Hans Joachim Schädlich «Felix und Felka», Rowohlt

Rom 1933. Felka Platek (1899) und Felix Nussbaum (1904), beide junge Künstler, sind Gäste in der Villa Massimo, die im gleichen Jahr von Reichspropagandaminister Josef Goebbels besucht wurde, um unmissverständlich klarzumachen, wem Kunst und Kultur in den kommenden tausend Jahren zu dienen hatte.

Als ein anderer deutscher Maler, ebenfalls Gast in der Künstlervilla in Rom, Hans Hubertus von Merveldt Felix Nussbaum in seiner Verachtung vor Zeugen mit Fäusten niederschlägt, braucht es keine Interpretation, um die Zeichen der Zeit zu verstehen. Felix und Felka sind Juden – und Rom und Italien mit Benito Mussolini ein Bruderstaat Nazideutschlands.

Nicht nur für die beiden jungen Künstler beginnt eine unruhige, ungewisse Zeit, eine ungewisse Reise durch Europa, eine Reise, die immer mehr zur Flucht wird. «Felix und Felka» ist der Roman einer Emigration, die es nicht schafft, den Abstand zum Bösen, zum Schrecken, zum Tod genug gross werden zu lassen. Der Roman einer Flucht nach innen, den Kampf gegen immer unmöglicher werdende Sachzwänge, die das Paar aber immer näher aneinander schweisst.

Hans Joachim Schädlich erzählt fast nur in direkter Rede, gibt seinem Roman dadurch etwas dokumentarisches. Man glaubt während des Lesens je länger je intensiver, die Stimmen der beiden zu hören. Das Geschehen, das Erzählen ist auf das Wesentlichste konzentriert. Was wie Szenen chronisch aneinandergereiht ist, sind Schlaglichter in ein aufgeschrecktes Leben zu zweit, dessen Enge und Düsterniss immer aufsässiger werden.
Das Buch ohne Schutzumschlag, in goldfarbenes Leinen gefasst und schwarz geprägtem Titel ist wie eine mit Seiten gefüllte Gedenktafel wider das Vergessen. Genau jetzt, wo sich vom Volk gewählte Politikerinnen und Politiker um historische Verantwortung drücken, Argumentationen selbst im deutschen Bundestag immer mehr jener von damals ähneln, in Europa, wo Fremdenfeindlichkeit und Abschottung zu Eckpfeilern von Politik werden und sich kaum mehr jemand traut, offen  Opposition zu ergreifen, weil man Wählerstimmen verlieren könnte, in einer Zeit, in der ganze Städte in Deutschland im Würgegriff Rechtsradikaler zittern, ist ein solches Buch wichtiges Mahnmal. Auch wenn es von jenen Blinden nicht gelesen wird.

Felix und Felka waren aufstrebende Künstler. Beide starben 1944 in den Gaskammern von Auschwitz. 1942 festgenommen wie Verbrecher, verraten von einem jüdischen Kollaborateur, vernichtet wie Hunderttausende anderer, die es aus meist ganz profanen Gründen nicht geschafft hatten, ihr Deutschland «rechtzeitig» zu verlassen.

«Felix und Fleka» ist mit grössmöglicher Sachlichkeit erzählt. Ihrer beider Odyssee von Rom über Paris und Ostende nach Brüssel ist die eine rast- und aussichtsloser Flucht zweier Menschen, die es wie viele andere nicht fasssen konnten, was mit und in ihrer Heimat geschieht. Alles in ihrem Leben ordnete sich zweier Bewegungen unter; der Flucht und ihrer Kunst. Alles, wonach der Mensch heute zu streben scheint; Genuss, Wohlstand, Sicherheit und Selbstbestimmung war für Juden und andere Volks- und Glaubensgruppen damals, vor nur einem Menschenleben, schlicht inexistent.

Als Ende September die deutsche Wehrmacht Polen überrannte, die Heimat Felkas, die wenige Monate zuvor Felix geheiratet hatte, spricht aller Schmerz aus ganz wenig:
«Es ist Krieg, Felka!»
«Mein armes Polen.»
«Mein verfluchtes Deutschland!»

Zu hoffen ist, dass Stimmen wie jene von Hans Joachim Schädlich in den Fluten von Oberflächlichkeit und gedrucktem Schrott die ihnen gebührende Aufmerksamkeit finden!

Hans Joachim Schädlich, 1935 in Reichenbach im Vogtland geboren, arbeitete an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin, bevor er 1977 in die Bundesrepublik übersiedelte. Für sein Werk bekam er viele Auszeichnungen, u. a. den Heinrich-Böll-Preis, Hans-Sahl-Preis, Kleist-Preis, Schiller-Gedächtnispreis, Lessing-Preis, Bremer Literaturpreis, Berliner Literaturpreis und Joseph-Breitbach-Preis. 2014 erhielt er für seine schriftstellerische Leistung und sein politisches Engagement das Bundesverdienstkreuz. Zuletzt veröffentlichte er die Novelle «Sire, ich eile. Voltaire bei Friedrich II.» und den Roman «Narrenleben» – «ein historisches Panorama von vibrierender Intensität» (Deutschlandradio Kultur). Hans Joachim Schädlich lebt in Berlin.

Aharon Appelfeld «Meine Eltern», Rowohlt

Im Gedenken an den grossen Autor Aharon Appelfeld, der am 4. Januar 2018 fast 86 jährig gestorben ist.

Sommer 1938, jüdische Sommerfrischler am Fluss Prut in Rumänien. Noch hält die Welt den Atem an. Noch kracht es nicht, kein Kanonenlärm, keine Bomben, dafür rumort es überdeutlich, bricht offener Hass hervor, während man sich unter Juden tröstet und beschwichtigt.

Aharon Appelfelds Roman, kurz vor seinem Tod im Dezember 2017 erschienen, ist ein Erinnerungsbuch. Eines an seine Eltern, an einen bekümmerten, pessimistischen Vater, der am Menschen zweifelt und an eine überaus fürsorgliche Mutter, die Geschichten liebt, trotz allem stets an das Gute glaubt und dem zehnjährigen Erwin, Appelfelds Protagonisten in seinem Roman, was die Juden in der Gesellschaft nach und nach verlieren.

