Rebekka Salm «Wie der Hase läuft», Knapp

Zu glauben, die eigene Geschichte, die Geschichte der Familie, würde sich wie eine lange Kette Perle an Perle aneinandereihen, sie bestünde aus Nacherzählbarem, erliegt dem Irrtum, Geschichten wären Geschichte. Rebekka Salm erzählt von einer jungen Frau, die erkennen muss, das die Suche nach Klärung sich in einem Knoten offener Enden verstricken kann.

Was wir aus unserer Geschichte und den Geschichten unserer Ahnen mitnehmen, sind Versatzstücke. Mit der Wahrheit ist es wie mit den Sternen. Einige leuchten hell, die sehe man sofort. Andere seien zu schwach, um sie von blossem Auge sehen zu können, sagt Heinz zu Teresa, der Protagonistin in Rekekka Salms zweitem Roman „Wie der Hase läuft“. Teresa, die in Heinz Karres Brockenstube arbeitet, all den gestrandeten Dingen ein Preisschild anbringt und sie mit Geschichten belegt, Geschichten die die Dinge mit Bedeutung versehen. 

Wir interpretieren, was wir aus unserer Perspektive sehen. Wir geben Geschichten Bedeutungen, Gewicht. Teresa ahnt, dass in der Geschichten ihrer Familien schwarze Löcher jene Geschichten bedrohen, die ihr Selbstverständnis ausmachen. Nicht zuletzt darum, weil jene Menschen sterben, die erklären und klären könnten, was nie zu Ausgesprochenem wurde. So wie die Grossmutter ihres Mannes, Emma, die nach dem Tod ihres zweiten Mannes zurück in ihre Heimatstadt Amsterdam siedelte, dorthin, wo ein Mord sie einst aus ihrem Glück spülte. Teresa muss zusammen mit ihrem Mann Mirco die Wohnung der Grossmutter räumen, Zimmer voller Erinnerungen, voller Zeugnisse eines Lebens, das mit dem Tod Geschichten und Geschichte ins Vergessen reisst.

Rebekka Salm «Wie der HAse läuft», Knapp, 2024, 195 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-907334-20-1

Mirkos Grossmutter Emma hatte schon vor ihrer Heirat mit ihrem Grossvater eine Geschichte. Damals gab es einen Mann, gab es Cees, mit dem sie verheiratet war. Ein versprochenes Glück, das nur ein paar Monate dauerte, bis in Cees Bäckerei 1943 ein Schuss fällt. Bis ein junger deutscher Soldat seine Walter zieht, weil Cees nicht aufhört, dieses eine Lied „Oh, du lieber Augustin“ zu singen, jenes Lied, das den Soldaten peinigt, weil es jenen Schmerz zurückbringt, vor dem er in der Uniform der Wehrmacht zu fliehen versucht. Der Soldat schiesst und Cees stirbt in den Armen seiner Frau, in Emmas Armen. Emma kommt in die Schweiz zu einer Tante, beginnt ein neues Leben, heiratet den schweigsamen Bruno, gründet eine Familie. Eine Familie, in der sich der Alp fortsetzt, ein Alp vor dem sich Teresa fürchtet, vor dem sie sich manchmal einschliesst in einem Schrank in der Brockenstube ihres Chefs. Weil der Schrank jener Ort ist, in dem sie Ordnung sucht, Erklärungen, in dem sie die Versatzstücke zuzuordnen versucht.

Wenn du wissen willst, wohin der Hase läuft, musst du wissen, aus welcher Richtung er gekommen ist, sagt sie zu ihrem Mann Mirco, der die Versessenheit seiner Frau nicht nachvollziehen kann. Ich muss Licht ins Dunkel bringen. Die Fallgruben markieren. Mirko will keine Antworten. Ihm genügen seine Ahnungen. Erst recht, weil Teresas Grossvater Wede damals im Krieg als junger Soldat in Amsterdam stationiert war. Erst recht, weil Teresa weiss, dass jener Soldat, der den ersten Mann jener Grossmutter in dessen Bäckerei in Amsterdam erschoss, den selben Namen trägt wie ihr Grossvater.

Teresa beginnt zu fragen. „Wie der Hase läuft“ erzählt Geschichten ihrer Eltern, Geschichten von Mircos Eltern, von den Grosseltern, all jener, die Spuren in ihrem Leben hinterliessen. Geschichten, die ahnen lassen, dass die Fassaden, hinter der sie sich verbergen, ganz andere Geschichten erzählen. Geschichten von Untaten, Geschichten von Entzweiung, Geschichten von Wunden. Während Rebekka Salm in ihrem Debüt „Die Dinge beim Namen“ das Geschichtengeflecht eines ganzen Dorfes in der Horizontale erzählte, ist „Wie der Hase läuft“ ein Geflecht in der Vertikalen, in der Zeit, über drei Generationen, in den Wirren der Historie, in den Leerstellen des Verborgenen. Rebekka Salms Roman ist nicht der Versuch „Licht ins Dunkel“ zu bringen, sondern die erzählte Erkenntnis, dass Wahrheit nicht zu greifen ist. Ein beeindruckender Zweitling!!

… und mindestens ein Grund für eine Reise nach Leukerbad ans Internationale Literaturfestival vom 21. – 23. Juni 2024!

Interview

Romane vermitteln, vielleicht zu oft, den Eindruck, sie würden Ordnung in Geschehnisse, in die Geschichte bringen. Aber sowohl die Historie, wie die ganz eigene Geschichte, ist die der Auslassungen, des Vergessenen, Verschwiegenen, Überblendeten. Ist „Wie der Hase läuft» die erzählte Widerlegung?
Eine Widerlegung vielleicht nicht – eher eine andere Sichtweise darauf. Oder eine Grossaufnahme des Stoffes, aus dem die vermeintliche Ordnung besteht. Ich glaube, dass wir als Menschen bestrebt sind, unser Leben und das Leben unserer Familie in eine konsistente und sinnhafte Geschichte zu verpacken. Aus diesen Geschichten wiederum konstituieren wir unser Selbstbild. Dagegen ist nichts einzuwenden. Ich selbst, mache es nicht anders. Auch ich brauche Ordnung (Daten, Namen, Erlebnisse, die alle schnurstracks und unverschnörkelt zu mir und dem heutigen Tag führen). Und doch glaube ich, dass diese Kausalitäten, die wir herstellen aus erzählten Fragmenten und Erinnerungen viel lückenhafter und viel weniger «objektiv wahr» sind, als wir uns das einzugestehen getrauen.

Sterben Menschen, sterben Ahnen, dann reissen sie Geschichten mit ins unwiederbingliche Vergessen. Selbst wenn wir in Wohnungen Verstorbener Ding für Ding in die Hand nehmen, ist ihnen die Bedeutung genommen. Erinnerungen werden zu reinem Material. Sie rematerialisieren sich. Du bist Mutter einer Tochter, Tochter einer Mutter. Ist die Art deines Erzählens die Vergewisserung, was Geschichte mit uns macht? Dass es nicht bloss die eine Sichtweise gibt? Dass es entscheidend sein kann, ob man die Fähigkeit des „Sich-hineinversetzens» erlernt?
Geschichten sind leicht und flüchtig wie Gas. So zumindest stehts im Roman «Wie der Hase läuft». Man kann sie – im Gegensatz zu den materiellen Hinterlassenschaften – schlecht greifen, nicht festhalten, ihren Wert nicht in Geld bemessen und auch nicht ihren Einfluss auf unser Selbstbild. Sind wir es, die Geschichten erfinden oder erfinden die Geschichten nicht viel eher uns? Es spielt eine Rolle, welche Geschichten meine Mutter mir erzählt hat und welche ich meiner Tochter erzähle. Es spielt eine Rolle, ob ich die Geschichten laut erzähle und mit stolzgeschwellter Brust oder ob ich sie verschämt flüstere. Es spielt eine Rolle, was man mir verschwiegen hat – aus Angst oder Unvermögen – und was ich wiederum verschweigen werde. Aber schlussendlich geht es vielleicht auch darum, dass wir lernen loszulassen und jede*r für sich die Wahrheit findet, die für sie*ihn lebbar ist.

Blick ins Notizbuch © privat

„Die Dinge beim Namen» war ein erzähltes Netz über ein ganzes Dorf, ein Erzählen in die „Horizontale» mit punktuellen Bohrungen in die Vergangenheit. Dein zweiter Roman scheint einem vertikalen Prinzip zu folgen, einer versuchten Bohrung in die Zeit, über drei Generationen und darüber hinaus. War das das Resultat der Erkenntnis, dass ein Zweitling dem Erstling nicht einfach folgen darf?
Ich denke beim Schreiben viel weniger strategisch, als ich vielleicht müsste. Ich habe «Wie der Hase läuft» nicht in Abgrenzung zu meinem Debüt geschrieben. Sondern vielleicht eher in Ergänzung? In beiden Romanen geht es um die Macht von Geschichten und die Frage, wie sicher wir uns eigentlich sein können, dass das, was wir für die Wahrheit halten, auch wirklich wahr ist. Aber im Vordergrund stand die Lust am Schreiben einer Familiengeschichte, am Detektiv-Spiel in Raum und Zeit, am Verwirrspiel: Was ist History und was «nur» Story?

