Gallus Frei verabschiedet sich mit Gästen im Literaturhaus Thurgau

Und damit endet meine Intendanz am Literaturhaus Thurgau. Nicht weil es mit nicht gefallen hätte, weiterhin die verschiedensten Gäste ins schmucke Gottlieben am Seerhein einzuladen. Aber eine Amtszeit im Literaturhaus Thurgau ist stets zeitlich begrenzt und die Idee, mit jeder Neubesetzung frischen Wind ins Haus zu bringen, eine gute.

Mein Dank an die Bodman-Stiftung für das entgegengebrachte Vertrauen, den Geschäftsstellenleiterinnen der Stiftung Brigitte Conrad und Monika Fischer für die Zusammenarbeit, der Buchbinderin Sandra Merten für die Unterstützung, Sandra Kottonau für die in Freundschaft geschossenen Fotos. Ganz speziellen Dank gebührt Lea Le für all die Illustrationen, die meiner Intendanz ein eigenes Gesicht gaben.

«Lieber Gallus, während dreieinhalb Jahren hast du im Bodmanhaus ein ausserordentlich vielseitiges und spannendes Programm gestaltet. Du hast viele Autorinnen und Autoren eingeladen und das Publikum mit einer grossen Zahl von Büchern bekannt gemacht, die kennenzulernen sich jedes Mal lohnte. Zu Hilfe kam dir bei der Programmgestaltung deine enorme Belesenheit und deine grosse Neugier auf alles, was im Literaturbetrieb geschieht, auch dass du persönlich viele Autorinnen und Autoren kennst und mit vielen auch befreundet bist. Das alles konnte man beobachten in diesen dreieinhalb Jahren, und das Publikum hat davon profitiert. 
Zum Programmgestalten kamen dann auch die Moderationen deiner Veranstaltungen. Dank deiner Feinfühligkeit und Empathie sowohl den Autorinnen und Autoren als auch den Texten gegenüber ist es dir gelungen, jede Lesung zu einem interessanten Gesprächsanlass mit Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu machen, der dem Publikum den jeweiligen Text und die Autorin oder den Autor näherbrachten und zu neuen Einsichten führte. Der Besuch einer von dir moderierten Lesung hat sich immer gelohnt.

Du hast die Programmleitung in einer schwierigen Zeit übernommen. Kaum hast du angefangen, kam die Pandemie, was hiess, dass viele Veranstaltungen abgesagt oder umgeplant werden mussten. Das bedeutete viel Arbeit für dich, zum Teil auch vergebliche. Du hast dich aber nicht unterkriegen lassen. Nach der Pandemie wurde die Welt nicht besser, wie wir leider wissen. Da stellt sich die Frage, welchen Platz die Literatur in diesen Zeiten hat. Durch dein Programm hast du gezeigt, dass sie sehr wohl einen Platz hat, nicht nur in deinem Herzen oder im Bodmanhaus, sondern in der Welt – gerade auch dann, wenn diese aus den Fugen ist.
Für deine grosse Arbeit und dein Engagement für das Bodmanhaus danke ich dir im Namen des Stiftungsrats ganz herzlich. Ich freue mich darauf, dir bei weiteren Literaturveranstaltungen begegnen zu dürfen.» Lorenz Zubler, Präsident der Bodman-Stiftung

Meine Gäste an diesem Abend:

«Kalt war’s, und schön war’s. Wörter flogen auf, der Himmel segelte übers Wasser, das Ufer wurde unterspült, jemand bekam kaum Luft – Schreiben im Geborgenen, im Getriebenen. Darüber sprachen wir, und zum Glück hat Urs Faes all das gesagt, was ich vergaß zu sagen. Gallus Frei Tomic hat’s gebündelt und zu einem guten Ende zusammengeführt.» Alice Grünfelder 

«Durch tiefverschneites Land auf langen Umwegen zur Lesung (ein Abschied) gekommen. Atmosphäre über Fluss und Ort und unterm Dach: eine Musik, die trägt; Worte, Bücher, Gesichter, und noch einmal diese ganz besondere Stimmung, die Gallus schafft: so gerät man ins Gespräch, das tief und leicht zugleich ist, ein Abend, der unverwechselbar und erinnerungsdicht bleibt, eine nachklingende Freude.» Urs Faes

«Seit vielen Jahren sind Dominic Doppler am Schlagzeug und ich an den Saiten mit Gallus unterwegs. Unsere gemeinsame Liebe zum Geschichtenerzählen, sei dies in Worten oder mit Musik, verbindet uns. Der Verabschiedungsabend von Gallus in Gottlieben war wunderbar. Einmal mehr erlebten wir ihn als Menschenfreund, aufmerksamen Zuhörer und intelligenten Fragesteller. Durch seine Moderation erschliessen sich die gelesenen Texte in mehrdimensionaler Form. Das wir einmal mehr mit unserer Musik mit dabei sein durften, macht uns glücklich.» Christian Berger & Dominic Doppler

«Wir sind dir für die vielen Begegnung neben der einzigartigen literarisch-musikalischen Lesung in Gottlieben unendlich dankbar. Schwierig in Worte zu fassen, waren es doch tief beglückende Stunden, in denen alle Sinne angeregt wurden. Wir freuen uns, wenn du weiterhin als «Literaturblatt» am Bücherhimmel strahlst.» der Bär, ein Freund

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Das 65. Literaturblatt entsteht.

„Lieber Gallus Frei, was für ein sonderbar dickes Blatt Papier mit kleiner, dennoch gut lesbarer Handschrift drauf und einem Nachtfalter (?) – rätselhaft, aus der Zeit gefallen, und doch mitten in ihr drin, offenbar, denn die Titel und Autorennamen sind heutige…“ Matthias Zschokke

das 65. Literaturblatt

«Während das traditionelle Feuilleton nur noch in der Erinnerung an frühere Zeiten lebt, nimmt ein Literaturkenner aus der Ostschweiz den Begriff nicht nur inhaltlich, sondern auch formal ganz neu beim Wort und stellt sich vehement gegen die zunehmende Bedeutungslosigkeit der klassischen literarischen Rezension. Fünf Mal im Jahr inszeniert Gallus Frei-Tomic handschriftlich vier konzise Rezensionen auf einem schlichten A4-Blatt, jeweils versehen mit einer zeichnerischen Illustration. – «Literaturblatt» nennt er die kalligrafischen Preziosen, und das Understatement ist nicht Koketterie, sondern Ausdruck einer Haltung: die besprochenen zeitgenössischen Werke sollen in den Fokus des literarischen Interesses gerückt werden – nicht der Rezensent. 65 Blätter sind über die Jahre entstanden, und immer wieder stellt Gallus Frei-Tomic neu unter Beweis, dass er nicht nur ein genauer und empathischer Leser ist, sondern auch ein feinsinniger, präziser Kritiker, dem es gelingt, in wenigen Sätzen den literarischen Kern eines Textes auf den Punkt zu bringen. Das klassische Feuilleton mag im Sterben liegen; das ganz persönliche Feuilleton von Gallus Frei-Tomic aber lebt. Und wie!» Andreas Neeser

„Du hattest mir Dein wunderbares Literaturblatt 64 geschickt – mit Matthias Zschokke, Andreas Neeser, Anna Ospelt, Milena Michiko Flasar – und einem roten Punkt! Ich kannte diese Serie noch gar nicht, musste mich erst ein bisschen informieren, habe gestaunt und nochmal gestaunt…“ A. Baradun, Rotpunkt

«Das Literaturblatt ist ein geflügeltes Wesen, das von Buch zu Buch fliegt, verweilt, verbindet und vernetzt. Danke, lieber Gallus, für deine so wertvolle Arbeit für die Literatur. Herzlich» Anna Ospelt