Aharon Appelfeld selbst war im Sommer 1938 erst sechs. Das Erwin in seinem Roman «Meine Eltern» schon zehn ist, lässt erahnen, dass der Roman weit mehr sein soll als ein Erinnerungsbuch an seine leiblichen Eltern, seine wirkliche Kindheit. Aharon Appelfeld relativiert alle Fragen nach dem «Autobiographischen». «Meine Eltern» ist auch ein Erinnerungsbuch an eine verlorene Zeit. Jenen letzten, wenn auch nicht mehr wirklich heiteren Sommer, der den Übergang markiert von grossbürgerlicher Selbstverständlichkeit zu beinahe einem Jahrzehnt jüdischer Apokalypse.

Man sonnt sich im Sommer 38 in den Wiesen am Fluss. Man reitet mit geliehenen Pferden durch die Landschaft, sitzt abends vor dem gemieteten Sommerhaus und geniesst, was einem nur noch die Natur geben kann; «Frieden». Umgeben von Menschen, die genau spüren, dass eine neue Zeitrechnung begonnen hat: Karl König, ein Schriftsteller, der an seinen Fähigkeiten zweifelt. Eine Wahrsagerin, die aus den Händen die Zukunft liest der Missachtung verzweifelt. Pepi, die einmal mit einem Christen liiert war und in diesem besonderen Sommer auf Männerschau ist. Der Einbeinige, der sein Bein im letzten Weltkrieg verlor oder Doktor Zajger, der sich nur hier am Fluss vor seiner Arbeit retten kann.
Für sie alle bildet sich in diesem Sommer «ein Riss zwischen dem, was war, und dem, was kommen würde».

Selbst in den Stimmen der Bauern der Umgebung, die ihre Häuser und Pferde vermieten, sie mit Lebensmitteln versorgen, selbst jene des Kutschers, der sie zurück in die Stadt fährt; Hass, Misstrauen und Feindseligkeit.
Vater und Mutter Erwins repräsentieren den grossen Teil der damaligen unter Generalverdacht stehenden Juden: Der Vater längst säkularisiert, die Mutter eine stille, alles andere als demonstrative Gläubige. Und trotzdem schien auf allen jüdischen Gesichtern ein Blutmal zu wachsen, unauslöschlich.

Jener Sommer am Fluss wird zum Wende- und Brennpunkt. Während die einen der Depression verfallen, fröhnen die andern erst recht der Zerstreuung. Während bei den einen die Ahnung zur Gewissheit wird, entschuldigen und wischen andere jede schwarze Wolke weg.
«Meine Eltern» ist ein einzigartiges Buch, weil es die Momente beschreibt, in denen die Lunte brennt, sich das Höllengewitter zusammenbraut, die stinkende Suppe überkocht.

«Solange man noch Kaffee und Kuchen serviert, ist das ein Zeichen, dass das Leben seinen gewohnten Gang geht.»

In Büchern wie «Auf der Lichtung» oder «Tzili» beschrieb Aharon Appelfeld seine eigene Odyssee als Junge in den ukrainischen Wäldern, stets auf der Hut vor seinen Häschern, quer durch einen Krieg, quer durch einen Kontinent. «Meine Eltern» ist auch ein Erinnerungsbuch an einen verlorenen Frieden, an nie zurückgewonnene Geborgenheit. Ein zartes Buch über einen Moment der Weltgeschichte, der sich nicht grausamer hätte wandeln können.

Aharon Appelfeld, 1932 in Jadowa in der rumänischen Bukowina geboren und 2018 bei Tel Aviv gestorben, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern Israels und zugleich «zu den großen Erzählern Osteuropas» (Imre Kertész). Nach Verfolgung und Krieg, die er im Ghetto, im Lager, dann in den ukrainischen Wäldern und als Küchenjunge der Roten Armee überlebte, kam er 1946 nach Palästina. In Israel wurde er später Professor für Literatur. Seine hochgelobten Romane und Erinnerungen wurden in fünfunddreissig Sprachen übersetzt, auf Deutsch erschienen zuletzt «Meine Eltern», «Ein Mädchen nicht von dieser Welt» und «Auf der Lichtung». Über Aharon Appelfeld, der unter anderem mit dem Prix Médicis und dem Nelly-Sachs-Preis ausgezeichnet wurde, sagte Philip Roth: «So einzigartig wie das, worüber er schreibt, ist Appelfelds Sprache.»

Aharon Appelfeld zum Gedenken

Aharon Appelfeld starb am 3. Januar im Alter von 85 Jahren. Eine jener ganz Grossen, die trotz der Tatsache, dass die Bücher fast immer um dasselbe Thema kreisen, dennoch universelle Bedeutung und Kraft haben. Aharons Appelfelds Thema, an dem er sich abarbeitete, waren die letzten Kriegsjahre, zwei Jahre Überleben als nicht einmal Zehnjähiger in den Wäldern der Ukraine, die Flucht, die Jahre im Chaos nach einem alles zerstörenden Krieg. Ein Autor, der bleiben wird. Nicht nur in meinem Bücherregal!

Wer einsteigen will, dem empfehle ich den 2015 bei Rowohlt erschienenen Roman «Ein Mädchen nicht von dieser Welt».

Zwei verzweifelte Mütter bringen ihre beiden neunjährigen Knaben über Schleichwege aus der Stadt in den Wald, den einzigen Ort mitten im Krieg, der hoffen und leben lässt. Aber trotz Versprechen  bleiben die beiden Kinder abends allein und für unendlich lange auf sich gestellt. Nur ein Mädchen rettet sie unter Lebensgefahr bis in den Winter. Vor unsäglich dunklem Hintergrund erzählt der grosse jüdische Schriftsteller, wie glasklar die Welt in Kinderseelen sein kann, auch wenn Angst und Verzweiflung Gründe genug wären, Hoffnung und Leben verlieren zu wollen. Aharon Appelfeld, 1932 geboren, selbst als Junge in den ukrainischen Wäldern ein einsames Versteck vor den Schrecken des Krieges gefunden, schrieb eine eindringliche Geschichte über Mut, Liebe und Freundschaft. Ein trotz des Schreckens durch und durch poetisches Buch. Jedes seiner Bücher ist eine Offenbarung, eine Hymne darauf, was der Schrecken so leicht vergessen lässt.