Ein Leben auf der Flucht …. Ein Leben in steter Angst, entdeckt und gefressen zu werden. Wir können dem nicht entfliehen, was wir verursachen. Weder die ProtagonistInnen in deinem raffiniert konstruierten Roman, noch wir, die wir uns den Geschichten aussetzen. Die Tatsache, dass wir gefressen werden, freut die Pharmaindustrie und TherapeutInnen aller Couleur. Wir haben es noch längst nicht geschafft, das Schweigen zu durchbrechen. Teresa muss sich selbst befreien. Belügen wir uns selbst, indem wir glauben, Ängste, Verletzungen, ein Alp liesse sich „heilen»?
Heilen finde ich ein grosses Wort und eine nicht minder grosse Aufgabe. Ich bin aber auch keine Psychotherapeutin. Vielleicht geht es mir in meiner Deutung weniger um heilen und mehr um integrieren. Es gab schlimme Erlebnisse in meiner Familie, in meiner Kindheit? Ok. Sie gehören zu mir. Es gibt Lücken in meiner Geschichte, die nicht (mehr) zu schliessen sind? Gut. Auch sie gehören zu mir. Der Stoff, aus dem mein Leben besteht, ist weit weniger heil als ich es möchte – er ist löchrig, er hat dunkle Stellen. Aber es ist eben mein Stoff. 

der letzte Schliff im Haus am See Krämerstein © privat

Teresa arbeitet in einer Brockenstube. Ein Ort voller toter Erinnerungen. Sie erzählt den KundInnen in den vollgestellten Räumen Geschichten zu den Dingen, gibt ihnen Bedeutung zurück. Unsere Wohnungen, unsere Zimmer sind vollgestellt mit Erinnerungen, materialisierter Geschichten. Wenn wir sterben, ist ihnen der Zauber genommen. Aus Erinnerungen wird wieder reines Material, dass tonnenweise entsorgt wird. Brauchen wir all diese Erinnerungen, um uns zu vergegenwärtigen, um unserem Leben wenigstens den Anschein zu geben, eine Spur zu hinterlassen?
Ja. Und gleichzeitig scheint mir diese Antwort zu einfach. Wir kaufen und horten auch Dinge, weil sie schön sind. Weil wir uns daran freuen können Zeit unseres Lebens. Weil sie uns das Leben bequem machen. Weil sie die Bojen sind, die über Geschichten schaukeln, die wir gerne erzählen. Weil diese Geschichten uns an das kleine Glück erinnern – und manchmal auch an das grosse.

Rebekka Salm ist Gast am 28. Internationalen Literaturfestival in Leukerbad vom 21. – 23. Juni 2024!

Rebekka Salm, geboren 1979 in Liestal und wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin, Moderatorin und Erwachsenenbildnerin. Mit ihrem bemerkenswerten Debütroman «Die Dinge beim Namen» (2022) schaffte sie es in die Bestsellerlisten und wurde bereits zu über hundert Lesungen eingeladen. Rebekka Salm wurde mit diversen Preisen ausgezeichnet: Förderpreise der Kantone Solothurn und Basellandschaft, Dreitannen-Förderpreis der Hans und Beatrice Maurer-Billeter-Stiftung.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Frederike Asael

Helga Bürster «Steine», Plattform Gegenzauber

Der Alte kniete auf dem Platz vor dem ehemaligen Verwaltungsgebäude, in dem jetzt die Anderen wohnten. Er arbeitete immer hier, wenn die Galeerensklaven mit ihren brüllenden Gesängen aufzogen. Sie fingen schon wieder an, die Pflasterung aufzureißen, als er unten auf der Straße angekommen war. Vom Balkon aus hatte er den Platz im Blick, nur kam er nicht mehr so schnell die Treppe runter. Es war nicht der erste Aufzug vor dem Gebäude und er kannte den einen und die andere. Nachbarssöhne und Töchter. Er war selbst ein Galeerensklave gewesen, damals, er kannte sich aus. Wenn sie kamen, ging er mit seinem Fäustel auf die Straße. Er  musste wieder in Ordnung bringen, was sie anrichteten. Einer musste die Löcher flicken, die sie rissen. Einer musste das alles wieder heil machen. Wozu war er Steinsetzer gewesen. Einer der Besten. Er räumte auf, setzte Stein um Stein an seinen Platz zurück, und kümmerte sich nicht um die

Vorwärts! vorwärts!

Schlacht, die um herum tobte. Er hörte nicht hin, langte nach einem weiteren Basaltstein, der lose herumlag, und drückt ihn in ein Loch. Dann nahm er den Fäustel und klopfte Stein um Stein im Sandbett fest. Ein Knallkörper zischte dicht an seinem Ohr vorbei, eine Weile hörte er nichts mehr. Er sah nicht auf. Er arbeitete weiter, immer weiter, von Loch zu Loch, während um ihn herum neue aufgerissen wurden. Er wollte das nicht sehen, auch dann nicht, als die Polizei kam und alle aufforderte, den Ort zu verlassen. Niemand hörte darauf. Ein Wasserwerfer schleuderte einen Strahl über ihn hinweg. Harte Tropfen regneten auf seinen Rücken nieder. Er bückte sich nach einem weiteren   

mögen wir auch untergehn

Stein, obwohl sein Kreuz schmerzte. Berufskrankheit. Er war längst zu alt zum Kriechen, aber er hatte Schuld zu begleichen.   
Ein junger Kerl riss ihm den Stein aus der Hand, den er gerade

Mann für Mann!

aufgehoben hatte. Einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke und er sah sich selbst, seinen alten Hass, die Angst und Wut. Er wusste noch gut, wie sich das angefühlt hatte. Der Junge mit dem Stein war in dem Alter, in dem er selbst ein  Galeerensklave geworden war. Er packte den Jungen am Handgelenk. 
„Ich kenne dich.“
„Fresse halten!“
Der Junge riss sich los, nahm Anlauf, streckte sich, holte in einer eleganten Bewegung aus, als ob er das tausend Jahre geübt hatte, und

durch unsere Fäuste

schleuderte den Stein gegen das brennende Haus. Ein Tier im Sprung, blutberauscht, schön und abscheulich. Das dachte der Alte, obwohl er sich das Denken lange abgewöhnt hatte. Der Stein prallte gegen die Wand aus Plexiglasschilden, hinter der sich die Ordnungshüter so schnell verschanzt hatten. Dahinter turnten die Anderen schutzlos auf den Simsen und Balkonen, einer hing wie eine Bettdecke von einer Brüstung, Scheiben barsten und Flammen schlugen aus Fensterlöchern. Das Haus schrie. Ein Feuerwehrwagen blieb im Gewühl stecken. Eine sprang aus dem dritten Stock, angefeuert noch und beklatscht.
„Immer schön runter! In den Dreck. Dreckspack!“
Er hatte nur kurz hingesehen und den Kopf dann wieder gesenkt. Er hatte besseres zu tun, er flickte

durch Nacht und durch Not

die Löcher, die gerissen wurden und auch diejenigen, die gerissen worden waren. Alle Löcher dieser Welt zu flicken, etwas Besseres hatte er nicht zu bieten.

„Fünf Millimeter, wenn´s recht ist. Ein deutscher Mann sieht nicht aus wie ein Zigeuner oder Jud!“ 
Der Friseur, der einen Kerl aus ihm machen sollte, war ein schmächtiges Bürschchen gewesen, einer mit flottem Führerbärtchen und zackiger Pose. Er selbst hatte auf dem Stuhl im Herrensalon gesessen, die Haut klebrig vom Schweiß, das rissige Kunstleder kratzte im Rücken. Im Spiegel lief ein Film mit ihm als bestem Nebendarsteller. Wie ich zu dem wurde, was ich zu sein habe. Sein Vater hatte hinter ihm gestanden, stramm auf den Beinen, während der Friseur auf dem Jungenflaum tänzelte, der auf den Boden schneite. Als er ihm schließlich den Nacken ausrasierte, wurde ihm kalt. In der Geschichtsstunde hatte der Lehrer Bilder von römischen Galeerensklaven gezeigt.  Abbildungen alter Ölgemälde. Die Sklaven hatten ausgesehen, wie er jetzt, wie sein Vater schon lange. Wie alle. Der Lehrer hatte gesagt, der geschorene Kopf sei das Mal der Unterwerfung unter die römischen Herren gewesen. Bestimmt hatte er gelogen, denn sein Vater behauptete doch, sie seien jetzt und immerdar

Kamraden, dir!

die Herren der Welt. 
Ein leiser Zweifel hatte ihn damals befallen, der bohrte seitdem in ihm, ob er nämlich Worten trauen konnte. Je nachdem, wer sie aussprach und wer sie hörte, bedeuteten sie mal dies und mal das. Dazu kamen die Spitzfindigkeiten, die er nicht begriff.  Also war er lieber Steinsetzer geworden, denn ein Stein ist ein Stein. Heute wusste er, dass selbst das nicht immer stimmte. 
Er kroch auf Knien weiter und sammelte einen Armvoll ausgerissener Balastquader ein. Sorgfältig reihte er sie neben dem Loch auf, das er zu flicken begonnen hatte. Er erkannte mit bloßem Auge, dass alles passen würde, denn er hatte schon zu viel geflickt, da konnte ihm niemand etwas vormachen. Jemand stieß ihn in den Rücken. Sirenen heulten. Gelbblaues Licht zuckte über den Platz. Er arbeitete bedächtig. Sein Herz schlug im Takt des Fäustels. Er atmete ruhig. Aus dem Dach schlug

die neue Zeit

das Feuer. Balken krachten, Scheiben klirrten und er hob für einen Moment den Blick, um zu sehen, was da los war. An einem Fenster stand eine Frau, ihr Umriss zeichnete sich vor den Flammen ab, die hinter ihr loderten. Unten breitete die Feuerwehr Sprungtücher aus. Sie hielt ein Kind im Arm. Wie damals, dachte er und verfluchte sich fürs Hinschauen, aber es war nicht mehr zu ändern. Die Bilder schoben sich übereinander. Die alten und die neuen. Es gab ein Hier und ein Da. Die Frau von damals hatte auch ein Kind gehalten, Flammen im Haar, die heilige Barbara, während unten die Galeerensklaven Löcher rissen. Die Frau hatte ihn angesehen und das Kind

flattert uns voran

geworfen. Und er?

