«Was uns betrifft» Laura Vogt im Literaturhaus Thurgau

Laura Vogt las im Literaturhaus Thurgau aus ihrem bei Zytglogge erschienenen Roman «Was uns betrifft». Eine Reise in die Seele einer zerrissenen Frau, einer Frau, die aufbricht. Eine Lesung, die beeindruckte, weil es Laura Vogt schafft, Themen zu Literatur werden zu lassen, die sonst gerne aussen vor bleiben.

„Was uns betrifft“ betrifft mich, betrifft jeden, der Laura Vogts Roman liest. Vielleicht, weil das Buch von den Urängsten einer jungen Frau erzählt, einer werdenden und gewordenen Mutter. Vielleicht weil der Roman nichts beschönigt und Fragen stellt. Vielleicht weil Ihr Roman derart ehrlich ist, nicht verklärt und idealisiert. Vielleicht aber auch, weil Laura Vogt einen Roman geschrieben hat, den sie nie hätte schreiben können, wäre sie nicht selbst Mutter geworden. 

Schon die erste Szene im ersten Teil ihres Romans fährt einem in den Unterleib. Rahel, die junge Protagonistin sitzt in einer Lesung und mir wird geschildert, wie sich in ihrem Unterleib ein männliches Spermium mit der Eizelle Rahels vereint. Als hätte man dem Erzählmotor schon zu Beginn eine Einspritzung verpasst. Ein Einstieg, der einem als Bild unauslöschlich hängen bleibt.

Es sind drei Frauen im Roman der jungen Ostschweizerin; Verena, die an Krebs erkrankte Mutter, Rahel die Protagonistin und Fenna ihre Schwester. In keinem der drei Frauenleben scheinen Männer eine wirklich gute Rolle zu spielen. Martin, Rahels Freund setzt sich ab. Verena trennt sich von Erik, Rahels Vater, schon früh. Und Fenna kämpft sich an Luc ab. Als ob unter allem die Einsicht stünde, dass Beziehungen zwischen Menschen permanentes Wagnis sind und bleiben. Vielleicht sogar die Mahnung, endlich von den festgefahrenen Vorstellungen von „Familie“ Abstand zu nehmen.



Laura Vogt schreibt sich extrem nahe an ihre Protagonistin, bildlich und emotional. „Was uns berifft“ ist ein Buch von selten weiblicher Dominanz. Ein Buch, dass so nie von einem Mann hätte geschrieben werden können und deshalb für den Mann zu einem wahren Leseabenteuer werden kann.

Rezension auf literaturblatt.ch

Interview mit Laura Vogt auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Von Nähe und unsäglicher Distanz; Andreas Neeser im Literaturhaus Thurgau

Nachdem ich im Frühsommer 2014 Andreas Neesers Roman „Zwischen zwei Wassern“ unmittelbar nach einem Buch von Haruki Murakami gelesen hatte, musste ich den Autor unbedingt kennenlernen. So sehr mich der Erzählband Murakamis enttäuschte, so sehr faszinierte mich der Roman des 1964 geborenen Aargauers. Ich reiste von Amriswil nach Rothrist, an eine Lesung in der Bibliothek des Ortes. Eine denkwürdige Begegnung, denn seither begleitet mich das Schreiben und Wirken des Autors in seiner ganzen Vielfalt.

© Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Andreas Neeser ist Erzähler, Romancier, Lyriker, Performer und vieles mehr in einem. Vor allem ist er ein Schriftsteller, der sich unglaublich nahe an seine Personen schreibt. Ein Autor, der die Musik in der Sprache liebt, ihren Klang, ihren Sound. Vielleicht ist dies eine Erklärung, dass Andreas Neeser sich in den letzten Jahren auch immer wieder der Mundart widmete. Und dabei nehme ich das Wort Mund-Art ganz wörtlich.

Ausgerechnet in diesem Frühjahr erschienen nun gleich zwei Romane; bei Haymon das Buch „Wie wir gehen“ und beim Zytglogge-Verlag der Mundart-Roman „Alpefisch“. Ausgerechnet in einer Zeit, in der keine Lesungen stattfanden, keine Festivals. In einer Zeit, in der die Buchverkäufe in den Keller rutschten und SchriftstellerInnen und Verlage in Existenznöte gerieten, Nöte, die noch längst nicht ausgestanden sind.

© Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

«Wie wir gehen», Haymon Verlag Innsbruck: Was geschieht, wenn man es versäumt, eine gemeinsame Sprache zu finden? Wenn man sich trotz aller Liebe fremd bleibt? Monas Vater hat Krebs. Die Nähe zu ihrem Vater, die ihr ein Leben lang verwehrt blieb, gelingt ihr auch jetzt nicht herzustellen. Die Nähe zu all jenen, die ihr nahe stehen sollten; zu ihrer bald erwachsenen Tochter Noëlle, ihrem verloren gegangenen Mann, ihrer Aufgabe in ihrem Beruf. Was zwischen Mona und ihrem Vater steht, sind all die Geschichten davor, das Gift in den Generationen und die Unfähigkeit, Worte dafür zu finden. 

Mona drückt ihrem Vater ein Diktiergerät in die Hand und fordert ihn auf zu erzählen. All das, was über die Jahrzehnte ins Schweigen fiel, was vielleicht verständlich gemacht hätte. So wie jedem Konjunktiv ein scheinbares Versäumnis vorangeht. So wird ein Diktiergerät die Tür zu einem verschütteten Leben, zu mehreren verschütteten Leben, jenem des Vaters, der Tochter, des einstigen Mannes und der Geschichte von Mona selbst.

© Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

«Alpefisch», ein Mundart-Roman, Zytglogge Basel: Eine junge Frau, Jus-Studentin, ein junger Mann, Heilpädagoge. Sie lieben sich. Sie brauchen sich. Aber weil Liebe Nähe ist, bricht in dieser Nähe bei beiden das auf, wovor sie sich lieber verschliessen würden, beginnt aus Liebe Kampf zu werden, an dem beide zu zerbrechen drohen. Andreas Neeser lotet aus, was sonst nur Schatten wirft.

Beide schleppen den Tod mit sich, Brunner jenen seines Bruders, der vor seinen Augen von einem Lastwagen weggerissen wurde, Kathrin den partiellen Tod ihrer selbst, das Wegsterben ihrer Leichtigkeit, ihrer Hoffnung, den Würgegriff eines nicht enden wollenden Alps. Brunner kämpft gegen seine Machtlosigkeit genauso wie Kathrin.

© Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Marianne Künzle «Living Planet», Plattform Gegenzauber

Noch ist Gate A84 unbesetzt. An den Säulen bei den Durchgangsschranken zum Fingerdock rot leuchtende Querbalken: kein Zutritt. Da ist niemand an den Bildschirmen hinter dem Desk. Die Anzeigetafeln schwarz.

Im Wartebereich olivgrüne Kunststoffsitze, mit Stangen verbunden, dazwischen grosszügige Ablagefläche für Handgepäck. Ein Mann liegt auf der Seite mit angewinkelten Beinen, die Arme verschränkt. Sein Gesicht verdeckt eine weisse Kapuze. Eine Frau mit Kopfhörern. Ihr Gesicht ist ausdruckslos. An der braunen Wand eine Werbefläche, eingeblendet ein Gemälde. Junge im Harlekinkostüm. Mann mit schmalen Lippen, zurückversetztem Kinn, Augen bloss angedeutet. «Picassos blaue und rosa Periode in der Fondation Beyeler. Das Kulturhighlight 2019.» Auf den Bodenplatten fahles Morgenlicht. Weit hinten im Terminal wird an einer Bar mit Geschirr hantiert. Tassen, die ausgeräumt, Unterteller, die bereit gestellt, Kaffeelöffel, die verteilt werden.   

Eine Flughafenangestellte schiebt einen Putzwagen vor sich her. Sie trägt ein graues Poloshirt, «Zürich Flughafen». Am Putzwagen hängt Toilettenpapier. In der Nähe des Desks passiert sie eine transparente Erdkugel auf einem schlanken, hüfthohen Sockel. Sie schlurft zu ihr zurück. Mit einem Lappen wischt sie über das Plexiglas, über den Einwurfschlitz und die sich gelb abhebenden Kontinente. Im Innern des Planeten befindet sich Geld. Es bedeckt den Südpol. Viele bronzefarbene Münzen, wenige speckige Banknoten. Allerlei Währungen. Restgeld, das nicht gewechselt werden kann. Die Erdkugel schmückt ein Banner aus Kunststoff: «For a Living Planet». Ein Pandabär flankiert die Werbung für eine Umweltorganisation.

Fünf junge Männer. Farbige Turnschuhe, schwarze Jeans und Kapuzenpullis. Ihre Rollkoffer glänzen. Sie lachen laut und heiser. Zum Überbrücken der Wartezeit besuchen sie den Duty-Free-Kiosk in der Nähe des Gates. Ein Paar setzt sich in den Wartebereich. Sie blättert schon bald in einer Zeitschrift, er scrollt auf dem Smartphone. Weitere Passagiere tauchen auf. Ein älterer Herr. Ein Rentnerpaar. Zwei Frauen mit prallvollen Rucksäcken, sie halten sich an der Hand. Zwillingsschwestern im gleichen Sommermantel, einmal olivgrün, einmal hellblau. Es gibt noch keine Angaben zum Flug, sie setzen sich dennoch. Andere warten ja auch und Gate A84 ist auf der Boarding Card vermerkt. Sie richten sich ein. Verschränken Arme, schlagen Beine übereinander. Lächeln sich kurz zu. Schauen sich um. Gleichgültig. Verstohlen.

Ein kleines Mädchen rennt zur Fensterfront. Es legt seine blassen Hände an die getönte Scheibe und drückt die Schnauze seines Stofftigers ans Glas. Die Mutter geht neben ihm in die Knie und zeigt auf den angedockten Jet. Das Flugzeug leuchtet vom Cockpit bis hinter die Kabinentür in knalligem Rot. Im Rot eine überdimensionierte, sternförmige Blüte. Ein Edelweiss, dessen ungleich lange Blätter sich nach allen Himmelsrichtungen recken. Das Fingerdock, verhakt im Flughafengebäude, die hohle Öffnung wie ein Mund über die Kabinentür gestülpt. Raupenartig, faltig.