Im November 2017 erschien bei Rowohlt sein bislang letzter Roman «Meine Eltern»: «August 1938: Am Ufer des Flusses Prut in Rumänien versammeln sich die Sommerfrischler, überwiegend säkularisierte Juden, darunter ein Schriftsteller, eine Wahrsagerin, eine früher mit einem Christen liierte Frau, die nun auf Männerschau ist. Auch der zehnjährige Erwin und seine Eltern sind hier, doch das Kind spürt, dass etwas anders ist: Hinter den Sommerfreuden, den Badeausflügen und Liebeleien geht die Welt, die alle kennen, zu Ende. Einige reisen früher ab, andere verdrängen die Nachrichten aus dem Westen. Spannungen bleiben nicht aus, auch nicht zwischen den Eltern, der Mutter, die Romane liest, an Gott glaubt und an das Gute, und dem Vater, dem Ingenieur, der alles rational und pessimistisch sieht. Als die Familie in die Stadt aufbricht, überfällt Erwin die Furcht. In der Schule wurde er geschlagen und als «Saujude» beschimpft – und er beginnt zu ahnen, dass an den unterschiedlichen Haltungen seiner Eltern noch viel mehr hängt: die Zukunft, das Überleben.
Ein feinfühliger Roman, der seismographisch die Brutalität des heraufziehenden Krieges verzeichnet – und zugleich das Porträt einer bürgerlichen Welt vor der Katastrophe. Eines der persönlichsten Bücher von Aharon Appelfeld, direkt, ehrlich und doch auch kindlich-schön.» (Informationen des Verlags)

Toni Morrison «Gott, hilf dem Kind», Rowohlt

Toni Morrisons grosses Thema ihres Schreibens ist der Rassenkonflikt. Dass sich dieser nicht nur zwischen «Farbigen» und «Weissen» abspielt, beschreibt die Nobelpreisträgerin schon in der ersten Szene ihres neuen, starken Romans. Ein Roman, bei dem sie einen ihrer Protagonisten sagen lässt: «Es ist nur eine Farbe. Ein genetisches Merkmal – kein Makel, kein Fluch, kein Segen und auch keine Sünde.»

Lula Ann ist bei ihrer Geburt tiefschwarz. So schwarz, dass sich die ebenfalls dunkelhäutige Mutter zutiefst erschrocken und verängstigt von ihrem Baby auf Distanz hält und sich der Vater, überzeugt von der Untreue seiner Frau, ganz abwendet und für immer abtaucht. In der Folge heisst die Mutter die kleine Lula Ann, sie Sweetness zu nennen. Lieber als Kindermädchen registriert als als Mutter. Sweetness bekam mit Lila Ann keine Tochter, sondern ein Problem. Und Lula Ann wird darauf so sehr auf Anpassung und Unterwürfigkeit getrimmt, dass sich das Mädchen nicht nur von der Mutter trennt, sondern irgendwann auch von ihrem Namen. Als tiefschwarze Frau, stets in Weiss gekleidet, beginnt Lula Ann, die nun Bride heisst, eine erfolgreiche Karriere in der Kosmetikbranche. Ausgerechnet dort, wo man sich stets mit «Oberfläche» abgibt. Ein Leben gänzlich abgenabelt von der Familie, nicht aber von ihrer Vergangenheit. Als kleines Mädchen drängte man sie bei einer Strafsache wegen Misshandlung Minderjähriger zu einer Aussage gegen eine Lehrerin ihrer Schule. Darauf wurde Sofia Huxley aufgrund der Aussage der kleinen Lula Ann zu einer langen Haftstrafe verurteilt. Aus Sofia Huxley wurde für 15 Jahre Sträfling 0071 140; ein gebrochenes Leben, eine Frau unauslöschlich gedemütigt. Lula Ann, jetzt Bride, kämpft mit einer Lüge, schwimmt in ihrer erfolgreichen Karriere, oben auf auf Oberflächlichkeiten, die aber selbst mit Kosmetik nicht zuzudecken sind.

Lügen, damit sie die Mutter einmal an der Hand nimmt, einmal stolz ist.

Das spürt auch Brooker, ihr Freund, der sie irgendwann im Bett zurücklässt mit dem Satz: «Du bist nicht die Frau.» Brooker kommt wider Erwarten nicht zurück, lässt kaum Spuren zurück, schon gar nicht, was sie aus seiner Welt hätte erzählen, erinnern können. Nur eine Rechnung mit Mahnung wegen einer unbezahlten Reparatur einer Trompete bleibt. Bride, die nicht einmal wusste, dass Brooker Trompete spielt, macht sich mit der Rechnung auf die Suche nach Brooker, dem Einzigen in ihrem unruhigen Leben, der ihr zuhörte. Ihren Ex Brooker, den sie wie alles in ihrem Leben instrumentalisierte, zu einem Gegenstand der Unterhaltung machte, bei dem sie stets das Zentrum blieb, der Stern, um den sich alles drehte. Irgendwie hält Bride ihr Leben stets unter Kontrolle, bis sie mit ihrem Jaguar irgendwo im amerikanischen Nirgendwo gegen einen Baum kracht und nichts mehr so ist, wie es einmal war.

Toni Morrison erzählt aber weit mehr als die Geschichte einer gestrauchelten schwarzen Geschäftsfrau. Da ist Brooker, der Freund, der den gewaltsamen Tod seines grossen Bruders nie verkraftet. Sofia Huxley, die aus dem Knast entlassen wird und erst mit Faustschlägen in Brides Gesicht und den Tränen danach Befreiung erfährt. Rain, das Mädchen, das bei Fremden aufwächst, dem selben Ehepaar, das sich Bride nach dem Unfall annimmt. Ein Mädchen, das von ihrer Mutter mit sechs Jahren mit den Worten «Scher dich zum Teufel» rausgeschmissen wird. Oder Queen, Brookers Tante, die von allen verlassen in ihrem Wohnwagen die handschriftlichen Fragmente Brookers aufbewahrt, alle auf dünnes Papier, fast ohne Punkt und Komma. Texte über Bride.

«Was man Kindern antut, zählt. Und sie vergessen es womöglich nie.»