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das 63. Literaturblatt

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CH05 8080 8002 7947 0833 6
ID (BC-Nr.): 80808
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Ruth Loosli «Sopran oder Alt?» – «Tschuldigung» 6

44,44, sagte der Mann an der Kasse und schaute überrascht. Ein interessanter Betrag, fügte er an. Ich stand in einem Bioladen in Konstanz und zückte meine Geldbörse, während ich ihn anschaute. Dass er diese Zahlen interessant genug fand, um sich zu äussern, liess mich innehalten. Sein Gesicht war schmal, es hatte etwas Römisches, die Augen strahlten verhaltene Wärme aus.
In der Geldbörse hatte ich Kleinnoten und eine letzte Visitenkarte mit Namen und Telefonnummer. Ich schob ihm einen 20 Euroschein zu mit der Visitenkarte, als wären die zwei Blätter verschweisst.
Er guckte kurz, legte den dicken Schein in die Kasse, nickte mir zu, seine Augen blieben freundlich, seine Mundwinkel zuckten leicht.
Dass ich einem wildfremden Mann soeben meine Telefonnummer gegeben hatte, überraschte mich.
Ich bin ja nicht mehr die Jüngste, glücklich geschieden, lebe gerne allein.
So what, dachte ich und vergass die Sache.
In meinem Bauch lag wenig später ein minimaler Teil eines Kalbes, das über Mittag als Gulasch serviert wurde mit Spätzle und Gemüse; so stand es auf der Karte und ich wollte unbedingt auf den See schauen. Für einen guten Platz muss man mitbezahlen, dachte ich und dankte dem Kalb, dass es mir Energie spendete.
Nach dem Essen und weiteren kleinen Einkäufen fuhr ich zurück nach Winterthur. Sommerlich warme und zu trockene Herbsttage folgten, danach schlich sich der Nebel in die Gassen. In mein Gemüt. 55 Jahre und zu oft allein.
Trotzig schmückte ich den kleinen Nadelbaum, der auf dem Balkon steht und sich bestimmt nicht auf den alljährlichen Glimmer freut. Hier ein Holzpferdchen an einer goldenen Schnur, dort ein Engelchen mit Posaune: Alles vor wenigen Jahren auf einem Seconhand-Weihnachtsbasar erstanden. Der ganze frühere Schmuck liegt beim Ex in einer Kiste auf dem Estrich.
Noch ein Esel, dachte ich, den hänge ich neben den Hirten.
Fertig.
Ich schenkte mir einen Cynar ein, goss Orangensaft dazu und betrachtete mein Werk.
Da läutete das Telefon. Es war am 19. Dezember.
Eine fremde Nummer leuchtete auf. Normalerweise nehme ich keinen Anruf einer fremden Nummer entgegen.
Hallo, sagte ich.
Eine männliche Stimme sagte hastig:
Tschuldigung, hier ist 44, 44 mein Name ist Joshua.

Ich musste mich setzen, doch das sah er natürlich nicht.
Eine Hitze schob sich vom Kopf in den Bauch in die Beine. Er. Ich sah ihn vor mir, seine warmen Augen, seine Mundwinkel.

Am 24. Dezember sass Joshua in meiner Stube, legte ein flaches Paket unter den Baum und betrachtete den Engel mit der Posaune.
Machst du Musik, fragte er.
Meine Gitarre ist kaputt, leider, sagte ich.
Aber ich singe oft für mich allein.
Er schaute mich an, näherte sich meinem Gesicht und fragte: Sopran oder Alt?

Von da an hatte ich einen Freund. Er hat eine großartige Singstimme. Er hilft nur manchmal aus im Bioladen in Konstanz. Trotzdem hat uns an jenem Tag eine Zahlenkombination zusammengeführt und mein Mut, ihm meine Telefonnummer zu geben. Der Zug trägt uns in 56 Minuten von einem Ort zum anderen. Dazwischen liegt allerdings eine Grenze. Wir sind am Überlegen, wie wir diese in schlechten Zeiten überwinden könnten.

Das Geschenk war übrigens in braunes Packpapier eingeschlagen und enthielt ein Buch. Es waren Gedichte von Rumi, einem Sufi-Mystiker aus dem 12. Jahrhundert.

„Das Leben ist kurz wie ein halber Atemzug – pflanze nichts als Liebe», stand als Widmung darin. Dein Joshua

© Vanessa Püntener

Ruth Loosli ist 1959 in Aarberg geboren und im Berner Seeland aufgewachsen. Sie ist ausgebildete Primarlehrerin und hat drei Kinder. Seit 2002 lebt und arbeitet Ruth Loosli in Winterthur, wo sie sich in verschiedenen literarischen Projekten engagiert. Neben dem Schreiben von Prosa und Lyrik gestaltet sie auch Schreibbilder. 2023 wurde Ruth Loosli für ihren Lyrikband «Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe» mit einem Preis der Stadt Zürich geehrt.

«Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe» Caracol; «In ihrem neuen Lyrikband zeigt sich Ruth Loosli wortverspielt und ernst zugleich. In fünf Zyklen vereint sie eine Vielfalt an Themen, die sie zu Gedichten und kurzen Prosatexten verwebt: Politik und Gesellschaft vermischen sich mit persönlichen Erfahrungen und Eindrücken. Alltägliche Bilder sind hinterlegt mit Fragen an diese Welt.

Illustration © leale.ch

Béatrice Bader «Anna» – «Tschuldigung» 5

Die kühle Nachtluft legt sich wie eine Decke um Annas Knie. Sie sitzt in vor dem offenen Fenster und beobachtet, wie die Schneeflocken auf dem Balkongeländer landen. Sie setzen sich nahe zusammen, als wollten sie verhindern, dass eine von ihnen frieren muss.

So nahe wie die Schneeflocken auf dem Geländer drängen sich die Gedanken in Annas Kopf. Eigentlich weiss sie genau, was zu tun ist. Auch jetzt, gerade in diesem Moment. Doch wie immer fühlt sie sich durch ihre Gedanken wie eingewickelt als sässe sie in einem Fadengespinst. Am Ende eines jeden Fadens sitzt ein Hund in Dackelgestalt wie an einer Leine. Da es viele davon gibt und jeder in seine Richtung rennt, verwickeln sich die Leinen in Anna Kopf ineinander zu einem unlösbaren Knoten. Nur manchmal gelingt es ihr, eine der Leinen zu lösen und ihr und dem daran hängenden Dackel zu folgen. Dies ist dann einer jener seltenen Glücksmomente, in denen Anna ganz bei sich ist und ihrem Weg folgenden kann, wenn auch nur für eine kurze Weile. Denn schon kommt der nächste Gedankendackel angerannt, will gestreichelt werden und verlangt ein lustiges Spiel, indem er an Annas Gedankenfaden zieht wie ein Hund an seiner Leine. Anna versucht dann wie immer dem Ziehen zu folgen, doch dabei verwickelt sie sich selber bis zur schieren Unbeweglichkeit. Und schon ist der Tag wieder vorüber, die Abendschatten tropfen vom Himmel wie zäher Brei. So wartet Anna auf den neuen Tag, weil sie weiss, damit bekommt sie eine neue Chance ihrer inneren Welt zu begegnen, um aufs Neue Bilder und Worte daraus zu schöpfen.

Dabei fühlt sich Anna wie ein Tagedieb. Das Wort Entschuldigung formt sich in ihrem Kopf, erst kaum hörbar, ganz klein und leise. Doch je mehr Stunden von der Tages- zur Abendseite rollen, umso lauter wird das Wort in ihrem Kopf. ENTSCHULDIGUNG dafür, dachte sie, dass ich heute wieder nichts Richtiges gemacht habe. Sie fühlt ein Ziehen an einem ihrer Gedankenfäden, versucht dem zu folgen, verliert sich in den tanzenden Schatten an der Zimmerwand, welche von der Abendsonne beleuchtet wird. Zu spät, denkt Anna, zu spät, um jetzt noch etwas Richtiges anzufangen.