Die Mutter nimmt das Mädchen an der Hand. Am Desk stellt es sich auf die Zehenspitzen. Bei den Durchgangsschranken berührt es die rot leuchtenden Querbalken. Es will zur Erdkugel. Die Mutter lässt es gehen.

Es nähert sich ihr langsam, umrundete sie und betrachtet die schlangenförmigen Linien, Einbuchtungen, die Zacken, die Konturen der gelben Kontinente, das Geld in der Kugel, ein Schatz. Ein Berg von einem Schatz, der weiterwächst, wenn man durch den Einwurfschlitz ein Geldstück schiebt und es fallen lässt. Der Vater, nun bei ihm, kramt in der Hosentasche. Zählt Fünfrappenstücke in seine offene Hand. «Mit dir», sagt das Mädchen und blickt ihn aus dunklen Augen an. Er hält es hoch. Es langt zum Einwurfschlitz. Die erste Münze fällt. Ein metallenes Klimpern. Vorsichtig schiebt es die anderen hinterher.

Sie gehen zum Wartebereich. Das Mädchen betrachtet die Menschen. «Wo fliegst du hin?», fragt es die Frau mit den Kopfhörern. Es wiederholt die Frage. «Auf die gleiche Insel wie du», sagt diese. Das Mädchen sucht die Eltern.

Über dem Desk von Gate A84 wird die Anzeigetafeln eingeschaltet. Auf der einen steht: «Fuerteventura WK212/Edelweiss Airline, 10:50, Gate A84, 21 Grad». Auf der anderen: «Einsteigezeit 10:05» und «Self Boarding/Automatisches Einsteigen, bitte Barcode auflegen». Nun werden Boarding Cards in Handtaschen gesucht, Blicke auf Uhren geworfen, Haarsträhnen in Form gebracht, auf die Anzeige hingewiesen, auf die Temperatur am Reiseziel. Es wird abgewogen, ob der Gang zur Toilette noch drin liegt. Das Warten wird konkret. Es verbindet alle für einen kurzen Moment. Niemand will nach Philadelphia oder Warschau. Niemand am Abend zurück nach Hause. Alle haben das gleiche Ziel. Es gibt so lange keine Diskretion, bis sie sich in der Flugzeugkabine installiert, sich wieder ihren Gedanken und ihren push-Nachrichten zugewandt haben und ihre Privatsphäre sie wieder stumm umgibt.

Aus dem Fingerdock taucht Bodenpersonal auf. Über der Uniform tragen sie gelbe Leuchtwesten. Sie lösen die Kordel, die zwischen Terminal und Fingerdock eine Schranke markiert. Am Desk überprüfen sie die Funktionsfähigkeit der Bildschirme, eine Passagierliste. Die wenigen Handgriffe bewirken, dass sich die Menschen erheben, ihr Handgepäck fassen und sich zum Desk begeben. Es bildet sich eine Schlange. Es wird geredet, die Stimmung ist spürbar aufgeräumter. «Die lassen uns allein», wird gefrotzelt, als das Personal die Kordel wieder einhängt und im Fingerdock verschwindet, das Check-in erneut leer bleibt. Ein Gong ertönt. Eine weiche Männerstimme. Der Flug nach Riga wird ausgerufen.

Das Mädchen lässt den Stofftiger teilhaben am kurzen Gespräch der Eltern mit dem älteren Herrn, der zur Anzeigetafel zeigt. Er macht darauf aufmerksam, dass die Inseltemperatur nun 22 Grad beträgt, prächtige Urlaubsaussichten. Die Eltern pflichten ihm bei und das tut auch der Tiger, er wackelt mit dem Kopf. Die Mutter streicht dem Mädchen über das Haar. Es dreht sich brüsk ab. Rennt zur Erdkugel. Drückt des Tigers Nase ans Plexiglas und seine Pfoten an die Arabische Halbinsel. Verlässt ihn die Kraft und baumelt er vor dem Planeten in der Luft, weil das Mädchen Blickkontakt zu den Eltern sucht, verleiht es ihm umgehend neue Tigerkräfte, presst die Nase nun aber wirklich fest an die Erde. Der Stofftiger kann nicht anders, als sie zu riechen, die Welt, und seine Knopfaugen schauen durch das Glas ins Erdinnere, das hohl ist, abgesehen vom geldbedeckten Boden. Seine Augen blicken durch die Erde hindurch, der Tigerblick durchbohrt ein gelb schimmerndes Nordamerika und verliert sich in den verschwommenen Menschensilhouetten, die hinter der Erdkugel vor dem Desk am Gate Schlange stehen. Das Mädchen küsst den Tiger auf den Kopf.

Zwei Angestellte in Uniform steuern auf Gate A84 zu. Die Absätze ihrer Schuhe klacken und übertönen Gesprächsfetzen und das Geratter von Gepäckwagen, die ineinandergeschoben werden. Hinter dem Check-in-Schalter richten sie sich ein. Sie unterhalten sich. Gehen Papiere durch. Fahren die Computer hoch. Eine löst die Kordel beim Fingerdock. Die Querbalken an den Säulen wechseln auf Grün, ein Punkt, der hin und her springt. Der Durchgang zum Fingerdock und zum Jet ist freigegeben. Die andere greift nach einem Mikrofon, ihr Blick streift die Wartenden. Sie liest: «Flug WK212/Edelweiss nach Fuerteventura um 10:50, Gate A84. Das Boarding ist eröffnet.»

Mit einer Begrüssung und einem Lächeln wird die Boarding Card des ersten Fluggastes geprüft. Ein Mittdreissiger, Jeans, Sakko, frische Rasur, mit abgenutztem Rollköfferchen. Er nickt wortlos und verschwindet im Fingerdock, als gehörte er nicht zu denen, die auf den gleichen Flug wollen. Eine Frau zieht den Barcode über den Scanner an der Durchgangsschranke und trägt ihre Ledertasche und eine Prise Selbstverliebtheit auf hohen Absätzen zum Flugzeug. Die jungen Männer sind an der Reihe. Eine Mütze ist im Duty-Free liegen geblieben, sie diskutieren, warten oder einsteigen. Absolut desolat, grinsen sie, der Herr Kollege ohne Mütze. Sie scheren aus der Schlange aus, machen den Eltern des Mädchens Platz. Diese wiederum lassen die Zwillingsschwestern vor, der Vater ruft seine kleine Tochter vergeblich.

Das Mädchen, das Stofftier und die Erdkugel. Es steht vor der Erde. Es und der Tiger spiegeln sich im Plexiglas. Sein verzogenes Gesicht, Mund, Nase, die braunen Augen, krauses Haar. Es weiss, dass die Eltern nahe sind und doch auf Distanz und die Erde ist zu schön, um sie zurück zu lassen. Es umklammert den Tiger, sieht, wie die Mutter den Rucksack schultert und auf es zukommt. Sie redet auf das Kind ein, es lehnt seine Stirn an die Kugel, an Queensland. Sein Schopf reicht bis zum Äquator. Die Mutter hebt das Mädchen hoch, was es geschehen lässt, es hat damit gerechnet, es gibt kein Entrinnen. Dann lacht es und in dem Moment fällt ihm der Tiger hinunter. Er landet rücklings auf dem Kunststoffsockel der Erdkugel, die Knopfaugen starr. Dem Mädchen entfährt ein spitzer Schrei. Die Mutter versucht, nach dem Stofftier zu langen, geht in die Hocke, ergreift ein ausgeleiertes Bein und will sich unverzüglich wiederaufrichten, als es geschieht.

Niemand mag Augenblicke dieser Art, wo sich während einem Bruchteil einer Sekunde abzeichnet, was passieren wird, als sie beim Aufstehen realisiert, dass sie an die Erdkugel stösst, als sie deren beachtliches Volumen spürt und sie weiss, dass die Kugel nicht wirklich verankert ist, unter dem Sockel ein Antirutschfilz zwar, aber nicht konzipiert für einen heftigen Stoss, dass sie nachgibt. Die Erdkugel fällt. Am Äquator kann sie aufgeklappt werden. Ein vorstehendes Kunststoffteilchen ist mit einem Schloss versehen. Auf dieses Teilchen knallt sie mit ihrem ganzen Gewicht. Das Banner rutscht aus der Halterung, das Material bricht, die Plexiglaskugel springt auf und die Erde entleert sich. Münzen schlittern klickernd über die Bodenplatten, als wollten sie nichts wie weg. Sie verteilen sich über die ganze Fläche, einzelne kullern zwischen Beinen hindurch, hochkant hinüber zum Wartebereich unter die Sitze. Fast alle bleiben jedoch bei der Erdkugel liegen, ein Lawinenkegel aus Geld. Die Erde liegt da, mit geöffnetem Schlund. Einen kurzen Moment lang ist es sehr still.

«Mist», ruft die Mutter. Ihr Mann eilt zu ihr hin. Alle schauen. Starren. Die Erdkugel. Das Geld. Das Mädchen mit aufgerissenen Augen, Entsetzen. Seine Augen, die sich mit Tränen füllen. Nicht mit Tränen der Wut, des Schmerzes oder des Trotzes. Es sind Tränen aufrichtiger Trauer, Tränen des Verlustes über etwas Intaktes, das es auf Anhieb gemocht hat und ihm jetzt abhandengekommen ist.