Der nächste Stein passte in das nächste Loch. So ist es gut, dachte er. Sein Herz schlug wild, denn der Führer persönlich hatte ihm damals die Hand geschüttelt, war aus seinem Bunker gestiegen, hatte ihm zugelächelt mit zuckenden Mundwinkeln, ihm und ein paar anderen Jungs, die eilig zusammengekratzt worden waren, den Krieg noch zu gewinnen, so kurz vor dem Ende, Kanonenfutter, das man dem Schüttelgelähmten vor die Füße stellte, um seinen Tremor zu besänftigen. Ein schöner Frühlingstag war das gewesen und so voller Hoffnung, denn die Kirschbäume hatten geblüht. An diesem wunderschönen Frühlingstag verlieh

wirst leuchtend stehn

der Führer ihnen Orden. Warum hatte die Frau damals ausgerechnet ihn angesehen? Er war nur ein kleiner Galeerensklave gewesen, der von nichts gewusst hatte. Seine Knie schmerzten. Der Stein, den er gerade hielt, fiel ihm   

als der Tod

aus der Hand. Er hob ihn auf und legte ihn in das Loch, das er für den Stein vorgesehen hatte, aber er passte nicht hinein. Alles tat ihm weh, der Nacken am allermeisten. Er streckte seine schmerzenden Glieder. Die Frau mit dem Kind stand immer noch da. Sie blickte ihn in

Ewigkeit!

an.

 

Helga Bürster, geboren 1961, ist in einem Dorf bei Bremen aufgewachsen, wo sie auch heute wieder lebt. Sie studierte Theaterwissenschaften, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, war als Rundfunk- und Fernsehredakteurin tätig, seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Sachbücher und Regionalkrimis, zudem wurden von Radio Bremen/ NDR sowie vom SWR Hörspiele von ihr ausgestrahlt. 2019 erschien ihr literarisches Debüt «Luzies Erbe» und 2023 ihr Roman «Als wir an Wunder glaubten«, beide bei Insel/Suhrkamp.

Beitragsbild © Uwe Stalf/Insel 

Douna Loup «Verwildern», Limmat

Als ich vor mehr als zehn Jahren den ersten in Deutsch erschienen Roman von Douna Loup las, hatte ich das Gefühl, eine Perle gefunden zu haben, etwas Besonderem begegnet zu sein. „Verwildern“ ist die konsequente Fortführung einer ganz eigenwilligen Stimme, die sowohl in der Form wie in ihrer Tonalität Resonanzen erzeugt, die weit über das Übliche hinausgehen!

„Die Schwesterfrau“, Douna Loups deutschsprachiges Debüt, wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung, dem Prix Michel Dentan und dem Prix Senghor du premier roman francophone. Dass es 12 Jahre dauerte, bis Douna Loup mit einem zweiten Buch auf dem deutschsprachigen Markt erscheint, mag verschiedene Gründe haben. An Gelegenheiten zu Übersetzungen hätte es nicht gefehlt. Mit Sicherheit belohnt „Verwildern“ aber die Neuentdeckung. Zu hoffen ist, dass „Verwildern“ weit über die Schweiz hinaus wahrgenommen wird. Buch und Autorin hätten es mehr als verdient.

„Verwildern“ erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die als Mädchen zusammen mit ihrer Mutter weit draussen aufwuchs, eingebettet in die Natur, als Teil ihrer selbst. Keine paradiesische Kindheit, aber eine Kindheit in absoluter Unmittelbarkeit, wörtlich hautnah mit der Natur verbunden. Umso grösser ist der Schrecken, als das Mädchen erfährt, dass sie nicht nur einen Vater hätte, sondern auch noch einen drei Jahre ältern Bruder. Aber weil es nach ihrer Geburt zum Bruch zwischen Mutter und Vater kam und dieser die junge Mutter mit der Tochter alleine zurückliess, wird das Wissen um einen bisher nicht existierenden Bruder zu einer ultimativen Kraft, mit der das Mädchen die Mutter zwingt, sich gemeinsam mit ihr auf die Suche zu machen. Auf die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen.

Douna Loup «Verwildern», Limmat, 2024, übersetzt von Steven Wyss, 152 Seiten, CHF ca. 30.–, ISBN 978-3-03926-070-6

Mutter und Tochter machen sich mit fast nichts auf den Weg, auf einen langen Weg, lernen sich ganz neu kennen, nicht nur sich, auch die Welt, der sie sich bisher verweigerten. Es ist ein jahrelanger Weg. Ein Weg, der die beiden auch in Städte führt, die für das Mädchen so fremd sind, wie unbekannte Planeten. Die Mutter hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, das Mädchen lernt alles, was es wissen muss von Ihrer Mutter und sich selbst. Bis sie mit einer Fähre auf eine kleine Insel kommen. Das Mädchen ist über die Jahre eine junge Frau geworden. So wie sie das Gefühl hat, in ihrem Körper langsam angekommen zu sein, so sehr will sie vorerst bleiben auf dieser Insel, die ihr alles zu geben scheint, wonach sie sich sehnt. Die Sehnsucht nach ihrem Bruder ist so sehr zu einem immerwährenden Gefühl geworden, dass seine Erfüllung mehr und mehr in den Hintergrund trat. Die Mutter geht weiter, die junge Frau bleibt. Die junge Frau findet die Liebe, endlich ein Gegenüber, das einen grossen Teil des Suchens stillt.

Aber irgendwann treffen Briefe der Mutter auf der Insel ein. Briefe, die der Tochter zeigen, wie sehr ihre Mutter zu kämpfen hatte, dass die Suche für sie nie zu Ende war. Dass sie den Bruder gefunden hat und die Tochter bittet, sich auf den Weg zu ihr zu machen.

Die Geschichte dieses Buches ist das eine. Was mich aber viel, viel mehr faszinierte, ist die Sprache dieser Autorin, die Melodie ihrer Sätze. Wie sehr der Inhalt mit ihren Gefühlen, ihrem Empfingen, ihrer Wahrnehmung korrespondiert. Leser*innen lieben Bücher wie „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens, den meistverkaufte Belletristiktitel des vergangenen Jahres. Ein durchaus gutes Buch einer jungen Frau, die man wegen eines Mordfalls in ihrer Nähe aus ihrem Leben in der wilden Natur reissen will. Eine Geschichte, bei der die Natur nur Kulisse bleibt, die Naturverbundenheit der Protagonistin bloss ein Mosaik. In „Verwildern“ macht Douna Loup die Natur und die junge Frau zu einem Paar. Sie erzählt von dieser Verbundenheit, einer Liebe ohne Enttäuschungen. In ihrem Roman ist die Natur keine Kulisse. Sie setzt die Geschichte nicht in die Natur. Sie erzählt aus der Natur. Ihre Sprache ist von einer derartigen Intensität und Nähe zur Natur, das man riecht und schmeckt. Man hört die Stille und spürt die Kiesel unter den blossen Füssen.

„Verwildern“ ist ein literarisches Manifest ohne Bitterkeit, ohne Enttäuschung, ohne Belehrung. Dafür ein ganz zartes Kunstwerk, dass von Liebe und Respekt durchtränkt ist. Wie schön!

Douna Loup wurde 1982 in Genf geboren, ihre Eltern waren Marionettenspieler. Sie verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Frankreich, arbeitete in Madagascar und lebt heute in Nantes. Ihr erster Roman, «L’Embrasure» (2010) («Die Schwesterfrau (Lenos 2012)) wurde mit dem Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung und dem Prix Michel-Dentan ausgezeichnet. Ihre Texte erscheinen in der Mércure de France und im Verlag Editions Zoé in Genf.

Steven Wyss, geboren 1992 in Thun, studierte Angewandte Sprachen und Übersetzen in Winterthur und Genf sowie Contemporary Arts Practice an der HKB in Bern. Neben seiner Tätigkeit als freier Übersetzer arbeitet er im Übersetzerhaus Looren. Er lebt in Zürich. 2023 erhielt er den Kulturförderpreis der Stadt Thun sowie eine literarische Auszeichnung der Stadt Zürich für seine Übersetzung von C.F. Ramuz’ «Sturz in die Sonne».

Beitragsbild © Roman Lusser

David Grann «Der Untergang der Wager», C. Bertelsmann

Mitte des 18. Jahrhunderts zerschellt die Wager, ein königlich, britisches Eroberungsschiff vor der Küste Chiles. 30 Männern gelingt es, sich auf eine unbewohnte, lebensfeindliche Insel zu retten. Eine Rettung, die zum Todesurteil wird, wenn sich die hilflos zerstrittene Mannschaft nicht zusammenraufen kann, sich aus eigener Kraft aus der Misere zu reissen.

Als Kind sah ich den Film „Meuterei auf der Bounty“ mit Marlon Brando, ein Streifen, der sich mit seinen Szenen auf hoher See unauslöschlich in meine Erinnerung brannte und ein Baustein war für einen verklärten Blick auf Seefahrerromantik und -abenteuer, die so gar nie existierten. Im Schweif dieser Filme und Bücher (zB. „Störtebekker“) zeichnete ich während Jahren mit Vorliebe stolze Dreimaster mit mehreren Reihen Kanonenluken, alle Segel gesetzt, in hohem Wellengang.