Anna hat sich in ihrem Zimmer ein kleines Reich errichtet. Überall liegen Fundstücke und Sammelgegenstände. Anna liebt jedes einzelne Ding, versucht immer wieder eine neue Ordnung. Das gibt ihr das Gefühl, etwas Richtiges zu tun, ja sogar etwas Wichtiges. Wenn sie sammelt, verlieren ihre Spaziergänge das Gefühl von Nichtstun, was ihr immer ein schlechtes Gewissen macht. Was sie findet, fügt sie zuhause in ihre Sammlung ein. Um eine Übersicht zu behalten, hat Anna an den Wänden kleine Zettel aufgehängt, darauf verzeichnet sie den genauen Fundort mit seinen Koordinaten, Tag und Jahr und Zeit. Sie nummeriert die Zettel, damit sie weiss, wie gross ihr Reich inzwischen ist. Am Abend zündet sie die Kerzen an, die sie überall in ihrer Wohnung, die aus zwei kleinen Zimmern besteht, verteilt hat. Der Kerzenschein taucht alles in ein warmes Licht und lässt die hübsch angeordneten Dinge in einem Glanz leuchten, der niemand ausser ihr wahrnehmen kann. In diesen Momenten sind Annas innere Welt und ihr warm leuchtendes kleines Reich eins. Auch die am Ende ihrer Gedankenfäden angebundenen Dackel liegen zusammengerollt da und beobachten Anna aus schlafschweren Augen. Ein Wind, der zum Fenster hereinbläst, lässt die Kerzenflammen zittern und die Schatten über Wand und Zimmerdecke tanzen. Er wirbelt die gesammelten Federn im Zimmer herum, bis sie sich wie die Schneeflocken vor Annas Fenster eng beieinander niederlassen, bis sie alles unter sich bedecken, die Stuhllehne, den Tisch, den Zimmerboden. Jede einzelne Feder ein ungenutzter Tag, zusammen sind sie eine Decke von Wochen und Monaten vergangener Zeit. Entschuldigung, flüstert Anna, legt sich mitten auf den Fussboden und deckt sich mit der Federdecke zu. Sie schliesst die Augen und lässt im Kopf die Dackel von ihren Gedankenfädenleinen. Morgen, denkt sie. Morgen ist erster Weihnachtstag, da mache ich etwas Richtiges.

Béatrice Bader, *1968, ist Schweizer Konzeptkünstlerin und arbeitet multimedial.In ihrer künstlerischen Auseinandersetzung bewegt sie sich an der  Schnittstelle von Kunst und Theorie sowie hybriden Erzählformen (Bild-Text-Kombinationen). Sie ist tätig im Bereich der künstlerischen Forschung und Konzeptkunst, Collage, Performance, Installation und Interventionen im öffentlichen Raum.

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch

J. O. Morgan «Der Apparat», Rowohlt

Mit jeder Erfindung, jeder Erneuerung geht man davon aus, dass es zum Wohle der Menschheit, für den Fortschritt, zumindest zur Erleichterung des Lebens sein wird. Und selbstverständlich springt ein Grossteil der Menschheit dieser gebotenen Erleichterung auch euphorisch auf; Hauptsache neu, Hauptsache modern. Dass sich eine «bahnbrechende» Erfindung aber auch zum Gegenteil wenden kann, davon erzählt der Roman «Der Apparat» vom Schotten J. O. Morgan.

Sie erinnern sich an die Einführung des ersten Smartphones von Apple? Heute ein Apparat, der nicht mehr aus der Gesellschaft wegzudenken ist. Zum Wohle der Menschheit? Ich weiss nicht. Ob die Strahlungen in den Hosentaschen die Fruchtbarkeit der menschlichen Spezies fördern? Ob der kleine Bildschirm, das dauernde Glotzen in die Dinger die Kommunikation wirklich erleichtert? Was passiert, wenn man dereinst die Dinger nicht mehr an einer Steckdose aufladen kann?
Als das Auto die Strassen eroberte, begann das Zeitalter der scheinbar unbegrenzten Mobilität. Ein Gefährt, das einem zu jeder Zeit an jeden vorstellbaren Ort bringt. Heute kollabieren Städte. Jeder und jede, die sich ein Elektroauto ersteht, fährt mit dem irrigen Glauben, damit etwas für die Umwelt zu tun. Dabei ist jeder bisher gefundene Kraftstoff für Autos endlich. Nur tun wir so, als wären Silizium oder entsprechende Metalle unendlich verfügbar und der Abbau dieser Stoffe für die Umwelt problemlos.

J. O. Morgan «Der Apparat», Rowohlt, 2023, übersetzt von Jan Schönherr, 240 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-498-00302-9

J. O. Morgans Roman spielt in nicht weiter Zukunft. Man erfindet einen Apparat, mit dem man zu Beginn Dinge, später Lebewesen, Menschen, schlussendlich alles zusammen von einem Ort zu einem andern «schicken» kann, anfangs durch ein dickes Kabel, später durch den Äther. Man erinnere sich an Mr. Spock und Captain Kirk, die sich in der TV-Serie «Raumschiff Enterprise» mittels Energie durch den Raum beamen konnten. Eine durchaus verlockende Vorstellung. Keine Vehikel mehr, die Räume verstopfen, keine Einschränkungen mehr in Sachen Distanz.
Zuerst stellt man Menschen kleinere kühlschrankartige Geräte in die Häuser, später werden Menschen von Apparat zu Apparat geschickt, zuerst zu Testzwecken, dann überall. Irgendwann verschwindet die einstige Transportinfrastruktur ganz, weil sie nicht mehr gebraucht wird. Das Leben auf dem Planeten verändert sich durchschlagend. Alles, was sich bewegt, selbst die Beschaffung von Lebensmittel, ist auf diese Apparate angewiesen. Und kaum jemand zweifelt daran, dass es nicht irgendwann und irgendwo Pannen gibt. Was passiert, wenn sich nicht alle Atome und Moleküle in der richtigen Zusammensetzung formieren? Was passiert, wenn Hacker sich an den Apparaten und Verbindungen zu schaffen machen? Was passiert, wenn das System zusammenbricht? Welchen Mächten setzt man sich aus, wenn man sich jedem Fortschritt blindlings verschreibt?

Was sich wie eine Dystopie, ein Zukunftsroman liest, hat längst begonnen. Mit Sicherheit auch ein Grund, warum immer mehr Menschen in ihrem Unwohlsein alle erdenklichen Theorien zusammenbauen, um sich den Zustand der Welt zu erklären. Wir bedienen uns Hilfsmittel, die ebenso undurchschaubar wie unverzichtbar geworden sind. Solange alles reibungslos zu funktionieren scheint, stellen wir uns keinen unbequemen Fragen, obwohl ein Grossteil der Menschen ahnt, dass der Fortschritt wohl nicht immer ein Schritt in eine bessere Welt ist. Um in einen endlosen Abgrund zu stürzen, braucht es auch einen Schritt fort.

«Der Apparat» ist aber nicht nur Schreckensszenario. J. O. Morgan schildert Vorgänge, Geschehnisse und Auswirkungen aus den verschiedensten Perspektiven, unabhängig von Zeit und Ort. Er zwingt mich in eine beklemmende Ausweglosigkeit und unweigerlich in Selbstreflexion darüber, wie weit ich mich schon knebeln und fesseln lasse von Apparaten aller Art. In klarer, bildhafter Sprache erzeugt er eine Stimmung, die mir nach und nach den Atem nimmt.