Toni Morrison schreibt über Lügen, Lebenslügen, das Schweigen darüber, über das Verborgene, nie Ausgesprochene, was Wahrheit ist. Sie schildert, welche Verwirrungen nie verarbeitete Verletzungen anrichten, weit über ihr Thema Rassenkonflikt hinaus. Was den Roman ganz besonders macht, ist die Nähe von Zartheit und Brutalität, ein Hinundher, das einem bei der Lektüre schwindlig macht.

Toni Morrison wurde am 18.2.1931 in Lorain, Ohio, USA, als zweites von vier Kindern eines schwarzen Arbeiterehepaares geboren. Erste Erfahrungen mit dem Südstaaten-Rassismus während einer Tournee als Mitglied der Universitätstheatergruppe. 1970 Debüt als Romanautorin. Zu ihren bedeutendsten Werken zählen u. a «Sehr blaue Augen», «Solomons Lied» «Menschenkind», «Jazz», «Paradies» und die Essaysammlung «Im Dunkeln spielen» über die Antinomien von weißer und schwarzer Kultur. Sie zählt seit langem zur Garde der bedeutendsten Autoren Amerikas. 1993 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur.Übersetzt wurde «Gott, hilf dem Kind» von Thomas Piltz, freier Fotograf und Übersetzer.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Drei Perlen aus dem 22. Literaturfestival Leukerbad

Die Literatur riss in Leukerbad den Himmel auf!

Literaturfestival Leukerbad, ein literarisches Gipfeltreffen inmitten der Walliser Steilwände und Felszähne. 3’800 Eintritte während drei Tagen! Das Programm aus Lesungen und der «Perspektiven»-Gesprächsreihe war dicht und sehr international: Aus Europa, Asien, Nord- und Südamerika reisten 37 Autoren und Protagonisten ins Bäderdorf.

Liao Yiwu, einer der bedeutendsten chinesischen Avantgarde-Dichter, 1987 in politische Ungnade gefallen, veruteilt, für Jahre ins Gefängnis gesteckt, gefoltert und von seiner Frau zwangsgeschieden, weil die Familie nichts mehr von ihm wissen wollte, spielte Tsiao, eine chinesische Flöte. Ein Instrument, das er während seiner Haft von einem ebenfalls eingesperrten Mönch erlernte. Er spielte, sang und las aus seinem neuen und ersten Roman «Die Wiedergeburt der Ameisen», in dem er die Geschichte seiner Familie mit der seines Heimatlandes verknüpft, das ihn verstossen hat. Er, der kaum je wieder einen Fuss in sein Heimatland setzen wird, las, während auf dem Platz draussen chinesische Touristen vorbeiflanieren.
Robert Menasse, der grosse Europäer, der sich nicht scheut, bei einer Rede an das Europäische Parlament den Anwesenden die Leviten zu lesen und man gespannt auf seinen im September erscheinenden grossen Roman «Die Hauptstadt» wartet. Er bannt mit seinem Erzählen über Europa, während die Pizza im Dorf von Ukrainerinnen serviert wird.
Oder der irakisch-kurdische Schriftsteller und Dichter Bachtyar Ali, der 20 Jahre unentdeckt in Deutschland lebte und in seinem Roman «Der letzte Granatapfel» die gefährliche Reise auf einem Flüchtlingsboot übers Mittelmeer erzählt, eine bildgewaltige Parabel über Unterdrückung und Bruderzwist. Abends dann geniesst man im Restaurant mit Aussicht mediterrane Küche. International – auf jeden Fall.

Drei ganz besondere Perlen möchte ich vorstellen. Drei Bücher, eine Autorin und zwei Autoren, die es zu entdecken gilt, wenn man nicht längst auf sie gestossen ist:

100 Jahre Geschichte eines Landes, das kaum je in den Fokus Europas gerät. Ein Epos über die Folgen der Teilung der koreanischen Halbinsel, eine Spionagegeschichte und gleichzeitig ein politischer und historischer Roman multipliziert mit einer ménage à trois, die zwischen die Fronten gerät. Ein Roman mit gewaltiger und überzeugender Sogkraft. Ein Soziogramm der Lügen und Illusionen. Anna Kim ist in Südkorea geboren, dort aber weder zuhause noch beheimatet. Erstaunlich genug, dass sie immer und immer wieder als Südkoreanerin genannt wird, obwohl sie sich dezidiert gegen eine verortete Heimat ausspricht. Trotzdem beschäftigt sich die Autorin mit der Geschichte ihres Herkunftslandes, den Auswüchsen des kalten Krieges in Südostasien im Willen, diesen Konflikt zu verstehen. «Wie schreibe ich über Vergangenes und Geschichte? Reine Beschreibung reicht mir nicht aus, auch wenn ich mit Recherche tief ins Geschehen eingedrungen bin.» Eine mitreissende Geschichte um Freundschaft, Loyalität, Verrat und das unmögliche Leben in der Diktatur.

Georgi Gospodinov ist der grosse Autor der bulgarischen Literatur. Sein viertes bei Droschl auf deutsch erschienene Buch ist eine Sammlung von Erzählungen. «8 Minuten und 19 Sekunden», die Erzählung die dem Buch den Titel gibt, dauert es, bis das Licht von der Sonne die Erde trifft. Genau so viel Zeit, wie Gerogi Gospodinov dem Leser der Geschichte einräumt, um sich mit seinen gleichsam spielerischen wie apokalyptischen Spielereien auseinanderzusetzen. Vielleicht ein Markenzeichen des Autors, der sich gerne der Faszination der Apokalypse hingibt, ohne literarisch der in Mode geratenen Dystopie zu verfallen. Seine Geschichten entspringen einer Mischung aus Melancholie und Humor, Absurdem und den Erfahrungen aus der bulgarischen Diktatur. Georgi Gospodinov verknüpft Wahrnehmungen, Empfindungen auf seine ganz eigene Art. Für mich eine grosse Entdeckung und ein Versprechen: Höchster Lesegenuss!