Dass Seefahrerei, wie sie im 18. Jahrhundert betrieben wurde, so gar nichts mit Romantik zu tun hat, wie sehr Schiffe damals eine strategische Waffe sowohl in der Kriegsführung, in direkten Auseinandersetzungen und in Wirtschaftskriegen waren, verdeutlicht das Buch „Der Untergang der Wager“. Wie überdeutlich wirtschaftliche Interessen Königreiche, Staaten, Schiffseigner und Mannschaften auf Reisen lockten, von denen alle wussten, wie entbehrungsreich oder gar tödlich sie enden könnten, schildert David Grann in einem Bericht, der sich nicht in die Menschen damals versetzen will, sondern Abläufe, eine Geschichte verstehen will. 

David Grann «Der Untergang der «Wager»
Eine wahre Geschichte von Schiffbruch, Mord und Meuterei», C. Bertelsmann, 2024, aus dem Englischen von Rudolf Mast, 432 Seiten, mit Karten und Farbbildteil, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-570-10546-7

Die Wager war damals ein Kriegsschiff einer grösseren Flotte, die von England aus einen Krieg gegen die spanische Seeübermacht führen sollte. Doch nach etlichen Verzögerungen, die schon im englischen Heimathafen ihren Anfang nahmen, erwischte die Wager bei ihrer Passage des Kap Horns am südlichsten Zipfel Südamerikas einen denkbar schlechten Zeitpunkt. Das Schiff geriet bei fatalen Stürmen immer mehr in Bedrängnis, während eine eh schon von Entkräftung, Hunger und Krankheiten geschwächte Mannschaft auf dem Schiff zu rebellieren begann. Im Januar 1742 zerschellte der manövrierunfähige Koloss an der Westküste Patagoniens. Nur mit grösster Not rettete sich eine kleine Gruppe zusammen mit ihrem Kapitän Davis Cheap auf eine unbewohnte Insel (Wager Island, noch heute unbewohnt und weitab aller Zivilisation), die permanenten Stürmen und Unwettern ausgesetzt bloss mit knorrigen Bäumen bewaldet ist. Man schleppte unter Todesgefahr vom Wrack auf die Insel, was sie die ersten Monate überleben liess, um in ihrer Verlorenheit immer deutlicher zu verstehen, dass nichts und niemand sie auf dem unwirtlichen Eiland zurück in die Heimat bringen würde.

Sehr bald zerbrachen die hierarchischen Strukturen, die ein Leben, ein Überleben auf dem Schiff, jetzt auf dem Eiland, auf engstem Raum garantierten. Gepeitscht von Hunger, Krankheit und Entkräftung eskalierte die Situation auf der Insel, die Gruppe spaltete sich, man griff zu den verbliebenen Waffen, es gab noch mehr Tote.

Im Wissen darum, dass eine Rettung nur aus eigener Kraft gelingen konnte, flickte man aus den seeuntüchtig gewordenen Beibooten rudimentär seetüchtige Schiffe zusammen und machte sich in verschiedenen Gruppen auf den hoffnungsvollen Weg zurück ins alte Leben. Aber auch diese Versuche standen unter einem schlechten Stern. Immer wieder waren die überfüllten Boote in ihrer Not gezwungen, Männer zurückzulassen. Fast ein Jahr nach ihrem Schiffbruch und einer 3000 Kilometer langen Reise voller Torturen erreichte eine erste, kleine Gruppe Geretteter die ersten Ausläufer der Zivilisation. Nachdem es noch weitere Monate dauerte, bis sie zurück in England waren, begann in ihrer Heimat aber ein zweiter Kampf; der Kampf um die „Wahrheit“, ein langwieriger Prozess, an dem die sensationslüsterne Öffentlichkeit lechzend teilnahm.

Was die Qualität dieses Buches ausmacht, ist weder Sprache nach Dramatik. David Grann gibt sich erstaunlich sachlich und die Dramatik folgt den Geschehnissen, die durch Log- und Tagebücher einigermassen nachvollzogen werden können. Grann schildert den Schrecken der Seefahrt, die Brutalität eines Lebens auf engstem Raum unter maximalen Entbehrungen. Er verklärt mit keinem Satz und zeigt auf, wie die Geltungssucht der einen und der Hunger nach Reichtum jede Gefahr auszublenden vermag. Wie sehr der Mensch bei einem drohenden Zusammenbruch hierarchischer Strukturen in die Anarchie rutscht und wie staatspolitische Interessen das eine zu einem Schauprozess werden lassen, das andere aber wohlweisslich unter den Teppich kehren.

Ungemein spannend und erhellend!

David Grann, Jahrgang 1967, ist preisgekrönter Journalist und Sachbuchautor. Er arbeitet als Redakteur bei The New Yorker und veröffentlicht Artikel u.a. in The Washington Post, The Atlantic Monthly, The Wall Street Journal. Sein Buch «Killers of the Flower Moon» erschien auf Deutsch bei btb und wurde von und mit Martin Scorsese und Leonardo DiCaprio verfilmt, die sich auch die Rechte an seinem neuesten Bestseller «The Wager» gesichert haben. «The Wager» stand wochenlang auf Platz 1 der New-York-Times-Bestsellerliste und schaffte es auf die Summer Reading List von Barack Obama.

Rudolf Mast, geboren 1958, war Segellehrer und Segelmacher, bevor er Theaterwissenschaft und Philosophie in Berlin studierte. Dort arbeitet er heute als Theaterwissenschaftler, Lektor und Übersetzer. 

Beitragsbild © Rebecca Mansell

Ev Arlt «frag-ment-iert (182.5) – Die unvorhersehbare Reise des Fräulein L.», Bucher

Schreiben, als ein «Ort extremer Klarheit»

«frag-ment-iert» lautet der Titel des Debüt-Romans von Ev Arlt, in dem sie das Epizentrum zwischen dem eigenen Glück und die Grenzen der Freiheiten literarisch auslotet.

Gastinterview mit Urs Heinz Aerni 

Urs Heinz Aerni: Der Sog des Lesens ist Ihnen gelungen. Kompliment, auch wenn der Einstieg uns gleich wieder in die Pandemie zurück katapultiert. Wann wussten Sie, dass Sie mit diesem Setting beginnen werden?

Ev Arlt: In meiner Geschichte geht es um die Frage nach der Konstruktion von Identität. Wir sehen der Protagonistin bei ihrem identitären Trauma zu, das im Verlust sozialer Rollen und des vertrauten sozialen Kontextes besteht. Diese rein persönliche Erfahrung wurde in ihren Auswirkungen ja in der Pandemie kollektiv erlebt, natürlich je nach persönlicher – kultureller und beruflicher wie ökonomischer – Situation anders ausdekliniert.

Aerni: Die Lektüre schickt die Lesenden schon zurück in eine Zeit, die man vergessen möchte, was keine Kritik ist, übrigens… 

Arlt: Diese Analogie der sozialen, ökonomischen und psychischen Ausnahmesituation vermittelt den Lesenden zu Beginn der Erzählung jene Beklemmung, jenes Gefühl von Isolation und sozialer und eventuell ökonomischer Unsicherheit, die aus eigener Erfahrung bekannt sein dürften. Im Buch geht es dann ja überhaupt nicht um die Pandemie – vielmehr um die Themen Würde, Freiheit und Selbstbestimmung.

In einer Szene wird ein aus dem Radio tönender Song von David Bowie wie folgt kommentiert: «Wie aus einer anderen Zeit überschaubarer Weltprobleme – Heroin und Langstreckenraketen.» Ist heute so alles anders als früher?

Gar keine Frage, wobei wir jetzt natürlich exklusiv über unseren Teil der Welt reden. Das Ende des Kalten Krieges, der 11. September und nun der Krieg in Europa markieren eine tiefgreifende Wende, die deutlich sichtbar zu einer breiten Verunsicherung geführt und strukturelle gesellschaftliche Veränderungen nach sich gezogen hat. Ob alles anders ist als früher, muss jeder individuell für sich beantworten. 

Was war für Sie der Fokus hierbei?

Mir geht es bei dieser Beobachtung um die ökonomische und politisch-soziale Entwicklung in Europa und die nicht einfache, hochkomplexe Problemlage in unseren Gesellschaften. Ich glaube durchaus, dass es eine Sehnsucht nach einer Welt in schwarz-weiß gibt.

Woran machen Sie das fest?

Ev Arlt «frag-ment-iert (182.5) – Die unvorhersehbare Reise des Fräulein L.», Bucher, 2024, 232 Seiten, CHF ca. 25.90, ISBN 978-3-99018-708-1

Das Ablehnen komplexer Realitäten erkennt man ja klar am zunehmenden Erfolg vereinfachender Rhetorik der Debatten oder am breiten gesellschaftlichen, von Algorithmen gelenkten Diskurs, der gar keiner mehr ist. Man wirft sich die Feindbilder an den Kopf, die Angst geht um, jeder zieht sich in sein Lager, seine Bubble, zurück. Überspitzt gesagt: Politisch korrekte Realitätsverweigerer stehen dem aggressiven Machtanspruch der Vereinfacher gegenüber.

Statt «Roman» steht unter dem Titel «Die unvorhersehbare Reise des Fräulein L.» Was war die Überlegung auf die Gattung Roman zu verzichten?

Aber ich halte ja ohne Zweifel einen Roman in der Hand. Es handelt sich lediglich um einen Untertitel, der angesichts des sicherlich enigmatischen Buchtitels der Leserschaft letztlich doch etwas Orientierung geben soll. Man erfährt: es geht um einen weiblichen Hauptcharakter und um eine Reise, die offenbar so nicht geplant war.

Sie entschieden sich im Untertitel  für das Wort «Fräulein»…?