J. O. Morgan, geboren 1978, wurde für seine Lyrik mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Costa Poetry Award. «Der Apparat» ist sein zweiter Roman, der für den Orwell Prize for Political Fiction nominiert ist. J. O. Morgan lebt in Edinburgh, Schottland.

Jan Schönherr, 1979  geboren, absolvierte nach dem Studium der Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft und Germanistik und einem Auslandsjahr an der Université de Poitiers das Aufbaustudium »Literarisches Übersetzen aus dem Englischen« in München. Seit 2009 ist Schönherr als literarischer Übersetzer aus dem Englischen, Französischen und Italienischen tätig. Für seine Arbeit wurde er mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Bayerischen Kunstförderpreis und dem Förderpreis der Kunststiftung NRW 2019.

Beitragsbild © Jack Rouncey

Raphael Schweighauser «Jeux d’esprit» – «Tschuldigung» 4

Sie wäre fast soweit, würde Mutter meinen. Würde die Tür hinter mir schliessen. Die lila Kugeln ihrer Kette würden mit jeder Bewegung lustig klacken. Ich durchliefe eine Wand aus schwerem Parfüm und kaltem Nikotin, hinein in die zu warme Stube. Würde vergessen, meine Schuhe auszuziehen, weshalb Mutter betonen würde, sie hätte stundenlang geputzt. Mutter würde mein Kinn halten, nach links und rechts drehen. Würde meinen, dass ich mich ruhig hätte rasieren können. Dass ich aussehen würde wie ein Mufti. Ich würde sagen, dass man das so tragen würde, dass etwas länger modern wäre. Ich würde die Schuhe ausziehen, mich auf das graumelierte Sofa setzen, zu Vater, der einen Tennismatch schaut.

Er würde mir zunicken. Würde fragen, ob ich denn keine Zeit gehabt hätte, mich zu rasieren. Dass er sich nicht sorgen solle, würde ich meinen, das Kamel wäre draussen angebunden. Was das denn zu bedeuten hätte, würde Vater wissen wollen und dann fragen, wie es beim Schaffen so liefe. Ich würde antworten «gut», und dabei nicken. Was er aber nicht sehen könnte, weil er den Aufschlag verfolgen würde. Ich würde Mutter fragen, ob ich ihr helfen könnte. Dass aber alles bereit wäre, würde sie meinen. Würde dann mit zwei Gläsern Weisswein auftauchen und mir eines in die Hand drücken. Ich würde es zögerlich nehmen, während Vater breitbeinig mit seinen Arbeiterhänden einen grossen Schluck Weizenbier nehmen würde.

Wie es denn so beim Schaffen liefe, würde sie wissen wollen. Und ich würde antworten «gut» und dabei nicken. Sie würde sich ein Stapel Chips Provençale in den Mund schieben, dabei die Handfläche unter den Mund halten. Würde dann Vater anstupsen, weil er sich am Gespräch beteiligen sollte. Was Vater aber nicht bemerken würde, weil auch der zweite Aufschlag zu weit links aufkäme. Worauf ich an meinem Weisswein nippen würde, der zu warm wäre. Mutter würde zittrig eine Zigarette anzünden, die Parisienne Jaune würde dabei mit jedem Zug in ihrem Mundwinkel auf und ab wippen. Dann würde sie kräftig daran ziehen. Ihre Kette würde dabei aufgeregt klacken, zu ihren Gesten applaudieren. Bevor sie wieder in die Küche gehen und nach dem Essen schauen müsste.

Der Tennismatch würde sich ziehen, weil beide sehr gut oder gleich schlecht spielen würden. Vater würde es hin und wieder kommentieren, mit jedem Schluck Bier häufiger. Würde manchmal aufschreien, was der Seich solle. Behaupten, er hätte ganz klar auf links gezielt, backhand. Ich würde nicken, meinen Blick zwischen Fernseher, Glastisch und meinem leeren Weinglas hin- und her wechseln, meinem sicheren Dreieck. Würde die Beine übereinanderschlagen wollen und es dann doch nicht tun, weil Vater dabei wäre. Würde irgendwann aufstehen, meinen, ich würde Mutter helfen wollen. Würde mir dann in der schmalen Küche Wein einschenken und die Flasche in den Kühlschrank stellen.

Würde sehen, dass Mutter draussen die ausgetrockneten, farblosen Hortensien inspizierte, mit einer frischen Zigarette in der Hand. Sie würde mir versichern, dass sie dieses Jahr besonders prächtig gewesen seien. Ich würde kurz heraustreten, die kalte Luft geniessen und auf dem Gartentischchen ein Trinkglas entdecken, gefüllt mit in Regenwasser ertränkten Zigarettenleichen. Dann würde mich Mutter wieder hinein scheuchen, weil es doch gleich Essen gäbe.

Ich würde mich an den Birkenholztisch setzen, mit meinem Weinglas, dass bereits wieder zur Hälfte geleert sein würde. Ich würde Mutters Bewegungen aus der Küche hören, das Öffnen und Schliessen der Backofentüre. Würde sie fluchen hören, wo denn der Weisswein wäre, «Nundefahne nomol!» Würde den Kommentator aus dem Fernseher und Vater aus der Stube hören. Während vor mir die rote Kerze bereits auf das weisse Tischtuch tropfen würde. Mutter würde Saucen auf den Tisch stellen und Mineralwasser in PET-Flaschen.

Vater würde seinen Platz einnehmen, während der Fernseher weiterliefe. In einer halben Stunde käme ein Fussballmatch, würde er meinen und dabei den Rotwein entkorken. Ich würde den getrockneten Bund Hortensienblüten beiseiteschieben, um Platz zu schaffen. Schliesslich würde Mutter mit dem Filet Wellington kommen, es präsentieren und sogleich zerschneiden, es auf unsere Teller hieven, mit der braunen Sauce bedecken. Wer denn jetzt wieder die Hortensien verschoben hätte, würde Mutter wissen wollen. Vater würde allen Rotwein einschenken. Abgelenkt vom Applaus der Kugeln, der Parfumwerbung aus dem Fernseher, «femme fatale, c’est moi!» und der tropfenden Kerze würde ich es verpassen, Vater vom Rotweineinschenken abzuhalten.

Ich würde ihm schliesslich erklären müssen, dass ich noch fahren müsste und dass Rotwein nicht so meins wäre. Er würde meinen, ich sollte nicht so tun. Den Weissen hätte ich auch hinuntergespült. Und würde fragen, seit wann ich denn keinen Rotwein trinken würde. Ich würde es bereuen, erklären zu müssen, dass ich Roten noch nie gemocht habe. Weshalb Vater fragen würde, weshalb ich immer so kompliziert sein müsste. Ich wäre dann wieder vorsichtig genug, darauf nicht zu antworten. Stattdessen würde ich im Kartoffelstock herumstochern. Was Mutter bemerken und meinen würde, was das denn sollte, ob ich nicht warten könnte. Wo ich denn aufgewachsen wäre, würde sie meinen. Ich würde die Gabel zur Seite legen und die roten Wachsflecken auf dem Tischtuch fixieren. Vater würde anstossen wollen und das Glas heben.