Alle sehen, wie betroffen das Kind auf den Unfall reagiert und seine Betroffenheit überträgt sich. Die Dame am Desk, in professionellem Tonfall, beschwichtigt, nur keine Aufregung, sie ordere den Flughafendienst. Der Vater versucht die Erdkugel aufzurichten, die Frau im olivgrünen Sommermantel packt mit an. Die Erde steht wieder auf dem Sockel, das heisst, die Südhalbkugel. Die Nordhalbkugel, nur durch das Scharnier mit dem unteren Teil verbunden, hängt nach hinten ins Leere. Die Mutter hebt sie vorsichtig an und senkt sie auf die Südhalbkugel. Das Scharnier muss sich verbogen haben. Die Hälften sind nicht mehr passgenau, der Norden ist um zwei, drei Millimeter verrückt. Vergeblich versucht sie es zu richten. Das Mädchen, in der einen Hand hält es den Tiger, mit der anderen umklammert es den Bändel von Mutters Rucksack, weint haltlos. Diese bespricht sich mit ihrem Mann. Sie würden aufräumen, natürlich würden sie aufräumen. Es bleibe genügend Zeit und es sei ihr Missgeschick gewesen, sie habe das Ganze hier verursacht. Das Mädchen beruhigt sich. Schnieft. Sein Blick, noch verschwommen, wandert langsam über die Erdoberfläche, als suchte es ein bestimmtes Land, einen Gebirgszug, der sich abhebt. Am Himalaya bleibt sein Blick an der Stelle hängen, wo die Erdkugel aufgeschlagen ist. Die sonst gelb schimmernden Gipfel sind eingestossen und grösstenteils abgesplittert. Doch dann entdeckt es den Riss im Plexiglas, gleich östlich des Indischen Subkontinents. Der Riss ist hart, weiss, vom Nördlichen Eismeer über Sibirien zieht er sich hinab, entzweit die Wüste Gobi und das Chinesische Tiefland, schrammt an Taiwan vorbei, stösst schwungvoll Richtung Südosten, spaltet den Nordwesten Papua-Neuguineas, büsst an Spaltkraft ein und verliert sich im Golf von Port Moresby.

«Sie ist kaputt», sagt das Mädchen. Es schluchzt.

Es werde sofort jemand hier sein, versichert die Angestellte vom Check-in, jetzt bei ihnen, sie müssten sich keine Sorge machen. Das Mädchen sieht mit verweintem Gesicht zu ihr auf. «Sie ist kaputt», wiederholt es. «Wir kriegen das hin», antwortet die Frau und verschwindet hinter dem Desk. Sie lächelt dem Zwilling im hellblauen Mantel zu, die sich bei ihrer Kollegin nach einem besseren Sitzplatz erkundigt. Sie spricht ins Mikrofon. Es knistert. «Edelweiss Airline WK212 nach Fuerteventura vom Ausgang A84, der Einsteigevorgang ist eröffnet.»

Das Mädchen kniet sich hin und vergräbt seine Hände im Geld. Die Mutter stellt den Rucksack ab. Ihr Mann meint, vielleicht sollten sie das besser sein lassen, es komme ja jemand. «Geht schon», meint sie und füllt ihre Hände mit Münzen. Er presst die Lippen zusammen. Eine Träne kullert dem Mädchen über die Wange. «Siehst du», sagt sie vorwurfsvoll. Er versucht seine kleine Tochter zu trösten. Unschlüssig steht die Mutter vor der Erdkugel. Jedes Geldstück einzeln einzuwerfen dauert zu lange. Sie legt die Münzen zurück auf den Haufen. Mit Hilfe der Frau im olivgrünen Mantel klappt sie die obere, lädierte Hälfte wieder nach hinten. Die Frau hält die Hälfte fest, zur Sicherung, sie könnte abbrechen. So lässt sich die Erde besser füllen. Das Mädchen schnupft. Es fängt an, im Geldhaufen zu wühlen, hebt eine erste Handvoll über die Kante ins Innere, darum bemüht, dass keine Münze hinunterfällt. Die Ladungen werden grösser. Münzen prasseln zu Boden.

Die Angestellten flüstern. Der Flughafendienst ist noch nicht eingetroffen. Sie telefonieren. Auch in der Schlange wird leiser gesprochen, der Zwischenfall hat den Lärmpegel gedämpft. Gerade eben noch war die Erdkugel nur Teil der Infrastruktur des Terminals. Nun ist sie plötzlich Mittelpunkt des Geschehens. Noch scheint in vielen Köpfen der verstörende Anblick, die Erde im Fall, wie ein Film abzulaufen. Vereinzelt schauen die Wartenden zum Desk, um herauszufinden ob es vorwärtsgeht oder das Boarding verzögert wird. Die Angestellten versuchen, das Malheur zu beheben. Die Menschen schauen aber vor allem der Familie zu, wie sie mit dem Missgeschick klarzukommen versucht, wie sich die anfänglich stressige Situation in ein stilles Einverständnis verwandelt, zusammen aufzuräumen. Mit leiser Neugier wird zudem die Frau im olivgrünen Mantel beobachtet, die ihre Hilfe anbietet. Wird sie daran festhalten, wenn ihre Schwester am Desk grünes Licht zum Einsteigen bekommt?

Die Frau blickt um sich. Erfasst das ganze Ausmass des Malheurs. Sie muss gespürt haben, wie die Kinderaugen sie durchbohren, wie das Mädchen abwartet, was sie nun tun wird. Sie wendet sich ihm zu und lächelt. Das Mädchen lächelt zurück. Die Frau zuckt die Schultern und beginnt Geldstücke aufzuklauben. Das Mädchen verfolgt jede ihrer Bewegungen. Dann dreht es sich zu den Wartenden. Schaut sie an. Sein Blick ist dunkel und alt, ein Funken Menschheitsgeschichte liegt in ihm, vom Kind, vom Menschen, dem nichts wichtiger ist, als dass er verstanden wird und sich auf andere verlassen kann.

Das Rentnerpaar reagiert zuerst. Löst sich aus der Schlange und geht zum Mädchen hin. Die beiden helfen ihm die Erdkugel füllen. Die Verliebten, auch sie helfen mit. Weitere schliessen sich an. Sie finden bei den Säulen Münzen, unter der Durchgangsschranke, gleich vor dem Check-in. Selbst an der Fensterfront glänzt Geld im hellen Licht. Die Menschen wirken wie Spatzen, die Brosamen picken. Wie Erntehelfer auf einem Kartoffelacker. Wie Kinder an einer Hochzeitsfeier, beim Auflesen der Bonbons auf dem Weg ins Glück. Der ältere Herr wendet einen Dinar, vergleicht ihn mit einer Münze, die er keiner Währung zuordnen kann. Touristen entdecken einen Rubel und eine Öre unter ihren Rucksäcken, überreichen sie dem Mädchen. Es sammelt die Münzen ein. Rennt, marschiert, hüpft von Mensch zu Mensch. Das Einfüllen erledigt das Rentnerpaar. Noch zieren sich die jungen Männer, Geld einzusammeln wie die Bedürftigen, wer wird zuerst? Bis der Schlaksige zum Wartebereich schreitet, im Rücken das Gelächter der Kollegen. Er sucht unter den Sitzen und wird fündig. Das Mädchen strahlt. Eine Atmosphäre von Heiterkeit und auch ein gewisser Eifer macht sich breit.

Die eine Dame am Desk versucht die Fluggäste davon zu überzeugen, dass der Flughafendienst ganz bestimmt bald eintreffen wird. Ob sie nicht doch einsteigen möchten – aber nein, niemand scheint in Eile zu sein. Viel eher sind alle davon angetan, Ordnung zu schaffen. «Alles eine Frage der Priorisierung», meint der ältere Herr.

Bald einmal, es sind etliche Minuten vergangen, ist das Geld dort, wo es hingehört, in der Erde. Die Mutter streckt dem Mädchen die Hand hin. «Wir müssen. Es ist aufgeräumt», sagt sie. Der ältere Herr zwinkert ihm zu. Das Mädchen zögert. Denkt nach. Und dann geht alles sehr schnell.

Das Mädchen stellt sich auf die Zehenspitzen, taucht kurzentschlossen seine dünnen Arme ins Geld und wühlt darin, dass es klimpert, und das Mädchen schöpft so viel es fassen kann, hebt es über den Rand und schleudert es in Richtung der Zuschauenden. Aus einer Dringlichkeit wird ein Spiel. Das Lachen des Mädchens ist gelöst. Es braucht freie Hände, die mithelfen, es braucht alle Hände. Es wird geklatscht, einer der jungen Männer krempelt demonstrativ die Ärmel hoch und alle machen mit. Nochmals Geld einsammeln. Die Erde füttern.

Passagiere, die eben erst eintreffen, sind irritiert, denn trotz der Menschenansammlung wird nicht angestanden. Die Angestellten kümmern sich aufmerksam um die Neuankömmlinge, was aber nicht ausreicht, um das Einsteigen zügig voranzubringen. Sie könnten umgehend boarden, aber das eifrige Treiben lenkt sie ab, die merkwürdig aufgekratzte Stimmung wirkt ansteckend. Einzelne reihen sich gar ein in den Schwarm von Sammlern.

Vielleicht ist es eine Art kollektive Gewissheit, dass Flug WK212 ohne Passagiere nie startklar sein wird. Es sind schliesslich Menschen, die Crew im Tower, die über den Zeitpunkt des Starts wird entscheiden müssen. Vielleicht ist es die Heiterkeit, das Spiel. Der ältere Herr beginnt einen Schlager zu summen, vom Meer, der Sonne und einem glühenden Herzen, das Rentnerpaar stimmt mit ein, der Vater des Mädchens lacht, sagt dann zu seiner Tochter, die Münzen in die Luft wirf, einen Geldregen herunter prasseln lässt, es reiche.

Eine der Damen macht eine weitere Durchsage. «Edelweiss Airline WK212 nach Fuerteventura vom Ausgang A84: wir bitten Sie dringendst, sich zum Einsteigen bereit zu machen». Die andere redet auf die Eltern ein, eine weitere Verzögerung läge nicht drin. Der Vater beschwichtigt, ihre Tochter sei am Durchstarten, gewissen Prozessen müsse man Raum geben. Seine Frau stimmt in sein Lachen ein, sämtliche Anspannung fällt von ihr ab, bald lacht sie unter Tränen, bis sie plötzlich wieder ernst wird, sehr ernst, sie lasse sich nicht vorschreiben, wann sie wo zu sein habe. Mit Nachdruck bittet sie die Dame um Verständnis. Sie wendet sich an ihre Tochter, fährt ihr über den Haarschopf, der sich ihr aber entzieht, schon ist das Mädchen weg.