Ja. Ich gehöre zu einer Generation, die diese Bezeichnung in ihrer diskriminierenden Dimension nicht nur überwunden, sondern vermutlich niemals als Problematik begriffen hat. Wir fokussieren uns auf andere Probleme im heterosexuellen Miteinander, die Debatten sprechen da für sich. Wir besitzen Ironie und Selbstbewusstsein und ein eigenes Portemonnaie. Es gibt wichtige Frauenthemen – das ist keines. 

Hört sich erfrischend an, denn das «Fräulein» liest sich bekanntlich antiquieret an allerdings mit auch mit einem literarischen Beiklang.

Die Bezeichnung „Fräulein“ wird tatsächlich schon seit Jahren auch für Produkte verwendet – Modeartikel, Eisdielen. Offenbar klingt das Wort kokett, frech, jung, ansprechend. Was mein Buch angeht, ist die Protagonistin am Anfang ihrer Reise definitiv so: jung, kokett – naiv und etwas verloren. Das steckt doch eigentlich im Untertitel, der den Namen des Fräuleins dann ja nur mit einem Großbuchstaben verrät – ein Verweis auf das Verwirrspiel mit Identitäten.

Die junge Protagonistin wird Mutter Anfang der Nullerjahren in Deutschland. Es schien alles offen zu sein für die jungen Menschen, von Karriere bis alle Freiheiten. Und doch kam es anders. Abgesehen vom Geschehen im Buch, wie sehen Sie die Zukunft der jetzigen Jugend?

Die Frage lässt sich angesichts der ungelösten und sich zuspitzenden globalen Probleme im Grunde leicht beantworten. Andererseits ist die junge Generation auch wieder laut und macht sich bemerkbar. Sie haben definitiv andere Instrumente als meine technologiefern aufgewachsene Generation, der die Reste der Ideologien am Ärmel klebten und der der Druck einer neoliberalen Gesellschaft die großen Gewissensfragen im großen Ganzen bequem ersparte.

Und die…

Die jetzige Jugend?

Ja.

Im schlimmsten Fall sind sie brave Konsumenten, im Besten viel weniger beeinflussbar vom System, das sie längst durchschaut haben und ironisieren bis verachten. Ein großes Problem unserer Zeit beim Beurteilen von Fragen wie diesen ist doch die allumfassende Inszenierung, der wir hilflos ausgesetzt sind und aus der wir nur schwer Wahrheiten ableiten können.

Sie arbeiten mit fast surrealen Einschüben in kursiver Schrift im Buch. Wie kamen Sie zu dieser Idee solcher stilistischen Mitteln?

Es stellt sich hier, denke ich, weniger die Frage nach der Idee zur Textmontage als vielmehr zur zweiten Protagonistin des Buches. Die surreale Ebene von Phoenix – nennen wir sie eine Scheintote, die gegen die strukturelle Herrschaft alter Männer vorgeht – muss natürlich zwangsläufig zu diesem Stil führen. Phönix sehnt sich dabei in Wahrheit die ganze Zeit nach der Auflösung ihrer Opferrolle und sucht mit Gewalt nach einem Ausweg.

Das hat sich also beim Schreiben mutierend entwickelt…

Es steckt generell tatsächlich weniger Konstruktion hinter dem Ergebnis meines Schreibens als vielmehr Entwicklung und Reifen – es gibt durchaus eigenständige Prozesse, mit denen ich behutsam umgehe, von denen ich überrascht werde, die sich mir aufdrängen und die mich leiten. Das Kursiv in meinem Roman, wenn Sie so wollen, steht für Abrechnung, für Hoffnung auf Erlösung, für Sehnsucht nach persönlichem Glück, für Erkenntnis.

Sie studierten Theater- und Politikwissenschaften und Soziologie, waren als Journalistin tätig und leben – soviel ich weiß – in Italien. Bleibt es dabei, mit Italien und dem Schreiben?

Tatsächlich kann ich mir da in nächster Zukunft so einige Veränderungen vorstellen – wieder mehr redaktionell zu arbeiten wäre schön. Mein italienisches Domizil darf man sich jetzt nicht verspielt mit Zitronenbäumen und eleganten Zypressen an der Einfahrt vorstellen, ich bin wirklich drin in dieser widersprüchlichen, ächzenden Gesellschaft.

Mit welcher Wahrnehmung Ihrerseits?

Die Italiener sind emsig arbeitende Stehaufmännchen und phantasievolle Lebenskünstler mit einer bewundernswert unverbrüchlichen Energie und Lebensfreude und zutiefst humane Menschen – allerdings in einem System, welches mich seit je an den realen Sozialismus erinnert, wobei die zentrale ineffiziente Verwaltung mafiös unterwandert ist. Um hier zu überleben, muss man die Schlupflöcher im System kennen. Frauen wie Männer arbeiten viel, den Freizeitanspruch der Deutschen kennen sie nicht. Sie ernähren die Familien gemeinsam, die Geschlechterproblematik beginnt im Privaten und der Sexismus hierzulande ist bodenlos salonfähig und allseits geduldet. Ich würde dem Land mehr Transparenz und Gerechtigkeit wünschen.

Deutliche Worte…

Was das Schreiben angeht: das ist nie eine Option gewesen, sondern für mich primärer Ausdruck. Das Leben drinnen und draußen entwirren. Ein Ort extremer Klarheit. Eine Spielwiese für verschachtelte Gedanken und unklare Emotionen. Figuren, in die ich mich verliebe. Schreiben ergo sum.

Ev Arlt wurde 1978 in Nürnberg geboren, studierte Theaterwissenschaften, Politikwissenschaften und Soziologie in München, Berlin und Siena. Sie war unter anderem als Radiomoderatorin und Journalistin tätig. Derzeit schreibt sie aus Italien.

Beitragsbild zVg

«Wir machen Schluss mit allem und beginnen mit nichts von vorne.» (6)

Lieber Bär

Vielleicht beschreibt der 1719 erstmals erschienene Roman “Robinson Crusoe“ von Daniel Defoe mit dem heute seltsam anmutenden Originaltitel The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe of York, Mariner: Who lived Eight and Twenty Years, all alone in an un-inhabited Island on the Coast of America, near the Mouth of the Great River of Oroonoque; Having been cast on Shore by Shipwreck, wherein all the Men perished but himself. With An Account how he was at last as strangely deliver’d by Pirates. Written by Himself. („Das Leben und die seltsamen überraschenden Abenteuer des Robinson Crusoe aus York, Seemann, der achtundzwanzig Jahre allein auf einer unbewohnten Insel an der Küste von Amerika lebte, in der Nähe der Mündung des grossen Flusses Orinoco; durch einen Schiffbruch an Land gespült, bei dem alle außer ihm ums Leben kamen. Mit einer Aufzeichnung, wie er endlich seltsam durch Piraten befreit wurde. Geschrieben von ihm selbst.“) nicht nur einfach ein Abenteuer, sondern die Sehnsucht des Menschen nach einem echten, wahren, unmittelbaren, naturverbundenen Leben. Damals wie heute scheint Fortschritt eine stetige Entfernung von der Natur zu sein, eine immer grösser werdende Entfernung und Entfremdung.

Keine Kunstrichtung wie die Literatur versteht es so sehr, uns Menschen in einen Zustand zu versetzen, der uns aus unserem Leben, unserem Umfeld herausreisst, manchmal vielleicht sogar nachhaltig. Ich könnte eine ganze Reihe Bücher aufzählen, die mich in meinem Menschsein unmittelbar beeinflussten. Filme und Musik berauschen. Aber weil mich Bücher viel länger, über Tage oder gar Wochen begleiten, ist ihre Wirkung eine ganz andere. Ich bin überzeugt, dass ich als Vielleser ein anderer geworden bin, als der, der ich ohne die Literatur geworden wäre. Literatur wirkt unterschwellig, nicht wie ein halbstündiges Sonnenbad mit anschliessendem Sonnenbrand, sondern wie ein langer, guter Traum.

H. D. Thoreau «Walden oder Leben in den Wäldern», Diogenes Taschenbuch, 2007, übersetzt von Emma Emmerich, 352 Seiten, CHF ca. 17.90, ISBN 978-3-257-20019-5

Als Henry David Thoreau 1854 seinen zeitlich befristeten Ausstieg aus seinem Alltag, sein zurückgezogenes und reduziertes Leben in einer Blockhütte im Wald in seinem Buch „Walden“ veröffentlichte, wurde er zu einem der Begründer des Nature Writing. Eine Bewegung weit über die Literatur hinaus. Dass Nature Writing zu einem eigentlichen Bedürnis geworden ist, zeigt sich im durchschlagenden Erfolg der Schriftstellerin und Buchgestalterin Judith Schalansky, die mit ihrer Herausgeberschaft der „Naturkunden“ bei Matthes & Seitz nicht nur einen wirtschaftlichen Überraschungserfolg landete, sondern auf dem deutschsprachigen Büchermarkt eine regelrechte Welle von hochwertigen Naturbüchern mit literarischem Anspruch verursachte.

Delia Owens «Der Gesang der Flusskrebse», hanserblau, 2019, übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Wasel, Klaus Timmermann, 464 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-26419-9

Aber auch Romane der Gegenwart spielen mit der Sehnsucht des Menschen nach unberührter Natur, Naturverbundenheit, den Auswirkungen von Klimaveränderungen und menschlicher Zerstörungen. Dass der Roman „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens 2023 zu den bestverkauften Büchern gehörte, ist nicht nur der erzählten Liebesgeschichte und der überwältigen Kulisse zu verdanken. Delia Owens beschreibt eine junge Frau, die ganz mit der Natur lebt, die die einzige Liebe ohne Schmerz in der Natur findet. Ein Roman, der Sehnsüchte stillt und weckt.