Und überhaupt, was gäbe es sonst Neues, würde Mutter wissen wollen. Ob ich eine Freundin hätte. Ich würde dann den Kopf schütteln. Aber weil Vater sein Filet Wellington in noch mehr Sauce ertränken würde, könnte er es nicht sehen. Er würde sagen, ich sollte meiner Mutter antworten. Dass es eine ganz normale, eine legitime Frage wäre, würde er meinen. Weil er das Wort legitim in der Arena sagen hörte und es gebildet tönte. Ich würde sagen, dass ich eben keine Freundin hätte. Weshalb Mutter meinen würde, es hätte sie doch nur wundergenommen. Dass sie doch noch fragen dürfte. Weshalb ich immer so privat wäre, würde sie meinen. Ihre Stimme würde sich überschlagen, höher und schriller werden. Nie würde ich von mir erzählen, würde sie meinen, dass ich sie beide ausschliessen würde. Sie würde behaupten, ihr wäre der Appetit vergangen, mir die Schuld geben, dass sie jetzt doch noch eine rauchen müsste, obwohl sie heute keine mehr rauchen wollte.

Sie würde aufstehen, eine Zigarette anzünden, im Staccato daran ziehen. Sie würde in den brachliegenden Garten schauen, zu den toten Hortensien. Vater wäre bereits wieder in der Stube und würde den Anpfiff schauen. Auf dem Tisch wäre die Kerze zur Hälfte abgebrannt. Das Filet Wellington würde kalt sein. Sauce, Erbsen und Kartoffelstock würden ungekostet danebenliegen. Ich würde aufstehen, die Schuhe anziehen. Würde das Geschenk nicht unter die geschmückte Nordmanntanne in Rot-Gold legen, sondern auf das kleine Tischchen im Gang, neben Schlüsselbund und Rechnungen. Kurz warten, ob ich vielleicht noch Mutters Stimme oder Vaters Rufe hören würde. Würde das Lexikon an ungesagten Wörtern hinunterschlucken. Würde dann die Türe öffnen und hinausgehen. Ich würde draussen stehen, meinen Atem sehen und von der nächtlichen Ruhe überfordert sein. Ich würde zum Auto gehen, den Motor starten, auf leeren Strassen nach Hause fahren.

Wenn ich jetzt auf die runde Türklingel drücken würde.

Raphael Schweighauser lebt in Luzern. Der 32-Jährige schreibt hauptsächlich Kurzgeschichten und besucht derzeit den Lehrgang Literarisches Schreiben an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich. Falls der gebürtige Basler ausnahmsweise kein Buch zur Hand hat, keine Tasten drückt und Texte hervorbringt, arbeitet der ausgebildete Soziologe in der Raumentwicklung und beschäftigt sich mit stadtentwicklerischen Fragen.

Illustration © leale.ch

Christine Bonvin «Sprachlos» -«Tschuldigung» 3

Wer hätte das gedacht? Niemand. Wirklich niemand kann sich vorstellen, dass der Samichlaus vor einer Fünfjährigen verstummt.

Tinas Einfallsreichtum kannte beinah keine Grenzen. Ständig hatte sie Ideen, spann Geschichten im Kopf und überraschte die Erwachsenen mit ihren Gedankengängen. Unter anderem holte sie sich Inspiration aus den Globibüchern. Zum Beispiel band sie eines Tages ein Portemonnaie an einen unsichtbaren Faden, legte es auf die Straße vor dem Haus und versteckte sich hinter dem Gartenzaun. Ein Mann bückte sich, um nach dem Geldbeutel zu greifen, aber Tina zog ruckzuck am Faden und brachte das gute Stück in Sicherheit.  Der verdutze Mann hörte ein Kichern im Busch.

Wenn sie nicht zu Streichen aufgelegt war, hörte sie Märchen ab Tonband. Mit Vorliebe das der Gebrüder Grimm „Von einem der auszog, das Fürchten zu lernen“. Ihre Eltern sorgten sich manchmal, ob der Unbekümmertheit und fantasievollen Ausflügen ihrer Tochter, ließen sie aber gewähren. Nur ab und zu hoben sie den Mahnfinger und sagten: „Wenn du nid brav bisch, chunnt de Samichlaus, steckt dich in Sack und nimmt dich mit in Schwarzwald. I sim Waldhüsli muesch du hälfe schaffe und chasch kein Schabernack meh anstelle.“

Tina beeindruckte das nicht. Ein Plan begann zu wachsen. Sie konnte sich prima vorstellen, wie es wäre, in einer Hütte im Wald zu wohnen, mit dem Nikolaus und seinem Esel. Ob der Mann wohl auch eine Frau hatte?, fragte sie sich. Denn ihre Mutter beklagte sich immer wieder darüber, dass Tinas Hosen Löcher hatten, auf die sie Flicken nähen musste. Aber vielleicht besaß der Samichlaus ja selbst eine Nähmaschine und konnte damit umgehen. Und sonst wäre es auch egal. So wichtig waren ihr die Klamotten nicht.

„De Samichlaus chunnt morn, aber muesch kei Angscht ha. Er bringt dir sicher öppis mit“, verkündete die Mutter anfangs Dezember. Tina freute sich. Für sie war es unvorstellbar, dass jemand, der den Kindern Geschenke brachte, nicht lieb war. Diejenigen, die eine Fitze bekamen, hatten es wohl verdient, denn sonst würden sie ja keine bekommen – oder? Und weil sie neugierig war, wie es im Schwarzwald sein würde, packte sie ihre Siebensachen in einen Plastiksack. Eine Unterhose, ein Unterhemd, Socken, einen Pulli, die Lieblingshose und ihren Stoffdackel Seppli. Sie sagte niemanden etwas und lernte brav das Sprüchli auswendig, das der Vater ihr beibrachte:

Was isch das für es Liechtli,
was isch das für en Schii?
De Chlaus mit de Laterne
lauft grad de Wald durii.
Siin Esel, de hät glade,
er rüeft I-a, I-a!

Hüt dörf ich mit mim Meischter
emal is Schtedtli gaa.
Im Sack da häts vill Nüssli,
au Tirggel, Zimetstern,
die träg ich, au wänn’s schwer isch,
für d‘ Chinde schüli gern.

Ihre Gedanken schweiften immer wieder zum drolligen Esel, den sie füttern und streicheln wollte und dem Häuschen im tiefen, dunklen Tannenwald. Das würde ein Erlebnis. Sie freute sich riesig. Sie konnte es kaum erwarten. Um sich abzulenken und die Zeit zu vertreiben, ging sie in den Garten. Dort stand ein Stechpalmenstrauch. Sorgfältig zupfte sie ein paar der stacheligen Blätter ab. Sie plante eine kleine Überraschung für ihren Bruder. Er hatte sie ausgelacht, als sie ihren Vers auswendig gelernt hatte.

„Du bringsch sicher keis Wort use, wenn de Chlaus da isch. Dänn vergoht dir din Uebermuet. Und will du immer so frech bisch mit mir, nimmt er dich sicher mit.“

Sie hatte ihm wortlos einen Tritt ans Bein versetzt. Nun schlich sie unbemerkt in sein Zimmer, platzierte die stacheligen Blätter auf der Matratze seines Bettes, formvollendet versteckt unter dem Leintuch. Es schauten nur die Spitzen aus dem Laken am Fußende. Moritz würde eine picksende Überraschung erleben, wenn er sich hinlegte. Aber er hatte es verdient, kleine Schwestern auslachen, war nicht nett. Vor dem Nikolaus brauchte sie keine Angst zu haben, der war unterwegs. Der spähte jetzt bestimmt nicht durch das Fernrohr, um Mädchen zu beobachten, wie sie ihren Brüdern Streiche spielten. Außer er hätte die Engel angestellt. Dieser Gedanke verunsicherte sie ein wenig. Aber sie würde es ihm später überzeugend erklären, falls er sie darauf ansprach.

