber zur Hälfte. Der Versuch, sich selbst in aller Ruhe und auch Brutalität auseinanderzunehmen, um sich dann in aller Ruhe neu zusammenzusetzen, also eine radikale „Selbstersetzung“ durchzuspielen, hat mich enorm gereizt.   

Ich danke Nina Jäckle für alles!

Teil 2

Teil 3

GzD-Gallus-Frei-final Nina Jäckle wurde 1966 in Schwenningen geboren, wuchs in Stuttgart auf und begann früh, Hörspiele zu schreiben; es folgten Erzählungen und Romane, mit gehörigem Erfolg: Nina Jäckle erhielt u. a. den Tukan-Preis, den Evangelischen Buchpreis, den Italo-Svevo-Preis, die Förderung des Deutschen Literaturfonds sowie die Stipendien der Deutschen Akademie Rom Villa Massimo und des Internationalen Künstlerhauses Villa Concordia. Bei Klöpfer & Meyer erschienen zuletzt die Romane «Der lange Atem» (2014) und «Stillhalten» (2017).

Renata Jäckle, 88, studierte an der Kunstakademie Braunschweig und ist gelernte Grafikerin, sie lebt in Hamburg. Sie malt sowohl grossformatig in Mischtechnik auf Leinwand als auch in kleinerer Form mit Tusche.

Rezension von «Warten» auf literaturblatt.ch

Setzkastentexte auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © privat

Lieber Bär, Lieber Gallus #SchweizerBuchpreis 23/13 – die Prognose

«Literatur ist das Andere. Wobei mir wichtig scheint zu ergänzen, … das Andere, ohne das sein zu wollen.» Matthias Zschokke

Lieber Gallus

Dein wunderbares Literaturblatt hat eine Kraft und Ausstrahlung bis zum Pilatus! So hat deine Rezension und dein Interview mit Demian Lienhard über «Mr.Goebbels Jazz Band mich zu einer zweiten Lesung dieses Buchs (vergleiche meine Kritik im letzten Mail) geführt und ich habe nun Zugang zu diesem Werk gefunden und seine Sprachgewalt genossen. Es zeigte mir, wie meine Empfänglichkeit für gute Literatur beeinträchtigt war, einerseits wahrscheinlich durch die unmittelbar vorangehende Lektüre der Heptalogie Jon Fosses, andererseits durch viele unvorhergesehene Unterbrüche beim Lesen. Nun war meine Lektüre ganz anders. Mich beeindruckt, wie Demian Lienhard mit Lust und Können diese ungeheuerliche wahre Geschichte in einen Roman verpackt hat. «Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht», dieser vorangestellte Satz von Büchner gilt für alle Protagonisten, und auch ich muss mich fragen, wie ich mich in ihrer Situation verhalten hätte. Wie du geschrieben hast: kein Unterhaltungsroman!

Unabhängig davon, wer von den fünf nominierten den Schweizer Buchpreis in Empfang nehmen darf, bin ich allen nominierten AutorInnen für ihre so unterschiedlichen Werke dankbar und kann in der Buchhandlung alle fünf Bücher wärmstens empfehlen.

Noch ein Buchtipp:

Dank eines interessanten Interviews im Feuilleton einer Zeitung wurde ich auf den Roman «Vatermal» von Necati Oeziri aufmerksam. Ehrlich, authentisch und doch mit einer beeindruckenden Leichtigkeit wird die Geschichte eines jungen Mannes mit Migrationshintergrund erzählt, der ohne Vater aufwächst. «Wie sagt man «Papa», ohne dass ein Fragezeichen zu hören ist? Bis ich eine Antwort habe, bleibe ich bei Metin. Also: Wenn du das hier liest, Metin, werde ich wahrscheinlich tot sein.» Arda Kaya liegt schwerkrank auf der Intensivstation, er weiss nicht, ob er überlebt und versucht, über sein Leben dem unbekannten Vater schriftlich zu berichten. Ohne anzuklagen, bereit, vieles zu verzeihen, erfahren wir vom Schicksal einer Migrationsfamilie aus der Türkei, vom Leben des Heranwachsenden auf Plätzen mit Drogen und Gewalt, von der Schwierigkeit, einen Weg mit positiver Perspektive zu finden. «Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war. Du sollst erfahren, wie es deiner Familie in Deutschland ging, wie im letzten Sommer meiner Jugend alle meine Freunde verschwunden sind und wie auch ich versuchte, vor mir selbst zu fliehen.» Dieses Buch tut weh, rüttelt auf, gibt mir Einblick in ein Milieu, das wahrzunehmen für unsere Gesellschaft wichtig ist.. «Ich lasse meinen Blick durch die Mensa schweifen und springe von Gesicht zu Gesicht. Ich weiss, irgendwo hier müssen auch die anderen sein. Die, deren Mütter im Krankenhaus putzen. Deren Väter Taxi fahren…Aber sie sind wahrscheinlich wie ich: unsichtbar.»

»Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat», der Erstling von Demian Lienhard,  ist meine aktuelle Lektüre. Unglaublich originell und kompromisslos geschrieben erlebe ich hautnah Suchen und Scheitern von Alba und ihren Kolleginnen und Kollegen in der Zürcher Drogenszene um 1980. Ich habe kaum je einen authentischeren Einblick in dieses Milieu erhalten. Fragen nach dem Sinn unseres Lebens und Kritik unserer Konsumgesellschaft schwingen mit, literarisch überzeugend verarbeitet. Ich hoffe, dem Autor bald einmal persönlich begegnen zu können.

Herzliche herbstlich-nasse Grüsse aus der Innerschweiz 

Bär

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Lieber Bär

Keine Ahnung, ob Du Dich traust, Deine Favoriten für den Schweizer Buchpreis zu nennen und Deine Wahl gar zu begründen. Du hast alle fünf Romane gelesen. Glücklicherweise besteht eine Jury aus fünf Lese- und Buchbegeisterten, auch wenn diese mit ihrem Fachwissen und Leistungsausweis bei weitem nicht repräsentieren, wer im Buchgeschäft ein Buch kauft.

Die nominierten Bücher sind entsprechen einer gute Auswahl der Jury. Kein Buch, bei dem ich nicht nachvollziehen kann, warum es in der Liste der Nominierten ihren Platz hat.
Wenn ich mich selbst für einen Favoriten aussprechen soll, dann kann ich ein Favorisieren nur aus verschiedenen Perspektiven vornehmen. Und selbstverständlich sind meine Begründungen subjektiv:

Aus der Sicht des Buchhandels: (nur Hardcover!)
1. «Bild ohne Mädchen» von Sarah Elena Müller (Verkaufsrang 14),
2. «Sich lichtende Nebel» von Christian Haller (Verkaufsrang 17),
3. «Mr. Goebbels Jazz Band» von Demian Lienhard (Verkaufsrang 20),
4.
«Der graue Peter» Matthias Zschokke (Verkaufsrang 21),
5. «Glitsch» von Adam Schwarz (Verkaufsrang 23)

Aus der Sicht eines SRF-Votings (16. November):
1. «Mr. Goebbels Jazz Band» von Demian Lienhard 34%,
2. «Bild ohne Mädchen» von Sarah Elena Müller 29%,
3. «Sich lichtende Nebel» von Christian Haller 19%,
4. «Glitsch» von Adam Schwarz 10% und
5. «Der graue Peter» von Matthias Zschokke 8%. 

Ich glaube, dass es Christian Haller mit dem Roman «Sich lichtende Nebel» sein wird. Zum einen überzeugt er gleich vielfach: sprachlich, formal und in der Dichte des Geschriebenen. Zum andern wirken sich die unterschwelligen Themen auf unser Denken und Handeln aus. Christian Hallers Roman nimmt sich unserer Wahrnehmung der Welt an, relativiert, was wir als «Wahrheit» empfinden. Sein Roman provoziert Nachdenken, Auseinandersetzung. Selbst in den Themen, die uns aktuell beschäftigen, sei es die grassierende Gewalt oder das Ausblenden des Unumgänglichen, wenn es um Klimafragen geht – überall sind wir gefangen in der Art, wie wir wahrnehmen, wie wir die Dinge sehen.

Dass «Der graue Peter» von Matthias Zschokke in beiden Listen auf den letzten Plätzen auftaucht, schmerzt mich deshalb, weil das Buch mit Sicherheit thematisch aus der Reihe tanzt, sprachlich aber eine Perle ist.