John Wray. Ein durch und durch amerikanischer Autor, der 2007 vom Literaturmagazin «Granta» unter die 20 besten jungen US-Autoren gewählt wurde. Aber er spricht deutsch und wird in diesem Sommer in der Arena des Bachmann-Preisschreibens in Klagenfurt mit einem deutschen Text antreten. Ein Amerikaner mit österreichischen Wurzeln und kärntner Akzent. So verzwickt seine Herkunft, so verzahnt sein Roman; eine historisch eingebettete Familiengeschichte über ein ganzes Jahrhundert, wissenschaftliche Einsprengsel über Physik und die Produktion eingelegter Gurken bis hin zum bewusst «schlechten» Science- Fiction und kruden, sektiererischen Verschwörungstheorien. Ein Erzähler, der sich in einer Zeitblase wiederfindet, in der Wohnung seiner schrägen Zwillingstanten, die Tonnen von Zeitungen und anderem Strandgut sammeln. Grotesk, skurril und kompliziert, aber nie unübersichtlich, wabernd in einem natürlichen Chaos, mit Absicht weit weg aller unnatürlichen Chronologie. Ein Buch, dem ich den Spass des Autors auf jeder Seite «anhöre». John Wray, ein ausserordentlich begnadeter Geschichtenerzähler mit cineastischem Blick und liebevollem, schrulligem Witz. Und wenn er liest, wünscht man dem fabulierenden Erzähler, dass die Verpflichtung des Vorlesens nie endet würde.

Wie jedes Jahr war das Literaturfestival Leukerbad ein Ort der Begegnungen. Nicht nur mit Büchern, mit Literatur, mit Lyrik und Romanen, sondern in faszinierenden Gesprächen, solchen auf der Bühne, solchen unterwegs und den vielen vor Ort. Ganz besonders freute ich mich über die Gelegenheit, ein Interview mit der Schriftstellerin Kathy Zarnegin zu führen, über ihren gelungenen Roman «Chaya». In drei Tagen auf literaturblatt.ch!

Lena Gorelik «Mehr Schwarz als Lila», Rowohlt

Paul ist verschwunden, seit Tagen. Alex, seine Freundin, macht sich Sorgen. Sie verkriecht sich zuhause, will mit niemandem reden, auch nicht mit Ratte, ihrer Freundin. Paul, Alex und Ratte sind 17, alle in der gleichen Klasse, aber die einzigen in Lena Goreliks Roman „Mehr Schwarz als Lila“, die einen Namen tragen. Alle anderen sind auswechselbar. Paul, Alex und Ratte nicht. Eine Schicksalsgemeinschaft. Eine Dreierbande wie sie es nur mit 17 gibt.

Ratte ist Alex beste Freundin. Ratte heisst eigentlich Nina. Aber Ratte hasst ihren Namen. Und Alex heisst eigentlich Alexandra. Alex wohnt mit ihrem schweigsamen Vater seit dem Tod ihrer Mutter und einem Papagei, den sie von ihrem Vater geschenkt bekam und irgendwie die Leerstelle füllen soll. Paul hat Mutter und Vater, aber auch einen Bruder. Und Pauls kleiner Bruder ist behindert, braucht Mutter und Vater, sodass Paul, dem in der Schule alles ziemlich leicht fällt, viel Zeit übrig bleibt. Für Paul schenken Alex und Ratte das, was er in der Familie nicht findet; Verbundenheit, Nähe. Paul schenkt Alex ein Notizbuch, blau, in Leinen gebunden. Auf dem Deckel steht „Shit that matters“. Alex sammelt Wörter und trägt mehr Schwarz als Lila. Und Ratte? An Ratte ist alles etwas anders, nicht bloss ihre braunen Rastas und dass sie stets ohne Helm auf ihrem Mofa fährt. Die Freundschaft der drei 17jährigen ist alles. Bis zu einem Ausflug, einer Klassenfahrt mit dem Referendar Johnny, mit dem an der Schule alles anders wurde. Sie fahren kurz vor den langen Ferien mit der Klasse nach Auschwitz, nicht nach Italien und ans Meer. Und dann gibt es dort jenen langen Kuss zwischen Alex und Paul. Ein Kuss unter dem Galgen in Auschwitz, ein Kuss, bei dem Alex Paul keine Wahl lässt, ein Kuss, der sich im Netz vertausendfacht, ein Kuss, der Paul in Polen zurücklässt und Alex zwingt, ihre Geschichte zu erzählen.

Lena Goreliks Roman erzählt, was passiert, wenn Freundschaft an der Allgemeinheit, an Interpretationen und Missverständnissen zu zerbrechen droht. Wenn sich ins geschlossene Private plötzlich die Allgemeinheit einmischt. Und Lena Gorelik versteht, dass Freundschaft mit 17, Freundschaft nach der Kindheit und vor dem Erwachsensein, anders ist, als alle Freundschaft sonst. Wenn sie zerbricht, wird nichts mehr so sein, wie es einmal war, weil jene Freundschaft unter den dreien nie mehr und anders ist als Liebe und Familie.

Zum Kippen bringt das untrennbare Dreigestirn ausgerechnet ein Lehrer, ein Referendar, eine Stellvertretung. Ein junger, hübscher Typ. Schwarz gekleidet wie Alex. Lässig irgendwie. „Einer, der den Raum einnimmt, statt reinzukommen.“ Die drei nennen ihn Johnny, was sich der junge Striegel gefallen lässt. Mit Johnny glauben die drei einen Verbündeten in der Welt der Erwachsenen gefunden zu haben. Und dann noch Lehrer, Referendar. Plötzlich wird Schule wieder zum „Vielleicht“, einem Ort, wo Leben stattfindet. Johnny schreibt Wörter an die Wandtafel, lässt schreiben, jeden, ohne mit dem Resultat etwas beweisen zu müssen. Und irgendwann beginnen sie, sich die Texte vorzulesen, ihre Texte, Fünfminutentexte, Texte von innen.

Ratte, Paul und Alex sind alles. Zusammen betreten sie die Klasse, zusammen gehen sie in die Pause. Und manchmal sitzen die drei mit Alex’ Vater am Tisch und Alex’ Vater fragt: „Na ihr drei, wie war euer Tag?“
Aber mit Johnny beginnt das Gleichgewicht zu wackeln und unter dem Galgen in Auschwitz, einem Ort kollektiver Erinnerung, der alles andere ausblenden muss/will, zerbricht sie.
Paul, Alex und Ratte mögen Johnny, aber nicht alle gleich.