Douna Loup «Verwildern»
Limmat, 2024, übersetzt von Steven Wyss, 152 Seiten, CHF ca. 30.–, ISBN 978-3-03926-070-6

Vor wenigen Tagen las ich „Verwildern“, die deutsche Übersetzung des Romans „Les Printemps sauvages“ von Douna Loup. Die Geschichte einer jungen Frau, die sich aus ihrem kleinen Paradies am Rande eines Sees vertrieben fühlt und auf die Suche machen muss, auf die Suche nach ihrem Bruder, ihrem Vater, sich selbst. Aber Douna Loup gelingt in ihrer fast märchenhaften Geschichte etwas, was in der Literatur nur ganz selten passiert. In ihrem Roman ist die Natur nicht bloss Kulisse. Sie schreibt nicht einfach eine Geschichte in sie hinein. “Verwildern“ ist auch als Schreibkonzept ganz wörtlich zu nehmen. Douna Loup schreibt aus der Natur heraus. Geschichte und Figuren treten nicht aus ihr heraus. Sie sind ineinander verschlungen. Die eigentliche Geschichte «verwildert». Ein betörendes Buch.

Ich bin gespannt auf deine Meinung!



Liebe Grüsse
Gallus

***

«Um jedoch auf meinen neuen Gefährten zurückzukommen, so gefiel mir dieser ausserordentlich» Daniel Defoe, Robinson Crusoe

Lieber Gallus

Dein letztes Schreiben hat mich erreicht, als ich am Packen war für eine Schiffsreise von Berlin nach Rügen. Zufall? Ich hatte die Lektüre von Lutz Seilers erstem Roman «Kruso» begonnen, um ihn auf dem Schiff fertigzulesen. Obgenannter Satz steht als Motiv vor dem Beginn.

Die Sehnsucht des Menschen nach einem wahren naturverbundenen Leben, die Entstehung des Nature Writing und die Beeinflussung der LeserInnen durch Bücher im Vergleich mit Musik sprichst du in deinem Schreiben an. Du erwähnst Daniel Defoe, Henry David Thoreau, Judith Schalansky, Delia Owens und Douna Loup.

Lutz Seiler «Kruso», Suhrkamp, 2014, 484 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-518-42447-6

Du forderst mich wieder einmal heraus, was ich sehr schätze, und ich habe viel nachgedacht. Dies unter dem Einfluss von «Kruso», der Geschichte einer ausserordentlichen Männerfreundschaft unter ausserordentlichen historischen Bedingungen, dies auf einer Insel in der Ostsee, ich selbst auf einem Schiff nach Rügen. Dabei konnte ich gut erahnen, was es bedeutet, in einem Land «gefangen» fern das unerreichbare «Land der Freiheit» zu erblicken. Nach der Wende und dem Verlust seiner Freundin sucht der Protagonist Edgar auf dem wilden Eiland zu sich selbst. Inseldasein, Wind, Wetter und Wellengang spielen eine wichtige Rolle, Nature Writing? Jedenfalls ein grossartiges Buch in einer poetischen Sprache.

Die Wirkung von Literatur und Musik sind für mich gleichwertig prägend und nachhaltig wirkend. Mich haben in den siebziger Jahren sowohl die Romane von Dostojewski als auch die Sinfonien von Bruckner stark beeinflusst. Bis heute beschäftige ich mich immer wieder mit beiden. Auf unserer Reise erlebten wir in Peenemünde (mir bisher unbekannt) eine Führung und ein Konzert in der Industriehalle bei der Heeresversuchsanstalt der Wehrmacht. Nicht «nur» Rausch, sondern ein unvergessliches, nachhaltiges Ereignis. Wort, Bild und Musik ergänzten sich fantastisch, diese Botschaft wirkt noch lange weiter.

An die Hoffnung ist ein Gedicht von Friedrich Hölderlin, das von Hanns Eisler vertont wurde. Hier sind die ersten Zeilen:

O Hoffnung! Holde, gütiggeschäftige!
Die du das Haus der Trauernden nicht verschmähst,
Und gerne dienend, zwischen Sterblichen waltest,
Wo bist du? Wenig lebt’ ich; doch atmet kalt
Mein Abend schon.

Die Versuchsanstalten Peenemünde waren von 1936-1945 das grösste militärische Forschungszentrum Europas. Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge mussten hier unter unmenschlichen Bedingungen arbeiten und sind zu Tausenden verstorben. Lieder von Schubert, Eisler, Weber u.a. verbunden mit gesprochenen Texten von den damaligen Forschern und ArbeiterInnen wurden von einer Sängerin mit Klavierbegleitung tief bewegend vorgetragen, mit Bildern vom Krieg ergänzt. Sprache und Musik auf höchstem Niveau.

Barbara Berg, Sopran und David Santos, Klavier

Zuhause wartete das Buch «Verwildern» von Douna Loup auf mich. Obwohl müde von der Reise und sehr angesprochen vom Cover, begann ich die Lektüre. Wow! Eine neue Reise beginnt, unmittelbar bin ich in einer magisch-sinnlichen Welt. Wieder einmal hast du eine Rosine aus dem Literatur-Kuchen gepickt! Ich habe das erste Kapitel gelesen, bin hell begeistert. Und sie kommt nach Leukerbad! Wahrlich betörend. Gerne lese ich morgen weiter und freue mich auf die baldige gemeinsame Begegnung mit dieser Autorin in Leukerbad.

«Man muss durch den Abend wandeln und daran glauben, dass der Tag und das Morgengrauen kommen werden, man muss hinaus in die Nacht brüllen und den Mond lieben.»

Herzlich

Bär

Louise Glück «Marigold und Rose», Luchterhand

Marigold und Rose sind Zwillinge. Noch nicht einmal ein Jahr alt und schon mitten im Leben, auch wenn dieses nur aus Zimmer, Haus und Garten besteht. Eine Welt, die langsam aufbricht. Eine Welt, von der die Zwillinge, von der Maigold schon ahnt, dass alles anders sein wird.

Bis zum Nobelpreis war Louise Glück ein Geheimtipp, der Preis für viele eine Überraschung. Aber mit der Verleihung begann die grosse Auseinandersetzung des Publikums mit dem Werk der Lyrikerin, einer ganz eigenwilligen Stimme. Dass „Maigold und Rose“ als letztes Buch vor ihrem Tod im Oktober 2023 erschien, ist nicht nur seltsam, weil es das einzige Prosawerk der Dichterin ist, sondern weil sich die damals fast 80jährige Dichterin in diesem Buch ins Wesen eines Säuglings begibt, in ein Leben, in dem die Sprache noch nicht artikuliert wird, sich alles im Werden begreift. Louise Glück blickt durch die Wahrnehmung eines Kleinkinds auf eine Welt, die sich noch ganz im Kleinräumigen verortet, einer kleinen, in vielerlei Hinsicht paradiesischen Welt, von der die nicht einmal Einjährige ahnt, dass sie dereinst vertrieben wird.

Obwohl Zwillinge, ist vieles an den beiden verschieden. Marigold liebt Bücher, die Rose nicht interessieren. Sie „liest“, auch wenn sich ihr der Sinn der vielen Zeichen in den Büchern noch nicht erschliesst. Aber sie mag die Bilder, Bilder von Tieren. Irgendwann würde sich das Geheimnis der Schrift auflösen. Und dann würde sie selbst zu schreiben beginnen, Bücher schreiben. Die Bestimmung ihrer Schwester Rose ist es, brav zu sein, angepasst. Sie sind Schwestern, Zwillinge, und doch fühlt sich Marigold einsam, ausgeschlossen vom Leben ihrer Schwester, sehr oft auch von der Zuwendung ihrer Mutter. Marigold spürt, dass Rose bei der Mutter an erster Stelle steht, dass Rose für ihre Artigkeit, ihre Angepasstheit bevorzugt wird. Da hilft auch die Liebe ihres Vaters nicht viel.

Louise Glück «Marigold und Rose», Luchterhand, aus dem amerikanischen Englisch von Eva Bonné, 2024, 64 Seiten, CHF ca. 27.90, ISBN 978-3-630-87769-3

„Eigentlich waren die Zwillinge ein Baby, nur eben zweigeteilt. Ich bin ein halbes Baby, dachte Maigold. Ich bin das Hirn, und Rose ist das Herz.“ So sehr Marigold sich in Gedanken schon in ihrem eigenen Buch verstrickt, so sehr empfindet sie damit die wachsende Distanz zur Welt, zu ihrer Schwester, zu Mutter und Vater. Kein Wunder beginnt Rose früher zu sprechen als sie, ist ihr Blick doch viel mehr nach Innen gerichtet. „Rose lernte zu sprechen, und Marigold lernte zu beobachten.“ Vielleicht liegt die Bestimmung der beiden Mädchen schon in ihren Namen. Rose ist die, die zu verzücken weiss. Und Marigold, bei uns besser bekannt unter dem Namen Ringelblume, ist jene, die ihre Werte in ihrer indirekten Wirkung sieht – nicht zuletzt als Heilpflanze.

Legt man die Erzählung „Marigold und Rose“ über das Leben der Autorin, drängen sich gewisse Interpretationen auf. „Marigold und Rose“ ist viel mehr als ein kleines Kunstwerk einer grossen Dichterin. Vielleicht ist diese kleine Erzählung ein Schlüssel zum Urschmerz der Autorin. Vielleicht eine Erklärung dafür, was später aus ihrem Leben wurde. Aber ebenso verschliesst sich die Autorin. Am Ende eines Lebens schreibt die Nobelpreisträgerin eine kleine Erzählung über ein Mädchen vor der Zeit des Erinnerns. Schreiben ist immer Erinnern. Vielleicht sucht auch die Autorin mit dieser Erzählung.