Dann freue ich mich auf den kommenden Sonntag. Vielleicht sitzen wir doch noch nebeneinander!

Freundschaftlich

Gallus

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Lieber Gallus

Wer bekommt den Schweizer Buchpreis 2023?
Mein Dilemma besteht, da ich zwischen Haller und Zschokke wählen muss. Im Innersten hat mich «Der graue Peter» vielleicht ein My tiefer bewegt, ich finde ihn absolut ebenbürtig in seiner literarischen Qualität. Beide zeigen auf originelle und einzigartige Weise, welches Potential wir Menschen durch Wahrnehmung, Erfahrung und Offensein entwickeln können. Sie regen nachhaltig zum Nachdenken an, Haller analytisch genau, Zschokke poetisch.

Ich schlage vor, dass ausnahmsweise zwei Autoren den Buchpreis teilen, gibt es ja auch im Sport bei gleicher Renn-Zeit.

Zu deiner Einschätzung kann ich weiter nichts anfügen. Sie entspricht meiner ziemlich genau.

In unserer kleinen Buchhandlung hat, wie bereits einmal geschrieben, der Schweizer Buchpreis im Vorlauf keinen wahrnehmbaren Einfluss auf die Verkaufszahlen, Haller hat hier Zschokke aber übertrumpft. So muss ich annehmen, dass «Sich lichtende Nebel» gewinnen wird.

Herzliche Grüsse

Bär

Jan Wagner «gürteltier», Plattform Gegenzauber

gürteltier

I

manchmal kehren die toten zurück. sie rufen:
wir waren nicht tot, nur verschollen,
und plötzlich klumpt der zucker in den raffine-
rien, rutscht in rüben, rutscht in bollen

unter die äcker, aus der holzpiroge
wird wieder wald, der grabstein mit tiara
aus schnee gleitet zurück in sein gebirge
wie ein buch ins regal. zum beispiel das gürteltier.

II

schöpfungslaune, leder-staub-coquille,
bei nieselregen mit dem glanz von seifen-
blasen, hängt als stille discokugel
im morgendlichen tanzsaal der savanne,

wenn eine erste fokker oder cessna
den himmel auftrennt – oder kauert
gleich neben der entfernteren cousine
von dornbusch, kaktus oder taumelkraut;

wie unverhofft ins rampenlicht geschoben,
fast tapsig, aber springt durch alle ringe
seiner selbst; saturngegürtet, schuppen-
akkordeon, goldbraun oder orange;

gepanzert wie ein pferd beim lanzenritt
oder der ritter selber, der als staugut
von einem kran emporgehoben werden muß
                                          und in der schwebe hängt,
                                          für einen augenblick
nicht wissend, ob er abstürzt oder steigt.

III

getilgt von wein
     oder kurz davor,
im park vom hotel
     ambassador

allein mit der liege,
     der nacht von natal,
den fledermäusen
     samt ultraschall,

sehr tief aus dem funkeln
     im rücken, der bar,
ein schrei und ein letztes
     taumelndes paar,

ein fetzen von samba,
     zersplitterndes glas,
und einen moment lang
     im pampasgras

als flüchtige geste,
     als bitte zum tanz,
kaum da, dann verschwunden,
     dein zierlicher schwanz.

 

Jan Wagner «Steine & Erden», Hanser Berlin, 2023, 112 Seiten, CHF ca. 21.90, ISBN 978-3-446-27730-4

Jan Wagner, geboren 1971 in Hamburg, lebt seit 1995 in Berlin. Er ist Lyriker, Übersetzer englischsprachiger Lyrik (unter anderem von Charles Simic, James Tate, Simon Armitage, Matthew Sweeney, Jo Shapcott und Robin Robertson) sowie Essayist und war bis 2003 Mitherausgeber der internationalen Literaturschachtel „Die Aussenseite des Elementes“. Für seine Gedichte, die für Auswahlbände, Zeitschriften und Anthologien in vierzig Sprachen übersetzt wurden, erhielt er unter anderem den Preis der Leipziger Buchmesse (2015) und den Georg-Büchner-Preis (2017). Jan Wagner ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, der Freien Akademie der Künste in Hamburg.

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Beitragsbild © Nadine Kunath