Die Verliebten schichten auf einem Sitz Münzen aufeinander. Fasziniert schaut das Mädchen zu. Dann rennt es zur Erdkugel, zu seiner Aufgabe, verteilt von neuem Geld, macht selber kleine Haufen, es ist sich der Hilfe dutzender Hände gewiss, die aufklauben, anhäufen, etwa die jungen Männer, die ihm zurufen, sobald eine Handvoll Geld transportbereit ist. Sofort ist es zur Stelle. Es tauscht den Tiger gegen Geld. Er passe gut auf ihn auf, versichert ihm der eine und nimmt ihm das Stofftier ab. Zusammen gehen sie zur Erdkugel. Das Mädchen langt über den Äquator und wirf das Geld in die Erde.

«Achtung: alle Passagiere abfliegend nach Fuerteventura sind gebeten, sich zum Ausgang A84 zu begeben. Ich wiederhole: alle Passagiere abfliegend nach Fuerteventura sind gebeten, sich zum Ausgang A84 zu begeben», ertönt nun die Stimme vom Desk.

Letzte Passagiere treffen ein. Die Damen winken sie energisch zu sich, bemüht zu verhindern, dass auch sie stehen blieben, schlimmer noch, dass auch sie mitmachen bei diesem ganzen Zirkus. Zwar abgelenkt von den sich ungewohnt verhaltenden Menschen zücken diese ihre Boarding Cards und lassen sich durch die Absperrung schleusen. Dahinter aber ein Blick zurück, sich vergewissernd, dass wahr ist, was sich am Gate A84 abspielt. Sie verschwinden im Fingerdock.

Die Stimme aus dem Lautsprecher insistiert: «Passagiere am Gate A84 sind gebeten, sich sofort zum Einsteigen zu begeben. Ich wiederhole, Passagiere am Gate A84 sind gebeten, sich sofort zum Einsteigen zu begeben».

Die Durchsage verfehlt ihre Wirkung. Die allermeisten Passagiere haben Flug WK212 vergessen. Ihre ganze Aufmerksamkeit gilt weiterhin dem Geld, der Erde. Sie sind sehr vertieft. Die Damen erklären einem Steward von Edelweiss, was geschehen ist. Er gibt Anweisungen. Noch eine Durchsage. «Achtung, dies ist der letzte Aufruf für Passagiere fliegend nach Fuerteventura. Ausgang A84 schliesst in wenigen Minuten».

Der ältere Mann nickt den Damen freundlich zu, als er am Desk vorbeigeht. Er hat bei der Fensterfront das Banner geholt. Er bringt es dem Mädchen, das bei der Frau im olivgrünen Mantel steht, die noch immer die nach hinten geklappte Nordhalbkugel stützt. Sie liegt auf ihren Händen wie eine kostbare Gabe, ein Täufling, eine Krone auf weinrotem Samtkissen. Die jungen Männer schütten ihr Sammelgut in die Erde. Schnell getan. Nun Betätscheln des Stofftieres im Arm des Kollegen, ein denkwürdiger Anblick. Schon ist ein Handy in Position. Mit einem Stofftier mag dieser nicht fotografiert werden. Er dreht sich zur Seite. Will dem Mädchen den Tiger zurückgeben, als sie ihn schubsen. Eine boshafte, kleine Provokation. Der junge Mann holt aus, zur Revanche, die anderen sind schneller. Er bekommt einen Stoss in die Brust, stolpert rückwärts, kracht in die Südhalbkugel, die Frau kreischt, lässt die Nordhalbkugel los, das Scharnier reisst ab, die Erdhälften schnellen durch die Luft, ohrenbetäubendes Klirren beim Aufprall. Während die Südhalbkugel liegen bleibt, ein Spinnennetz feinster Risse das Plexiglas überzieht, schlittert der Norden mehrere Meter weit. Überall glänzt Geld. Ein Aufschrei. Bestürzung. Nun ist die Erdkugel definitiv kaputt.

Dann aber setzt ein Raunen ein. Etwas Befremdliches erregt die Aufmerksamkeit der Menschen. Die Kontinente, vor allem die Landmasse der Nordhalbkugel, fangen an zu leuchten, zaghaft zuerst, dann unübersehbar. Das fahle Gelb wird voller, kräftiger, wird zu einem pochenden Gelb. Spätestens jetzt bemerken es alle. Eine optische Täuschung? Sogleich verliert das Gelb wieder an Intensität, erbleicht, scheint sich abzuschwächen, um, sobald am Tiefpunkt angelangt, wieder zu erstarken. All dies erinnert an das Hinterteil eines Glühwürmchens in dunkler Nacht. Harmlos. Lockend. Der Fingerzeig einer höheren Macht? Ein Vorzeichen ganz bestimmt. Für das, was folgt, für das Unvorstellbare, das an diesem Morgen geschieht. Was passiert, ist vergleichbar mit einem unsichtbaren Dirigenten, der sein Zeichen zum Einsatz gibt. Das Zeichen zum finalen Paukenschlag.

Es kommt aus dem Nichts, das Erstarren. An Gate A84 erstarren alle Menschen in ihren Bewegungen. Der ältere Herr beginnt zu lächeln. Den Arm noch ausgestreckt, das Banner dem Mädchen überreichend, in der Luft bleibt sein Arm hängen. Die Mutter des Mädchens will etwas sagen. Den Mund leicht geöffnet, ihr Mund bleibt seltsam verzerrt. Eine der Frauen senkt den Kopf. Als verneigte sie sich. Der Scheitel auf ihrem Kopf ein weisser Strich. Jemand kratzt sich am Hals, jemand bückt sich, jemand reibt sich im Auge. Die kleinsten Bewegungen, sämtliche Regungen werden festgezurrt im Augenblick, auch die Laute, alle Geräusche. Sie sind weg. Verschluckt. Nur draussen hört man die Triebwerke eines Flugzeugs aufheulen.

Der Blick des Mädchens – soeben noch Stolz darin, Freude, das Banner halten zu dürfen – der Blick des Mädchens ist dunkel und matt. Erloschen.

Marianne Künzle, 1973 in Bern geboren, ist gelernte Buchhändlerin, war Kampagnenleiterin im Bereich «Ökologische Landwirtschaft» bei Greenpeace. Seit Ende 2015 arbeitet sie in einer Teilzeitanstellung bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. „Uns Menschen in den Weg gestreut“, ihr erster Roman, ist bei Zytglogge erschienen und absolut lesenswert, auch wenn man mit Heilkunde nichts am Hut hat. Für «Living Planet» erhielt Marianne Künzle den Oberwalliser Literaturpreis 2019.

Website der Autorin

Andreas Neeser «Alpefisch», Zytglogge

Eine junge Frau, Jus-Studentin, ein junger Mann, Heilpädagoge. Sie lieben sich. Sie brauchen sich. Aber weil Liebe Nähe ist, bricht in dieser Nähe bei beiden das auf, wovor sie sich lieber verschliessen würden, beginnt aus Liebe Kampf zu werden, an dem beide zu zerbrechen drohen. Andreas Neeser leuchtet aus, was sonst nur Schatten wirft.

Brunner sitzt in seiner kleinen Wohnung in der Küche an einem Holztisch, den er einst aus einer Brockenstube mitgenommen hatte. Ein Tisch voller Spuren im Holz, tiefer Kerben und Ritzen. Das Geschirr in der kleinen Küche türmt sich, er trinkt Tunesier, der im längst sauer aufstösst, sitzt da und schaut aus dem Küchenfenster. Er zweifelt und verzweifelt am Hin und Her zu einer Frau, die er liebt, aber nicht lieben kann, vielleicht nicht einmal darf. Eine Liebe, die an einer inneren Hitze zu verglühen droht, je mehr man Nähe zulässt, je mehr man sich ihr hingibt. Es ist der Schmerz, der ihn einschliesst. Ein Schmerz, der ihn nicht einmal loslässt, wenn er durch den Schnee über den Nebel stapft und in die Weite schaut und dem Alpenfisch nachhängt, der vom Blau des Himmels ins Weisse des Nebels taucht, immer wieder hinein ins Undurchsichtige, um nur ganz kurz aufzutauchen, einen Moment, einen Augenblick.

Brunner weiss, dass Kathrin eine Geschichte mit sich herumschleppt. Eine Geschichte, aus der sie sich noch immer nicht herausgewunden hat, die noch nicht einmal Vergangenheit ist. Geschichten, die ihr die Fähigkeit nahmen, Nähe zuzulassen, die tausend Anfänge zu Nichte, Brunners Liebe unmöglich, zu blossem Drängen machen. Je mehr Brunner fordert, je mehr er sich hineingibt, desto stärker wird Kathrins Widerstand.

Andreas Neeser «Alpefisch», Zytglogge, 2020, 109 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-7296-5035-0

Brunner wartet. Er wartet auf einen Anruf, eine SMS, Stunden auf ihr Erscheinen, ein Zeichen, einen Anfang, ein Ende. Kathrin ist ein Fisch, der sich nicht halten lässt. Sie wohnt noch immer zuhause bei ihrem Vater, einem schwerreichen Bauunternehmer, seit dem Tod ihrer Mutter die einzige Frau im grossen Haus. Aber wenn Brunner Kathrin ausführt, wenn sie alleine sind, dann ist da immer das Gespenst, das Kathrin schon zehn Jahre mit sich herumschleppt. Dieser Mann im Haus ihres Vaters, dieser Mann, der Tochter und Vater in die Ferien begleitet. Dieser Mann, der Kathrin auch in ihren Träumen nicht in Ruhe lässt. Dieser Mann, der der jungen Frau längst den Boden unter den Füssen weggerissen hat, der sie im unendlichen Dazwischen hängen lässt, wo auch Brunner nichts auszurichten hat.

Beide schleppen den Tod mit sich, Brunner jenen seines Bruders, der vor seinen Augen von einem Lastwagen weggerissen wurde, Kathrin den partiellen Tod ihrer selbst, das Wegsterben ihrer Leichtigkeit, ihrer Hoffnung, den Würgegriff eines nicht enden wollenden Alps. Brunner kämpft gegen seine Machtlosigkeit genauso wie Kathrin. Andreas Neeser beschreibt diesen Kampf in bestechender Unmittelbarkeit. Den Kampf gegen das Schweigen, den Kampf gegen das Verlieren, den Kampf gegen die Ohnmacht.