Lena Gorelik, Jahrgang 81, ist jung genug, um zu verstehen. Sie beschreibt mit ungebrochener Empathie, wie eine Freundschaft zerfällt, an der sich Paul, Alex und Ratte festhielten, die sie sicher und uneinnehmbar zu machen schien. Eine Art der Freundschaft, für die es in ihrer Nähe und Unmittelbarkeit in der Welt der Erwachsenen keinen Platz mehr hat, weil sich jene Welt zu sehr um Konvention und Anpassung bemüht. Und das endet ausgerechnet in Auschwitz, dem Ort, der kein Missverständnis duldet, gerät das, was zwischen Freundschaft und Liebe pendelt, ausser Kontrolle. So weit, dass sich selbst der Zentralrat der Juden einmischt, die Öffentlichkeit sowieso. Dabei hatte der Kuss nichts mit Auschwitz zu tun, nicht einmal mit Paul.

Was Lena Gorelik kann, ist erstaunlich. „Mehr Schwarz als Lila“ zeigt, wie sehr die Welt der Jugendlichen bebt, wie weit weg sie vom Verständnis Erwachsener sein kann. Lena Gorelik tut das mit so viel Sympathie und Wärme, dass ich nur staune. Lena Gorelik tut auf, was anderen nach der Jugend ein Leben lang verschlossen bleibt. Anlässlich einer Lesung in Stein am Rhein meinte Lena Gorelik, sie hätte schon immer einmal mit der Stimme eines Teenagers schreiben wollen, vielleicht auch, weil sie sich noch gar nicht so weit von dieser Zeit entfernt fühle. Lena Gorelik vermisst gute Bücher, die sich ernsthaft mit dieser Zeit auseinandersetzen, Bücher wie «Tschick» von Wolfgang Herrndorf. «Gratwanderungen, das Spiel mit Grenzen, das interessiert mich. Kunst soll Fragen stellen und im besten Fall bewegen.»

Lena Gorelik, in St. Petersburg geboren, kam elfjährig mit ihrer Familie nach Deutschland. Mit ihrem Debütroman „Meine weißen Nächte“ (2004) wurde sie als Entdeckung gefeiert, mit „Hochzeit in Jerusalem“ (2007) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Ihr Roman „Die Listensammlerin“ (2013) wurde mit dem Buchpreis der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnet. 2015 erschien „Null bis unendlich“, die „Welt am Sonntag“ schrieb: „Ein starkes, ein emotionales Buch, das durch seine reduzierte Sprache große Gefühle offenlegt.“

Webseite der Autorin

Titelbild: Sandra Kottonau

Akog Doma «Der Weg der Wünsche», Rowohlt

Während Kriege, Trostlosigkeit, Hunger und Krisen Menschen zwingen, ihrer Heimat unter Lebensgefahr den Rücken zu kehren, vergisst jener, der sich in seiner warmen Stube ob der vielen Flüchtlinge fürchtet, dass das 20. Jahrhundert die Menschen in Europa zu Hunderttausenden zwang, alles zurückzulassen.

Darf man angesichts des Flüchtlingselends keine Geschichten mehr erzählen, die vergangen scheinen? Keine Geschichte endet. Keine Geschichte hört auf. Aber gut erzählten Geschichten folgt man gerne – und der Roman «Der Weg der Wünsche» (auch wenn mir der Titel allzu salbungsvoll klingt) ist eine solche.

Akos Doma, der als Jugendlicher selbst zusammen mit seiner Familie Ungarn verlassen musste, erzählt eine dieser unzähligen Geschichten. Von jenem Moment, wo der 8jährige Misi zusammen mit seiner Schwester Borbála und seinen Eltern Teréz und Károly seinen Geburtstag im winzig kleinen Garten in Buda feiert – bis in den Schnee der Alpen, das längst nicht das letzte Hindernis bleiben wird, das die Familie zu besiegen hat. Eine Geburtstagsidylle mit einem kleinen Hund als Geschenk, nur für den Jungen, der nicht ahnt, wie sehr seine Eltern unter der korrupten «sozialistischen» Willkür der ungarischen Apparats zu leiden haben. Nichts ist Idylle, die Menschen desillusioniert nach einem Krieg, der weder aus Sieger noch Besiegten bessere Menschen werden liess. Teréz, die Mutter des kleinen Misi, besucht kurz vor der Flucht noch einmal ihren Onkel Barnábas, bei dem sie nach dem Krieg zwei Jahre blieb, um aus der traumatischen Starre aufzuwachen, in der sie der Krieg zurückgelassen hatte. Barnábas, ihr Onkel, warnt sie vor den Konsequenzen, sollte die Flucht misslingen, davor, dass dort in der besseren Welt auch bloss das Geld regiert.

Familie Kallay macht sich auf den Weg, auf eine Reise zwischen Welten und landen für Monate in einem italienischen Auffanglager voller Ratten, wilder Hunde, Kot und baufälliger Baracken. Ein Lager unweit der Bucht von Neapel, durch einen löchrigen Zaun von der Normalität getrennt, der Lagerleitung schamlos ausgeliefert.

Akos Doma erzählt auch vom Schmerz, den Verletzungen mit sich tragen, den unheilbaren Wunden eines Krieges, den Demütigungen durch ein System, das nach dem Ende des Krieges versprach, die Ordnung endgültig zu reformieren. Der Roman liest sich leicht. Die Qualität des Buches liegt nicht in der Aktualität der «Flüchtlingsperspektive», sondern in der Leichtigkeit, mit der es der Autor in die Nähe von Terés und Károly schafft, einem Paar, das sich aneinander hält, das bereit ist, fast alles zu «zahlen», um der Familie ein Stück Freiheit zu schenken.

Akos Doma will eine Geschichte erzählen, erlebte Geschichte am Beispiel einer Familie. Bestimmt gibt es zum Thema «Flüchtlinge» Wichtigeres zu lesen (z.B. von Navid Kermani «Einbruch der Wirklichkeit»). Aber das Buch ist spannend erzählt, nie platt, und schon gar nicht oberflächlich.

Ein Roman darüber, wie Geschichte die Seelen aus den Menschen zerrt.

Akos Doma, geboren 1963 in Budapest, ist Autor und Übersetzer. Er hat unter anderem Werke von Sándor Márai, László F. Földényi und Péter Nádas ins Deutsche übertragen. 2001 erschien sein Debütroman «Der Müßiggänger», 2011 «Die allgemeine Tauglichkeit». Doma erhielt zahlreiche Preise und Stipendien, zuletzt etwa das Grenzgängerstipendium der Robert Bosch Stiftung, den Adelbert-von-Chamisso-Förderpreis 2012 und das Prager Literaturstipendium 2014. Akos Doma lebt mit seiner Familie in Eichstätt.