„Marigold und Rose“ ist voller Vielleicht. Eine schillernde Erzählung voller Ahnungen. Ein Text, der mich zur Reflexion zwingt, tragen wir doch alle einen Zwilling mit uns herum, jenes gespiegelte Ich, die andere Seite, den anderen Weg. „Marigold und Rose“ ist kein Vermächtnis, aber der Beweis, dass das Schreiben über Grenzen hinaus erzählen kann.

Louise Glück, geboren 1943 in New York, veröffentlichte dreizehn Gedichtbände, zwei Essaysammlungen und ein Prosakurzstück. 2020 wurde sie ausgezeichnet mit dem Literaturnobelpreis «für ihre unverkennbare poetische Stimme, die mit strenger Schönheit die individuelle Existenz universell macht». Für ihre Werke erhielt sie u. a. auch den Pulitzerpreis, den Bollingen Prize, den National Book Award und die Gold Medal for Poetry from the American Academy of Arts and Letters. Sie lehrte an der Yale und der Stanford University. Louise Glück starb am 13. Oktober 2023 im Alter von 80 Jahren.

Eva Bonné übersetzt Literatur aus dem Englischen, u.a. von Rachel Cusk, Anne Enright, Michael Cunningham und Abdulrazak Gurnah. Sie wurde mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis ausgezeichnet.

Beitragsbild ©  Katherine Wolkoff

Karin Prucha «Das Salzige an den Rändern» – ein Auszug

Sie blickte auf dieses kleine Mädchen in Schuluniform, das sie einmal gewesen war. Ein altes vergilbtes Schwarzweißfoto. Ein kleines Mädchen mit offener Wunde. Die Nachricht, sie müsse früher als geplant in die Schule. Sie war noch nicht sechs Jahre alt, da begann im Spätsommer der neue Lebensabschnitt. Die Nazis trieben die Kinder mit sechs in die Volksschule. Die Schule war im Tal, die Wege führten mitten durch den Wald und waren lang. Keine Straße, kein Bus. Nur schmale Wege, durch Dunkelheit und finsteren Wald. Sie und zwei andere Kinder vom Berg. Der Ton der Menschen änderte sich, eine unsichtbare Bedrohung trug sie jeden Tag als Last. Sie hörte die Erwachsenen, das neue Grüßen, die Fröhlichkeit im Dunkeln versteckt. Das Dunkle war ihr Wegbegleiter, und die Angst. Der Weg durch den Wald, finster noch im Morgengrauen, die Schule unten im Tal, der Schnee knirscht unter den Tritten, die ihr Echo in eine graue unbewältigte Vergangenheit werfen. Der Morgen könnte bald ein Ende finden, deine Gedanken jagen sich selbst in Angst vor den Wölfen, vor den Jägern, vor den unbekannten Männern, die deine Wege kreuzen könnten, schon gekreuzt haben, dir schon in deine klammen Angstaugen geblickt haben, keine Zeit zu vergeuden, der Weg geht weiter, du bleibst starr in deinem Schreck, siehst nach, hörst die schwer Atmenden, siehst ihre Spuren, die Linien im Schnee sind rot, dein Herz macht einen Sprung mit deinem Körper vorwärts, an klaren Tagen ist es leichter, den Weg zu finden, im Dunklen, ins Tal, dort unten, wo die Lehrerin mit Stäben in den Händen dein Kommen überwacht, im Hintergrund die Uniform, die fragen wird, was war auf deinem Weg, und du keinen Ton aus deinem kleinen Kindeskörper an die Oberfläche lässt, keinen Ton, keinen Ton.

Das Vorhandensein der weißen Kreide, die auf der Ablage der Schiefertafel ruhte, beruhigte dich. Gleich würdest du die Kreide in deinen kleinen Fingern halten und die Schwärze weißen. Die Vermessung der Tafel war dein Werk, Auftrag und Sehnsucht gleichermaßen, das Dunkle abzuschütteln, die Schwärze der Nacht auszulöschen, den Schnee wieder in seiner weißen Pracht erscheinen zu lassen, der Helligkeit, die der Dunkelheit folgt, die Richtigkeit abzutrotzen. Das Weiße, nicht jedes, war deine Rettung.

Die Lehrerin erklärte mit seltsam aufdringlichem Stolz, was die Kinder zu lernen hatten. Die Kreide in deiner Hand war weiß und fest, bei jedem Wort der Frau vor der Tafel zermalmtest du ein kleines Stück davon, sie sprach von dem Bekenntnis zur Heimat und deine Finger umfingen die Kreide fester, ihr Ton wurde hoch und schnappte beim patriotischen Deutschtum und der Heimkehr ins Reich fast über, deine Finger krallten sich tiefer in das Weiß, lösten mit dem Schweiß jeden Partikel und verfingen sich im Klebrigen, deine Gedanken lösten sich und flogen in die Berge, zu den Leuten in den Wäldern, zu den Feuern, die nur kurz wärmten, weil sie viel zu schnell gelöscht wurden, der staubige Rauch im Nu erstickt, die Äste darüber, die Landschaft ohne Spuren verlassen.

Was konnte dein Kinderherz ahnen, von all dem Grauen rundherum, dem menschenverachtenden, dem bestialischen Abschlachten, dem Töten zur Auslöschung unwerten Lebens. Du grubst deine Finger in die weiche weiße Kreidemasse, das Wort zu Ende gesprochen und deine Finger holten sich schnell die andere Weiße von der Tafel, schrieben auf ihr wie gehetzt, Wort um Wort, Sprache vergib, was ich hier zu schreiben habe.

(Auf der Plattform Gegenzauber finden Sie aktuell den Gedichtzyklus «was wäre hätten wir die grenzen nicht» von Karin Prucha)

Karin Prucha «Anderland druga dežela», der wolf verlag, 216 Seiten, Klappenbroschüre
ISBN 978-3-903354-07-4

Karin Prucha, geboren 1964 in Wien, Studium der Germanistik, Kultur- und Kommunikationswissenschaften, Coaching-Ausbildung. Lebt und arbeitet in Klagenfurt/Celovec freiberuflich als Schriftstellerin, Dramaturgin und Regieassistentin und Kulturvermittlerin. 2020 Literaturstipendium des Landes Kärnten, Finalisierungsstipendium für die zweite eigenständige Publikation «Anderland». 

Derzeit Arbeit am Roman «Das Salzige an den Rändern», Lyrikprojekt «Medea», Stück «Anderland I druga dežela» für Poesie, Tanz und Musik.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © russwurm photo

Zara Zerbe «Phytopia Plus», Verbrecher

Generation Setzlinge

Die Kieler Schriftstellerin Zara Zerbe bietet mit ihrem Debüt-Roman PHYTOPIA PLUS elegante und kluge Unterhaltung. Nebenher nimmt sie sich das Genre der ‚Climate Fiction‘ zur Brust.

Gastbeitrag von Frank Keil
Der Journalist lebt und arbeitet in Hamburg und Norddeutschland, Schwerpunkte Kunst und Kultur, Geschichte sowie Bildung und Soziales.

Das hätte auch schiefgehen können! Hätte ein Anklagestück werden können, schwer und düster, das man bald halbgelesen liegen lässt: wo wir doch alle wissen, das es nicht gut aussieht mit den Gletschern, den Polarkappen, den Regenmengen, die auf uns niederprasseln und den Südsee-Atollen, an denen der wachsende Meeresspiegel nagt – also mit dem Klima und der Zukunft, um mal zu untertreiben.
Doch das Gegenteil ist der Fall: Man liest Zara Zerbes dystopisches Roman-Debüt schnell ein wenig wie früher, als man erstens Bücher las, um sich zu unterhalten, zweitens um den Kopf weit hinaus in die Welt zu strecken und drittens um sie unbedingt weiterzuempfehlen. Was alles auch an dem präzisen und gleichzeitig so lockeren Erzählstil liegt und überhaupt an dem dramaturgischen Geschick, mit dem Zerbe zu Werke geht.

Der Clou und vielleicht auch der Trick: Zara Zerbe führt uns in eine durchweg vertraute Welt wie der von heute, nur ist sie einige Jahrzehnte in die Zukunft verlagert, so dass alles ein bisschen schief und verdreht ist und doch zugleich vertraut.

Die Stadt, in der wir nun eine Zeitlang lesen lebend, Hamburg nämlich, ist dabei in einem durchaus desolaten Zustand: Das Vorland hat sich in eine sumpfige Elbuferlandschaft zurückentwickelt, entsprechend drückt das Flusswasser beständig in die Straßen, unterhöhlt die Straßen und Gebäude, weshalb im Süden die Menschen leben, schon immer nicht zu den Gewinnern unseres Wirtschaftssystems gehörten. „Ich fand es sehr eindrücklich, als ich mir mal den Überschwemmungsstatus von Hamburg angeschaut habe; also was wäre, gäbe es all die Deiche nicht“, sagt Zara Zerbe. Längst gibt es dort mehr Waschbären als Menschen; die Waschbären randalieren des Nachts in den Hinterhöfen, holen sich aus den Mülltonnen, was zu holen ist; so sieht das also aus, wenn das, was wir Natur nennen, aus den Fugen geraten ist.

In den im doppelten Sinne höheren Norden der Stadt dagegen haben sich die der zurückgezogen, die genügend Geld und gesellschaftliche Kontakte und damit Beziehungen haben, um auch in schwierigen Lebenslagen nicht ganz verzagen zu müssen; leben hier hinter hohen Mauern in gut abgesicherten Wohnquartieren, wortkarges Wachpersonal sorgt für zusätzliche Sicherheit; an den Pforten kreiseln die Überwachungskameras.