Endlich läutete die Türglocke und Tina hörte ein Glöcklein bimmeln. Jetzt war er da, der große Moment. Sie rannte zur Türe und begrüßte den rotgekleideten Mann mit dem weiß gelockten Bart und den wallenden Haaren überfreundlich: „Sali Samichlaus, mir händ scho uf dich gwartet.“
„Guete obig, Tina. Danke für de fründlich Empfang. Ich freue mich uf de Besuch be dir und dinere Familie.“
„Und wo hesch de Esel?“, fragte Tina.
„De het sich leider de Fueß verstucht. Er ruht sich dehei us. Ich bin mit em Auto unterwägs.“
„Oh, de Armi!“

Die Eltern führten den Samichlaus in die Stube. Er setzte sich in Vaters Sessel. Unter seiner Brille durch schaute er die beiden Kinder prüfend an. Moritz trat hinter Tina. Es war, als wolle er sich ein wenig verstecken. 
„So, ihr zwoi. Sind ihr au immer brav gsi?“
„Meischtens“, antwortete die Kleine, ohne lange zu überlegen.
„Denn wott i emol luge was i do ine stoht!“, brummte der Claus in seinen Bart.

Er öffnete das dicke, rote Buch und schaute streng zu Moritz.
„Du hilfsch de Eltere viel im Garte. Und i de Schuel schaffsch fliessig. Aber du söttisch dini Schwöster weniger ärgere.“
Moritz nickte beschämt. Der Claus griff in seinen Sack und zog ein Geschenk daraus.
„Ich ha dir öppis mitbrocht. Aber zerscht wotsch mir sicher es Versli uf säge?“
„Sami niggi näggi, hinderem Ofe steggi, gib mir Nuss und Biere, denn chummi wieder führe“, ratterte der Junge runter. Er ging einen Schritt auf den Samichlaus zu, nahm das Säckli entgegen und stand schnell wieder hinter seine Schwester.
„Und jetzt, chumm ich dra?“, fragte sie ungeduldig.
„Jo, ich luge emol, was über dich im Buch stoht.“
Der Claus runzelte die Stirn.
„Du bisch es liebs Chind, füetterisch immer s Büsi und tusch abtische nach em Äße. Du hesch aber öppe emol Flause im Chopf und chunsch z spot zum Zmittag, ohni d’Händ z wäsche.“
„Das isch nid so schlimm, Samichlaus. Weisch, de Papi seit immer, es bitzeli Dräck sig gesund.“
Der Nikolaus schmunzelte in seinen Bart.
„Ich chumme aber trotzdem mit dir in Schwarzwald. Ich hälfe dir bim Säckli mache. Und de Esel möchti au streichle. Mini Sache han i scho packt.“
Der Samiclaus öffnete und schloss den Mund, ohne etwas zu sagen. Er schaute das Kind verwirrt an. Sie stand strahlend und erwartungsvoll vor ihm und wartete auf seine Antwort. Die Eltern und der Bruder standen wie versteinert da.
„Tschuldigung. I ha di glaub nid rächt verstande. Du wottsch mitcho?“
„Jo. Ich mache au kei Arbet. Im Gägeteil, ich hälfe dir. Wenn du nid chasch Chleider flicke, isch das glich, denn laufi mit verrissene Hose ume.“

Langsam kam der Mann zur Besinnung. 
„Dis Mami, de Papi und din Brüder würdet dich sicher vermisse, wenn du furt gingsch.“
„I chumme jo wieder hei. Und sie händ scho lang gseit, dass i emol zu dir dörf.“
Er öffnete den Jutesack und meinte: „Jo, wenn du meinsch. Denn muesch aber i de Sack ine. Das i dich cha mitneh.“
Tina griff zu ihrem Plastiksack, den sie hinter den Sessel gestellt hatte, und stieg in den Jutesack.
„Tschüss, zäme“, winkte sie den verdutzten Eltern zu.
Diese schauten sich und den Claus fragend an. Was jetzt? Spätestens beim Raustragen würde sich das Kind anders besinnen, dachten sie und gaben sich entsprechende Handzeichen. Aber sie täuschten sich gewaltig.

Mit dem Bündel über den Schultern schritt der Nikolaus verunsichert bis zur Türe, öffnete sie und wartete auf eine Reaktion. Es kam keine. Er trug den Sack bis zum Auto, legte ihn hinten in den Kofferraum und rührte sich nicht von der Stelle.
Die Mutter zog ihren Mann am Arm und flüsterte: „Du muesch öppis mache. Das dörf doch nid wohr si.“ 
Dieser meinte geduldig: „Wart emol ab.“
Tina lag im Sack, mit ihren Reisesachen. Sie freute sich auf den Esel und die Hütte im Tannenwald. Müdigkeit überkam sie und sie fiel in einen tiefen Schlaf.

Unterdessen überlegten die Eltern und der ratlose Samichlaus, was zu unternehmen sei. Es gab nur eine Lösung. Sie trugen den Sack wieder ins Haus. Tina war unendlich enttäuscht, als sie auf dem Sofa im Elternhaus erwachte. Ihr Traum vom Ausflug in die Schwarzwaldhütte hat sich in Luft aufgelöst. Warum der Nikolaus nie mehr zu Besuch kam, erfuhr sie erst Jahre später.

© Yvon Poncelet

Christine Bonvin ist im Aargau aufgewachsen, lebt aber seit vielen Jahren in Sierre im Wallis. Als Betriebswirtschafterin setzte sie ihre Energien ein, um eine Firma aufzubauen. Die Geschichten schlummerten in einer Schublade, bis es Zeit war sie herauszuholen. Nebst drei Krimis wurden auch ein Freizeitführer und zahlreiche Kurzgeschichten in Anthologien veröffentlicht.

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch

Retzhofer Dramapreis 2025 – Ausschreibung

Der Retzhofer Dramapreis ist ein Preis für Einsteiger:innen im Bereich Szenisches Schreiben, er unterscheidet sich von vielen anderen Preisen im deutschen Sprachraum. Das Besondere: Bewerber:innen werden in der Arbeit an ihrem Wettbewerbsbeitrag von Expert:innen für Szenisches Schreiben (Regisseur:innen, Dramaturg:innen, Schauspieler:innen und Autor:innen) kostenlos beraten und unterstützt.

Gerade die Verbindung aus Stückentwicklung und Wettbewerb erhöht die Chancen der jeweiligen Teilnehmer:innen mit ihren Stücken in der Theaterwelt wahrgenommen und aufgeführt zu werden. Dies beweist der Werdegang von Autor:innen wie Gerhild Steinbuch, Johannes Schrettle, Natascha Gangl, Ewald Palmetshofer, Christian Winkler, Henriette Dushe, Ivna Žic, Susanna Mewe, Ferdinand Schmalz, Miroslava Svolikova, Allex Liat Fassberg, Thomas Perle, Lisa Wentz und Leonie Lorena Wyss.

Der Retzhofer Dramapreis wird in drei Kategorien ausgeschrieben. Die Ausschreibung „für Erwachsene“ richtet sich bevorzugt an Einsteiger:innen. Seit 2021 wird der Preis auch für zwei Stücke in der Kategorie „für junges Publikum“ verliehen. Mit diesen Preisen (für Kinder von 4-8 Jahren, sowie für Jugendliche von 9-13 Jahren) möchte das DRAMA FORUM junge ebenso wie erfahrene Autor:innen dazu anregen bzw. dabei unterstützen, auch für ein junges Publikum qualitativ hochwertige Texte zu schreiben.

Der Preis ist mit jeweils 7.000 Euro dotiert.