David Wagner «Ein Zimmer im Hotel», Rowohlt

Jan Wagner wurde 2013 einem breiten Publikum mit seinem Buch «Leben» bekannt, mit dem er seine Krankheit und die daraus resultierende Lebertransplantation verarbeitete, ein Buch aus 277 literarischen Miniaturen, mit dem er den Preis der Leipziger Buchmesse 2013 gewann.

img_0099Nun erschien «Ein Zimmer im Hotel». Wieder kein Roman, eher ein Antireiseführer des Autors, der auf Lesereise mit seinem Buch «Leben» in Hotels von Peking bis Spanien übernachtete. Ein Buch, das Zimmer auf der halben Welt zeichnet, eine kleine Kulturgeschichte der Unwirtlichkeiten.

Bei der BuchBasel lud der Autor zu einer ganz besonderen Lesung ein, hinauf ins oberste Stockwerk des Hotel Krafft ins Zimmer 405, hoch über dem Rhein. Eine Lesung zum «Anfassen» mit besetzten Stühlen überall und Zuhörern, die es sich sogar auf dem Doppelbett bequem machten.

«Ein Zimmer im Hotel» ist ein Konzept-Buch ohne künstlich zu wirken. So wie die einen auf Facebook oder Instagram jeden Mist posten, hinterlässt David Wagner eine Spur gehen das Vergessen. Von einem wachsenden Sammeltrieb getrieben, beeieinflusst vom Georges Perec, der einmal vorhatte, alle Orte, an denen er geschlafen hatte zu beschreiben.

img_0101In Hotels liegen Stifte, manchmal Bleistifte. Bleistifte meist dann, wenn das Zimmer einen Holzboden besitzt. Und meist sind Bleistifthotels die besseren Hotels. Kugelschreiberhotels haben Teppichböden, die Geschichten erzählen wollen, Geschichten allerdings, die man vielleicht lieber nicht hören will. Kugelschreiber lässt David Wagner liegen, weil er sie nicht mag. Bleistifte lässt er mitgehen.

Es gibt Apfelhotels, jene, in denen Äpfel an der Rezeption zum Mitnehmen liegen. Äpfel, zu denen David Wagner seit seinem Roman «Vier Äpfel» eine ganz besondere Verbindung spürt, eine Schwäche. Nach einem Roman, der 2009 auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stand, über einen Mann, der sich im Supermarkt verliert, über die Tiefen der Einkaufswelt, fasziniert von der Poesie von Einkaufszetteln.

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David Wagner sammelt Räume, hebt sie auf, fasziniert von Duschvorhängen aus Schweizer Fabrikat, die waschbar sind und jeden Monat gebügelt werden sollten. Belästigt von Bildern in Hotelzimmern, die einem nicht in Ruhe lassen, erst recht, wenn sie schlecht sind, erst recht, wenn sich in diesen Bildern hinter einer Reproduktion von Klimts «Der Kuss» die Klimaanlage versteckt. Die grassierende Zierkissenpest. Kissen mit Bezügen, von denen man vermuten muss, dass sie kaum jemand wäscht. Von laminierten Hinweisen überall, Konsumangeboten, Hinweisen, die den letzten Rest erklären, von belegten Schreibtischen und dem fehlenden Ort für den Koffer.

Aber eigentlich, so David Wagner, war «Ein Zimmer im Hotel» nur die Fortsetzung von «Leben», von der Reise von Hotelzimmer zu Hotelzimmer nach einem Buch von einem im Spitalzimmer, der nur im Kopf auf Reisen gehen kann.

img_0100David Wagner, 1971 geboren, debütierte mit dem Roman «Meine nachtblaue Hose». Es folgten der Erzählungsband «Was alles fehlt», das Prosabuch «Spricht das Kind», die Essaysammlungen «Welche Farbe hat Berlin» und «Mauer Park», die Kindheitserinnerungen «Drüben und drüben» (mit Jochen Schmidt) sowie der Roman «Vier Äpfel».

Ich danke dem Hotel Krafft Basel für die zur Verfügung gestellten Bilder. Ein Hotel mit Äpfeln an der Rezeption, Holzböden, Bleistiften und erfrischender Schlichtheit in den Zimmern.

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David Mitchell «Knochenuhren», Rowohlt

Was macht den Hype um das neue Buch von David Mitchell aus, den Autor, der mit der Verfilmung seines Romans «Wolkenatlas» viele neue Leserinnen und Leser neugierig machte? Die unglaublichen Verkaufszahlen? Die Tatsache, dass sowohl gestandene Kritiker wie der Literaturredaktor des Tagesanzeigers Martin Ebel oder der Mitveranstalter des Kaufleuten sich zu Lobeshymnen und Verzückungsäusserungen hinreissen lassen? Die perfekte Mischung aus Thriller, Sience fiction, Fantasy und Dystopie? Oder ist es gar der Mensch, David Mitchell, der so fern allen Allüren und so nah allen Fans scheint?