Dass dabei die Mundart die Unmittelbarkeit noch verstärkt, liegt in der Musik Neesers Sprache, in den Worten, die mir, der ich mich sonst nur selten von Mundartliteratur verführen lasse, Resonanzen erzeugen, die sonst nur selten mitschwingen, in seiner Wärme, selbst dann, wenn sie vor Heftigkeit strotzen. Resonanzen, die durch die melodiöse Nähe der Sprache ganz unerwartet in Schwingungen geraten, die mich mehr als nur berühren. «Alpefisch» ist ein Ereignis. Auch wenn einem das Ungewohnte der Sprache zu einem anderen, viel, viel langsameren Lesen zwingt. Kein Problem bei 107 Seiten feinster Prosa!

Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. Seit 2012 lebt er als Schriftsteller in Suhr. Für sein formal und inhaltlich vielfältiges Werk wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen bedacht.
Mitglied von Autor/innen der Schweiz (AdS), Deutschschweizerisches PEN-Zentrum und VAA. Mitglied der Jury für den Franz-Tumler-Preis. Neben seiner bei Zytglogge erscheinenden Mundartliteratur glänzt Andreas Neeser bei Haymon mit seinem neusten Roman «Wie wir gehen».

Rezension von «Wie wir gehen» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autor

Beitragsbild © Lea Frei

«Was uns betrifft» literaturblatt.ch fragt, Laura Vogt antwortet

Wegen der grassierenden Pandemie konnte die Buchtaufe von Laura Vogts neuem Roman «Was uns betrifft» anlässlich des St. Galler Literaturfestivals Wortlaut nicht stattfinden. Aber das Buch ist da und bietet Gründe zuhauf, es zu kaufen und zu lesen. Statt die Fragen an der Buchtaufe zu stellen, hier ein Mailinterview mit der Schriftstellerin:

Ein Haus auf dem Land, ein Mann, ein Kind – ist es das, was Rahel sucht, als sie hochschwanger zu Boris zieht und ihre Karriere als Jazzsängerin aufgibt? Nichts für mich, findet ihre Schwester Fenna, die eines Tages vor der Tür steht, um auf unbestimmte Zeit zu bleiben. Während sich Fenna an ihrer leidenschaftlichen und schwierigen Beziehung zu Luc abarbeitet und die Schwester mit ihrer ganz eigenen Sicht auf die Welt konfrontiert, kämpft Rahel seit der Geburt ihres zweiten Kindes mit einer postnatalen Depression und den Erinnerungen an ihre Kunst sowie an ihren Vater, der die Familie längst verlassen hat. Als auch noch die kranke Mutter an- und Boris mit den Kindern abreist, scheint Rahel den Boden unter den Füssen ganz zu verlieren.

„Was uns betrifft“ betrifft jeden, der dein Buch liest. Vielleicht, weil es von den Urängsten einer jungen Frau erzählt, einer werdenden und gewordenen Mutter. Du hättest dieses Buch nie schreiben können, wärst du selbst nicht Mutter geworden. Warum betrifft es mich als Mann?
Es geht doch im Grunde um urmenschliche Themen, die alle betreffen: um die Frage nach dem guten Leben, um Beziehungen, Familie, Ängste und den eigenen Raum. Im Zentrum steht eine junge Frau, und einige ihrer Fragen beziehen sich explizit auf ihr Frau-Sein. Ich wollte die Polarisierung der Geschlechter aber keinesfalls noch stärker machen, sondern darüber schreiben, welchen Problemen Frauen auch heute noch ausgesetzt sind. Dermassen zwischen Berufs- und Familienwelt hin- und hergerissen zu sein, das ist etwas, mit dem Frauen noch immer viel öfter und stärker konfrontiert sind als Männer. Sich damit auseinanderzusetzen bedeutet für Rahel aus „Was uns betrifft“ schliesslich Ermächtigung. Überhaupt ist das für mich ein Schlüsselwort, wenn ich über den Roman spreche: Ermächtigung.

Schon die erste Szene im ersten Teil deines Romans fährt einem in den Unterleib. Rahel, die junge Protagonistin, sitzt in der Lesung eines Schriftstellers namens Boris und mir wird geschildert, wie sich in ihrem Unterleib ein Spermium mit Rahels Eizelle vereint. Als hätte man dem Erzählmotor schon zu Beginn eine Einspritzung verpasst. Wie kommt man auf eine solche Idee?
Bei mir beginnt der Schreibprozess immer sehr intuitiv. Ich schreibe einfach drauflos. Erst später schaue ich nochmals darauf, was da konkret zu Text geworden ist, welche Figuren und Themen sich im Geschriebenen zeigen. So war das auch bei besagter Anfangsszene. Obwohl ich grundsätzlich nicht stringent chronologisch schreibe, stand diese Szene aus dem ersten Kapitel übrigens tatsächlich von Beginn weg am Anfang.

Wenig später zieht Rahel in das Haus eben dieses Schriftstellers. Ein grosses, leeres Haus, weit weg von der Stadt. Boris, der Schriftsteller, gewährt der Schwangeren Asyl, einen Platz. Eigenartigerweise scheint dem Schriftsteller aber ausgerechnet mit Rahels Einzug das Schreiben zu entgleiten. Unleugbare Tatsache, dass sich „Familie“ mit Schreiben nicht verträgt?
Das sehe ich anders. Boris schreibt ja weiter in seinem Atelier unterm Dach, aber das bekommen die LeserInnen weniger mit, da Rahel in „Was uns betrifft“ die zentralere Figur ist. Für Boris geht Familie und Schreiben gut zusammen. Und auch ich selbst erlebe das so: Es geht! Natürlich mit Einschränkungen, mit Kompromissen auf allen Seiten. Es ist ein Privileg, so leben zu können. Viele Frauen haben die Möglichkeiten nicht, relativ frei für sich zu entscheiden, was sie wollen. Dazu kommt, dass uns gewisse Normen nach wie vor prägen. Eine davon besagt, dass die Mutter die wichtigste Bezugsperson für ihre Kinder sei. Erstaunlich oft ist es noch immer die Frau, die nach der Geburt eines Kindes zu Hause bleibt oder niederprozentig arbeitet und gleichzeitig für Erziehung und Hausarbeit hauptzuständig ist. Dieses Thema ist nicht neu, aber es ist leider noch immer aktuell! Es bräuchte Bewegung in diesem Bereich: Einerseits im Individuellen, dadurch nämlich, dass über gewisse Themen endlich im grösseren Rahmen gesprochen wird: Rollenbilder, Stereotype, usw. Und natürlich müsste auch politisch einiges geschehen. Es geht um Lohngleichheit, Vaterschaftsurlaub, Teilzeit- und Care-Arbeit – um nur einige von vielen Begriffen zu nennen.

Es sind drei wichtige Frauen in deinem Roman; Verena, die an Krebs erkrankte Mutter, Rahel, die Jazzsängerin, und Fenna, ihre Schwester. In keinem der drei Frauenleben scheinen Männer eine wirklich gute Rolle zu spielen. Martin, Rahels Freund setzt sich ab. Erik verlässt die schwangere Verena und Rahel schon früh. Und Fenna kämpft sich an Luc ab. Muss mich das als Mann beunruhigen oder ist das der Erkenntnis geschuldet, dass Beziehungen zwischen Menschen permanentes Wagnis sind?
Beziehungen sind Wagnisse, ja. Würde man die Geschichte aus der Sicht der Männer zeigen, wäre das Bild ein anderes, denn auch Verena, Fenna und Rahel sind nicht „perfekt“, sondern teilweise verfangen in Rollenbildern und Zwängen, die ihnen die Gesellschaft auferlegt – oder sie sich auferlegen lassen. Ich habe mich allerdings bewusst für den Fokus auf die Frauen entschieden. Es ist Fakt, dass sich für Frauen die Vereinbarkeit von Beruf und Familie noch immer viel schwieriger gestaltet. Dass Frauen in vielen Lebensbereichen noch immer nicht dieselben Chancen haben wie Männer. Dass – laut Amnesty International – mindestens jede fünfte Frau bereits einen sexuellen Übergriff erlebt hat. Über solche Themen wollte ich in „Was uns betrifft“ schreiben, ohne über „die Männer“ zu werten.

Rahel ist Musikerin, wohnte einst mit ihrer Freundin Maya in einer WG zusammen und träumte von einem Leben als Sängerin und Songschreiberin. Dann ereilt sie das Schicksal vieler Frauen. Sie wird ungewollt schwanger und gezwungen, ein Leben zu leben, das sie sich nicht aussuchte. Der Vater des Kindes seilt sich ab, verschwindet von der Bildfläche. Ist dein Roman die Suche nach einer verlorenen Stimme?
Es ist vielmehr die Suche nach Zwischenräumen. Am Anfang ist sich Rahel ja klar: Entweder Kind oder Kunst, beides zusammen scheint ihr unmöglich. Erst nach einer grossen Krise – nach der Geburt ihres zweiten Kindes -, beginnt Rahel, nach neuen Möglichkeiten zu suchen, zu ahnen, dass es auch ein „Dazwischen“ gibt, einen Bereich also, in dem sie aktiv Entscheidungen treffen kann. Zum Glück macht es Boris ihr einfach. Von Anfang an wollte er ihr dabei helfen, beides zu leben: Familie und Kunst. Aber das war Rahel aus verschiedenen Gründen nicht möglich.

Du schreibst dich extrem nahe an deine Protagonistin, bildlich und emotional. „Was uns betrifft“ ist ein Buch von selten weiblicher Dominanz. Ein Buch, dass so nie von einem Mann geschrieben werden könnte und deshalb für den Mann zu einem wahren Leseabenteuer werden kann. Ist der Titel auch eine Mahnung an das andere Geschlecht?
Es geht mir darum, auszudrücken, dass die Themen, die das Buch behandelt, uns alle etwas angehen, egal, welchem Geschlecht wir uns zugehörig fühlen. Postnatale Depression, Geburt, Beziehungen, das sind keine „Frauenthemen“, sondern gesellschaftsrelevante Themen. Ich finde es extrem wichtig, sie aus allen möglichen Blickwinkeln zu betrachten. Sehr lange – und noch immer zu grossen Teilen – wurde die Literatur vom männlichen Blick geprägt. Wie schon Virginia Woolf in ihrem Essay „Ein Zimmer für sich allein“ bemerkte: Frauen hatten keinen Raum und kaum Möglichkeiten, zu schreiben. Sie wurden vielmehr vom Mann beschrieben. Über die eigene Körperlichkeit, über Sexualität und Geburt zu schreiben, das bedeutet meines Erachtens Ermächtigung. Und diese Ermächtigung, die in „Was uns betrifft“ von Frauen ausgeht, betrifft alle Menschen, denn über diese Themen zu sprechen und zu schreiben, verändert am Ende die gesamte Gesellschaft. Es geht ums Neu-Denken, um Gleichberechtigung. Um ein Umdenken von „Familie“ auch.