Wie bewirbt man sich?
Man sendet per E-Mail (dramapreis@uni-t.org) einen Lebenslauf, einen Stückentwurf und zwei ausgeschriebene Szenen des Stücks. Per Post bitten wir um Zusendung des Lebenslaufs, des Stückentwurfs und der zwei ausgeschriebenen Szenen des Stücks in vierfacher Ausfertigung an uniT, sowie um eine eigenhändig unterschriebene Erklärung (in einfacher Ausfertigung), dass das Stück bisher noch nicht veröffentlicht ist, von keinem Verlag vertreten wird und von den Autor:innen selbst stammt. Wichtig ist auch sowohl im Mail als auch im postalisch übermittelten Text zu vermerken, für welche Kategorie eingereicht wird.

Die ausgeschriebenen Szenen sollten den Umfang von elf Seiten nicht überschreiten. Wenn das eingesandte Stück länger ist, bitten wir die Einsendenden, die von der Auswahljury zu lesenden Seiten zu markieren. Die Einsender:innen erklären sich bereit, im Falle der Auswahl ihres Projekts an den Workshops zur Stückentwicklung von uniT teilzunehmen und ihr Stück fertig zu stellen.

Zeitplan
Der Einsendeschluss für die Bewerbungen ist der 04. Februar 2024. Bis Mitte April 2024 erfahren die Einsendenden, ob sie in den Bewerber:innenkreis für den Preis aufgenommen werden. Ende Juni starten die insgesamt vier geblockten Workshops – zumeist am Wochenende (3 x drei Tage, 1 x vier Tage). Die Termine und Orte der Workshops werden rechtzeitig bekannt gegeben. Die Kosten für Unterkunft an den Workshop-Orten sowie für die Anreise sind grundsätzlich von den Teilnehmer:innen selbst zu tragen. Die Preisverleihung wird im Juni 2025 erfolgen.

Einreichung
Die finalen Texte werden der Preisjury anonymisiert vorgelegt.

Rechte
uniT erwirbt mit der Teilnahme der Bewerber:innen das Nutzungsrecht, kostenlos Ausschnitte aus den Stücken öffentlich zu präsentieren und die Uraufführungsrechte für die fertig gestellten Stücke, um das jeweilige Stück mit den Kooperationspartner:innen zu realisieren.

Unsere Kooperationspartner:innen für die Uraufführungen:
Kategorie „für Erwachsene“: Burgtheater Wien
Kategorie „für junges Publikum“: Next Liberty gemeinsam mit TaO! Theater am
Ortweinplatz und Theater an der Parkaue –Junges Staatstheater Berlin.

DSGVO
Die Einsendenden erklären sich damit einverstanden, dass ihre Texte an die
Jurymitglieder weitergegeben werden.

Kontakt
uniT GmbH
Jakominiplatz 15/5
A-8010 Graz
Tel.: +43 316 380 7480
Mail: dramapreis@uni-t.org
www.dramaforum.at/retzhofer-dramapreis

Florjan Lipuš «Die Verweigerung der Wehmut», Bibliothek Suhrkamp

Ein Mann kehrt an den Ort seiner Herkunft zurück. Nicht freiwillig, denn mit dem Tod seines alten Vaters kehren die Erinnerungen zurück, das, was er vor Jahren mit seinem Wegzug in die Stadt hinter sich lassen wollte. Florjan Lipuš schmaler Roman „Die Verweigerung der Wehmut“ ist ein Sprachkunstwerk, ein literarischer Kristall, der das Licht auffächert!

Dass dieses Buch nach seiner deutschen Ersterscheinung 1989 im Residenz Verlag, die slowenische Erstausgabe unter dem Titel „Jalov Pelin“ erschien 1985 im Drava Verlag in Klagenfurt, nun in der gediegenen Bibliothek Suhrkamp erscheint, mag mit dem Gastland Slowenien an der Frankfurter Buchmesse 2023 zusammenhängen. Aber wahrscheinlich viel mehr mit der Tatsache, dass Florjan Lipuš längst zu einem Sprachgiganten geworden ist und die Bibliothek Suhrkamp jener Ort, dem dieser Text gebührt.

Florjan Lipuš «Die Verweigerung der Wehmut», Bibliothek Suhrkamp 1533, 2023, aus dem Slowenischen von Fabjan Hafner, 128 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-518-22533-2

Als Florjan Lipuš 1981, vier Jahre zuvor, mit seinem Roman „Der Zögling Tjaž“, der von Peter Handke und Helga Mračnikar übersetzt wurde, viel Aufmerksamkeit weckte, stieg ein Stern auf, der zum Fixstern wurde, auch wenn der Autor selbst sich nie in den Vordergrund rückte. Florjan Lipuš Roman hat nichts von seiner Sprachmächtigkeit verloren. Als würde man vor einem kolossalen Bild stehen, von dem man erahnt, dass es auch in ferner Zukunft Besucherinnen und Besucher demütig werden lässt. „Die Verweigerung der Wehmut“ zeigt alles, womit sich Florjan Lipuš bis heute beschäftigt; mit der Klarheit und dem Farbenreichtum einer Sprache und den Erinnerungen zwischen Trauma und Traum. Dieser Roman lässt mich staunen. Da schreibt jemand, dessen Sprachmacht taumelnd macht, der nicht nur mit einem Instrument spielt, sondern mit einem ganzen Orchester. Sprache, die mich zutiefst berührt und eine Erzählweise, die mit jedem Buch den Schmerz in schöpferische Kraft umzuwandeln weiss.

Die Geschichte des Romans ist schnell erzählt. Ein Mann, der in der Stadt ein neues Leben aufgebaut hat, kehrt ins Dorf seiner Herkunft, seiner Kindheit, seines Traumas, seines Urschmerzes zurück. Sein Vater ist gestorben, man trägt ihn zu Grabe. Schon im Zug dorthin drängt sich in Träumen und Gedanken der Alp der Vergangenheit auf; die Verschleppung der Mutter, die Strenge und Härte des Vaters und die Enge des Ortes tief in den Bergen Südkärntens. Er erreicht das Dorf und bleibt doch für sich. Er taucht ein in die Riten und Gebräuche eines Dorfes, den immer wiederkehrenden Totengesang eines Lebens, das von Traditionen und Geboten geprägt ist. Er bleibt aussenvor, ein Betrachter, der weniger durch das Geschehen, als durch das, was es auslöst, in die archaische Gegenwart hineingezogen wird. Es tauchen Bilder, Vergessenes, Vedrängtes auf, so intensiv, dass es den Erzähler hinaustreibt, weiter hinein ins Tal, bis an jenen Ort, wo von den Resten jenes Hauses, in dem das Urtrauma geschah, fast nichts mehr zu erkennen ist. Aber was sich die Natur zurückgenommen hat, bleibt in den Erinnerungen des Erzählers wie ein zäher, klebriger Brei.

„Die Verweigerung der Wehmut“ ist ein lyrisch geschriebener Prosatext, der weit mehr als bloss nacherzählen will. In lange mäandernden Sätzen, farbig gezeichneten Bildern zwischen Groteske und Traumbildern, hyperrealistischen Szenarien und tiefsitzender Melancholie, beschreibt Florjan Lipuš einen Mann, der mit sich kämpft, der sich den Resten einer verlorenen Kindheit anzunähern versucht. Als ob der Autor die Sicht zurück mit den inneren Bildern einer Camera obscura beschreibt; über die Wirklichkeit hinausfliessend. Florjan Lipuš kann, was vielen verwehrt bleibt; Er braucht die Sprache nicht, er spielt auch nicht mit ihr – seine Sprache ist Musik!

Florjan Lipuš, geboren 1937 in Kärnten, lebt in Sele/Sielach (Unterkärnten). Er veröffentlicht auf Slowenisch: Romane, Prosa, Essays, szenische Texte. Mehrere seiner Bücher erschienen in deutscher Übersetzung, darunter «Der Zögling Tjaž», übertragen von Peter Handke und Helga Mracnikar. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt 2018 den Grossen Österreichischen Staatspreis und 2019 den Goldenen Verdienstorden der Republik Slowenien.