cover-david-mitchellDavid Mitchells Roman «Knochenuhren» ist eine Reise durch die Zeit, von 1984 bis 2043. Die Geschichte um Menschen, die sich ausserhalb der endlichen Zeit bewegen, die auf ganz verschiedene Art nicht unsterblich, sich selbst aber eine Tür über den Tod hinaus öffnen können. Mitchell beginnt die Geschichte in der nahen Vergangenheit, hinein in eine Zeit des Umbruchs bis in eine nicht allzu ferne Zukunft, wo das übrig gebliebene Öl nur noch einer kleinen Bevölkerungsgruppe zugänglich ist und von Menschen gemachte Katastrophen die Welt in die Anarchie reissen. Ein Roman um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, der ausserhalb der menschlichen Zeit ausgetragen wird.
1984, Holly Sykes, die fünfzehnjährig verraten von ihrer ersten grossen Liebe und der mütterlichen Umklammerung von zuhause abhaut, hört manchmal Stimmen, Stimmen, die sie nicht einzuordnen weiss. Und als dann auch noch ihr kleiner Bruder Jacko verschwindet, ein kleiner Junge, der sich nach einer schweren Krankheit so ganz anders als seine Kameraden entwickelt, gräbt sich Kummer und Schuld tief in die junge Seele Holly Sykes ein. Zudem wird sie auf ihrem vermeindlichen Trip in die Freiheit Zeuge eines Doppelmordes, der von einer fremden Macht aber gleich wieder aus ihrer Erinnerung gelöscht wird. Sie selbst aber bleibt für ein ganzes Leben im Fadenkreuz jener Macht. Erst im letzten Kapitel gehört die Erzählstimme wieder Holly Sykes, die weit über 70, irgendwo an der Küste Irlands, weit weg von all jenen Errungenschaften der Gegenwart, vergessen in einer apokalyptischen Zukunft, bedroht von Banden, einem ausser Kontrolle geratenen Reaktor und dem fanatischen Endzeitglauben einiger Nachbarn zu überleben versucht. Scheinbar vergessen in einer kleinen Welt zusammen mit zwei zu Waisen gewordenen Kindern.
 Scan 7Holly Sykes ist der rote Faden durch die weiten Räume des Buches. Aber so wie Erzählperspektiven ändern, so ändern auch die Tonarten der Sprache. Holly Sykes aber begegnet man immer wieder, sei es als Frau von Ed Brubeck, einem Kriegsreporter, der den Kampf zwischen seinen Pflichten als allzeit bereiter Kriegsreporter und brauchbarem Familienvater zu verlieren droht. Oder als Freundin des Schriftstellers Crispin Hershey, der, verwöhnt von den Erfolgen seiner ersten Bücher, den Tritt im Schreiben verloren hat und sowohl vom Verlag wie vom Literaturbetrieb bitter abgestraft wird. Hershey lächelt zuerst über Holly Sykes, die in einer ganz anderen Nische als er mit ihrem Buch über «Radiomenschen» den Erfolg wie einen Kometenschweif hinter sich herzieht.
Was mich an diesem 800-Seiten-Roman fasziniert, ist nicht so sehr der Ton seiner Sprache, sondern das Instrumentarium, mit dem Mitchell zu spielen vermag; die Fülle an Ideen, Bildern und Handlungssträngen, die Weite des Panoramas an Zeiten, Kulissen, Personen, Welten und Details. Ein Buch in Breitbandmanier, das wohl wie «Wolkenatlas» nicht lange auf seine Verfilmung warten muss. Aber so vielfältig Mitchells Spielarten sind, so sind es auch meine Leseeindrücke, die von maximaler Grenzbelastung, wenn es allzu sehr nach Fantasy riecht, bis zu wirklicher Verzückung, wenn der Autor im letzten Kapitel noch einmal das alt gewordene Leben Holly Sykes schildert, die in ihrem Kampf ums Überleben nicht nur gegen rüde Gewalt, sondern wie in der Gegenwart gegen religiösen Fanatismus ankämpfen muss, der jedem mit dem Schwert droht, der die Zeichen anders oder gar nicht deuten will.
Ein Buch über Plagen auf allen Ebenen, ein Buch, das unglaublich mitreisst und dessen Sog ich mich gerne hingab.

mitchell-david-c-leo-van-der-noort-2006David Mitchell, geboren 1969 in Southport, Lancaster, studierte Literatur an der University of Kent, lebte danach in Sizilien und Japan. Er gehört zu jenen polyglotten britischen Autoren, deren Thema nichts weniger als die ganze Welt ist. Für sein Werk wurde er u.a. mit dem John-Llewellyn-Rhys-Preis ausgezeichnet, zweimal stand er auf der Booker-Shortlist. Sein Weltbestseller Wolkenatlas wurde von Tom Tykwer und den Wachowski-Geschwistern verfilmt. David Mitchell lebt mit seiner Frau und seinen zwei Kindern in Clonakilty, Irland.

Hompage des Autors

 

Ein Buch von ganz unten: Heinz Strunk «Der goldene Handschuh», Rowohlt

Es war an einer Lesung in Konstanz. Das schwarze Gewölbe war bis auf den letzten Platz besetzt. Auf der Bühne stand ein in schwarzes Tuch gehüllter Tisch, daneben ein Mikrophon, dahinter wohl ein Stuhl. Als der Autor auf der Bühne erschien, blendeten hinter ihm gelbe, orange und rote Scheinwerfer. HeinzPoster20 1 Strunk setzte sich, blickte ins Dunkle und begann zu lesen, aus dem Leben des Frauenmörders Fritz Honka, der die deutschen Zeitungen und Sensationsblätter in den siebziger Jahren zum «Gespenst des Grauens» stilisiert hatten. Nichts wird bei der Geschichte ausgelassen. Honkas Welt zwischen seiner versifften Wohnung und dem «Goldenen Handschuh», der Hamburger Kaschemme, in der sich der ganze Bodensatz der Gesellschaft sammelt, wird über Tage gesoffen, gehurt, gepöbelt und verloren. Heinz Strunk liest tapfer, schnell, undeutlich, nuschelt, was für einen Deutschen authentisch klingen mag, für mich als «Ausländer» anstrengend wird. Nicht nur sprachlich und akustisch, denn als Leser und Zuhörer kippe ich dauernd zwischen Ekel, Verwirrung und Faszination. 150 Recherchegänge in den «Goldenen Handschuh» habe er, Heinz Strunk, gebraucht, um den Ton dieser Menschen zu treffenPoster20 2, was ich ihm glaube, denn selbst in seiner Performance schienen Alkohol, Verwesungsgeruch und Toilettengestank in die Nase zu steigen. Es fällt mir schwer, das Lob gewisser Rezensenten zu teilen, die huldigen, Heinz Strunk sei nun endgültig in der Hochliteratur angekommen. Mit Sicherheit gelingt es dem Autor den Leser mit der Form seines Romans nicht nur Zuschauer werden zu lassen, sondern ihn gleichsam mit in den Abgrund zu ziehen, ständig im Unsichern darüber, ob man sich die Lektüre bis zum Ende antun soll oder nicht. Buch und Lesung werden zum Horrortripp.
Mit Sicherheit ist Hamburg in Zukunft um eine Attraktion reicher. Ist es auch die Literatur? Ich bin gespannt auf eure Meinung! Schreibt sie dazu!