„Was uns betrifft“ ist auch ein Roman über die gescheiterten Ausbruchsversuche einer Mutter. Manchmal liest man regelrechte Hilferufe; Ich will weg! Ein solches Schreiben braucht doch auch Mut, zumal man schnell darauf angesprochen wird, ob das nun der eigenen Biographie entspringe. Bist du mutig?
In diesem Sinne vielleicht schon. Beim Schreiben folge ich den Figuren und Themen, die mich um- und antreiben, ohne Angst. Lange bin ich damit im „stillen Kämmerchen“. Manchmal, wenn ich mich dann aus diesem Schreibraum heraus begebe, erstaunt es mich, wenn mir Leute sagen, sie fänden es mutig, dass ich in meinen Texten bestimmte Themen anspreche oder gewisse Textstellen auf der Bühne vorlese, zum Beispiel Szenen, bei denen es um Sexualität geht. Aber hey, fast alle Menschen haben Sex. Die meisten Menschen sind durch Sex entstanden. Wäre es nicht an der Zeit, öfters und schamloser über diese Themen zu sprechen? Gewisse Begriffe in unser Alltagsvokabular zu integrieren? In „Was uns betrifft“ sprechen Fenna, Rahel und Verena auch darüber, zum Beispiel über Bezeichnungen des weiblichen Geschlechts. Fotze, Möse, Vulva; das sind Wörter, die es neu zu betrachten und in den Mund zu nehmen gilt, finde ich.

Zwischen Mann und Frau liegt nur ein Chromosom. Wenn ich dein Buch lese, breitet sich aber ein Meer an Unterschieden aus, urmenschliche, soziale, echte und aufgezwungene. Bist du nach diesem Roman eine andere Frau? Eine Frau mit anderer Sichtweise?
Wie gesagt, ich würde die Polarisierung Frau-Mann lieber auflösen statt noch stärker zu machen. Urmenschliche Unterschiede? Ist das wirklich so? Geht es nicht vielmehr um die Sozialisierung, um jahrhundertelange Anschauungen, die sich eingenistet haben und als „biologisch gegeben“ betrachtet werden? Geht es nicht sehr stark um Rollenbilder, die wir unseren Kindern schon ganz früh aufzwingen, bewusst oder unbewusst?
Mich beim Schreiben von „Was uns betrifft“ mit Themen wie Feminismus, Sexismus, Postnatale Depression, und so weiter, auseinanderzusetzen, hat mich wahrscheinlich schon ein wenig verändert. So oder so, Schreiben ist für mich immer ein Prozess. Nach der Arbeit an einem Text blicke ich immer etwas anders auf die Welt und habe das Gefühl, ein klitzekleines bisschen mehr verstanden zu haben.

„Was uns betrifft“ erzählt von einer Mutter, die Zeit zum Schreiben sucht. Mit Sicherheit etwas, was Schriftstellerin und Protagonistin gemeinsam haben. Schwierig, weil Muttersein nicht einfach so zur Seite geschoben werden kann. Wie kann das Laura Vogt?
Mein Partner und ich teilen uns die Kinderbetreuung fifty-fifty. Es geht ihm als Vater also gleich wie mir: Die Zeit für die eigenen Arbeiten ist beschränkt. Aber weil die Kinder uns beide gut kennen und wir beide alle Aufgaben in der Erziehung und im Haushalt übernehmen, brauche ich mir keine Gedanken zu machen, wenn ich nicht zu Hause bin. Meine Kinder haben dann den Vater, der sie tröstet, wenn sie nicht einschlafen können oder krank sind.
Würde allgemein breiter gedacht und nicht bloss im Kleinfamilien-System, dann würde den Eltern viel Stress erspart, davon bin ich überzeugt. Kinder brauchen andere Kinder. Erwachsene brauchen andere Erwachsene. Wir selbst leben in einer kleinen Genossenschaft mit neun Kindern und neun Erwachsenen. Diese Art von Gemeinschaft ermöglicht ein Miteinander: man hilft sich aus, verbringt Zeit beisammen, lernt voneinander.

Dein Roman ist immer wieder von kursiv geschriebenen Texten durchsetzt, die dann im dritten Teil ihre Fortsetzung finden. Texte, die ebenso an Tagebucheinträge erinnern wie in ihrer Art, wie sie gesetzt sind, an Gedichte. Entstanden beide zeitgleich?
Die kursiven Texte entstanden, als ich den zweiten Teil des Romans zu schreiben begann, in dem es eine Art Zoom-Bewegung gibt. Nun sind die Mutter Verena und die Schwester Fenna zu Rahel gereist, und zwei Tage der intensiven Auseinandersetzung beginnen. In diesem Teil gibt es ausserdem Rückblicke zu Rahels Versuch, aus ihrem Leben auszubrechen, den sie wenige Wochen zuvor unternahm. Rahel kommt in diesem Teil des Romans endlich wieder ins Schreiben und damit auch wieder näher zu sich selbst. Das zeigen die kursiven Texte aus ihrem Tagebuch. Und ja: sie entstanden gleichzeitig wie die übrigen Textstellen aus dem zweiten Teil von „Was uns betrifft“.

Im zweiten Teil deines Roman treffen sich die kranke Mutter und die beiden Töchter in Boris Haus. War von Anfang an klar, wie dieses Treffen ausgehen würde oder bist du mit den drei Frauen in dieses Treffen hineingegangen?
Ich arbeite im ersten Moment immer sehr intuitiv. Als erstes stehen die Figuren mit ihren Fragen und Themen. Im Verlaufe der Texterarbeitung gehe ich mit ihnen mit – ich weiss immer erst nach und nach, was geschieht, und bin somit sehr nah an ihren Erlebnissen dran. Wie das Treffen im zweiten Teil konkret ausgehen würde, war lange Zeit sehr offen. Dass es am Ende eine Art Lösung, eine Art Öffnung gibt, ahnte ich hingegen früh. Es ging ja darum, dass die drei endlich über Dinge sprechen, die sie lange bei sich behalten haben. Durch ihre Gespräche beginnt ein Abstreifen von Altem, ein Zusammenrücken und Weitergehen. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich die Szene schrieb, in der sich Verena, Rahel und Fenna über das Eingemachte von Rahel hermachen. Damals hielt ich mich für eine Woche in einer Jurte in der Nähe von Bischofszell auf, um zu schreiben. Es war ein Befreiungsakt, auch für mich.

Es gibt den Muttermund. Wo ist der Vatermund?
Ich freue mich darauf, das erzählt zu bekommen!

Laura Vogt, geb. 1989 in Teufen (AR), studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, davor einige Semester Kulturwissenschaften an der Uni Luzern. Sie schreibt neben Prosa auch lyrische, dramatische und journalistische Texte und ist als Schriftdolmetscherin und Mentorin tätig. 2016 erschien ihr Debütroman «So einfach war es also zu gehen». Laura Vogt lebt im Kanton St. Gallen.

Beitragsbilder © Laura Vogt (Atelier St. Gallen)

Laura Vogt «Was uns betrifft», Zytglogge

Laura Vogts zweiter Roman strotzt von beinah triefender Weiblichkeit. Ob Mann oder Frau; wer den Roman „Was uns betrifft“ liest, sinkt immer tiefer in ein enges Geflecht von Intimitäten, die nie entblössend, nie voyeuristisch, nie beschämend, aber unsäglich ehrlich und direkt sind. „Was uns betrifft“ betrifft uns, ob Mann oder Frau.

Fenna, Verena und Rahel. Drei Frauen. Verena die Mutter, die sich einst von Erik trennte und mit Ida ein neues Leben begann, die krank und geschwächt die Nähe zu ihren Töchtern sucht. Fenna, die jüngere der Töchter, schwanger von Luc, gleichsam verunsichert wie entschlossen. Und Rahel, die Erzählende, die von Martin schwanger sitzengelassen wurde und bei Boris in seinem grossen Haus Asyl findet, wieder schwanger wird und sich immer tiefer in den Verstrickungen von Mutterschaft, Selbstzweifeln, Enge und Verunsicherung wiederfindet.

„Rahel trommelte mit beiden Fäusten auf ihre Stirn…. Hier drin ist alles weg. Absolut leer!»

Wäre Rahels Leben nicht von den Pflichten einer Mutterschaft zugedeckt worden, wäre sie Sängerin, Texterin geblieben. Aber was in ihrem Bauch zu wachsen begann, nahm ihr die Freiheit, auch jene, jener Stimme nachzugehen, von der sie einst glaubte, es mache ein ganzes Leben aus. Und weil sich mit dem Schriftsteller Boris, seinem grossen Haus, seiner Unaufdringlichkeit und seiner Fürsorge alles wie von selbst zu fügen schien, gibt sich Rahel auch in eine zweite Schwangerschaft. Ein Kind allerdings, dass sich in eine nicht bereite Welt verirrt hat, das sich nach der Geburt fremd anfühlt. Zeichen, die Boris nicht verstehen kann, denen Boris immer hilfloser gegenübersteht.

„Sie wollte fort, weit weg.“

„Was uns betrifft“ ist keine Beziehungskiste. „Was uns betrifft“ ist eine wilde Reise durch die Weiblichkeit. Selten verunsicherte mich die Lektüre eines Buches so sehr – weil ich ein Mann bin. Nicht weil ich nicht verstehen könnte, was geschrieben steht, was erzählt und gefühlt wird. Aber ich bin ein Mann. Ich lese diesen Roman mit dem Blick eines Mannes, eines Vaters, lese ihn von der anderen Seite, von gegenüber, in einer seltsamen, bei der Lektüre eigenartigen Distanz. Noch verstärkt darin, weil der Roman aus maximaler Nähe erzählt, weil mich die Weiblichkeit wie ein Strudel mitnimmt, ohne mich zu erschlagen.