Fabjan Hafner, geboren 1966 in Klagenfurt, studierte Deutsche Philologie und Slawistik (Slowenisch ) in Graz und war seit 1998 am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung in Klagenfurt tätig. Für seine Übersetzungen, unter anderem von Florjan Lipuš und Tomaž Šalamun, wurde er vielfach ausgezeichnet. Hafner lebte bis zu seinem Tod im Jahr 2016 in Feistritz im Rosental/Bistrica v Rozu (Südkärnten).

«Schotter» von Florjan Lipuš, Rezension

«Seelenruhig» von Florjan Lipuš, Rezension

Beitragsbild © Marco Lipuš

Katharina Michel-Nüssli «Die Rache» – «Tschuldigung» 2

«Tschuldigung», sagte er und verschwand. So zerbrach ihre Teenagerliebe. Jana war siebzehn und hatte ihrem Jugendfreund soeben gestanden, dass sie schwanger war. In diesem Moment zerbrach auch ihre Kindheit, die Unschuld hatte sie schon früher verloren. Als Dorfschönheit war sie es gewohnt, umschwärmt zu werden. Daumen rauf oder runter. Sie bekam, was sie wollte. Die attraktivsten Jungs. Sie hatte viele Neiderinnen. Bereits fühlte sie deren Spott ihren Rücken hinaufkriechen. Ihre Leibesfülle würde sie nicht verbergen können. Die Schule hatte ihr als Treffpunkt und Laufsteg gedient. Dort wurde ihr die Anerkennung zuteil, die sie sich so sehnlich von ihrem Vater gewünscht, und die er ihr ebenso beharrlich verweigert hatte. Mit guten Noten konnte sie nicht brillieren, da fehlten ihr gewisse geistige Fähigkeiten und das Interesse, das sie lieber auf andere Gebiete lenkte wie Mode oder Schwärmereien für die angesagten Film- und Musikgrössen.

Am Ende der Schulzeit fand sie in der nahen Kleinstadt eine Anstellung in einem gut besuchten Café an der Einkaufsgasse. Trotz Überredungskünsten der wohlmeinenden Lehrerschaft mochte sie keine Ausbildung antreten. Es lockten das schnelle Geld und die Selbständigkeit. Der Lohn war mässig, doch besserte sie ihr Gehalt mit Trinkgeldern auf. Ihr charmantes Wesen lockerte manchen Geldbeutel. Dass sie nie einen Arbeitsvertrag unterschrieben hatte, kümmerte sie wenig. Die Welt lag ihr zu Füssen, besonders in letzter Zeit, als sich ein junger Banker namens Kenny besonders grosszügig gab. Typ Sonnyboy im Anzug. 25 Jahre alt. Eines Tages lud er sie zum Apero ein. Dann zum Abendessen. Dann ins Kino. Schliesslich zu sich nach Hause. So nahm die Geschichte ihren Lauf.

Das Kind wurde geboren, ein süsses Mädchen, wie konnte es anders sein. Rosanna wurde der Grossmutter in Obhut gegeben und wuchs vorwiegend bei ihr auf. Jana verlor ihre vertraglich nicht abgesicherte Stelle. Das Arbeitslosenamt schickte sie in ein Programm für Jugendliche ohne Ausbildung, wo sie rudimentäre Schulkenntnisse aufarbeitete und bald eine Praktikumsstelle in einem Coiffeurgeschäft antreten konnte. Sie stellte sich so geschickt an, dass ihr ein Ausbildungsplatz an selbigem Ort angeboten wurde. Sie sagte zu. Mit der Berufsschule bekundete sie einige Mühe, doch schaffte sie die Lehre und trat hinaus in eine solidere Selbständigkeit als zuvor. Sie zog in eine grössere Stadt und arbeitete im Salon eines renommierten Haarkünstlers. Regelmässig traf sie ihre Tochter, die bereits den Kindergarten besuchte. Am liebsten nahm sie die Kleine an Jahrmärkte und auf Einkaufstouren mit. Ersteres, weil das Kind das Karussellfahren liebte und sich nach Herzenslust mit Zuckerwatte verschmierte, Letzteres, weil Jana sie selber einkleiden wollte. Der Geschmack ihrer Mutter schien ihr zu altbacken. Ihre Tochter sollte sich nicht schämen müssen.

Am Martinimarkt, als Rosanna vergnügt ihre Runden auf einem Einhorn drehte, meinte Jana, an der Glühweinbar Kenny zu entdecken. Seit dem abrupten Abschied hatte sie ihn nicht mehr gesehen, da er fortan das Café mied, in welchem sie damals arbeitete. Auch später gab es keine Begegnungen mehr. «Entschuldigung, wenn ich dich anspreche; bist du Kenny?», hörte sie sich sagen. Befremdet musterte er sie. Er hatte sich verändert. Die Haare schon leicht ergraut und auch nicht mehr so dicht, das fiel ihr sofort auf. Die Augen blau wie eh und je, doch ohne die frühere Leidenschaft. Dass sie sich viel mehr verändert hatte, war ihr nicht bewusst. Rot gefärbte Haare, Side Cut und Piercing in Nase, Zunge und Augenbraue. «Schon möglich», brummte er und wendete sich ab. Seine Kumpane, geschleckte Anzugträger allesamt, schienen sich zu amüsieren. «Seltsamer Frauengeschmack … Nutte …», klang in ihren Ohren nach. Verdammte Aasgeier, dachte sie und suchte ihre Tochter, die schon vom Karussell heruntergestiegen war und weinend nach ihrer Mama rief.

Es ging auf Weihnachten zu, der Salon lief auf Hochtouren. Man brezelte sich auf fürs Fest, der perfekte Haarschnitt musste her. Jana wollte soeben in die Mittagspause gehen, da sah sie ihn. Kenny betrat strahlend das Geschäft und liess sich von Jasmin zum Stuhl in der Herrenabteilung geleiten. Jana stupfte sie an und zog sie hinter das Gestell mit den Pflegeprodukten. «Überlass mir diesen Kunden», raunte sie. «Ich erkläre dir später, warum.» Jasmin zuckte mit den Schultern und liess ihre Kollegin gewähren.

«Bitte den Nacken sauber ausrasieren und oben etwas mehr stehen lassen.» Jana machte sich ans Werk. Obwohl sie es zu vermeiden suchte, begegneten sich ihre Blicke im Spiegel. Sie war sicher, dass er sie erkannt hatte. Umso besser, dachte sie und führte den Rasierer immer weiter hinauf, bis sie seinen Scheitel erreicht hatte. «Was machst du da!», entsetzte er sich. Und weil sie nicht aufhörte, sprang er auf und entledigte sich seines Umhangs. «Das bezahle ich nicht!», empörte er sich und steuerte dem Ausgang zu. Sie stellte sich vor ihn hin und sagte: «Tschuldigung!»

Katharina Michel-Nüssli, geboren 1964, aufgewachsen in Kollbrunn im Tösstal, lebt in Amriswil, verheiratet mit Moritz, zwei ausgeflogene Kinder, Primarlehrerin, Lerntherapeutin, Jobcoach, hat ein Buch mit kurzen Texten «Sommersprossen und Kondensstreifen» geschrieben. Aktuell im Diplomlehrgang Literarisches Schreiben, SBVV, geleitet von Michèle Minelli und Peter Höner. Ich liebe das Lesen, die Natur, die Gerechtigkeit, die Musik und natürlich Menschen, die mein Leben prägen und geprägt haben.

Illustration © leale.ch