Und wie eine Art Zwischenwelt, fast wie eine Schleuse fungiert der Gewächshäuserkomplex der Drosera AG, ein fiktives Biotech-Unternehmen, in dem es sprießt und wächst (und wer jetzt kurz an den Science Fiction Film „Lautlos im Weltall“ von 1972 denkt, der ist zumindest atmosphärisch auf keiner falschen Spur).

Zara Zerbe «Phytopia Plus», Verbrecher, 2024, 300 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-95732-581-5

Doch es geht dem Unternehmen, dass wir anhand seiner MitarbeiterInnen nach und nach kennenlernen, nicht allein  um die Pflege oder der Erhalt der Pflanzenwelt: Man vielmehr ein Verfahren entwickelt und erprobt es jetzt, um das menschliche Bewusstsein so zu digitalisieren, dass es sich in der DNA ausgewählter Pflanzen speichern lässt. „Länger bleiben mit Phytopia Plus“, lautet entsprechend der Werbespruch, der ein Weiterleben auf einer mehr als bedrohten Erde verspricht, denn wer weiß, was in den nächsten Jahrzehnten noch alles passiert. Und das mit dem Weiterleben funktioniert so: Noch zu Lebzeiten wird dem Speicherwilligen ein Bio-Chip in die Hirnrinde implantiert, der nach dem Ableben dann in den Gewebeteil einer Pflanze wechselt, der das Pflanzenwachstum steuert.

Heldin des Geschehens ist Aylin. Eine junge Frau, die bei der Drosera AG als Aushilfsgärtnerin arbeitet, sich um Setzlinge kümmert, deren Wurzeldichte scannt, sie vor Pilzbefall schützt, für den entsprechend kargen Mindestlohn, bis ihr etwas Besseres einfallen sollte. Ein bisschen verpeilt ist Alyin, wie wir Norddeutschen das nennen, wenn jemand sehr engagiert sein kann und es zuweilen auch ist, aber sich zugleich ständig verzettelt und daher nicht zu Potte kommt, auch das eine lokale Formel. Oft kommt sie zu spät und leicht zerzaust zum Arbeitsbeginn, ermahnt von der KI-Stimme Bella, die alles im Blick hat und entsprechend schwer auszutricksen ist. Und um all das gut auszuhalten, um zugleich wenigstens finanziell ein bisschen besser über die Runden zu kommen, hat sie sich eine Art Nebenerwerb ausgedacht: Sie knipst hier und da den einen und anderen Trieb ab, pflanzt ihn daheim ein, zieht das Gewächs groß und verkauft es unter der Hand weiter. Ist das streng verboten, könnte das Konsequenzen haben, wenn es auffliegt, stände der Rauswurf bevor oder würde sich der Ärger in Grenzen halten, so ganz genau weiß Aylin das nicht. Und diese diffuse Spannung wird uns bald durch die Seiten tragen.

Und weil ein Mensch eine Familie braucht, auch in der Zukunft wird das so sein, bleibt Aylin nicht ganz allein. Und Zara Zerbe lacht: „In einer meiner frühen Geschichte taucht gleich im ersten Satz meine Mutter gleich auf, aber ich wollte meine arme Mutter nicht noch mal nerven; also dachte ich, ich gönne es mir mal, die Elterngenerationen auszulassen.“ Dabei ist ihre Mutter Gärtnerin!
„Ich wollte den Stoff in der Zukunft ansiedeln, aber ich wollte auch gerne eine Figur aus der gegenwärtigen Generation haben; Elternbeziehungen sind ja immer so schwer, sind nicht mein Ding, mit einem Großvater kann ich ganz gut arbeiten, wobei der mit meinem tatsächlichen Großvater nichts zu tun hat“, setzt Zara Zerbe hinzu.

Und so muss den familiären Bindungsjob Aylins Großvater übernehmen, ein einstiger Gärtner, ursprünglich hat er Philosophie studiert, doch dann ist er vor langer Zeit aus Kroatien nach Norddeutschland eingewandert, hat hier sein Leben lang hart gearbeitet und muss sich nun Mühe geben, mit Aylins jugendlichem Tempo mitzuhalten. Jedenfalls mögen sich die beiden, und wieder einmal klappt das Spiel mit dem Aufeinandertreffen der jungen und übernächsten Generation, entwickelt sich aus dem Aufeinandertreffen von von Opa und Enkelin immer wieder ein munteres Geschehen.

Erst recht weil Aylin sich um ihren Großvater nicht nur sorgt, sie will auch sein durch Lebenszeit und -sinn gewonnenes Wissen nicht kampflos dem Vergessen übergeben, nur kostet es flotte 350.000 Euro, sein Bewusstsein in eine pflanzliche Form zu überführen – wobei Aylin als Mitarbeiterin der Drosera AG auf einen Rabatt von 50 Prozent zählen könnte, was immer noch 175.000 Euro wären! Und was nun passiert, wird facettenreich und spannend, wird so kunst- wie humorvoll erzählt, auf ein durchaus offenes Ende hin. Und Zara Zerbe sagt: „Oh, ob es eine Fortsetzung gibt, das werde ich immer wieder gefragt“, und wenn dem so ist, dann scheint es dafür ja gute, wenn nicht beste Gründe zu geben.

Zara Zerbe lebt und schreibt und arbeitet in Kiel, immerhin eine bundesdeutsche Landeshauptstadt, die Ostsee fast vor der Tür, davor verbreitert sich nur die Förde, gesegnet mit erstem Wind und Wellen; Kiel ist eine lebenswerte Stadt, die zugleich einen schlechten Ruf hat: verbaut und langweilig, ach wie provinziell und dergleichen mehr hört man, wenn man etwa in Hamburg oder Berlin bekennt, dass man gerne nach Kiel fährt und sich dort auch noch wohlfühlt. Mag alles sein, doch zugleich und vor allem ist Kiel ein Ort, von Fläche und Einwohnerzahl nicht zu klein und nicht zu groß und damit geradezu geschaffen, sich einigermaßen anstrengungsfrei durchzusetzen, wenn man ein junger Mensch ist, den es nun mal ins Kreative verschlagen hat. Und so sagt Zara Zerbe mit der ihr eigenen Lässigkeit: „Kiel als Literaturort, das passt schon.“ Und dass der Nachteil, dass man das, was man kulturell erleben möchte, selbst organisieren und auf die Beine stellen müsse, sofort durch den Vorteil ausgeglichen werde, dass man dieses in Kiel auch könne und wenn man das ein paar Jahre mache, dann kenne man alle interessanten Leute. Von daher gelte auch: „Die Leute, die meine Konkurrenten sein könnten, mit denen bin ich eh befreundet.“ Mithin: Die Wege sind kurz und vor allem sind sie nicht versperrt.
Also gehört sie auch zum Team der Kieler Literaturzeitschrift „Der Schnipsel“, auch das ein Name, der in Berlin, Hamburg oder München sofort Spott und Hohn auslösen würde, in Kiel geht er aber sowas von in Ordnung. 23 Nummern hat man so seit 2012 realisiert. Und nebenher hat sie in den vergangenen Jahren alle lokalen Literatur-Preise eingeheimst; für das Schreiben an ihrem Debüt etwa konnte sie zuletzt auf das Arbeitsstipendium der Kulturstiftung Schleswig-Holstein zurückgreifen.

Und so strahlt sie die gelassene Zufriedenheit einer jungen Autorin aus, die wichtige Schritte gegangen ist: Die Kritiken waren durchweg positiv, erste Lesungen hat sie hinter sich, nächste sind verabredet, auch wenn es sich noch immer ein wenig unwirklich anfühle, dass nach diversen einzelnen Erzählungen nun ihr erster Roman tatsächlich gedruckt und gebunden vorliege. Und der will ja auch verkauft werden, will unter die Leute, und so geht sie regelmäßig bei sich um die Ecke zum Buchladen ihres Herzens, schaut dort vorbei, signiert weitere Bücher und hilft gelegentlich auch dem Buchhändler, einem Herrn alter Schule, mit dem Genre der Online-Bestellung besser klarzukommen, auch das ist Kiel.

Zara Zerbe wurde 1989 in Hamburg-Harburg geboren, hat Literatur- und Medienwissenschaften studiert und lebt als freie Autorin in Kiel. Sie ist Mitherausgeberin des Literaturmagazins „Der Schnipsel“ und veranstaltet die „Lesebühne FederKiel“ in der Hansa48 in Kiel. Ihre Erzählung „Limbus“, für die sie mit dem Preis Neue Prosa Schleswig-Holstein 2018/2019 ausgezeichnet wurde, ist 2020 im Sukultur Verlag erschienen. 2021 erschien die Novelle „Das Orakel von Bad Meisenfeld“ im stirnholz Verlag. 2022 wurde sie mit dem Kunstförderpreis des Landes Schleswig-Holstein ausgezeichnet. „Phytopia Plus“ ist ihr Debütroman.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Corinna Haug

«Die Literaturrunde» auf Tele-D vom Mai 2024

Besprochene Bücher:

  • «Zitronen» von Valerie Fritsch, Suhrkamp 2024
  • «Gnadenlos geirrt» von Barbara Bonhage, Tredition 2021, erscheint neu im Herbst im Verlag elfundzehn unter dem Titel «Zwischen Herd und Hakenkreuz»
  • «Lichtungen» von Iris Wolff, Klett-Cotta 2024
«Die Literaturrunde» auf Tele-Diessenhofen mit Jeanette Bergner (Moderation), Peter Höner (Schriftsteller) und Gallus Frei (Literaturvermittler). Wer die Sendung sehen will, klicke auf das Foto!

Empfohlene Bücher

  • «Verwildern» von Douna Loup, Limmat 2024
  • «Apeirogon» von Calum McCann, Rowohlt 2020
  • «Maifliegenzeit» von Matthias Jügler, Penguin 2024