„Jede webt ihre Geschichten aus ihren Erfahrungen und trägt sie anders.“

„Was uns betrifft“ betrifft so sehr, weil Laura Vogt mich auf eine Reise mitnimmt in jenes Reich, dass sich scheinbar unendlich weit weg von Freiheit befindet, erdrückende Enge bedeutet, die alles zudeckt, alles vereinnahmt und doch durch nichts gleichzusetzen ist, dass in seiner Einmaligkeit berauscht, das von etwas kosten lässt, was sonst verborgen bliebe.
„Was uns betrifft“ ist kein Frauenbuch, aber ein Buch, das so nur von einer Frau geschrieben werden kann. Umso aufschlussreicher für den Mann. Umso kraftvoller und unmittelbarer für die Frau! Unglaublich sensible Beobachtungen und Schilderungen. Frausein wird Wahrnehmung, für mich als lesenden Mann zum Abenteuer. Dieses Frausein, das mit Zeugung, Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft untrennbar verbunden ist und für mich durchs Lesen zur Tiefenerfahrung wird! Laura Vogt schreibt sich durch die Haut hindurch in den Bauch der Frau. Vielleicht auch in die Erkenntnis, dass es zwischen Frau und Mann letztlich nur zum liebenden Verständnis kommen kann, ohne die Geheimnisse des jeweils anderen Geschlechts ergründen zu können. Dass ich als Mann Eindringling und Ausgeschlossner bleibe.

„Ein Haus, ein Mann, ein Sohn, eine Tochter, ein Stück Garten und dann doch auf einmal diese Leere.“

Rahel trifft sich mit ihrer Schwester und ihrer vom Krebs geschwächten Mutter. Zwei Tage allein, ohne Kinder, weil Boris mit ihnen weggefahren ist. Sie sind allein in seinem Haus, wie damals, als sie allein waren, bei ihren „Dämlichabenden“. Aus Distanz wird mit einem Mal Nähe, gewinnen sie zurück, was sie verloren glaubten. Verena ihre Familie, Fenna ihre Entschlossenheit und Ruhe und Rahel ihre Stimme, ihre Sprache, ihr Schreiben. Laura Vogts Roman ist vielschichtig, entblättert sich nur bis zu einem Kern, der verschlossen bleibt und die Fragen, was uns denn zusammenhält nicht beantworten kann und will.

„Ich habe immer gemeint, Singen und Schreiben bedeutet vor allem Loslassen und Abschied. Abstand nehmen … Aber es ist viel mehr als das. Es ist auch Neuanfang. Weitergehen.“

„Was uns betrifft“ ist eine Reise. Die Reise einer Mutter mit ihrem Kind, von der unmittelbaren Verbindung über die permanente Entfremdung und Entfernung ab Geburt bis zum Gefühl, dass damit auch Entfernung und Entfremdung mit sich selbst einhergeht. Eine Reise weg von den festgelegten Vorstellungen von Familie aus der Vergangenheit in die Weite einer Gegenwart, in der man sich zu verlieren droht. Eine Reise von aussen in die Fänge einer Familie und wieder hinaus. Eine Reise zwischen Tochter- und Muttersein.

Grossartig!

Die Buchvernissage am 26. März 2020, 19:30 Uhr, Raum für Literatur, St. Gallen ist abgesagt. Lesen Sie das Buch erst recht!!!

Laura Vogt, 1989 in Teufen (AR), studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, davor einige Semester Kulturwissenschaften an der Uni Luzern. Sie schreibt neben Prosa auch lyrische, dramatische und journalistische Texte und ist als Schriftdolmetscherin und Mentorin tätig. 2016 erschien ihr Debütroman «So einfach war es also zu gehen». Laura Vogt lebt im Kanton St. Gallen.

Programm Wortlaut-Literaturfestival St. Gallen

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Literatur am Tisch: Andreas Neeser

Ein grosser Tisch, darauf Leckereien und Wein, rundum Gäste, dazwischen Bücher. «Literatur am Tisch» hat Tradition; Angelika Waldis, Bettina Spoerri, Jens Steiner, Hansjörg Schertenleib, Patrick Tschan u. a. waren schon Gäste am Tisch in Amriswil. Andreas Neeser brachte seine beiden neuen Romane «Alpefisch» und «Wie wir gehen» mit an den Tisch.

Es gibt sie, die Menschen, die lesen. Jetzt in Zeiten einer Pandemie vielleicht immer mehr. Lesen kann aber weit mehr als blosse Unterhaltung sein, denn Bücher stellen Fragen. Bücher öffnen Türen. Bücher setzen einen Spiegel vor. Und wer nach der Lektüre sein Buch nicht einfach ins Regal schieben möchte, wer sich mit all dem, was hinter dem Papier verborgen ist, auseinandersetzen und gleichzeitig Gemeinschaft geniessen will, ist bei Literatur am Tisch genau richtig.

So richtig, dass ich in meiner Amtszeit als Programmleiter Literaturhaus Thurgau in Gottlieben am Seerhein dieses Format mit ins Programm des Literaturhauses bringen will. Nicht nur weil das Format eine einmalige Gelegenheit ist, einer Autorin oder einem Autor zu begegnen, sondern weil auch die Schreibenden das Format «geniessen». Nur selten bekommen SchriftstellerInnen wie Andreas Neeser die Rückmeldungen zum Buch so direkt, so emotional und ehrlich zu hören, wie bei Literatur am Tisch. Im Gegensatz zu einer Lesung sitzt man mit den Künstlern am Tisch, auf Augenhöhe, denn SchriftstellerInnen sind nichts ohne ihre LeserInnen.

«Literatur am Tisch bei Gallus und Irmgard Frei-Tomic – das ist ein bisschen wie fliegen. Wenn ein knappes halbes Dutzend Leserinnen und Leser über ein Buch reden, unverkopft und unverkrampft, ehrlich und auf Augenhöhe, dann stellt sich ein Gefühl ein, als setze die Schwerkraft aus. Für zwei, drei Stunden. Eine wunderbare Leichtigkeit, die man gerade als Autor selten empfindet.
Ich wünsche Gallus und Irmgard, dass Sie noch lange die Kraft haben, Menschen auf diese Art und Weise das Gefühl vom Fliegen zu ermöglichen!» Andreas Neeser

Ich danke Andreas Neeser und der Runde um den Tisch für den unvergesslichen Abend!

Rezension zu «Wie wir gehen» auf literaturblatt.ch

Eine Rezension zu «Alpefisch» folgt!

Fotos © Sandra Kottonau

Andreas Neeser «Wie wir gehen», Haymon

Monas Vater hat Krebs. Die Nähe zu ihrem Vater, die ihr ein Leben lang verwehrt blieb, gelingt ihr auch jetzt nicht herzustellen. Die Nähe zu all jenen, die ihr nahe stehen sollten; zu ihrer bald erwachsenen Tochter Noëlle, ihrem verloren gegangener Mann, ihrer Aufgabe in ihrem Beruf. Was zwischen Mona und ihrem Vater steht, sind all die Geschichten davor, das Gift in den Generationen und die Unfähigkeit, Worte dafür zu finden.

Es gibt Momente, die alles in Frage stellen, die einem aus der gewohnten Sicherheit kippen. Monas Vater droht zu sterben. Und mit ihm all die Geschichten, von denen sie weiss oder ahnt oder auch keine Ahnung hat. Die Geschichten, die aus ihrem Vater jenen Johannes machten, den sie als Vater zu lieben versucht. Und zwar nicht einfach, weil er ihr Vater ist. Sie möchte ihn lieben wie damals als Kind, uneingeschränkt. Mit dem Tod eines nahen Menschen sterben Geschichten, das Verstehen, all die Leben dahinter, die mit jeder Generation zurück im Nebel des Vergessens entschwinden.

Mona drückt ihrem Vater ein Diktiergerät in die Hand und fordert ihn auf zu erzählen. All das, was über die Jahrzehnte ins Schweigen fiel, was vielleicht verständlich gemacht hätte. So wie jedem Konjunktiv ein scheinbares Versäumnis vorangeht.

Andreas Neeser erzählt die Geschichte von Johannes, erzählt das, was viele mitnehmen, wenn sie gehen, sei es eine Scheidung oder der Tod. Erzählt von einem Leben als ungeliebter Sohn, verdingt an den reichen Onkel, der auf der anderen Talseite den grossen Hof bewirtschaftet. Von der Armut, die wie eine unheilbare Krankheit an der Familie klebt, sie nicht aus dem Würgegriff lässt. Wie Johannes, obwohl man ihn als Arbeitskraft schätzt, überzählig bleibt, keinen Platz findet, schon gar keine Liebe, auch dort nicht, wo sein Zuhause sein müsste.

Trotz Tuberkulose findet Johannes den Tritt, davon überzeugt, dass das Leben ein steter Kampf, niemandem zu trauen ist. Er findet Arbeit in der Fremde, bei den Bauarbeiten zum Grand-Dixance-Staudamm, wird Schweisser. Aber erneut von der Tuberkulose zurückgeworfen, schrammt er nur ganz knapp am Tod vorbei. Was Johannes in seiner Familie nie erfährt, vermag er auch in seiner Familie den Kindern nicht zu schenken, Mona, seiner Tochter nicht und schon  gar nicht Martin, seinem tot zur Welt gekommenen Sohn, der für die Eltern zum Trauma wird, das alles überschattet.

Andreas Neeser erzählt von Noëlle, Monas Tochter, die miterleben muss, wie die Ehe ihrer Eltern zerbricht, wie Noëlles Vater nach einem Raubüberfall in sein Goldschmiedeatelier den Boden unter den Füssen verliert, nicht nur wirtschaftlich. Wie Mona zur Projektionsfläche wird, es niemandem Recht zu machen versteht, nicht ihrem Vater, der ihr zu entgleiten droht, nicht ihrer Tochter, die nicht verstehen will und kann, nicht den Menschen, die sie beruflich zu betreuen hat, die einer Heimat entflohen, viel weiter als Mona, die die ihre in Sichtweite zu verlieren fürchtet.

Wie nahe kommt man den Nächsten? Wie zu einem Vater, zu einer Mutter? Braucht es Krankheit und Tod, um jene Nähe zurückzugewinnen, die man ein Leben lang Stück für Stück verliert? Wie gross muss der Schmerz sein, bis die Wunde aufreisst? Wie viel Leben versäumt man, wenn man den tiefen Schmerz in seinem Leben unausgesprochen mit sich herumschleppt? Väter und Mütter sind nie weg, nicht wenn sie sich für immer verabschieden, nicht wenn sie verschwinden, nicht wenn sie sterben. Mona verliert ihren Vater, genauso wie Noëlle den ihren. Aber Väter bleiben. Fragt sich nur wie.

Andreas Neeser erzählt in seiner gewohnt gekonnten Art, webt ein dichtes Netz, öffnet Türen, die er manchmal nur einen Spalt offen lässt, lotet nicht aus, tut genau das, was das Leben auch macht. Er erklärt nicht, öffnet sacht, manchmal nur unvollständig, bewusst lückenhaft. Andreas Neeser erzählt von Familie, diesem zarten Gefüge, das lebenslangen Schmerz und tiefsitzende Verletzung bedeuten kann.

Fast zeitgleich erscheint Andreas Neeser erster Mundartroman «Alpefisch». Nach mehreren Sammlungen mit Kurzprosa, die unter den Titeln «No alles gleich wie morn» (2009), «S wird nüme, wies nie gsii isch» (2014) und «Nüüt und anders Züüg» (2017) sein erster buchfüllender Mundartroman wieder bei Zytglogge.

© Ayse Yavas

Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. Seit 2012 lebt er als Schriftsteller in Suhr. Für sein formal und inhaltlich vielfältiges Werk wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen bedacht.
Mitglied von Autor/innen der Schweiz (AdS), Deutschschweizerisches PEN-Zentrum und VAA. Mitglied der Jury für den Franz-Tumler-Preis.

Kurzgeschichte «Mücken» von Andreas Neeser auf der Plattform Gegenzauber

Rezension von «Nüüt und anders Züüg» auf literaturblatt.ch

Andreas Neeser liest am Literaturfestival Wortlaut St. Gallen sowohl aus seinem Roman «Wie wir gehen» wie auch aus seinem Mundartroman «Alpefisch».

Webseite des Autors

Beitragsbild © Lea Frei

Der Wortlaut-Pass: das ideale Kulturgeschenk zu Weihnachten

Wer ein eindrückliches Geschenk zu Weihnachten sucht, wird in diesem Jahr bei Wortlaut fündig. Das im kommenden März zum 12. Mal stattfindende Sankt Galler Literaturfestival bietet allen Kulturinteressierten den preislich reduzierten Wortlaut-Festival-Pass für 65 Franken (Normalpreis: 70 Franken). Damit können Besucherinnen und Besucher die gesamte Festivalzeit, sprich: volle vier Tage, an allen 25 Kulturveranstaltungen der Reihen Laut, Luise, Lechts und Rinks teilnehmen.

Da Wortlaut das gesamte Festivalprogramm erst Anfang Februar bekannt geben wird, sollen an dieser Stelle lediglich ein paar geladene Künstlerinnen und Künstler genannt werden: Da ist zum einen die junge Ostschweizer Autorin Laura Vogt, die bei ihrer Buchvernissage im Raum für Literatur aus ihrem zweiten Roman mit dem Titel «Was uns betrifft» lesen wird. Zum anderen der Grafiker und Illustrator Nando von Arb, der mit seinem originellen Comic «Drei Väter» zu Wortlaut eingeladen wurde. Die zuletzt für den Schweizer Buchpreis nominierte Autorin Ivna Žic wird in der Kellerbühne ihr Buch «Die Nachkommende» vorstellen. Das Mundart Pop Duo Cruise Ship Misery präsentiert in seiner Show «Urteil» eine unbeschönigte und bunte Palette an Berichten rund um die physischen und mentalen Gefangenschaften des Lebens. Nicht zuletzt plant Lisa Christ, ihres Zeichens schweizweit bekannte Slam Poetin, einen fulminanten Auftritt in der Reihe Laut.

Der Wortlaut-Pass als Weihnachts-Kultur-Geschenk und Gutschein kann direkt über die Mailadresse info@wortlaut.ch bestellt werden. Die Veranstalter garantieren die postalische Zusendung des schön gestalteten Gutscheins rechtzeitig vor Weihnachten.

Ganz speziell lädt literaturblatt.ch am 6. März 2020, 19:30 Uhr, Raum für Literatur, St. Gallen zur Buchvernissage von «Was uns betrifft» im Rahmen des St. Galler Literaturfestival «Wortlaut» ein. Moderiert wird die Buchtaufe von Gallus Frei-Tomic.

«Manchmal träume ich von Lücken»
Ein Haus auf dem Land, ein Mann, ein Kind – ist es das, was Rahel sucht, als sie hochschwanger zu Boris zieht und ihre Karriere als Jazzsängerin aufgibt? Nichts für mich, findet ihre Schwester Fenna, die eines Tages vor der Tür steht, um auf unbestimmte Zeit zu bleiben. Während sich Fenna an ihrer leidenschaftlichen und schwierigen Beziehung zu Luc abarbeitet und die Schwester mit ihrer ganz eigenen Sicht auf die Welt konfrontiert, kämpft Rahel seit der Geburt ihres zweiten Kindes mit einer postnatalen Depression und den Erinnerungen an ihre Kunst sowie an ihren Vater, der die Familie längst verlassen hat. Als auch noch die kranke Mutter an- und Boris mit den Kindern abreist, scheint Rahel den Boden unter den Füssen ganz zu verlieren.

Was bedeutet es in der heutigen Zeit, Mutter zu sein? Was ist Weiblichkeit? Welche Beziehungen sind möglich, und wie bleibt man darin selbstbestimmt? Ein kluger zweiter Roman der Ostschweizer Autorin Laura Vogt.

Laura Vogt, geb. 1989 in Teufen (AR), studierte am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, davor einige Semester Kulturwissenschaften an der Uni Luzern. Sie schreibt neben Prosa auch lyrische, dramatische und journalistische Texte und ist als Schriftdolmetscherin und Mentorin tätig. 2016 erschien ihr Debütroman ‹So einfach war es also zu gehen›. Laura Vogt lebt im Kanton St. Gallen.

Webseite Wortlaut Literaturfestival

Webseite Laura Vogt

Patrick Tschan mit «Der kubanische Käser» in Amriswil

Ein grosser Tisch, darauf Leckereien und Wein, rundum Gäste, dazwischen Bücher. «Literatur am Tisch» hat Tradition; Angelika Waldis, Jens Steiner, Hansjörg Schertenleib u. a. waren schon Gäste am Tisch in Amriswil. Patrick Tschan brachte seinen neuen Roman «Der kubanische Käser» und einen «Kuba Mutschli» der Käserei Stoffel aus Unterwasser im Toggenburg, dem Ausgangspunkt Tschan Romane «Polarrot» und «Der kubanische Käser».

Traditionelle Lesungen sind das eine. Aber wenn sich interessierte Menschen, die das Buch bereits gelesen haben, an einem gedeckten Tisch mit dem Schriftsteller treffen, dann schlägt Literatur ganz andere Wellen. Dann wird fassbar, was Schreiben bedeutet, deutlich, was Leidenschaft erschafft, durchscheinend, wie Literatur entsteht.

«Irgendwann im April 2019 tat der Säntis einen Schritt zu Seite und rief derart verheissend nach Noldi, dass sich der Chäserrugg aus Erbarmen duckte, damit der Gallus seine Einladung über den Walensee, die Bündner Alpen, das ligurische Hochgebirge und den Anfang des Apennins bis aufs offene Meer rufen konnte, diese weiter klang, am hohen Atlas-Gebirge nach Westen abbog, sich über den Atlantik bis in die Karibik kämpfte, wo gerade jetzt der Noldi vor seine Mine trat, ganz weit weg ein ungewohntes, aber doch vertrautes Geräusch hörte, auf den Karstkegel stieg um es besser zu hören, jetzt sicher war, dass der Gallus aus Amriswil zu «Literatur am Tisch» lud, worauf der Noldi sogleich ein Mutschli und einen Grind einpackte, die Beine unter die Arme nahm, dieses Tal, indem das Glück kubanisch sprach, verliess, einschiffte, über den Atlantik segelte, in Genua anlegte, noch einen Gang höher schaltete um ja rechtzeitig am Tisch mit Käse, Brot und Wein, an der St. Gallerstrasse 21, bei Irmgard und Gallus Frei-Tomic einzutreffen.
Es war ein wunderbarer Abend mit wunderbaren Menschen und wunderbaren Gastgebern, und der Duende, dieser Geist, der dem Mark des Lebens die Bühne bereitet, legte sich auf die Runde und befeuerte die Energie des Erzählens, der Geschichten und des Redens über Geschichten, die den Menschen die Seele reinigen.
So war es, in Amriswil, am 29. Mai 2019, bei Irmgard und Gallus Frei-Tomic, deren Herzenskraft der Literatur den Rücken stärkt.» Herzlich Patrick

«Ein Tisch. Ein Buch. Ein Autor. Sechs Leserinnen. Zwei Leser. Das sind in diesem Fall die Zutaten fürs Zusammensein am Familientisch. Angerichtet haben die Schose Irmgard und Gallus Frei-Tomic in Amriswil. Gestern stand Patrick Tschan mit seinem Buch «Der kubanische Käser» im Zentrum zwischen Chüeboden, Brot, Murmeli, Weingläsern, Käsesorten, Noldi Abderhalden aus Alt St. Johann im Jahr 1620 und ziemlich lauten Fürzen. ‹Es war ein hueren Puff zu dieser Zeit in dieser Ecke der Welt›, steht im Buch. Ein sauschöner Abend. Herzlichen Dank an Patrick, Irmgard, Gallus, die andern und an den ‹Kugelfang-Noldi›!» Gregor Meili.

«Der kubanische Käser» ist aber noch mehr als ein Roman: In szenischen Lesungen zusammen mit Schauspielerinnen und Jodlerinnen soll «der Käser» in Zukunft die Kleinbühnen beleben. Die Vorbereitungen dazu sind in vollem Gange (Informationen).